Auf einer Skala von 1 bis 10 - Ceylan Scott - E-Book

Auf einer Skala von 1 bis 10 E-Book

Ceylan Scott

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Beschreibung

Iris ist tot. Und Tamar sitzt in Lime Grove, einer geschlossenen Jugendpsychiatrie, wo sie den ganzen Tag lang sinnlose Fragen beantworten soll. Wie fühlst du dich, auf einer Skala von 1 bis 10? Du weißt schon, dass du dich nicht normal verhältst? Was genau ist eigentlich passiert? Aber Tamar sagt nichts. Sie kann einfach nicht erzählen, was mit Iris geschehen ist. Das Monster lässt es nicht zu. Packend, echt, mitfühlend – dieser Insiderroman liest sich wie ein Thriller und sensibilisiert für die dramatischen Ausmaße psychischer Krankheiten.

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Iris ist tot. Und Tamar sitzt in Lime Grove, einer geschlossenen Jugendpsychiatrie, wo sie den ganzen Tag lang sinnlose Fragen beantworten soll. Wie fühlst du dich, auf einer Skala von 1 bis 10? Du weißt schon, dass du dich nicht normal verhältst? Was genau ist eigentlich passiert? Aber Tamar sagt nichts. Sie kann einfach nicht erzählen, was mit Iris geschehen ist. Das Monster lässt es nicht zu.

Packend, echt, mitfühlend – dieser Insiderroman liest sich wie ein Thriller und sensibilisiert für die dramatischen Ausmaße psychischer Krankheiten.

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Für meine Mama

Die beiden Mädchen tranken seit drei Uhr, einen großen Schluck aus der Dose bei jeder Welle, die ans Flussufer krachte. Dazu Golden-Virginia-Tabak, der aussah wie verschrumpelte Würmer und beim Drehen aus dem Papier krümelte. Sie versuchten Rauchringe in die schwüle Luft zu blasen.

Schafften es aber nicht.

Kicherten.

Alles drehte sich. Vielleicht vom Alkohol, vielleicht von der Hitze.

Es war schon spät, der Himmel blassrosa wie das glatte Innere einer Muschel. Die Cider-Dosen schimmerten im Gras und die Bäume ließen, von wochenlangem Regen niedergedrückt, ihre Äste hängen. Henna-Tattoos auf den nackten Armen der Mädchen, eine schon verblassende Erinnerung an windig-wilde Festivals.

Das blonde Mädchen nahm noch einen Schluck aus der Dose.

Das andere Mädchen knüpfte eine Gänseblümchenkette, so lang wie ihre Beine. Sie warf sie in den Fluss, wo sie davontrieb wie winzige Lilien. Eine Krähe beäugte gierig einen angesengten Speckstreifen auf einer Grillschale, die irgendwer liegen gelassen hatte. Sie krächzte und ihre schwarzen Augen glänzten. Die Mädchen redeten.

Die erste deutete auf den wirbelnden Fluss, das Wasser braun und schwarz und schäumend. Die beiden lachten. Das zweite Mädchen nickte.

Die Finger der Mädchen umschlossen einander zu einem betrunkenen Griff und beim Aufstehen schwankten sie. Ihre Schuhe zogen sie sich gar nicht erst an. Vor ihnen toste das Wehr.

»Wir sind solche Idioten«, sagte das blonde Mädchen.

»Totale Idioten.«

Sie stolperten über rutschige Moosbüschel, die Unterschenkel rot vor Kälte. Die Zweige eines toten Baums standen hervor wie Knochen, und das verblichene Lila in den Haarsträhnen der Blonden wirkte wie ein Echo des Sonnenuntergangs.

»Spring, Iris«, sagte die Blonde. »Ich komm dann auch.«

In Lime Grove wollen sie mich als Erstes dazu bringen, über das Monster zu reden.

Dr. Flores und eine Krankenschwester versuchen kleine Schnipsel Wahrheit aus mir herauszupulen. Sie stellen hundert Fragen auf hundert verschiedene Arten, in der Hoffnung, dass mich eine davon erwischt.

Wie hat das mit dem Selbstverletzen angefangen?

Erzählst du uns, was passiert ist?

Dir ist schon klar, dass dein Verhalten nicht normal ist, oder?

Nimm unsere Hilfe an.

Du kannst dir nur selbst helfen.

