Auf Hannibals Fährte - Silvia Furtwängler - E-Book

Auf Hannibals Fährte E-Book

Silvia Furtwängler

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Beschreibung

218 v. Chr. soll Hannibal mit 50 000 Soldaten, 9 000 Reitern und 37 Kriegselefanten ohne GPS und Google Maps die Alpen überquert haben – eine Meisterleistung. Für Silvia Furtwängler war es ein Kindheitstraum, sich diesem Wagnis auch zu stellen. Im Sommer 2016 machte sie sich – ohne Tross, begleitet nur von einem ihrer Hunde – zu ihrer eigenen Alpenüberquerung auf, um sich in die Situation des berühmten Feldherrn hineinzuversetzen: Welchen Pass nahm er? Wie groß müssen die Strapazen gewesen sein? Wie klappte die Versorgung? Was hat es mit dem Pferdemist auf sich, den man kürzlich gefunden hat? Und kann es sein, dass am Ende doch alles ganz anders war als von allen Wissenschaftlern bisher angenommen? Die mitreißende Erzählung einer Reise quer über die Alpen.

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Seitenzahl: 286

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Silvia Furtwängler

Auf Hannibals Fährte

Eine Frau, ein Hund, keine Elefantenin Zusammenarbeit mit Regina Carstensen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

218 v.Chr. soll Hannibal mit 50.000 Soldaten, 9.000 Reitern und 37 Kriegselefanten ohne GPS und Google Maps die Alpen überquert haben – eine Meisterleistung. Für Silvia Furtwängler war es ein Kindheitstraum, sich diesem Wagnis auch zu stellen. Im Sommer 2016 machte sie sich – ohne Tross, begleitet nur von einem ihrer Hunde – zu ihrer eigenen Alpenüberquerung auf, um sich in die Situation des berühmten Feldherrn hineinzuversetzen: Welchen Pass nahm er? Wie groß müssen die Strapazen gewesen sein? Wie klappte die Versorgung? Was hat es mit dem Pferdemist auf sich, den man kürzlich gefunden hatte? Und kann es sein, dass am Ende doch alles ganz anders war, als von allen Wissenschaftlern bisher angenommen? Die mitreißende Erzählung einer Reise quer über die Alpen mit völlig neuen Erkenntnissen.

Über Silvia Furtwängler

Silvia Furtwängler, geboren 1961 in Köln, betreibt seit 29 Jahren Schlittenhundesport und nahm 2001 erstmals am Yukon Quest teil. Sie wanderte 2008 nach Norwegen aus. 2014 nahm sie als einzige Westeuropäerin am Volga Quest in Russland teil – und gewann. Davon und vom Abenteuer Auswandern erzählt sie in ihrem 2015 erschienen Buch «Nordwärts».

Prolog

Varmevoll, 8. Juli 2016

«Die Koordinaten sind falsch!», rief ich empört vom Sofa ins Wohnzimmer hinein. Vor lauter Aufregung legte ich meinen Laptop beiseite, ich musste unbedingt einen Schluck Rotwein trinken. Und noch einen. Das konnte einfach nicht stimmen, was dort angegeben wurde. Ganz und gar nicht.

«Was ist falsch?», fragte Jürgen. Mein Mann war gerade mit einer Flasche Bier ins Zimmer getreten.

«Die Koordinaten?»

«Was für Koordinaten?»

«Na, die von Hannibal!»

«So, so, mal wieder Hannibal.» Jürgen nahm einen tiefen Zug aus der Flasche. Seit Monaten war das sein Konkurrent, sein jüngerer (oder älterer, je nach Sichtweise) Nebenbuhler, denn seitdem ich eine Hannibal-Expedition plante, musste er sich immer wieder anhören, was ich bei meinen Recherchen über den karthagischen Feldherrn herausgefunden hatte.

«Stell dir vor, man hat Pferdescheiße gefunden», fuhr ich fort. «Wissenschaftler aus Toronto und England haben die entdeckt. Sie soll ungefähr aus dem Jahr 200 v. Chr. stammen. Eine Studie darüber wurde im April veröffentlicht. Ich hatte darüber gelesen, aber erst jetzt habe ich mich genauer damit beschäftigt.»

«Und was hat das mit den falschen Koordinaten zu tun?» Jürgen hatte mal wieder recht, wie immer, wenn er mich zu dem brachte, was ich eigentlich sagen wollte.

