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Im Wald wird eine Leiche entdeckt. Wer ist die junge Frau, die sich da erhängt hat? Das B&B-Team der Kripo Bern stellt fest, dass es sich nicht um Selbstmord handelt, sondern um Mord. Die bekannte Journalistin Lela Petrovic war aufgeknüpft worden, weil sie in einem Artikel die illegalen Geschäfte in Bümpliz angeprangert hatte. Von da an wurde sie gejagt. Vor allem wollten die Gangs an ihr Tagebuch, in dem sie akribisch genau das Treiben auf der KrimMall festhielt. Die Journalistin bezahlte ihre Recherche mit dem Leben, doch dank ihrer Notizen konnte den Verbrechern das Handwerk gelegt werden.
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Seitenzahl: 399
Veröffentlichungsjahr: 2018
Marta Monti Kein Halt Nirgendwo
Marta Monti ist eine Bergfrau. Im Inntal aufgewachsen, zog es sie mit Zwanzig nach Brig im Rhonetal, wo man, um den Himmel zu sehen, den Kopf in den Nacken legen muss. Später sehnte sie sich nach gipfelloser Landschaft, und machte sich auf nach Berlin. Inzwischen weilt sie in den Sommermonaten in Katalonien, und tummelt sich dort zwischen Granat- und Liebesäpfeln. Auch beruflich lotete sie verschiedene Bereiche aus. Ob als Journalistin oder Kneipenwirtin, ob als Mitarbeiterin beim WWF Zürich oder im Haus der Kulturen der Welt in Berlin – sie liest Leben auf. Beim Sammeln von dem, was ist, helfen ihr drei erwachsene Kinder und fünf Enkelkinder.
Nach dem ersten Band 'Auf ein Ewiges' und dem zweiten 'Der mit den Glasaugen' verabschiedet sich das Berner Kripoteam B&B von seinen Lesern mit dem letzten Band 'Kein Halt Nirgendwo'.
Marta Monti
Halt
Nirgendwo
Kriminalroman
© 2018 Marta Monti
Verlag tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
ISBN
978-3-7469-2328-4 (Paperback)
978-3-7469-2329-1 (Hardcover)
978-3-7469-2330-7 (e-Book)
Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für
Romed
Nadia Lukas
und
Lars
Noah
Ayla
Milena Elin
Bei der Entstehung des Romans waren mir Freundinnen und Freunde wertvolle
Gesprächspartner.
Sie haben meine Arbeit kritisch begleitet und unterstützt.
Mein ganz besonderer Dank gilt Verena Brigger
Jan Hauck
Ulrike Petry Louis Sterck Franz Trenkwalder Romed Wyder
Umschlaggestaltung:
Designbüro Miller Partners communications
Der Roman 'Kein Halt Nirgendwo' ist als Fiktion angelegt.
Aus erzählerischen Gründen wurde ein Fluss umgeleitet. Dörfer wurden versetzt, und Städte erhielten eine andere Note.
Der Kriminalroman erhebt keinen Anspruch auf Realität.
Reto Matter streunt mit gesenktem Blick durch den Wald. Vollmundig hat er seiner Frau Pfifferlinge versprochen, und hat es nach einer Stunde erst auf zwei mickrige Pilze gebracht.
Frustriert beschließt Matter, die Übung abzublasen. Unterwegs streut er ein wenig Erde in den Korb, garniert mit Tannennadeln und Moos, damit die Pilze, die er im Supermarkt dazukauft, nach Wald aussehen. Seine Rita wird über die stattliche Ernte staunen, und sich sofort in die Küche stürzen. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Kurz gegarte Pfifferlinge mit währschafter Rösti sind für ihn das Größte.
Matter wählt eine Abkürzung hinunter nach Bethlehem. Weiter vorn, zwischen den Tannen, erspäht er eine Gestalt. Mann oder Frau, das kann er nicht ausmachen, aber wahrscheinlich jemand, der ähnlichen Interessen verfolgt wie er. Matter stellt sich eine Person mit prallem Korb vor. Er riecht förmlich die Pfifferlinge und sein Neidpegel schnellt in die Höhe. Gespannt hält er auf die Gestalt zu, und ruft 'Hallo, Hallo', um sie nicht zu erschrecken. Doch er kriegt keine Antwort. Eine orangefarbene Jacke wiegt sich sanft im Wind. Dann versperren ihm dicke Baumstämme einen Moment lang die Sicht. Matter hat das Gefühl, die Person wolle fliehen, und beeilt sich, ihr näher zu kommen. Nach wenigen Schritten geben die Bäume den Blick frei.
Abrupt bleibt Matter stehen. Am Ast einer Tanne aufgeknüpft baumelt die Leiche einer Frau.
Matter starrt die Tote an. Beim orangefarbenen Kleidungsstück handelt es sich nicht um eine Jacke, sondern um einen leichten Rock, der über die Waden streicht. Die Frau trägt schwarze Leggings und grellgrüne Sneakers. Die Kapuze ihres braunen Pullis hat sie über den Kopf gezogen.
Er speichert jedes Detail der Frau, als würde sein Leben davon abhängen. Der Schnürsenkel des linken Sneakers ist offen. Er macht das Schnürband zu.
Nach einer Weile wagt er es, ihr Gesicht zu betrachten. So also sieht eine Erhängte aus, denkt er. Eigentlich ganz friedlich.
Im selben Augenblick beginnt es ihn zu würgen. Er rennt los, stolpert über eine Kerze, erreicht mit letzter Kraft das Gebüsch und erbricht sich. Nach einer Weile beruhigt sich der Magen, doch als er sich aufrichtet, revoltiert er erneut. Matter speit und stöhnt. Am Ende quält ihn nur noch der Brechreiz. Er hat nichts mehr im Magen, um sich zu übergeben. Das Augenwasser quillt ihm über. Der Hals schmerzt ihn, und er gäbe ein Vermögen für einen Schluck Wasser. Es schüttelt ihn, und ihm schlottern die Knie. Er macht einen großen Bogen um die Tote und telefoniert vom Wanderweg aus der Polizei.
Zwanzig Minuten später hört Matter unten auf dem Flurweg ein Auto. Es hält an, und der Motor wird abgeschaltet. Das Türenschlagen klingt wie das SOS-Morsezeichen. Zwei Männer kommen näher, ab und zu fällt zwischen ihnen ein Wort. Erst als die Polizisten vor ihm stehen, hebt Matter den Blick. Seine Augen sind blutunterlaufen. Der ältere Beamte zieht den Flachmann aus der Brusttasche und reicht ihn Matter. Der nimmt ihn entgegen, ohne zu wissen, was er damit anfangen soll.
„Los, runter mit dem Zeug. Ein Schnaps erweckt selbst Tote zum Leben“, rät der jüngere Beamte, worauf er von seinem Kollegen einen Tritt gegen das Schienbein kassiert.
Matter setzt die Flasche an, als sei es Rivella. Aber es handelt sich um wundersam verwandelte Pflaumen. Matter japst nach Luft, keucht und hustet, und seine Gesichtsfarbe wird alarmierend violett. Erschrocken klopft ihm der jüngere Beamte auf den Rücken. Der ältere Beamte betrachtet die Szene gelassen, zieht schließlich ein Stück trockenes Brot aus der Tasche und befiehlt Matter: „Essen.“
Nachdem sich Matter gefangen hat, beschreibt er den Polizisten den Weg zur Toten. Er wolle nicht mitkommen, sondern hier warten, winkt er ab.
Die Polizisten kehren unerwartet schnell zurück. „Haben Sie am Fundort irgendetwas verändert“, erkundigt sich der ältere Beamte streng.