Ich sage nichts. Das Monster lässt mich nicht. Die Zimmereinrichtung ist ausnahmslos in der gleichen ätzenden Farbpalette gehalten: Die rissigen Wände sind rosa, die Metallschränke grellpink, die Ledersessel mattrot, und in einer Ecke steht verloren ein fuchsiafarbener Sitzsack herum. Therapieraum 1 behauptet das Schild an der Tür, was Blödsinn ist, weil kein Therapieraum 2 oder 3 zu sehen ist und mir das hier kein bisschen so vorkommt wie eine Therapie. Meine Jeans schmiegen sich an meine Oberschenkel, trotzdem zittern mir die Knie, und meine Haare sind fettiger als Pommes direkt aus der Fritteuse. Um meine Lippen sprießen lauter fiese rote Pickel. Keine Ahnung warum.

Dr. Flores kritzelt etwas auf seinen Block und hält ihn dabei so, dass ich sein spirreliges Geschreibsel nicht lesen kann.

»Tut mir leid, wir müssen uns Notizen machen«, sagt er. »Das ist Vorschrift.«

Dr. Flores ist zwar schlaksig, an den entscheidenden Stellen aber doch zu kurz geraten. Er kaut auf der Kappe seines Stifts herum wie auf Kaugummi und trägt einen Anzug mit Weste, dazu ein lila gestreiftes Hemd und eine Krawatte mit dem Periodensystem, genau beim Helium zu einem perfekten Knoten gebunden. Seine zerschrammte Brille hat einen dicken Rand und vor lauter Haargel sieht er aus wie ein Igel. Ich habe den Eindruck, er kann mich nicht leiden, aber vielleicht ist es so leichter für ihn. Er mag mich nicht, ich mag ihn nicht, Abstand zum Patienten.

Die Krankenschwester riecht nach Anfängerin. Ihre blaue Uniform ist neu und hat Knickfalten, ihr Lächeln wirkt wie aus Ton zurechtgeknetet.

»Lass uns mal nachdenken, wie’s dir gegangen ist, als –«

»Wann kann ich nach Hause?« Meine Stimme klingt brüchiger als mir lieb ist.

»Du musst zur Einschätzung hierbleiben.«

»Was gibt’s denn da einzuschätzen?«

Dr. Flores betrachtet den Verband an meinem Arm, das kleine runde Pflaster über dem Einstich der Kanüle, den Bluterguss an meinem Hals, der wie dunkler Wein aussieht. Jetzt ist er derjenige, der nicht antwortet.

»Was ist mit Iris passiert?«, fragt er stattdessen.

Nach einer Stunde hört er auf zu fragen.

Wenn du wirklich alles erfahren willst, sollte ich wohl als Erstes erzählen, dass ich im Paradies aufgewachsen bin und dieses Paradies ruiniert wurde durch den Umzug in die Stadt, mit ihren Abgasen und Autos, mit den vielen Leuten und den endlosen Reihen von identischen Backsteinhäusern, mit diesem drückenden grauen Himmel. Aber daran kann ich mich kaum noch erinnern und das ist auch nicht der Grund für meinen Wahnsinn.

Ich werde einen nur schwach von LED-Röhren beleuchteten Korridor entlanggeführt, mit nummerierten Türen auf beiden Seiten. Manche sind bunt beklebt, mit Namensschildern und BETRETEN-VERBOTEN-Postern. Vor einer Tür mit der Nummer 4 bleiben wir stehen. Über der Zahl ist ein kleines Fenster. Drinnen gibt es ein Bett mit blassgrüner Decke, einen kratzigen dunkelblauen Teppichboden, kahle Wände, einen Schrank und einen Stuhl. Das Zimmer ist weiß getüncht, nur eine Wand lindgrün. Wie kommt jemand auf lindgrün? Über dem Bett ein Whiteboard mit Stiften. Vielleicht denken die, ich schreibe alles auf, was passiert ist. Ich stelle es mir in Blutrot vor, und über meinem Kissen ein Grabstein.

Zwei andere blaue Krankenschwestern sehen zu, wie ich mich bis auf die Unterwäsche ausziehe, dann scannen sie meinen Körper mit Metalldetektoren, meine Würde ist ihnen vollkommen egal. Sie bohren ihre Wurstfinger ins BH-Polster, dann kippen sie den Inhalt meiner Tasche auf Metalltabletts und setzen sich auf mein Bett. Jedenfalls kann ich es wohl mein Bett nennen. Kulis sind verboten. Zu spitz. Keine Kulis, kein Make-up, kein Parfüm, keine Klamotten mit Kordelzug, keine Schnürsenkel – alles verboten. Ich spüre ihre Blicke auf meinen Armen: Narbengewebe, Linien kreuz und quer, glänzend und rot, dazu ein paar frische Schnitte. Sie lassen mich mit einer Handvoll beschissener Zeitschriften und einer übersehenen Zigarettenkippe im Zimmer zurück.