«Die Wissenschaftler haben für ihren Fundort ganz bestimmte GPS-Koordinaten angegeben. Die hatte ich, als ich sie zum ersten Mal las, auch einfach hingenommen. Aber die können nicht stimmen. 44°42′ 587N 07° 032 74E – ich habe mich lange genug bei meiner eigenen Planung mit den hiesigen Koordinaten beschäftigt, ich kenne jedes Foto, das dort oben in den Alpen aufgenommen wurde, da ist was nicht korrekt. Gerade eben habe ich sie in meinem Computer eingegeben» – ich hatte dort alles in Frage kommende Kartenmaterial gespeichert –, «sie passen nicht, dabei kommt eine ganz andere Stelle raus.»

«Hannibal hatte aber noch keinen Computer.»

«Du nimmst mich nicht ernst.»

«Doch. Also: Wieso sollte da was nicht stimmen? Erkläre mir das mal», erwiderte Jürgen seelenruhig. «Das sind doch gesicherte Beweise. Wieso sollten Forscher falsche Koordinaten angeben?»

Ich seufzte: «Das weiß ich auch nicht. Irgendeinen Grund wird es dafür schon geben, und wenn es nur daran liegt, dass man einfach falsch gemessen hat.» War so etwas nicht möglich?, überlegte ich. Und kam dann gleich noch auf andere Fragen: Wieso hatte man an der beschriebenen Stelle einzig und allein Pferdeexkremente gefunden und keinen Kot von Hannibals siebenunddreißig Elefanten? Oder Stoßzähne? Kieferteile? Anscheinend nicht einmal das kleinste Knöchelchen. Manche Elefantenfossilien, die man ausgegraben hatte, waren wesentlich älter als die zwei Jahrtausende, die seit Hannibals Alpenüberquerung vergangen waren. Es war schon sehr verwunderlich, dass man beim Buddeln in der hochalpinen Erde nichts weiter gefunden hatte als dieses «organische Material».

Energisch schüttelte ich noch nachträglich den Kopf, wie ein Terrier war ich vernagelt, ließ bei den Koordinaten keine andere Option zu. Es musste sich um einen Fehler handeln. Für meine eigene kleine Hannibal-Expedition hatte ich mir selbst bestimmte Koordinaten zurechtgelegt, und nach diesen Koordinaten wollte ich meine Tour starten. Diese waren nicht identisch mit den in der Studie angegebenen. Die Forscher, die sie durchgeführt hatten, sollten mir jetzt nicht mit ihren merkwürdigen Angaben in die Quere kommen. Wollten sie mich – natürlich nicht bewusst – womöglich dazu zwingen, eine Route über die Alpen zu gehen, die ich eigentlich gar nicht vorgesehen hatte?

Nochmals nahm ich mir meinen Laptop vor und überprüfte alles ein weiteres Mal, es konnte sein, dass ich mich vertippt, ich falsche Daten eingegeben hatte. Aber nein, ich hatte alles richtig gemacht. Monatelang hatte ich Berichte von Historikern, Paläontologen und anderen Wissenschaftlern aus den verschiedensten Jahrhunderten gelesen, alte Karten studiert, Doktorarbeiten gelesen, Fotos geprüft. Mir gefiel ganz und gar nicht, dass man diese Pferdescheiße bei diesen offiziell angegebenen Koordinaten gefunden hatte, im wahrsten Sinne des Wortes. Und diese Koordinaten waren auch noch in allen Medien verbreitet worden, weltweit, der Stern, der Spiegel und die Süddeutsche Zeitung hatten sie, ohne sie zu hinterfragen, übernommen und abgedruckt. Aber das musste am Ende nichts heißen. Mochte Jürgen den Wissenschaftlern Glauben schenken – als Techniker, der er war, konnte er das wohl nur –, so hieß das noch lange nicht, dass ich das tun musste. Bei meinen Schlittenhunderennen und den vergangenen Expeditionen hatte ich über viele Jahre ausreichend Erfahrungen mit GPS-Daten gesammelt, auch im Hochgebirge.