„Ich doch nicht“, antwortet Matter empört, „ich war unter Schock und habe gekotzt.“
Der Beamte wirft Matter einen prüfenden Blick zu. „Am Boden stehen fünf Kerzen im Halbrund. Haben Sie die Kerzen berührt oder verstellt?“
„Fünf Kerzen?“, murmelt Matter. „Ich erinnere mich nur an eine, über die ich gestolpert bin. Es war eine dieser Friedhofskerzen im roten Plastikbehälter.“
„Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?“
Matter scharrt mit dem Fuß am Boden. „Sie schaut aus wie jemand, der sich ein bisschen ausruhen will, aber sie hat sich ein bisschen aufgehängt.“
Der ältere Beamte schickt ein stummes Stoßgebet zum Himmel, so etwas wie 'Herr, komm ihn holen' und wendet sich dem Kollegen zu. Der hat bereits das Straßennetz rund um Bethlehem auf dem Handy überprüft und meint: „Schaut schlecht aus mit den Verbindungen.“
Nach einem Blick auf das Display meint der ältere Beamte: „Stimmt. Die Sanitäter müssten die Tote zu weit tragen.“
„Nun, wozu haben wir Helikopter?“
Der ältere Beamte zieht die Augenbrauen hoch. Die jungen Kollegen haben keine Ahnung von den komplexen Dingen dieser Welt. Zum Beispiel, dass es Sparaufträge gibt. Oder dass man keine Fehler machen darf, egal, wie viele Stunden man bereits malocht hat. Oder noch schlimmer, man verständigt nicht die richtigen Personen. Und ganz nebenbei sollte man gut drauf sein, egal, mit welchen Situationen man konfrontiert wird.
„Du kümmerst dich um die Absperrung mit Flatterband“, befiehlt er dem Jüngeren, „und pass auf, dass du nicht Fußspuren zertrampelst. Und Sie“, er wendet sich an Matter, „bleiben hier.“ Er hebt sein Handy hoch, um den beiden Männern seine Absicht kundzutun, und schlägt sich in die Büsche.
Der Pilzjäger soll nicht Zeuge seines Gesprächs werden. Geschützt von dessen Blick starrt er auf sein Handy. Soll er? Verunsichert wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Schließlich drückt er auf die Taste der Kripo Bern und verlangt Kommissarin Beta Bianca. Zügig schildert er den Fall, von Matter bis zur aufgehängten Frau.
„Interessant“, stellt die Kommissarin fest, „und was haben wir von der Kripo mit dem Selbstmord zu tun?“
„Irgendetwas stimmt da nicht. Wer sich aufhängen will, braucht zwei Dinge: einen Strick und einen Stuhl. Der Strick ist vorhanden, nicht aber der Stuhl. Wenn ich Stuhl sage, meine ich eine Art Kletterhilfe, eine Leiter, einen Holzpflock, eine Kiste. Irgendetwas, worauf man sich stellen kann.“
„Du gehst von einem vorgetäuschten Selbstmord aus“, konstatiert Beta.
„Ja, schau dir den Tatort an. Ich tippe auf Mord.“ Beta durchwühlt ihre Haare, dreht ein paar Locken um den Finger und erklärt, sie komme. Er solle die Stelle weiträumig absperren und bewachen, den Pilzsammler vernehmen und das Gespräch protokollieren. Zum Schluss lässt sie sich noch die Koordinaten des Tatorts durchgeben.
Kommissar Benno Bertschi betritt das Büro, das er mit seiner Kollegin teilt, und staunt über Beta, die mit geschlossenen Augen am Schreibtisch sitzt.
„Meditierst du?“, erkundigt er sich.
Ohne die Augen zu öffnen, zeigt Beta ihm den Vogel. „Unser Chef kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen“, mahnt Bertschi und legt ein paar Blätter in seine schwarze Ledermappe.
„Unser Chef kann mich mal“, erwidert Beta unwirsch. „Weißt du, was wir jetzt machen? Wir gönnen uns einen hübschen Spaziergang im Wald.“
Sie informiert Bertschi über die Tote oberhalb von Bethlehem und spürt zugleich, wie ihr Energiepegel in den Keller sackt. Ein Opfer! Es gibt ein Opfer zu beklagen.
„Also, ab in die Natur“, befiehlt sie lahm, steht auf, streckt sich und plötzlich geht alles Schlag auf Schlag. Die Sitzung mit dem Chef wird verschoben, der Spurendienst losgeschickt, der Pathologe avisiert, und dann telefoniert Beta noch einmal mit ihrem Chef. Ob sie einen Helikopter für die Bergung der Leiche anfordern könne. Kost hat schlechte Laune. Der Einsatz eines Helikopters belaste das Budget, deshalb nein, schnarrt er und hängt auf.
Die beiden Kommissare machen sich auf den Weg. Sie durchqueren die Stadt, zweigen Richtung Bethlehem ab und folgen dem Forstweg. Das geparkte Auto der Polizeistreife deutet darauf hin, dass sie am Tatort angekommen sind. Auch der Wagen des Pathologen Dr. Fellner steht da.
„Erspar ihm unnötige Fragen“, ermahnt Bertschi seine Kollegin. Die grinst schief. „Reib mir nicht ständig meine Fehler unter die Nase.“ Den Zusammenprall mit Fellner wird sie nie vergessen. Es ging um einen Kindsmord, und sie wartete auf die Ergebnisse aus der Pathologie. In ihrer Ungeduld suchte sie schließlich Fellner in seinem Kabinett auf. Dabei rammte sie mit ihrer Hüfte den Seziertisch, so dass einige Instrumente zu Boden fielen. Das war dem menschenscheuen Pathologen zu viel gewesen. Sie solle sich nie mehr in seinen Arbeitsräumen blicken lassen, hatte er gefaucht. Kein Kommissar dieser Welt, und schon gar keine Frau habe ihn unter Druck zu setzen. Dann hatte er die Tür geöffnet und sie hochkant hinausgeworfen.
„Hier lang“, winkt Matter, einigermaßen erholt, die beiden Kommissare heran. „Kann ich jetzt gehen?“
„Moment.“ Beta schließt sich mit dem älteren Beamten kurz, der den Tatort bewacht. Ja, die Aussage Matters sei aufgenommen und mit den üblichen Daten versehen.
Währenddessen hat sich Bertschi mit Matter unterhalten, der in Bethlehem geboren ist. Der Wald sei seine Heimat, erklärt er. Hier kenne er jeden Baum. Und die Stadt kenne er auch, er arbeite seit 29 Jahren als Straßenbahnfahrer in Bern, fügt er hinzu. Er ist heilfroh, als Bertschi ihn endlich ziehen lässt.
„Einen Moment! Bitte melden Sie sich morgen im Kommissariat. Ihre Fingerabdrücke werden benötigt.“ Die erschrockene Miene Matters entgeht ihrem Blick.
Die beiden Kommissare schlagen den Weg zum Tatort ein.
„Da.“ Beta bleibt stehen, das Orange zwischen den grünen Tannen wirkt wie ein Farbtupfer. „Wir nähern uns“, sagt sie leise, und weiß nicht, warum sie flüstert.
Die beiden Polizisten und der Pathologe stehen außerhalb der abgesperrten Zone und blicken dem B&B-Team entgegen. Ein kurzes Nicken allerseits, bevor sich die Neuankömmlinge der Leiche zuwenden. Da hängt sie, die Frau. Leicht, schlank. Keine Qual in ihren Zügen. Keine violette Gesichtsfarbe. Sie baumelt am Ast, als wolle sie sich eine Pause gönnen. Der orangefarbene Rock bewegt sich. Wenn Bertschi nicht wüsste, dass es sich um eine Tote handelt, würde er auf eine Puppe tippen und darauf, dass sich jemand einen üblen Scherz erlaubt hat.
Beta und Bertschi befinden sich im Gespräch mit den beiden Polizisten, als die Profis in ihren weißen Schutzanzügen zwischen dunklen Tannen aufleuchten. Sie fotografieren und markieren, streuen weißes Pulver, um Fußabdrücke zu identifizieren, holen die Erhängte herunter und bahren sie auf.