In Unterwäsche schlüpfe ich ins Bett. Eine der Schwestern sitzt an der offenen Tür und liest in einer Illustrierten. Eins-zu-eins-Betreuung – eine nette Umschreibung für Suizidwache. Man wird mich nicht allein lassen.

Ich starre auf das rote Licht an der Decke und höre der Krankenschwester beim Umblättern zu.

Ich kann mich nicht an die Bettlaken gewöhnen, sie sind so glatt und rutschig. Die Vorhänge, mit Magneten befestigt, bewegen sich leise, obwohl gar kein Luftzug da ist, und das grüne Licht im Korridor erinnert mich die ganze Zeit daran, dass ich in einem Krankenhaus bin. Im Büro nebenan die Pfleger, ein dauerndes Rein und Raus, und jedes Mal dieses Wischen und Piepsen, wenn die Karte durchgezogen wird. Fernes Rauschen einer Autobahn. Sirenen. Das Husten der Schwester an der Tür. Das Klappern von Teebechern. Verpackungen, die aufgerissen werden. Leise Gespräche.

Regentropfen kratzen am Fenster und Iris ist überall. Ich sehe sie in den wehenden Vorhängen. Ich höre sie im Regen, und wenn ich die Augen schließe, spüre ich ihren Atem an meinem Hals, ihre Arme auf meinen Rücken, ihre Hände um meine Kehle. Ihre Fingernägel graben sich in meine Handflächen. Ich stolpere aus dem Bett, während Iris meine Knöchel umklammert, und die Schwester gibt mir zwei längliche Schlaftabletten. Ich schaffe es, Iris abzuschütteln, bis der Sturm sich legt und ein neuer Tag beginnt.

Grelles Licht weckt mich. Auf dem Stuhl sitzt eine neue Krankenschwester.

Sie ist klein und pummelig und ihre dunkelrot gefärbten Haare sind gnadenlos geglättet. Erst mal bleibe ich in meinem Kokon und beobachte sie eine Weile, während sie still in ihrem Klatsch-Magazin blättert. Neben ihr liegt ein Klemmbrett mit einem Beobachtungsbogen.

Ich setze mich auf. Sie schaut mich an.

»Guten Morgen«, sagt sie penetrant fröhlich. »Ich bin Emma.« Sie hat einen leichten Akzent, schottisch vielleicht.

Ich lächle irgendwie verquer. So bin ich eben, verquer. Für mein Gefühl ist alles, was ich tue, irgendwie verquer. Sogar das Wort selbst.

Okay, Emma sitzt also auf ihrem abgewetzten Krankenkassenstuhl und ich auf meinem Bett. Sie fragt mich, ob ich duschen will.

»Meinetwegen«, antworte ich lahm. Das klingt unentschieden, dabei wollte ich schon dringend duschen, bevor ich überhaupt hier angekommen bin.

»Du musst den Verband abdecken, der darf nicht nass werden. Wir haben hier solche wasserdichten Ärmel.« Sie holt ein Kunststoffteil aus dem Schrank und gibt es mir. Das Ding riecht nach Gummi.

Draußen im Korridor folge ich einem Schild zum nächsten Waschraum.

»Nein, nicht den«, ruft Emma hinter mir her. »Da funktioniert das kalte Wasser nicht. Das ist zu gefährlich, am Ende verbrennst du dich noch. Und der auf der anderen Seite taugt auch nichts, da ist die Dusche kaputt.«

Ich folge Emma zu einem Waschraum ganz am Ende des Korridors. »Tut mir leid, aber im Moment funktioniert wirklich nur der.« Sie kichert.

»Okay, danke.«

Emma rührt sich nicht vom Fleck. Na super, sie will dabeibleiben.

»Ignorier mich einfach«, sagt sie und kommt mit in die Kabine. »Ich kenn das doch alles.«

Beim Ausziehen verstecke ich mich so gut wie möglich hinter dem serviettengroßen Billighandtuch. Das Unterhemd muss ich mir also mit einer Hand ausziehen. Wie soll das gehen, sie ignorieren? Sie ist da, steht direkt vor mir und betrachtet meinen nackten Körper ganz genau, auch wenn sie so tut, als würde sie wegschauen. Ich könnte ja auf die Idee kommen, mich in der Kloschüssel zu ertränken. Sie muss immer wachsam sein, klar.

Stotternd geht die Dusche an. Ich greife nach dem Duschvorhang.