Noch am selben Abend, um 22:35 Uhr, schrieb ich von Varmevoll (59°53′03.6″N 7°59′41.3″E) aus eine E-Mail an den irischen Mikrobiologen Chris Allen, der mit an der Ausgrabung der Exkremente beteiligt gewesen war. Wissenschaftler hin oder her, ich hatte gelernt, meine Umgebung genau zu verorten:

Hi,

my name is Silvia Furtwängler. I’m very interested in the history of Hannibal. Since years I dream to follow Hannibal’s footsteps over the alps. Finally this will happen next week, and therefore I downloaded the: BIOSTRATIGRAPHICEVIDENCERELATINGTOTHEAGE-OLDQUESTIONOFHANNIBAL’S INVASIONOFITALY, I: HISTORYANDGEOLOGICALRECONSTRUCTION.

Here I found the coordinates 44°42′ 587N; 07° 032 74E which are representative for your findings of the horse excrements.

If I understand correctly, this location is in Italy, but I thought the location of the findings was on the France side oft the Col de la Traversette.

I really like to find the correct place to feel the magic of the history.

Is it possible that you help me to understand this?

Looking forward to your reply.

Best regards from Norway

Silvia Furtwängler

Dann ein Klick. Abgeschickt!

In dieser Mail schilderte ich Allen, dass ich bei Überprüfung der in der Studie angegebenen Koordinaten zu dem Schluss gekommen sei, dass diese definitiv in Italien lägen, nicht aber dem Fundort auf der französischen Seite des Col de la Traversette entsprechen würden. Auf eine Einschätzung seinerseits würde ich mich jedenfalls freuen.

Im Netz fand ich auch noch Fotos von dem Ort, an dem Chris Allen und andere aus dem wissenschaftlichen Team gegraben hatten. Mit ihnen müsste man doch, so überlegte ich, jedenfalls im Vergleich mit anderen Fotos, die es von diesem Ort gab, die Wahrheit rekonstruieren können. Das letzte Wort war in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. Die Jungs sollen sich auf etwas gefasst machen, dachte ich, als ich den letzten Schluck Rotwein nahm und meinen Laptop hörbar schloss.

Was auch immer sich die Wissenschaftler bei ihren Koordinaten gedacht hatten, ich hatte plötzlich einen Entschluss gefasst. Ich wollte zu dieser Debatte etwas Eigenes beitragen, eigene Erfahrungen und Erkenntnisse. Die Sache hatte nur einen Haken. Ich hatte mich bei der Planung meiner Hannibal-Expedition für einen anderen Pass entschieden, nicht gerade für den Col de la Traversette, da die meisten Experten diese Route für abwegig hielten. Nun musste ich anscheinend diese schwierige Strecke gehen. Was bedeutete, dass ich meine ganze Planung über den Haufen schmeißen musste. Allen war mir also doch in die Quere gekommen.

Der Wikinger, der ein Nordafrikaner war – oder Lex Barker?

Schon immer wollte ich wissen, wie es ist, ein Elefant zu sein. Als Mensch, geboren von zwei Menschen, war das natürlich eine etwas schwierige Angelegenheit, aber dennoch war ich davon überzeugt, dass man es erfahren könnte. Elefanten schienen mir als Kind vertrauter zu sein als meine eigenen Eltern. Das war aber nicht weiter verwunderlich. Mein Vater trank sehr viel, er war abhängig von Alkohol, und meine Mutter verhielt sich auch nicht so, wie sich eine Mutter nach meiner Vorstellung verhalten sollte. Sie nahm meine beiden Geschwister in Schutz, nicht aber mich. War mit meiner älteren Schwester etwas passiert, war ich die Schuldige, musste man jemanden aus dem Bett scheuchen, um Zigaretten aus dem Automaten zu holen, hatte man mich ins Auge gefasst. Da schien es mir weitaus besser und angenehmer, in eine Elefantenfamilie hineingeboren zu sein. Innerhalb einer solchen gab es, wie ich gelesen hatte, eine große Loyalität, überhaupt waren die Dickhäuter sehr familienbewusst. Wird ein Baby geboren, versammeln sich alle Tanten und Cousinen um Mutter und Kind, um die beiden zu beschützen. Das war ein Familienverbund, wie ich ihn mir immer gewünscht hatte, da gab es nicht diese schreckliche Unberechenbarkeit, der ich ausgesetzt war. Den Launen und Stimmungen meiner Eltern, bedingt durch die eine oder andere Flasche zu viel. Oder was auch immer.