„Wie groß ist der Abstand vom Ast zum Boden“, fragt Beta.
Einer vom Spurendienst zückt seinen Block. „267 Zentimeter. Das Maß zwischen Ast und Kopf beträgt 44 Zentimeter, die Größe der Toten 171. Das heißt …“ „… sie hängt 52 Zentimeter über der Erde“, vervollständigt Bertschi die Rechnung, worauf er einen bewundernden Blick erntet. Wie kann man ohne Handy so schnell addieren?
„Wenn Sie Ihre mathematischen Fähigkeiten zur Genüge präsentiert haben, würde ich mich gerne an die Arbeit machen“, giftet Fellner.
Empört blitzt Beta den Pathologen an. Zwar hat die Bemerkung Bertschi gegolten, aber ein deutliches Wort schadet nicht, schließlich hat sie am Tatort das Sagen und nicht dieser Leichenfledderer.
Gerade noch rechtzeitig bemerkt sie Bertschis Kopfschütteln. Sie holt nur tief Luft und meint süffisant: „Die Leiche gehört Ihnen, Dr. Fellner, sobald der Spurendienst die Arbeit abgeschlossen hat.“
Kurz darauf trifft Burger, der Chef des Spurendienstes, ein. Er lässt sich den Ast zeigen, an dem die Tote hing. „Irgendwelche Auffälligkeiten“, erkundigt er sich bei seiner Mannschaft. Man habe keine Gegenstände gefunden, und keinen Fußabdruck.
„Aber es muss doch Fußspuren geben“, insistiert Beta, „entweder von der Frau oder vom Mörder.“
„Da ist jemand rückwärtsgegangen und hat alle Spuren sorgfältig getilgt.“
„Ein solches Vorgehen unterstützt die These, dass es sich um Mord handelt.“
„Kann man sich an diesem Baum ohne Stuhl selbst erhängen?“ Burger schüttelt den Kopf.
„Seid ihr unterm Baum fertig?“, ruft er hinüber zu seiner Truppe. Die weißen Männer nicken, und Burger begibt sich zur Tanne, um das Geäst zu begutachten. „Ohne Sockel schafft das kein Mensch, es sei denn, er ist wendig wie ein Affe.“
„Darf ich probieren?“, mischt sich der jüngere Beamte ein. Verblüfft starren ihn alle an. Er jedoch entledigt sich bereits der Uniformjacke, zieht das Hemd aus der Hose, krempelt die Ärmel auf, prüft die Anordnung der Äste, wippt mit den Füßen, springt ab, kriegt den angepeilten Ast zu greifen, und hangelt sich bis zum Stamm. Er hievt sich hoch, eine Bravourleistung erster Klasse, klettert einen Stock höher und sitzt dann genau auf dem Ast, an dem die Leiche hing.
„Wow!“ Bertschi hebt den Daumen.
„Und jetzt zeig uns, wie du dich erhängst.“ Burgers Ton trieft vor Häme. Gleich wird er scheitern, dieser widerlich durchtrainierte Kerl. So ein Muskelpaket war er auch einmal. Früher. Links und rechts seiner Nasenflügel bilden sich Schweißtropfen, obwohl er unbeweglich dasteht. Ob er vor Neid schwitzt? Eigentlich ist er mit sich unzufrieden. Schwer ist er, und plump. Die Frauen pfeifen ihm schon lange nicht mehr nach. Unwillkürlich zieht er die Stirn kraus. Das Problem lässt sich auf die Schnelle nicht lösen, denkt er, und weiß, dass sein Anfall von Neid nur bis zum nächsten Bier reicht.
„Ganz einfach“, hört er den schrägen Vogel oben im Baum, „du knüpfst das Seil um den Ast und bereitest die Schlinge vor. Dann lässt du dich hinunter, mit einer Hand hältst du dich am Ast, mit der andern legst du das Seil um den Hals, und …“ der junge Beamte sucht nach einem passenden Wort …“und hopp“, sagt er hilflos.
„Bei dir haut das hin, bleibt die Frage, ob auch die Tote, als sie noch lebte, so fit war.“ Burgers Ironie ist nicht zu übertreffen.
Beta wendet sich an Burger, der wie ein Felsblock in der Brandung steht und seine Augen unermüdlich schweifen lässt. „Was brütest du aus?“
„Mit der Frage Selbstmord oder Mord haben wir es ja öfters zu tun, aber eine solche Situation habe ich noch nie erlebt“, hebt Burger an. „Erhängt oder gehenkt“, murmelt er vor sich hin. „Ich tippe aus einem ganz bestimmten Grund auf die zweite Option. Die Tote konnte den Platz unterm Galgen schwerlich selber fegen, es sei denn“ - Burger grinst den jungen Beamten boshaft an. „Sie hat sich mit der einen Hand am Ast gehalten, mit der andern gekehrt … und danach den Besen verschluckt.“
Inzwischen hat Fellner die vorläufige Untersuchung der Toten abgeschlossen, und packt seine Instrumente ein. Die beiden Kommissare gesellen sich zu ihm. Beta beißt sich auf die Unterlippe, um ihn nicht mit Fragen zu löchern.
„Das Genick ist gebrochen, was bei Erhängten der Norm entspricht. Ich melde mich, sobald mir weitere Fakten vorliegen.“ Fellner macht Anstalten, sich zu entfernen, dreht sich jedoch noch einmal um. „Wie wird die Leiche abtransportiert?“
„Aufgrund der abgelegenen Fundstelle per Helikopter. Wenn es allerdings nach Herrn Kost geht, sollte der Sanitäter die Tote über die Schulter werfen und so wie wir zu Fuß bis zur Straße marschieren“, beendet Fellner den Satz, ohne das Gesicht zu verziehen und setzt sich in Bewegung. So übel ist der Bursche gar nicht, denkt Bertschi und grinst ihm hinterher.
„Heli oder nicht, das ist die Frage“, überlegt Beta.
„Das ist keine Frage, das ist eine Notwendigkeit. Die Rega verrechnet 90 Franken pro Minute. Ich schätze, dass der Einsatz zwanzig Minuten dauert, so dass sich die Kosten auf rund 2000 Franken belaufen.“
Beta nickt. „Den Betrag verkraftet die Kripo Bern. Wir lassen die Rega kommen.“
Bald darauf hört man das Tuckern des Motors. Die Maschine hält in der Luft an.
Während der lärmintensiven Aktion schauen alle zu und kommentieren die Handlungsabläufe. Nach zehn Minuten fliegt der Helikopter über die Baumwipfel, zerzaust die Tannen und nimmt den Motorenlärm mit.
Während Bertschi den Wagen durch den Mittagsverkehr lenkt, betrachtet Beta die Fotos auf dem Handy. „Hübsch ist sie, und jung, vielleicht Fünfundzwanzig. Das ist keine Frau aus der Unterschicht, eher Mittelwenn nicht Oberschicht. Von der Kleidung her eigenwillig, so ein Stil verlangt Selbstbewusstsein. Hof-
fentlich können wir sie rasch identifizieren.“ „Fang bloß nicht an, Fellner zu stressen.“
„Mensch, du keifst wie meine Mutter“, schimpft Beta.
Bertschi erschrickt: „So schlimm bin ich?“
„Schlimmer“, bestätigt Beta. „Wir benötigen Fellners Angaben so schnell als möglich, das ist dir doch klar.“
„Ziemlich“, antwortet Bertschi spöttisch. „Und dir ist hoffentlich klar, dass er Resultate erst vorlegen kann, wenn er seine Untersuchungen abgeschlossen hat.“ Er bremst heftig, weil ein Radfahrer plötzlich ausschert. Beta klebt beinahe an der Windschutzscheibe. „Idiot“, schreit sie, meint aber nicht Bertschi.