»Tut mir leid, den darfst du nicht zumachen.«

Ich drehe mich zur Wand, ein letzter Versuch, meine Würde zu wahren. Während ich mich unter dem schwachen Duschstrahl einseife, ist mir mein Körper unangenehm bewusst. Ich spüre jeden Wassertropfen auf meiner Haut. Meine Nerven sind jetzt wach, alles an mir scheint unter Strom zu stehen. Ich betrachte mich, will wissen, ob ich Funken sprühe. Tue ich natürlich nicht. Wie komme ich bloß auf so eine blöde Idee?

Es gibt hier keine Wasserhähne; nur so eine Art Schalter am Waschbecken und in der Dusche. Auch eine Klobrille fehlt, keine Ahnung warum. Die überschätzen meine Fähigkeiten, mir etwas anzutun. Mit einer Klobrille wüsste ich echt nichts anzufangen.

Ich wasche mich halbherzig, ohne mich umzudrehen und Emma anzuschauen. Vielleicht lacht sie ja über meinen widerlichen Körper, das will ich lieber nicht mitkriegen. Die Dusche geht von selbst aus, dabei habe ich noch Shampoo im Gesicht. Mit geschlossenen Augen und seifigen Händen taste ich die Wand ab, bis ich den verdammten Schalter finde. Falls Emma noch nicht über mich gelacht hat, tut sie es jetzt garantiert. Schaum glitscht über meine Schultern, verschwindet im Abfluss. Die kalte Luft erwischt mich und ich greife nach dem Handtuch, hoffe, dass es wenigstens wärmt. Aber natürlich ist das Ding auch dafür zu klein. Unter dem Kunststoffärmel hat sich Kondenswasser gebildet, auf meinem Arm sind lauter Tröpfchen. Ein Krankenpfleger geht an der offenen Waschraumtür vorbei. Mit dem fetten Schlüsselbund an seiner Hüfte sieht er wie ein Gefängniswärter aus.

Hektisch ziehe ich mich an; der Reißverschluss meiner Jeans schabt über meine Oberschenkel. Jemand ruft einem Patienten zu, er soll seine Tabletten nehmen.

»Ich schlafe«, antwortet der Junge genervt. »Das mach ich später.«

Emma führt mich den Korridor entlang, vorbei an einer Tür mit der Aufschrift Behandlungszimmer. Davor stehen ein paar Leute an: zwei Jungen und ein Mädchen in einem Micky-Maus-Einteiler mit Kapuze, die sie sich über den Kopf gezogen hat. Eine Krankenschwester verteilt kleine Becher. Sie beobachtet jeden Patienten beim Runterschlucken der Tabletten und lässt sie hinterher zur Kontrolle den Mund aufmachen und die Zunge rausstrecken.

Emma quasselt ununterbrochen und verbreitet gute Laune. Sie redet über ihre drei Hunde, die Sofaverbot haben, über den Apfelbaum in ihrem Garten, den attraktiven Handwerker, der bei ihr irgendwas renoviert … Ich nicke und grinse und tue, als wäre ich nicht lieber tot.

Am Ende landen wir in einer Art Aufenthaltsraum. Aus den Haaren läuft mir ein Rinnsal Wasser den Rücken runter. Ein Krankenpfleger in Blau hockt auf einem Sitzsack in einer Ecke, die Augen auf einen Flachbildfernseher geheftet, wo eine Talkshow läuft. Über dem Bildschirm ist eine durchsichtige Platte. Der Pfleger winkt lässig in meine Richtung und pfeift Don’t worry, be happy. Still hocke ich mich auf die Kante des erstbesten Sofas; es ist das kleinste im Raum. Es fällt mir schwer, die ängstliche Unruhe in meinem Bauch zu ignorieren. Sie strahlt aus in meine Brust und meine Beine, auch in die Knöchel und Füße. Meine Waden kribbeln. Emma setzt sich neben mich.

»Will, die Aushilfsschwester will mir kein Paracetamol geben. Angeblich hat Dr. Flores keins aufgeschrieben.« Das Mädchen in dem Micky-Maus-Einteiler kommt ins Zimmer gestürmt.

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun, Alice?«, flötet der Pfleger auf dem Sitzsack, der also Will heißt.

»Ich hab so schlimme Kopfschmerzen … Bitte …«, sagt Alice.

»Tut mir leid, da kann ich nichts machen.« Seine Antwort klingt allerdings kein bisschen mitleidig. »Red mit Dr. Flores, wenn er kommt.«

»Na gut«, knurrt sie und verschwindet mit genauso viel Dramatik, wie sie reingekommen ist. Mich bemerkt sie nicht, ich bin einfach zu erbärmlich. In meinen Adern pocht Bedauern, ich bereue jeden saudummen Fehler, der mich in diese Klinik gebracht hat. Hier kann ich nicht bleiben.