Familie – war das nicht etwas Hochheiliges? Sollten sich nicht alle Mitglieder zusammenraufen und dabei an einem Strang ziehen? Elefanten, so fand ich damals, lebten uns etwas vor, wie es sein könnte, wenn man nicht gerade in Köln zur Welt gekommen war, hineingeboren in eine Familie, die als solche nicht diesen Namen verdiente. Ich hätte deswegen in Märchenwelten flüchten, mich mit Rapunzel und Aschenputtel identifizieren können, aber das waren keine wirklichen Abenteuer, verschanzt hinter Schloss und Riegel. Ich liebte als Ausgleich zu meiner Realität die Natur und die großen Tierrudel. Jack Londons Roman Wolfsblut las ich wieder und wieder. Ein Rudel Wölfe nähert sich hungrig Menschen und ihren Schlittenhunden – warum ich wohl heute so begeistert Schlittenhunderennen fahre!? –, dramatische Szenen ereignen sich. Später werden Wolfsbluts erste Lebensmonate erzählt, wie er sich mehr und mehr den Menschen anpasst, wie er sich hervorragend als Schlittenhund anpasst. Was hab ich geheult, als er dann für ein paar Flaschen Whiskey an einen Mann verscherbelt wurde, der ihn für Kämpfe einsetzte, gegen Luchse und Bulldoggen, bis Wolfsblut dann endlich gerettet wurde.

Mit Geschichten solcher Art konnte ich mich identifizieren – und mit den Erzählungen über Hannibal, diesem sagenhaften Feldherrn aus Karthago, der im Frühjahr 218 v. Chr. während des Zweiten Punischen Krieges mit siebenunddreißig Elefanten von Hispania aus über die eisigen Alpen zog, um dann ein Jahr später in Italien zu stehen und einen blutigen Rachefeldzug gegen die Römer zu führen. Ehrlich gesagt, die militärischen Leistungen interessierten mich damals wenig, auch begriff ich nicht so richtig, was genau die Fehde der Karthager mit den Römern war – viel spannender fand ich, dass in einem Heer von rund 15000 Reitern und 30000 Fußsoldaten (die Angaben wechseln je nach historischer Quelle) Elefanten mitliefen, Tiere der Savannen Afrikas, die sogar bereit waren, Höhen zu erklimmen, vor denen so mancher menschliche Zweibeiner gezögert hätte, wenn er denn nicht gerade begeisterter Hochalpinist ist. Das fand ich nun wirklich loyal von den grauen Dickhäutern, denn sie hatten auch schon vor der Bergbesteigung so einiges geleistet, nämlich einen Gewaltmarsch von der Iberischen Halbinsel aus. Wahrscheinlich lockte man sie mit genügend Futter, und es war auch Gehorsam gegenüber den Elefantenführern mit im Spiel, aber das hatte ich als Kind noch nicht reflektiert.

Eigentlich hätte es von Hispania etwas gemütlicher an der Mittelmeerküste entlang Richtung Rom gehen können, aber diese leichtere Tour wurde dem kriegslüsternen Hannibal letztlich vermasselt. Die Küstenstädte waren zu gut abgesichert, hier konnte man mit Widerstand rechnen. Und welcher Römer käme schon auf die Idee, dass Hannibal spät im Herbst, hoch oben konnte schon der erste Schnee fallen, die Alpen überqueren würde? Das nannte man dann Überraschung. Nicht von ungefähr ist Hannibal bis heute als großer Stratege bekannt, wenn auch als gescheiterter Stratege. Er hatte sich an der Größe seiner Aufgabe übernommen. Und dass er von Hass getrieben war, seinen Widersacher Rom zu bezwingen, koste es, was es wolle, gehört aus jetziger Perspektive auch nicht gerade zu seinen sympathischsten Charaktereigenschaften.

Publius Cornelius Scipio, einer der Staatslenker und Feldherrn der Römischen Republik, hatte übrigens Wind von Hannibals Plänen bekommen, als er sich in Massilia aufhielt, dem heutigen Marseille. Schon aus diesem Grund war es dem Karthager verwehrt, den Heereswurm an der Mittelmeerküste entlangzuführen, er musste seinen Tross im Mai 218 v. Chr. über die Pyrenäen und den Ebro, einen Fluss im Nordosten Spaniens, führen. Der Raum um Massilia war fest in den Händen der Römer. Von dort aus folgte Scipio dem erbitterten Feind, versuchte den achtundzwanzigjährigen Karthager noch an der Rhône zu schlagen, aber es kam nur zu einem kleinen Scharmützel, zu einer Attacke aus dem Hinterhalt, bei der die Römer sogar siegten.