„Wer informiert Kost“, will Bertschi wissen, während er die enge Kurve in die Tiefgarage nimmt.
Beta zeigt auf sich, bevor sie mit samtener Stimme fragt: „Horchst du ganz vorsichtig Fellner aus? Ich bringe dafür Kaffee für uns mit.“
Nach einem Doppelklopfer betritt Beta das Büro des Chefs. Der sitzt vorm PC und hackt auf die Tasten. Ohne sich umzudrehen oder seine Arbeit zu unterbrechen, sagt er missbilligend: „Sie haben meine Anordnung missachtet.“
Beta antwortet nicht. Der Mann soll sich ihr gefälligst zuwenden, wenn er mit ihr spricht. Das macht Kost schließlich. Er stößt sich mit exakt dosiertem Schwung ab und landet wie immer zielgenau an seinem PC-freien Schreibtisch.
„Ich erwarte eine Erklärung.“
Beta bleibt in der Mitte des Raums stehen und erklärt die Argumente, die sie bewogen haben, den Helikopter anzufordern. Kost lässt die Gründe nicht gelten und rügt ihr Vorgehen. Die vom Kanton beschlossenen Sparmaßnahmen würden auch für sie gelten. Sie könne sich nicht über alles hinwegsetzen und selbstherrlich Entscheidungen treffen. So gehe das nicht, ihr nicht abgestimmtes Handeln werde Konsequenzen haben. Er erwäge eine Abmahnung.
Kost unterbricht seine Schimpftirade, um sich von der Wirkung seiner Worte zu überzeugen. Beta nimmt die Drohung mit steinerner Miene entgegen. Auf eine Antwort verzichtet sie.
„Ist Ihnen bewusst, wie viel Geld Sie unerlaubterweise verschleudern?“
„Ja.“
Überrascht horcht Kost auf, und im gleichen Moment realisiert Beta, dass er keine Ahnung vom Preissystem der Rega hat. Das ist ihre Chance.
„Der von mir beauftragte Einsatz beläuft sich auf ganze 2000 Franken“, erläutert sie kühl.
Kost dreht sich um und rollt auf den PC zu. Seine Augen kleben fast am Bildschirm, als er die Homepage der Rega aufruft. Eine Minute später verkündet er: „In Ordnung.“ Beta ist entlassen.
Hoch gepokert und gewonnen, triumphiert Beta auf dem Weg zum Kaffeeautomaten. Der rotschwarze Kasten verhält sich korrekt. Die Becher füllen sich, der Kaffee schäumt und verbreitet intensiven Geruch. Beta stellt die heißen Getränke auf ihre Dokumentenmappe und trifft ohne Missgeschick in ihrem Büro ein.
„Und?“, fragt sie sofort.
„Wenn du Fellner meinst, so habe ich ihn nicht belästigt. Leider hat er sich noch nicht gemeldet.“
Bertschi nippt am Kaffee. „Was bedeuten diese fünf Friedhofskerzen bei der Leiche? Geht es da um schwarze Magie? Oder um einen Ritus? Ist die Anordnung der Kerzen Hinweis auf eine bestimmte Religion?“
„Keine Ahnung. Aber wir werden es herausfinden. Als erstes trommle ich jetzt unsre Kollegen zusammen.“
Bertschi nickt und schreibt weiter an seinem Bericht, bis Venetz und Emmer auftauchen. Der dritte und fähigste, Hunziker, hat frei. Emmer, schon Mitte Vierzig und ohne Chance auf einen Karrieresprung, erhält den Auftrag, die Vermisstmeldungen durchzugehen. Venetz, noch kein Jahr im Team, hat sich bereits einen Namen als Computerspezialist gemacht. Er soll recherchieren, was es mit den fünf Kerzen auf sich hat.
Mitten in der Besprechung läutet Bertschis Telefon. „Die Pathologie“, verkündet er. Seit dem Krach zwischen Fellner und Beta hält sich der Mediziner an Bertschi.
Schlagartig verändert sich die Atmosphäre im Büro. Die Luft vibriert, und Beta ist mit einem Satz bei Bertschi. Fellner ruft nicht einfach an, um zu plaudern. Wenn er sich meldet, liegen Ergebnisse vor.
„Schalt das Mikrofon ein“, wispert Beta, während Bertschi zum Hörer greift.
„Hier Fellner. Wie bereits vermutet, hat die Frau einen Genickbruch erlitten. Abgesehen davon befindet sich eine stattliche Menge von K.o.-Tropfen im Blut der Frau. Eine erste Analyse hat ergeben, dass die Tropfen vor Mitternacht eingenommen wurden, und innert weniger Minuten zur Bewusstlosigkeit führten. Damit war die Frau außer Gefecht gesetzt. Der Tod jedoch ist erst zwischen zwei und drei Uhr morgens eingetreten.“
„Die Frau war zum Zeitpunkt ihres Todes eindeutig bewusstlos“, überlegt Bertschi.
„Ja.“
„Sie kann sich also nicht selbst erhängt haben.“
„Richtig. Das hat ein anderer besorgt.“
Erneut ist es in der Leitung still, bevor Fellner weiterredet. „Da gibt es noch etwas, was mich stutzig gemacht hat, und zwar das Nostril-Piercing im linken Nasenflügel. Dieses Piercing ist bei Inderinnen beliebt, da sie glauben, es erleichtere die Geburt. Vielleicht hat die Tote Ähnliches für sich erhofft, denn sie war im vierten Monat schwanger.“
Beta kritzelt auf ein Blatt Papier: „DNA?“ und schiebt es Bertschi hin.
Ob er vielleicht schon eine DNA-Analyse am Fötus vorgenommen habe, erkundigt sich Bertschi höflich.
Darauf entgegnet Fellner pikiert: „Wie, meinen Sie, lautet die Antwort auf diese Frage, wenn ich die DNA nicht erwähne. Ich biete Resultate, nichts als Resultate. Und was ich zu tun habe, weiß ich selbst.“
Dann kehrt Fellner zum sachlichen Ton zurück und gibt Größe, Gewicht und geschätztes Alter der Toten durch. Sobald der Leichnam präpariert sei, melde er sich wegen der Fotos beim Spurendienst, sagt er und verabschiedet sich.
Schweigend begibt sich Beta an ihren Platz zurück.
„Wir haben es mit einem Mord zu tun“, erklärt Emmer in die Stille hinein.
Der Kommentar erinnert Venetz an Bildlegenden, die beschreiben, was man ohnedies sieht.
„Du sagst es“, wendet sich Beta an Emmer, und Bertschi befürchtet schon, dass sie ihren Lieblingsfeind wieder einmal zur Schnecke macht. Für Beta jedoch existiert Emmer im Moment gar nicht, sie ist viel zu sehr mit den unerwarteten Nachrichten beschäftigt.
Auch Bertschi ist am Grübeln, schließlich sagt er: „Lasst mich zusammenfassen, was wir bis jetzt wissen. Eine Frau zwischen fünfundzwanzig und dreißig, vermutlich aus der Mittelschicht, schwanger, wird betäubt, und dann gehenkt. Unter der baumelnden Leiche stellt der Mörder fünf Friedhofskerzen auf.“
„Das klingt nach Teufelsaustreibung“, unterbricht Emmer. Venetz prustet los, und Beta verdreht die Augen. Bertschi jedoch, auf Ausgleich bedacht, nimmt den Faden auf: „Vielleicht hast du recht, das werden wir überprüfen. Doch zuerst müssen wir naheliegende Dinge klären. Was hat Bethlehem mit dem Opfer zu tun? Oder mit dem Mörder? Vielleicht wurde der Ort zufällig gewählt.“
Beta wirft Bertschi einen genervten Blick zu. „Meiner Meinung nach ist das Naheliegende die Frage nach der Identität der Frau.“ Sie streckt den Rücken durch und wendet sich an Emmer und Venetz: „Klemmt euch wie besprochen hinter die Arbeit. Wir treffen uns hier um fünf.“
„Und wir“, Beta wartet, bis sich die Tür hinter den beiden schließt, „konzentrieren uns auf das Essen. Ich habe tierischen Hunger. Italienisch?“
Bertschi schüttelt den Kopf. „Vietnamesisch.“ Er fischt eine Münze aus den Jeans, um die Sache diskussionslos zu entscheiden. Zu ihrem Leidwesen erwischt Beta die leere Faust. Eine Viertelstunde später stellt der Kurier die Gerichte auf den Rauchtisch in der Sitzecke. „Cam on ban“, lächelt Bertschi den Boten an und gibt ihm Trinkgeld.