»So gegen acht gehen wir immer runter zum Frühstücken.« Emma will mich in ein Gespräch verwickeln.

Aber in meinem Kopf ist für solche Banalitäten kein Platz. Ich kann nicht an einem Ort bleiben, wo mir dauernd jemand hinterhergeht, wo es Metalldetektoren gibt und Fenster in den Türen, wo ich beobachtet werde, als ob ich ein Zootier wäre. Ich passe nicht hierher. Also nicke ich bloß und starre auf die Wanduhr, obwohl ich nicht wirklich erkennen kann, wie spät es ist. Mein Hirn ist müde und tut weh, zu wenig Schlaf und zu viele Gedanken. Sieht aus wie halb fünf, aber das kann nicht sein.

Die Zeiger wandern weiter und immer mehr Leute tauchen auf.

»Alice, komm her und stell dich vor«, sagt Emma zu dem Micky-Maus-Mädchen.

»Hi.« Brav setzt Alice sich neben mich aufs Sofa.

»Das ist Tamar.«

»Ich heiße Tamar«, wiederhole ich. Wie kann man nur so blöd sein? Ich kenne Alice keine sieben Sekunden und habe mich schon zum Deppen gemacht.

»Das ist ein schöner Name«, sagt sie.

»Danke.«

Das Gespräch stockt. Sie lächelt wieder und zupft an ihren Fingernägeln herum. Sogar Fingernägel sind interessanter als ich.

Eine Schwester mit verschmiertem Lidstrich taucht in der Tür auf. Das Schminken hat sie anscheinend auf YouTube gelernt. »Kommt runter«, sagt sie. »Frühstück ist fertig.«

Der Essensraum ist zweigeteilt. In der einen Hälfte stehen blaue Plastiktische, in der andern ein ramponierter Billardtisch und ein paar weinrote Stühle. Alle Esstische haben Namen, erklärt mir Emma – sie heißen Rubin, Saphir, Smaragd, Diamant. Wir Patienten sind also Edelsteine. Ich soll mich an den Rubin-Tisch setzen; da kommen die Leute hin, die »mehr Unterstützung« brauchen, wie Emma es ausdrückt. Ich warte, bis die anderen anfangen, und beobachte, wie viel sie essen und wie schnell. Wie sie kaue ich jeden Bissen Toast mindestens zwanzig Mal.

Insgesamt gibt es zwölf Jugendliche und sechs Pflegekräfte. Neben mir sitzt ein Junge in einem schlabberigen Batman-T-Shirt. Er wirkt furchtbar müde, auch wenn er keine roten Augen hat. Es liegt mehr an seinen schwerfälligen Bewegungen. Seine Arme und Beine scheinen wie aus Blei zu sein und sein Kinn sinkt dauernd auf seine Brust, als wäre es einfach zu anstrengend, den Kopf oben zu halten. Seine Lippen sind trocken und rissig, er sollte mehr Wasser trinken. Aber vielleicht trinkt er nur Apfelsaft. Jedenfalls gießt er sich gerade unsicher welchen ein. Seine Finger sind voll Schorf, von den Knöcheln bis hoch zu den Nägeln, die Krusten sind dunkel und rissig. Er streicht Butter auf seinen Toast, isst ihn aber nicht. Stattdessen trinkt er zwei Becher von dem klaren, hellen Apfelsaft und löffelt eine Portionspackung Marmelade aus.

Alice sitzt mir kauend gegenüber. Sie hat ihren Toast in acht kleine Stücke geschnitten.

Das Mädchen neben ihr hat sich zusammengekringelt wie eine ängstliche Raupe. Sie hält ein zerknittertes Blatt Papier mit buntem Gekritzel hoch. Ich entziffere Harper. Heißt sie so? Der Name passt nicht zu ihr. Das klingt wie Harfe, und Harfen sind große, schwere Dinger, die man unmöglich bewegen kann. Sie wäre auch dann noch winzig, wenn sie nicht so abgemagert wäre. Die Brille in ihrem Gesicht sieht deplatziert aus. Ihre Wangenknochen stehen vor und ihre Augen wirken riesig. Ich muss an ein Insekt denken, an eine Schmeißfliege. Sie berührt ihren Löffel und zuckt zurück, als hätte sie sich verbrannt.

Will und die verschmierte Schwester frühstücken bei uns am Tisch. Sie tun so, als würde es sie nicht im Geringsten interessieren, wie viel, was und wie wir essen, aber das nimmt ihnen keiner ab. Wozu wären sie sonst hier? Immer wenn sie ihre Teller leer gegessen haben, wird etwas Neues aufgetischt: Müsli, Joghurt, Saft. Alice vertilgt alles, fast feierlich und mit versonnenem Blick. Bis die Milch auf den Tisch kommt.