Hannibal beunruhigte das jedoch wenig, denn die Macht seiner Truppe war damit längst nicht gebrochen – bei seinem Zug über die Pyrenäen war es ihm gelungen, viele der dort ansässigen keltischen Stämme für sich zu gewinnen. Diplomatisches Geschick war hierbei eine wichtige Grundlage gewesen, aber auch das Silber lockte, das er und zuvor sein Vater aus Spaniens Minen gewonnen hatten. Schon bald hatte der Barkas-Spross seine Armee aufgestockt, weshalb die Verluste nicht schmerzten. Und er hatte seine genialen Späher, die neue Routen auskundschafteten, ohne dass Scipio von diesen Operationen erfuhr. Es war ein grandioser Spähtrupp, der da für den Mann aus Nordafrika tätig war, man nimmt an, dass es in dieser Effizienz nie zuvor etwas Vergleichbares gegeben hatte. Trotzdem hatte Scipio ihm letztlich den gesamten Schlamassel bereitet, bestimmte Wege konnte Hannibal nicht mehr einschlagen, und er musste davon ausgehen, dass er diesem Feldherrn spätestens vor den Toren Roms erneut begegnen würde, wenn nicht sogar früher.

Hätte Hannibal nicht viel einfacher in Rom landen können, etwa auf dem Seeweg? Die Handelsniederlassung Karthago war von Rom gerade mal 320 Seemeilen entfernt. Nun ließ er sich auf den Landweg ein, letztlich ein Umweg von über viertausend Kilometern. Aber es gab keine Alternative. Die Wut des Hannibal auf die Römer hatte nämlich auch damit zu tun, dass diese die Karthager nach einer verlorenen Seeschlacht dazu gezwungen hatten, ihre letzten punischen Schiffe zu versenken und den Hafen weitestgehend zu schließen. Verbunden mit hohen Reparationszahlungen. Damals führten von Osten her und nach Osten hin alle Wege an der quirligen Metropole Karthago vorbei, die das westliche Mittelmeer beherrschte, sehr zum Missfallen römischer Senatoren. Diesem Treiben musste ein Ende bereitet werden, das war die Arroganz der Mächtigen, die niemanden neben sich duldeten, denn sie sahen sich auf dem Weg zum Weltreich. Das kommt einem sehr bekannt vor. Hannibals Vater, Feldherr der Karthager während des Ersten Punischen Krieges, zog es aufgrund der erniedrigenden Situation samt Familie nach Hispania. Dort gab es die Silberminen, die man plündern konnte und natürlich unbedingt musste. Mit diesem neugeschaffenen Reichtum konnte dann später Hannibal seine numidischen, libyschen, spanischen und gallischen Soldaten und Söldner sowie die Alpenüberquerung finanzieren. Da war der Vater schon längst nicht mehr am Leben.

 

Als Kind hatte ich Hannibal und sein Unterfangen mit den Kriegselefanten nicht hinterfragt. Dass fast keiner der Dickhäuter überlebte (bis auf einen einzigen, Hannibals persönlichen Elefanten), das war zwar bedauerlich – aber in den sechziger Jahren hatte der Tierschutz und mit ihm verbundene Fragestellungen noch keine so große Bedeutung gehabt wie heute. Auch Wölfe starben in Büchern, Hunde kamen uns Leben, Menschen – wer auf Expedition ging, musste mit Verlusten rechnen. Nur: Wer würde heute noch mit Elefanten über die Alpen gehen? Das ist eine überaus absurde Vorstellung, keiner würde es mehr machen.