„Was heißt denn das“, erkundigt sich Beta.
„Das sagt man, wenn man etwas bekommt.“
„Ach, du Bluffer“, Beta wirft Bertschi einen liebevollen Blick zu. „Dabei hast du keinen blassen Schimmer von Asien.“ Sie stopft die Stoffserviette in den Halsausschnitt des T-Shirts und stürzt sich auf die in würziger Sauce schwimmenden Nudeln, die auf dem langen Weg zum Mund nach allen Seiten spritzen.
„Kleiderfeindlich, aber lecker“, seufzt sie zufrieden. Die Plastikschüssel ist fast leer, als ihr Telefon läutet. Burger vom Spurendienst meldet sich.
„Wir haben zwischen den Tannen eine Bahre gefunden, die jemand aus Bambushölzern und Traggurten zusammengebaut hat. Sieht aus, als sei sie in einem Jugendlager entstanden. Das Versteck der Bahre befindet sich in der Mitte einer Geraden, von dort aus gelangt man in der einen Richtung zur Straße, in der anderen Richtung zur verhängnisvollen Tanne. Die Distanz beträgt jeweils rund 80 Meter. Auf der Bahre haben wir das Fragment eines Fingerabdrucks gefunden. Es entspricht dem Teilabdruck auf dem Seil, mit dem die bewusstlose Frau gehenkt wurde.“
„Das bedeutet, sie wurde zuerst mit dem Auto in den Wald, und dann mit der Bahre bis zum Baum transportiert.“
„Das könnte so gewesen sein“, antwortet Burger vage. „Für Schlussfolgerungen seid ihr zuständig.“
„Der Fingerabdruck auf dem Schuh der Toten ist mit den anderen Fingerabdrücken nicht identisch.“
„Gibt es verwertbare Reifenspuren? Kann man auf einen Autotyp schließen?“
„Keine Chance, tut mir leid.“
Beta durchwühlt ihre Schublade nach Zigaretten. Sie findet ein verknautschtes Päckchen Parisienne. Mensch, waren das Zeiten, als ich hier noch rauchen durfte. So ein Stuss, der blaue Salon! Auf dem Rückweg kehre ich beim Chef ein.“
„Sag ihm, dass wir im Radio eine Vermisstmeldung durchgeben, wenn wir bis 17 Uhr nicht wissen, wer die Tote ist“ ruft Bertschi ihr nach. „Und Kost soll sich mit Staatsanwalt Keller absprechen.“
Kurz vor fünf betritt Emmer das Büro des B&B-Teams. „Ja“, begrüßt Beta ihn und liest weiter an einem Text im PC. Da Emmer schweigt, dreht sie sich um. Gleichzeitig stellt sie erschrocken fest, dass sie sich genauso benimmt wie Kost. „Entschuldigung“, murmelt sie und fordert ihn auf, zu berichten.
„In der ganzen Schweiz wird bis jetzt niemand vermisst, auf den die Beschreibung passt. Ich habe auch die Listen der Nachbarländer kontrolliert. Nichts. Wenn die Frau zum Beispiel allein gelebt hat, vermisst sie wahrscheinlich noch niemand. Die Tote ist ja noch nicht einmal 24 Stunden tot. Aber auch sonst wird das Verschwinden einer Person erst nach ein paar Tagen angezeigt, weil man davon ausgeht, dass sie wieder auftaucht.“
„Gut, dann verfassen wir jetzt einen Text fürs Radio“, entscheidet Bertschi. Er greift zum Laptop, peilt die Sitzecke an und winkt Emmer zu sich. Sie diskutieren eine Weile darüber, ob sie bloß eine Vermisstmeldung durchgeben sollen, ohne zu erwähnen, dass die Frau bereits tot ist.
„Nichts von der Toten“, ruft Beta ihnen quer durch den Raum zu.
Bertschi formuliert mit Emmer den Text und liest ihn anschließend Beta vor: „Vermisst wird seit gestern Abend eine zirka 30jährige Frau, 171 Zentimeter groß, schlank, halblange schwarz gefärbte Haare, Piercing im linken Nasenflügel. Zuletzt wurde sie im Berner Quartier Bethlehem gesehen. Sie trägt ein dunkelbraunes Sweatshirt mit Kapuze, einen orangefarbenen Rock, schwarze Leggings und hellgrüne Sneakers. Das Kriminalkommissariat Bern bittet um sachdienliche Hinweise.“
Beta streckt den Daumen hoch, worauf Bertschi mit dem Radio die Modalitäten aushandelt.
Venetz trifft ein und bekommt mit, dass der Aufruf jede Stunde im Anschluss an die Nachrichten gesendet wird, und zwar bis Mitternacht. Für die französische und italienische Schweiz wird der Text übersetzt.
Venetz setzt sich zu den Männern in der Sitzecke und klappt seinen Laptop auf. „Ich habe über Voodoo recherchiert, über Teufelsaustreibung und Schwarze Messen, aber nirgendwo findet sich ein Bezug zu fünf Friedhofskerzen.“
Bertschi beruhigt Venetz. Irgendwann werde man auf die Antwort stoßen.
Venetz unterbricht Bertschi. „Ich habe nicht einfach aufgegeben. Ich dachte mir, dass die Zahl 5 vielleicht so etwas wie Symbolcharakter besitzt und habe mich im Netz schlau gemacht. Dabei bin ich auf eine Erklärung gestoßen, die uns eventuell nützt.“ Venetz sucht die Information im Laptop und liest vor: „Die Zahl 5 bedeutet Sexualität, und zwar männliche, bei der es darum geht, dass der Mann die Frau besitzt, die Liebesfreuden genießt und auf die sexuelle Vereinigung um ihrer selbst willen erpicht ist. Fünf ist die Zahl der sinnlichen Freuden, basierend auf den fünf Sinnen. Diese fünf Sinne stellen den natürlichen Menschen dar, der die Dinge anstrebt, die dem Vergnügen der äußeren Sinne dienen. Da er als 'Fünfgeprägter' nicht weiß, was spirituelle Freuden sind, kann sich die Seele im Exzess verlieren.“
Venetz blickt in die Runde. Niedergeschlagene Augen. Stirnrunzeln. Emmer streicht unaufhörlich mit der Rechten über den Oberschenkel. Niemand will sich äußern. Venetz wird es ungemütlich. „Alles Blödsinn, was“, meint er kleinlaut.
„Nein“, wehrt Bertschi ab, „der Text ist nur vom Stil her komisch, aber der Inhalt ist faszinierend. Du bringst da etwas auf das Tapet, wovon wir keine Ahnung haben. Oder kennt sich jemand von euch mit mystischem Kram aus? Ob diese Geschichte von der Zahl 5 für den Mord an der Unbekannten relevant ist, werden wir sehen. Vielleicht haben wir es mit Menschen aus Osteuropa zu tun und kennen ihre Bräuche nicht.“
„Die Geschichte passt doch für unseren Fall wie der Deckel auf den Topf. Schließlich hat die Frau ein Kind erwartet“, mischt sich Emmer ein.