»Das trink ich nicht«, erklärt sie kategorisch. »Das ist widerlich.«

»Musst du aber«, sagt Will. »Kipp den ganzen Becher auf einmal runter, dann ist es vorbei, bevor du es richtig merkst.«

Ich kratze Margarine auf meinen Toast und bin gespannt auf den Streit, der sich hier zusammenbraut.

»Mit Zucker geht es am besten.« Die Aushilfsschwester reißt zwei Zuckerpackungen auf und schüttet sie in den Becher. »Ich finde ja, das ist überhaupt der einzige Weg.«

»Im Müsli war schon Milch, da trink ich nicht noch welche«, protestiert Alice.

»Schluss mit der Debatte«, sagt Emma vom anderen Raumende her. »Die Milch muss sein.«

»Ich trink diese verdammte Scheiße aber nicht!«, schreit Alice auf einmal, fegt mit einer hektischen Bewegung den Becher vom Tisch und steht abrupt auf.

»Reichst du mir mal die Milch?«, bittet Emma den Jungen im Batman-T-Shirt, und zwar vollkommen unironisch. Sie gießt ein bisschen davon in ihren Tee und rührt um.

»Setz dich, Alice«, sagt Will und steht selbst auf.

»Nein.« Alice stürmt zur Tür, doch die verschmierte Schwester ist vor ihr da und lässt sie nicht durch.

»Weg da!«, brüllt Alice. »Ihr könnt mich nicht zwingen. Verpiss dich, du Schlampe!«

»Nicht in diesem Ton«, sagt die Schwester, aber das ist auch schon alles.

Der Batman-Junge kratzt weiter an seinen Marmeladeresten herum, er findet das hier wohl vollkommen normal. Ich wünsche mir, dass es das nicht ist, habe aber wenig Hoffnung. Alice kreischt und will nach der Türklinke greifen, während Will sie festhält.

»Lass mich los! Hau ab!«

»Beruhig dich, Alice.« Will versucht ihre Arme hinter ihrem Rücken zusammenzuhalten. »Beruhig dich.«

»Verpisst euch, ihr Arschlöcher, mit eurer verfickten Milch!«

Vergossene Milch ist kein Grund zu weinen, denke ich. Auf dem Boden ist eine weiße Pfütze.

Ich halte das nicht aus. Was tue ich bloß hier?

Nach dem Frühstück verschwinden fast alle, die hier in Behandlung sind, im Therapieraum zur »Psychoedukation«. Darunter kann ich mir nichts vorstellen, aber ich darf sowieso nicht mit. Ich sitze auf einem weinroten Stuhl, bis Alice zurückgebracht wird – sie ist jetzt ruhiger. Auf einmal kreuzt ein Junge mit Stricknadeln und einem Wollknäuel auf. Er setzt sich neben mich, sieht mich aber nicht an.

»Wo warst du denn beim Frühstück?«, frage ich nach einer Weile. Ich habe ihn am Morgen noch nirgends gesehen.

»Im Bett«, sagt er. »Ich bin ein krasser Kellogg’s-Gegner.« Die Stunde, die er länger im Bett geblieben ist, hat er wohl für dieses Wortspiel gebraucht.

Er strickt los, mit aggressiven Bewegungen, wedelt mit den Armen und zappelt mit den Fingern. Vielleicht ist er schon zu lange weggesperrt und hat die ganze Zeit gestrickt. Er ist blass und unter seiner durchscheinenden Haut sieht man ein Netz blauer Adern. Die Ellbogenknochen stehen in einem unnatürlichen Winkel heraus. Seine zerzausten Haare sind fast schwarz, was seine Haut noch heller wirken lässt. Ich sehe ihm zu, wie er seine mageren Beine in den blauen Polyester-Jogginghosen wippen lässt. Seine grauen Augen lassen das Strickzeug nicht aus dem Blick und glänzen geradezu zwanghaft. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn mag.

»Jasper ist berüchtigt«, meldet sich Alice von der anderen Zimmerseite. »Die wecken ihn extra schon um sechs, trotzdem schafft er’s, das Frühstück ausfallen zu lassen.« Ihre Stimme klingt bitter, bestimmt würde sie das auch gern.