Je älter ich jedoch wurde, je mehr ich mich mit Expeditionen beschäftigte, mich persönlich auf die Spuren von Jack London oder Roald Amundsen begab, rückten die Menschen, die Abenteurer in den Vordergrund. Was waren das für Persönlichkeiten? Was hatte sie dazu getrieben, ungewisse und extrem schwierige Expeditionen zu leiten? Was für Führungsqualitäten hatten sie? Wie hatten es etwa der Norweger Amundsen oder der Brite Robert Falcon Scott, beides Polarforscher, geschafft, Leute zu motivieren, selbst in den unwirtlichsten Gegenden? Wieso ließ Jack London seine Familie allein, um den Chilkoot Trail mit Tausenden anderen zu gehen? Wollte er nur dem Lockruf des Goldes folgen, oder hatte er auch noch andere Triebfedern? Ich hatte die Idee, wenn ich mehr von diesen Männern begriff, von ihren Beweggründen, warum sie manchmal hart reagierten und nicht zu jedem supernett waren, wie sie mit Kritik umgingen, dann würde ich auch Dinge in meinem Leben besser nachvollziehen können.

Bei diesen Überlegungen blitzte auch immer wieder mein Kinderfreund Hannibal auf. Auch bei ihm interessierte mich auf einmal, was für ein Mensch er gewesen war. Wie war er gestrickt? Immer wenn ich Tschaikowskys 5. Symphonie hörte, sah ich ihn über die Alpen ziehen. Der russische Komponist hatte seine Fünfte als «Schicksalssymphonie» bezeichnet, und genau das hatte ich bei ihr empfunden, diese todesschwangere Atmosphäre, das Ringen zwischen Todesahnung und Lebenshunger, das Triumphierende und am Ende dann doch das Unerfüllte. Letztlich das mühevolle Sichhochschleppen der Elefanten, eine Grundstimmung, die in etwas gipfelt, mehr als Ahnung denn als absolute Gewissheit. Diesem Heereszug musste etwas Irres vorausgegangen sein, und nur zu gern wäre ich dabei gewesen. Eine unglaubliche Faszination ging von ihm aus. Wie bekloppt musste man denn sein, um mit Elefanten über die Alpen zu gehen, nur um den Römern eins auszuwischen?

Hasdrubal, Hannibals älterer Bruder, war genauso verrückt wie er selbst und sein jüngerer Bruder Margo, der im Zweiten Punischen Krieg ebenfalls ein Feldherr war. Dieses Brudertrio muss unglaublich gewesen sein, vollkommen einig in seiner mörderischen Wut gegen die Römer. Hasdrubal wollte Hannibal unterstützen und ihm zu Hilfe eilen, doch Scipio hielt ihn auf, und bevor es zur Vereinigung der beiden brüderlichen Heere kam, wurde Hasdrubal 207 v. Chr. im heutigen Umbrien von Nero besiegt und geköpft. Margo starb vier Jahre später, angeblich an einer Verletzung, kurz vor dem Ende des Zweiten Punischen Krieges.

Was hatte ich sonst noch über Hannibal in Erfahrung bringen können? Klar, er war von Kindesbeinen an hauptsächlich von seinem Vater Hamilkar Barkas erzogen worden, er kannte im Grunde kein anderes Leben als das militärische. Aber es gab auch Seiten an ihm, die davon zeugten, dass ihn noch mehr umtrieb als nur der Gedanke, die Römer zu vernichten. So hatte er sich dafür eingesetzt, dass es ein Multi-Kulti im Mittelmeerraum geben sollte, verschiedene Völker sollten friedlich zusammenleben, wo immer sie auch herkamen, welche Götter sie auch anbeten mochten. Eigentlich war er ein weltoffener Staatsmann, der auch nichts dagegen gehabt hätte, wenn zwei Imperialmächte im Mittelmeerraum existiert hätten, Rom und Karthago. Bei seinen Soldaten muss Hannibal beliebt gewesen sein, denn er hatte sein Lager mitten unter ihnen errichtet, hatte sich ihre Meinungen angehört. Dies zeichnete ihn aus, ließ ihn zu jenem Kriegsherrn werden, der ein gewaltiges Team, ein Heer, so umfangreich wie eine größere Stadt, zusammenhalten und motivieren konnte. Er vermochte Menschen unter schwierigsten Bedingungen dazu zu bewegen, ein gemeinsames Ziel im Blick zu behalten. Dabei halfen ihm sicherlich die stets gefüllten Silbertruhen oder worin auch immer die glänzenden Münzen transportiert wurden.