„Ja, und“, bügelt Beta den Kollegen ab, „die Schwangerschaft hat doch nicht zwangsläufig mit dem Verbrechen zu tun.“
„Ich tippe auf eine schräge Lovestory, bei der Macht oder Ehrverletzung oder weiß der Teufel was eine Rolle spielt“, sagt Bertschi, und erntet eifriges Kopfnicken von Emmer.
Beta erhebt sich. „Horcht zu, Leute, wir können nichts tun, so lange die Identität der Toten nicht feststeht. Mal schauen, ob der Hinweis im Radio etwas bringt. Ihr beide“, sie wirft Emmer und Venetz einen Blick zu, „habt Feierabend. Lasst die Handys eingeschaltet.“
Bertschi schlüpft in seine neue Jacke. Beta streicht über das weiche braune Leder. „Das Teil ist umwerfend schön. Dein Freund hat einen exquisiten Geschmack.“
„Ich auch“, stellt Bertschi klar, „sonst wäre ich nicht mit Florian zusammen.“ Er stößt einen Seufzer der Erleichterung aus. „Ich kann es nicht fassen, ich habe einen freien Abend! Mensch, wie ich mich auf den Chor freue. Weißt du, wie sehr ich das Singen vermisst habe? Zwei lange Wochen ohne Chorgesang, das ist mir zu viel! Ich bin süchtig danach, und wenn ich nicht singen kann, werd ich depressiv. Ich kann mir ein Leben ohne A-Capella-Chor nicht mehr vorstellen. Amputiert würde ich mich fühlen ohne ihn. Hab ich dir schon gesagt, dass wir am 8. Dezember auftreten?“
„Ja, und ich werde mit meiner Freundin in der ersten Reihe sitzen. Wir sind doch deine Groupies!“
Die Lichtverhältnisse befriedigen Zeiter nicht, obwohl die große Deckenleuchte den Raum in Tageshelle taucht. Er rückt den Scheinwerfer an die Arbeitsplatte, schaltet ihn ein und fokussiert ihn auf eine Serie von Fotos aus den Walliser Alpen. Unschlüssig wandert er vor dem Tisch auf und ab, und mit jedem Schritt wird ihm die Erinnerung an die achttägige Skitour von Chamonix nach Saas Fee lebendiger. Schließlich bleibt er vor dem Bild mit den erotisch anmutenden weißen Hügeln vor düsterem Himmel stehen. Ja, da hält man inne, dieses Foto schaut man an. Zufrieden legt es Zeiter in die Mappe. Dann wählt er ein zweites aus. Ein kleiner Junge mit Skiern und Helm liegt auf der Piste und schleckt Schnee. Sein absoluter Favorit jedoch ist das dritte Bild, das keinen Betrachter gleichgültig lässt, weil es irritiert. Wer außer ihm hat je das im Abendrot versinkende Strahlhorn gesehen, dessen Gipfel sich zum leuchtenden Vollmond beugt? Gibt es das, diesen befremdlichen Paartanz von rot brennendem Sonnenuntergang mit einem kühlen Mondaufgang?
Seine Hand blättert weiter. Ja, das Foto von den Dächern der Altstadt Bern, aufgenommen vom 100 Meter hohen Turm des Berner Münster, wird ebenfalls mitgeschickt. Und auch das nächste, das von der Hochhaussiedlung Tscharnergut. Ein Kollege vertiefte sich lang in dieses Bild, das ihn außerordentlich zu berühren schien. Er sei dort aufgewachsen, erklärte er Zeiter, und die Komposition von Bauklötzen, eingetaucht in geheimnisvolle Dämmerung, verleihe dem Stadtrandquartier eine eigenartige Faszination. Dazu wiegte er den Kopf, und meinte: „Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters“.
„Nicht nur“, wagte Zeiter einzuwenden. „Schönheit entsteht zum Beispiel durch Manipulation der Lichtverhältnisse.“ Dann lachten sie.
Zufrieden schaltet Zeiter den Scheinwerfer aus. Er weiß, dass seine Arbeiten gut sind. Diesmal wird er den Zuschlag für die Reportage am Wirtschaftsgipfel in Davos bekommen. Klar, wer sonst, wenn nicht er. Sorgfältig schiebt Zeiter die Fotos ins Kuvert und erwähnt im Begleitschreiben, dass sein Atelier in der Brunngasse Interessierten offenstehe.
Bevor er sich auf den Weg zur Post macht, fällt ihm ein, dass noch eine Reportage über die Wagenburg in Bethlehem aussteht. Er wählt die Nummer seiner Kollegin, um einen Termin zu vereinbaren, doch sie nimmt nicht ab. Warum hat sie den Anrufbeantworter ausgeschaltet? Hoffentlich erreicht er sie heute noch. Dann kriegt sie was zu hören. Wäre ja noch schöner, sich von ihr die Tagesplanung über den Haufen werfen zu lassen.
„Ein letztes“, sagt Petrovic und nimmt die Bierdose entgegen. Es ist die dritte, und er spürt, wie sich die Distanz zur Außenwelt verringert. Die Augen seiner Kumpel glänzen. Er fühlt sich leicht, und ihn durchströmt eine Zufriedenheit, wie er sie schon lang nicht mehr erlebt hat. Normalerweise geht er nach der Arbeit sofort nach Hause, mit dem Trinken hat er es nicht und mit dem lärmenden Grölen noch viel weniger. Meistens dreht er nach Dienstschluss eine Runde um den Egelsee, wirft den Enten ein paar Brotkrumen hin und beobachtet manchmal die spielenden Kinder. Dann ertappt er sich dabei, wie er von Enkeln träumt. Alt genug wäre er dafür.
„Prost“, reißt ihn der Albaner aus den Gedanken, und dann stoßen alle zum x-ten Mal auf den Mann an, der seinen Geburtstag feiert. Der einzige Schweizer in der Runde ist verbal im Vorteil, wenn politisiert wird. Vorhin, als es um die Löhne ging, schlugen die Wellen hoch. Jeder spielte sich als Experte auf und operierte mit den Begriffen, die ihm zur Verfügung standen. Alles Diebe, Gauner und Betrüger, schrien die Polen und der Albaner durcheinander, und sie hätten gern mehr gesagt, scheiterten aber an den dazu passenden Verben. Der Schweizer dagegen, mit deutscher Zunge und neutral geboren, legte für die Arbeitgeber ein gutes Wort ein, worauf ihn der Bulgare mit einer unmissverständlichen Geste unterbrach. Für Ausbeuter kenne er keine Gnade.
Nach dem letzten Schluck aus der Dose begibt sich Petrovic in den Umkleideraum. Ordentlich hängt er die Arbeitskleider auf und schlüpft in Jeans und Sweatshirt. Er ruft den Kumpeln Ciao zu und verlässt den Recyclinghof, der ihm mit den Jahren zum zweiten Zuhause geworden ist. Die Sammelstelle bietet ihm alles, was er braucht. Er sucht sich Eisen aus und alte Geräte, wühlt im Container nach geeignetem Holz und fertigt originelle Möbel an, die er dann zum Spottpreis an Bekannte verkauft.
Auf dem Weg Richtung Breitenrain beginnt ihm der Magen zu knurren, und er ist froh, dass er sich das Kochen ersparen kann. Es gibt noch Reste vom Vortag. Er hat sich längst daran gewöhnt, dass daheim niemand auf ihn wartet. Seine Frau ist seit fünfzehn Jahren tot, und seine Tochter lebt in ihrer eigenen Wohnung. Sie ist ein guter Mensch, jede Woche kommt sie ihn besuchen, und wenn sie miteinander serbisch sprechen, hat er das Gefühl, in seiner Heimat zu sein. Am Samstag wird sie wieder vorbeischauen, dann wird er das Djuvec machen, er weiß, wie gern sie es isst. Er kocht es immer mit Rindfleisch, Gemüse und Reis. Manche geben auch Kartoffeln hinzu, doch die haben seiner Meinung nach im Schmorgericht nichts verloren.