»Ich esse eben keine Cornflakes«, erklärt Jasper lässig. »Die bekommen mir nicht.«

»Zuckerwatte bekommt ihm auch nicht, nur damit du’s weißt. Das ist wie Perücke mit Geschmack, sagt er. Erinnert ihn angeblich an seine Oma und hat mit dem Zuckergehalt nicht das Geringste zu tun.«

»Wenn du die Haare von meiner Oma kennen würdest, fändest du Zuckerwatte auch widerlich.« Er macht Kotzgeräusche.

»Du Idiot«, sagt Alice. »Aber sag mal, Tamar, müssen wir dich wirklich so nennen? Du hast doch bestimmt einen Spitznamen.«

»Was ist denn verkehrt an dem Namen?«, fragt Jasper patzig. »Entschuldige, dass meine Freundin so furchtbar unhöflich ist«, ergänzt er an mich gewandt, aber das ist wohl sarkastisch gemeint.

»Ihr könnt mich Tay nennen. Tay, Tamar, wie ihr wollt. Mir egal.«

»Cool, also dann, Tay, hast du schon alle kennengelernt?«, sagt Alice. »Der kleine Will – das ist der mit der Marmelade – ist am längsten hier, schon bald ein Jahr. Er ist total nett, aber er versteht einfach nicht, wie man hier Spaß haben kann.«

»Er hat eine Psychose«, erklärt mir Jasper. »Vor ein paar Wochen haben sie seine Medikamente umgestellt, da war er total von der Rolle. Hat Tag und Nacht über Gott weiß was rumsalbadert, zu den unmöglichsten Zeiten.«

»Luis«, wirft Alice ein. »Luis ist einfach super.«

»Mehr gibt’s nicht zu sagen über Luis«, sagt Jasper. »Den hast du nämlich verpasst. Er war in deinem Zimmer und ist vor ein paar Tagen entlassen worden. Luis ist so verdammt normal, dass wir neben ihm gleich noch verrückter wirken.«

»Bloß war sein linkes Bein gelähmt«, sagt Alice. »Der hatte irgendwie emotionalen Stress. Das hat sich bei ihm körperlich ausgewirkt, in Wirklichkeit war er gar nicht gelähmt. Ich hab nur vergessen, wie das heißt. Ziemlich sonderbar, das Ganze.«

»Alice …«, warnt die verschmierte Schwester.

»Fehlen noch wir.« Jasper dreht sich zu Alice.

»Die Essgestörten.« Alice hebt beide Daumen. »Drei von uns sind die Woche entlassen worden, also sind wir nur noch zu dritt. Aber Harper sagt ja nichts, also zählt sie nicht so richtig.«

»Und warum bist du hier?«, fragt mich Jasper.

»Ich …«

»Nein, sag’s nicht! Lass uns raten.«

»Du hast Eins-zu-eins, also bist du anscheinend echt gefährlich …«, fängt Alice an. »Ich schätze, du bist paranoid. Du konntest keinen Sinn im Leben finden, also hast du Drogen eingeworfen. Irgendwann warst du so high, dass dich die Polizei geschnappt hat, und dann gleich ab in die Klapse, ohne Rückfahrkarte.«

»Schwachsinn«, sagt Jasper. »Die ist doch nicht paranoid. Stimmt’s, Tamar? Ich denk mal, sie ist einfach grauenhaft unsicher, und um das zu verstecken, spielt sie die Psychopathin.«

Wie charmant.

Aber da ist was dran. Ich bin schuld am Tod von Iris, also passt das mit der Psychopathin.

Die verschmierte Schwester rutscht nervös auf ihrem Stuhl herum. Sie macht den Mund auf, will etwas sagen, ein paar Sekunden lang hängt ihr Unterkiefer einfach nach unten. Dann klappt sie ihn wieder zu und vertieft sich in ihre Zeitschrift.

»Also, wer ist näher dran?«

»Ach, ich …« Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Warum bin ich hier? Weil ich eine Mörderin bin. Hallo, ich bin Tamar und habe ein Mädchen getötet. Nett, euch kennenzulernen. Wollen die das wirklich hören?

»Ich hatte eine Art Zusammenbruch. Ich … ich hab versucht mich umzubringen.«

»Willkommen im Klub.« Alice will mir die Hand schütteln, als könnte man stolz darauf sein. »Wie hast du’s gemacht?«

Die Schwester schaut wieder von ihrer Zeitschrift hoch. »Das ist wohl kaum ein passendes Gesprächsthema, Alice. Redet lieber über was anderes.«

Alice verdreht die Augen. »Echt schräg, oder? Dass das Thema ausgerechnet in der Psychiatrie verboten ist. Wir dürfen nicht mal Galgenmännchen spielen.« Sie steht auf und schlendert aus dem Zimmer.

Jasper wippt wieder mit den Beinen.

»Lass das, Jasper«, sagt die Schwester.