Wie es seinem Mädchen wohl geht? Das letzte Mal war sie niedergeschlagen. Sie erschien ihm wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln, und es gelang ihm nicht, sie aufzuheitern. Ihre Melancholie machte ihn hilflos, und er wusste nicht, wie sich verhalten. Wenn er ihr die Traurigkeit bloß abnehmen könnte! Kraft hätte er genug, aber das ist nicht der Punkt. Liebeskummer gehört zum Leben wie der Husten, da muss man alleine durch, findet Petrovic.
Es tut ihm aufrichtig leid, sein Mädchen unglücklich zu sehen, aber im Innersten seines Herzens ist er froh, dass die Geschichte mit diesem Finnen zu Ende ist. Der Kerl hat ihm nie gefallen, und er ist der Meinung, dass seine Tochter einen besseren Mann verdient. In den vergangenen drei Jahren hat er sich oft gefragt, warum seine Tochter auf diesen Mann steht. Weil er den Antimacho verkörpert? Weil er das Sanfte, das Liebevolle ausstrahlt? Weil er mit seinem klapprigen Körper ihren Mutterinstinkt weckt?
Petrovic steigt die Galle hoch, wenn er an diesen Nichtsnutz denkt. Einmal hat Hakala großspurig erklärt, dass er aus Finnland stamme, dem Land der Dunkelheit, wo der Alkohol die Sonne ersetze. Und dann hat er, ohne abzusetzen, einen halben Liter Bier in sich hineingeschüttet. Wenn Hakala in seinem Beruf nur halb so tüchtig wäre wie beim Saufen! Gibt sich als Musiker aus, zupft drei Akkorde auf seiner Gitarre und glaubt dann, mit seinem mageren Song einen Hit zu landen. Von intensiver Arbeit hält der Mann nichts. Ihm reicht die Idee, künstlerisch tätig zu sein. Ungeniert hat er sich aushalten lassen, für Kost und Logis zahlte er nichts. Nun also hat die Made den Speck verlassen. Hakala ist auf und davon, und niemand weiß, wo er sich aufhält.
Petrovic biegt um die Ecke, noch dreißig Schritte, und er ist daheim. Plötzlich herrscht in seinem Kopf ein entsetzlicher Wirrwarr. Der Traum von einer richtigen Familie ist zerplatzt, ohne Schwiegersohn wird er kein Großvater. Er wünscht sich, Hakala möge zurückkehren. Ach was, ich alter Trottel, schimpft er mit sich, auf die Hakalas dieser Welt kann ich verzichten. Nur um sich gleich darauf zu fragen: Was, wenn meine Tochter depressiv wird? Hoffentlich taucht Hakala nie mehr auf.
Als Beta vor ihrem Haus am Thunersee aussteigt, hat die Sonne bereits sämtliche Strahlen eingesammelt und ist zwischen majestätischen Berggipfeln versunken. Sie lässt einen feuerroten Himmel zurück, der aussieht wie ein mächtiges Heer von Glühwürmchen. Beta geht hinunter ans Wasser und setzt sich auf den Bootssteg. In der Stille empfindet sie das Plätschern der sanften Wellen unverhältnismäßig laut. Doch je länger das Geräusch an ihr Ohr dringt, umso weniger nimmt sie es wahr. Die Schwalben üben ihre Sturzflüge und Saltos und schnappen nebenbei nach Mücken. Beta vermeint, die Vögel vor Übermut kichern zu hören.
Die Dämmerung taucht die Landschaft in blasses Licht. Die Konturen verschwinden.
Beta schlüpft ins Haus, schaltet das wohlige Licht der Steh- und Tischlampen an, und legt Musik auf. Sie wartet auf den Beginn des Songs, und stimmt dann mit ein:
Jetzt san de Tag schon kürzer wordn und Blattln foin a von de Bam …
Jedes Wort kennt sie vom Lied und der österreichische Dialekt stört sie nicht.
die Sunn is a schon untergangn und i hätt di gern in meiner Näh' … 'jetzt bist soweit – weit weg von mir …
Beta verschränkt die Arme vor der Brust, als wolle sie sich selbst umarmen. Sie wiegt den Körper im Takt, und auf einmal schmettert sie leidenschaftlich laut mit: jetzt is bald a Monat her dass ma uns noch ghalten haben …
Die letzten Worte singt Hubert von Goisern allein. Beta kämpft mit der Wehmut. Ach, wenn sie nur jemand in den Arm nähme, und ihr über den Rücken streichelte. Aber da ist niemand weit und breit. Unendliche Trauer erfasst sie. Die Luft riecht nach Seelenschmerz.
Erschöpft breitet Beta die kuschelige Decke über sich und flieht in den Halbschlaf. Beim Song Heast du nit, wia die Zeit vergeht fährt sie elektrisiert hoch. Genau. Genau dieses Lied soll an ihrem Begräbnis gespielt werden. Beta sieht ihre Totenfeier vor sich, ein wunderbares Fest mit den besten Tapas der Stadt und edlem Wein. Ihr geliebter Fabrizio sitzt neben Tante Elsa, und die beiden rauchen ohne Ende Zigarillos. Im Hintergrund läuft der Song von der vergehenden Zeit, den Bertschi auf maximale Lautstärke dreht. Alle Gäste kennen das Lied und singen mit.
Beta richtet sich auf und schüttelt den Kopf. Das mit dem Sterben muss sie verschieben, jetzt sind andere Dinge angesagt. Der Magen hängt ihr durch, und ihr Hirn entwirft bereits ein Schnellmenü.
Entschlossen erhebt sie sich vom Sofa.
Während Beta eine Zwiebel schält, denkt sie an Alba und an ihre letzte Begegnung mit Fabrizio.
Vier Tage Urlaub hatte sie, und sie half ihm alle vier Tage bei seiner Arbeit im Weinberg. Zusammen pflückten sie Stunde um Stunde reife Trauben, und abends sackten sie müde in weiche Kissen, und erzählten sich Geschichten aus ihrem Alltag.
Am letzten Abend vor ihrer Abfahrt erwähnte Beta die Belastung in ihrem Beruf. Der Druck von außen sei enorm, weil man von ihr sofort Ergebnisse erwarte, wo man doch zuerst recherchieren, sammeln und prüfen müsse. Der Chef vermittle ihr das Gefühl, sie arbeite zu langsam. Dann zermartere sie sich den Kopf, wo sie Zeit einsparen könne. Manchmal gebe sie ihre Anspannung an die Kollegen weiter, aber das sei fatal, weil die sich dagegen wehren. Das sei dann der Moment, in dem sie sich inkompetent fühle. Die Rolle der klugen Kommissarin, die stets weiß, wie es weiter gehen soll, belaste sie, und die Angst, eine Fehlentscheidung zu treffen, raube ihr die Gelassenheit.
„Das heißt, du stehst von früh bis spät unter Strom“, brachte Fabrizio ihre Klagen auf den Punkt, bevor er in seinem wienerisch gefärbten Deutsch fortfuhr: „Warum sperrst du alles weg, was dich belastet? Immer willst du stark sein.“ Und dann fügte er hinzu: „Wahre Stärke lässt Schwäche zu.“
Damals schäumte sie vor Wut, und nur ein letzter Rest von Vernunft hielt sie davon ab, Fabrizio zum Teufel zu jagen. Beta beschleicht ein eigenartiges Gefühl. Sie spürt den gleichen unbändigen Zorn auf Fabrizio wie damals. Plötzlich kennt sie die Antwort. Sie hätte damals von Fabrizio hören wollen, dass sie zu viel um die Ohren habe. dass andere Menschen unter der Last solcher Verantwortung zusammenbrächen. Und was machte Fabrizio? Er nahm sie nicht in den Arm. Entgegen seiner üblichen Art ging er nicht auf ihre Nöte ein. Beta interpretierte sein Verhalten als Desinteresse und holte zum Gegenschlag aus. Sie schrie und schimpfte, und erklärte ihm, dass sie keinen Besserwisser ohne Mitgefühl brauche. Von seinem Weinberg habe sie ohnedies lägst die Schnauze voll, und den sauren Trauben wünsche sie die Pest.
„Das wird nichts, die hab ich gerade gespritzt“, warf Fabrizio trocken ein.
Beta lauschte der Bemerkung hinterher und musste lachen. Das war Fabrizio, wie sie ihn kannte. Sie konnte keifen, so viel sie wollte, er verlor die Ruhe nicht. Selbst im Streit blieb er bei sich, während sie außer sich geriet.
An jenem Abend erklärte Fabrizio ihr, warum er sie nicht in den Arm genommen habe. Er habe sie unzählige Male aufgefangen, wenn es ihr schlecht gegangen sei. Er habe mit ihr eine Strategie entwickelt, um den Stress abzubauen, aber sie habe nichts verändert. Weder mache sie Entspannungsübungen, noch setze sie Prioritäten in ihrem Job. Sie interessiere sich gar nicht für die Verbesserung ihrer Lage. Ihr reiche es, zu jammern und zu schimpfen. Aber so gehe das nicht. Ihm würden keine ermutigenden Worte mehr einfallen, weil sie für einen neuen Weg nicht offen sei.
Damals wurde Beta mit jedem seiner Worte kleiner. Sie hatte geglaubt, Fabrizio würde sie uneingeschränkt bewundern. Aber da hatte sie sich getäuscht. Nach langem Schweigen fragte sie kleinlaut: „Was war jetzt das Problem?“
„Dein Problem ist, dass du Probleme wegschiebst, anstatt dich damit zu beschäftigen. Und mein Problem besteht darin, dir zu helfen, deine Probleme zu verdrängen. So geht das nicht weiter.“
„Das sind viele Probleme auf einmal. Aber eigentlich geht es mir doch gut“, fügte sie zaghaft hinzu.
„Glaubst du?“ Fabrizio schenkte ihr einen hingebungsvollen Blick, der sie verzweifelt schluchzen ließ, bis sie nur noch mit geschwollenen Augen vor sich hinstarrte.
Fabrizio verschwand und kehrte nach einer Weile mit zwei bauchigen Gläsern und einer Flasche zurück. Das sei ein besonderer Tropfen, erklärte er, schenkte ein, und reichte Beta den rubinroten Wein.
„Nach Veilchen riecht er“, murmelte Beta, und guckte auf die Etikette. Lacrima. Das Christi war durchgestrichen und darüber prangte in schwarzen Lettern ihr Name.
Beta kramt im Kühlschrank. Dann schneidet sie Fenchel, Champignons, Knoblauch und Ingwer klein, und fügt sie den Zwiebeln bei. Sie streut eine Handvoll Risotto ein, gießt mit Wasser und Wein auf und lässt den Eintopf köcheln.
Warum lebt Fabrizio im Piemont? Warum wachsen seine Reben nicht am Thunersee?
Beta drückt auf die Taste mit der ellenlangen Nummer. Nach dem zweiten Klingeln nimmt Fabrizio ab. „Wer bist du, der da kommt schon vor der Zeit?“ rezitiert er.
Beta würde gern mit einer passenden Textstelle antworten und bedauert einmal mehr, dass sie Fabrizio literarisch nicht gewachsen ist. Sein größter Fundus an Zitaten stammt aus der Divina Comedia. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht das vom Blättern zerfledderte Buch zur Hand nimmt. Am Anfang ihrer Beziehung ärgerte sich Beta über seine Marotte, vorm Einschlafen mit Dante statt mit ihr zu kommunizieren. Welche Frau will schon ihren Geliebten mit einem Mann teilen, der immer anwesend ist, wenn auch nicht physisch.
Fabrizio erzählt, dass ihm der ununterbrochene Regen Sorgen bereite, denn die späte Traubensorte hänge noch am Rebstock, und er befürchtet, die Beeren könnten verfaulen.
„Dann pflück schleunigst die Trauben“, meint Beta, die nicht versteht, wo das Problem liegt.
„Daran hab ich noch gar nicht gedacht.“
Beta stutzt. Der Mann verarscht sie, und sie beginnt zu glucksen. „Also, dann verrat mir, wo der Haken ist.“
„Die Erde ist so durchweicht, dass ich mit dem Traktor stecken bleibe.“
„Cazzo. Welcher Heilige ist zuständig fürs gute Wetter?“ Einen Augenblick lang knackst es in der Leitung, offenbar erwartet Fabrizio keine Wunder.
Beta schlägt einen sanften Ton an: „Ich wäre so gern bei dir, und ich habe keine Ahnung, wann ich das nächste Mal kommen kann. Was dir die Reben …“ Beta sucht fieberhaft nach einem entsprechenden Vergleich. „Was mir die Reben, ist dir der Mord“, nimmt ihr Fabrizio den Satz aus dem Mund. „Eines Tages werden wir uns entscheiden müssen.“
„Ja“, haucht Beta sehnsüchtig.
Das Einkaufszentrum Tscharnergut hat seit zwei Stunden geschlossen. Der Vorplatz ist wie leergefegt. Still ist es, und leblos ohne die Kunden mit ihren vollgepackten Tüten. Jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, bevölkert sich das Areal wieder. Nun gehört es den Jungen vom Quartier. Sie schlendern heran, bilden Gruppen, schubsen sich, kreischen, lachen und fallen einander ins Wort. Sie unterhalten sich in Berndeutsch. Worte in anderen Sprachen mischen sich darunter.
Manchmal, wenn jemand etwas erklärt, wird es ruhig. Einigen von ihnen sieht man an, dass ihre Eltern von weit herkommen.
Zwei Typen, beide in weißen Sweatshirts und Jeans, verschwinden hinterm Flachbau, kehren aber bald darauf zurück. Ein paar aufgemotzte Mädchen sammeln glucksend Komplimente ein, ein paar Kecke spotten über die Jungs und ihre angestrengte Coolness.
Dann biegt ein spindeldürrer Freak um die Ecke. Sofort zieht er die Aufmerksamkeit auf sich.
Es geht los, der Rapperkönig von Bethlehem ist da. Jeder kennt ihn. Sein Markenzeichen ist die lila Mütze, und schon jeder hat sich mindestens einmal gefragt, wie man als ganzer Kerl die Farbe Lila wählen kann. Lastcall, so nennt sich der Rapper, hat darauf die immer gleiche Antwort: Man muss auffallen wie ein bunter Hund, damit man wahrgenommen wird.
Lastcall begrüßt seine Fans mit dem Victoryzeichen, und sie erwidern stumm den Gruß. Dann stellt er den Ghettoblaster auf die Mauer und dreht die Lautstärke so hoch, dass der Bass richtig wummert. Die Groupies rücken näher und starren gebannt auf seine Bewegungen. Sie kreisen ihn ein, und klatschen und johlen und rappen mit. Lastcall singt von der Endlossuche nach einer Lehrstelle, er singt vom Dauerlauf ohne Ziel. Da ist niemand, der ihm sagt, komm her, ich hab einen Job für dich. Keine Chance. Dabei ist er nicht blöder als der Lüthi und der Hofer, der Meichtry und der Zemp. Sein Problem ist bloß der Name. Wer wie er Nikolic heißt, hat die Arschkarte gezogen und kriegt sie nicht mehr los.
Die Fans wiederholen den Refrain leidenschaftlich, und die Worte, die sie rappen, schlagen Wurzeln in ihren Köpfen.