»Was denn?« Seine Entrüstung klingt gespielt und er hört tatsächlich auf. »Wie lange muss ich noch?«

»Eine Viertelstunde, dann kannst du gehen.«

»Herrgott noch mal.« Er greift nach dem halb fertigen Schal. »Für wen soll das Ding überhaupt sein?« Ohne die Antwort der Schwester abzuwarten, fängt er an zu stricken und baumelt dabei doch wieder ein bisschen mit den Beinen.

»Welche Regeln gelten fürs Rauchen?«, frage ich. Mir ist eingefallen, was der Grund für meine Unruhe sein könnte: Ich habe seit Tagen nicht mehr geraucht, habe es einfach vergessen. Bin ich überhaupt eine Raucherin?

»Verboten«, sagt Jasper. »Eine von den heiligen Regeln. Heute hast du keine Chance, da passen alle auf. Aber probier es mal später. Die Schwestern wechseln ständig, vielleicht hast du Glück und findest eine, die keinen Plan hat und dich lässt.«

Ich wüsste gern, was von mir erwartet wird. Soll ich aufstehen und irgendwas tun? Aber es gibt nichts zu tun und ich kann auch nicht weg. Die Milch auf dem Boden ist immer noch da und erinnert mich daran, wie Alice beim Frühstück ausgerastet ist. Wobei ihr das nichts genützt hat. Die haben immer neue Milch gebracht und am Schluss musste sie doch welche trinken, sogar mehr als ursprünglich vorgesehen.

Jasper strickt weiter und zappelt dabei mit den Beinen.

An dem Abend, nachdem wir am Wehr waren, hat die Mutter von Iris meinen Dad angerufen, die beiden haben eine ganze Weile miteinander geredet. Ich weiß nicht genau, was. Danach kam Dad in mein Zimmer und setzte sich ans Ende meiner gepunkteten Bettdecke.

Ich glotzte in mein Biologiebuch, als wäre ich total vertieft. Dabei war ich immer noch ein bisschen betrunken.

»Tamar, ich hab eben mit der Mutter von Iris telefoniert. Iris ist nicht nach Hause gekommen, sie macht sich große Sorgen. Hat Iris dir was gesagt? Wollte sie irgendwo hin? Oder war sie vielleicht noch mit andern verabredet?«

»Nein«, sagte ich und hob den Kopf. »Sie wollte mit dem Bus um Viertel nach acht fahren, hat sie gesagt. Als ich los bin, war es schon kurz nach. Wenn sie den Bus nicht genommen hat, weiß ich echt nicht, wo sie hin ist. Tut mir leid. Ich schreib ihr eine SMS.«

Und das habe ich auch gemacht. Ich habe gefragt, ob alles okay ist, und ihr drei Küsse geschickt.

Später am Abend kam Dad noch mal in mein Zimmer. Er wollte wissen, ob mit mir alles in Ordnung wäre. Sonst würde ich mich doch nicht so lange allein hier oben vergraben, meinte er. Danke, mit mir sei alles bestens, sagte ich. Er ging wieder, aber nach ein paar Minuten kam er mit einem Becher Tee zurück. Tee, das Allheilmittel.

»Hat Iris geantwortet?« Ich schüttelte den Kopf. Er zögerte, aber dann sagte er: »Ihre Mutter glaubt, sie sollte jetzt die Polizei einschalten.«

»Was?« Das Blut schoss mir so schnell in den Kopf, als hätte mich jemand an den Füßen aufgehängt. »Wieso die Polizei? Sie ist doch nicht, ich meine, glaubst du etwa, dass sie …«

Dad ließ sich nie aus der Fassung bringen. Er küsste mich auf die Stirn und ging, den restlichen Abend sah ich ihn nicht mehr.

Ich dachte, die Polizei würde gleich kommen. Sie würden die Schuld unter meinen gesenkten Lidern sehen, mir Handschellen anlegen und mich ins Gefängnis abtransportieren, weil ich durch und durch böse war. Aber so war es nicht. Sie kamen erst am späten Nachmittag des nächsten Tags – ein Mann und eine Frau mit einem blonden Bob. Erst redete Dad mit ihnen und bot ihnen Tee an. Sie wollten lieber Wasser, das weiß ich noch. Ich saß unten auf der Treppe, hörte das Gemurmel hinter der halb geöffneten Wohnzimmertür und beobachtete das Zucken des Sekundenzeigers auf der Uhr im Hausflur. In meinem Schädel dröhnte ein dumpfer Katerkopfschmerz.

Vor nicht mal vierundzwanzig Stunden waren wir noch am Wehr und haben getrunken.