Es war nicht einfach, mir von Hannibal ein äußeres Bild zu machen, denn es gibt kein Bildnis, keine Statue von ihm. Und auch ein Psychogramm war schwierig, denn es existieren keine persönlichen Aufzeichnungen. Da waren die Römer gründlich gewesen – alles, was auf ihn hinwies, war nach seiner Niederlage, nach dem Ende des Zweiten Punischen Krieges, restlos vernichtet worden. In dieser Gründlichkeit war man gnadenlos, man wollte nicht, dass diesem Mann, der genügend Unruhe gestiftet hatte, noch später Ruhm zuteil wurde.

Einzig der römische Geschichtsschreiber Titus Livius (er lebte zweihundert Jahre nach der Invasion, war also kein Augenzeuge) sowie der antike griechische Historiker Polybios (er kam zwanzig Jahre nach der Alpenüberquerung zur Welt) haben von Hannibal und der Alpenaktion in ihren Schriften berichtet. Livius überlieferte: «… ihn band keine Gottesfurcht, kein Eid, keine fromme Gewissenhaftigkeit. So mit Tugenden und Fehlern bedacht, diente er drei Jahre unter Hasdrubals Oberbefehl, wobei er sich nichts entgehen ließ, was einer, der ein großer Feldherr werden wollte, tun oder sehen musste.» Schon mit neun Jahren hatte Hannibal seinem Vater schwören müssen, auf ewig und immer die Römer zu hassen. Über sein Äußeres schrieb Livius, er sei ein starker Mann gewesen, mit kurzem, dunklem Bart, hellenistisch gekleidet. Das passte für einen Nordafrikaner aus der karthagischen Oberschicht, dennoch hatte ich als junges Mädchen ihn mir mit entschlossenem Blick und blond vorgestellt, mit breiten Schultern, ein bisschen so wie Lex Barker als Old Shatterhand. Oder besser noch: wie einen Wikinger. Da war ich einer gewaltigen Täuschung aufgesessen.

Ganz gleich ob Lex Barker oder Wikinger, unabhängig davon blieb Hannibal in meinen Gedanken wie kaum ein anderer Mann. Er schien sich mit mir geradewegs verklebt zu haben, immerhin trennten uns ja nicht nur gute hundert Jahre wie bei den Polarforschern, da hatten sich mehr als stattliche zweitausend Jahre angesammelt. Jedes Mal, wenn ich mit meinem Schlitten und meinen davor angespannten Alaskan Huskys durch die wilde Hardangervidda fuhr, eine norwegische Hochebene, wo Amundsen für seine Expeditionen trainiert hatte – ich wohne dort, in Varmevoll, seit fast neun Jahren –, konnte ich nicht umhin zu denken: Wie hatte Hannibal das damals gepackt, die Alpen zu überqueren? Wenn ich eine neue Gegend für mein Training erkunden möchte, mir einen weiteren Trail aussuchen will, kann ich ins Internet gehen und mir über Google Earth und in 3-D das Gelände anschauen. Herrlich, was man da alles an Einzelheiten erkennen kann – ich sehe sofort, was für Unwegsamkeiten es gibt, welche Routen man vermeiden sollte. Zur weiteren Orientierung habe ich GPS, selbst bei schlimmsten Schneestürmen können meine Hunde und ich nicht verloren gehen. Aber Hannibal hatte, wie Jürgen zu Recht festgestellt hatte, keine digitalen Medien gehabt, dafür war er ein Naturmensch gewesen, mit dreifach geschärften Sinnen.

Landkarten konnte man damals auch vergessen. Zwar hatte Homer 900 v. Chr. eine erste Weltkarte erstellt, aber eine Einteilung in Länder oder gar in einzelne Regionen – davon war man noch weit entfernt. Napoléon Bonaparte hatte es da schon wesentlich einfacher, als er im Mai 1800 über den Großen St.-Bernard-Pass ritt und mit seiner Armee in Oberitalien einfiel, er konnte damals auf ausgezeichnetes Kartenmaterial zurückgreifen. Hannibal blieben nur die Späher. Das fand ich schon bewundernswert, da konnte ich nur meine Thermokapuze ziehen. Es faszinierte mich, dass diese Späher sich auf ihre – sicher auch dreifach geschärften – Sinne, ihre Kenntnisse und Erfahrungen verließen. Etwas, was man gut und gerne verliert, wenn man sich auf die digitale Technik verlässt. Das hatte und habe ich bislang vermieden. Genau aus diesem Grund.

Um es tagelang bei Schlittenhunderennen durch die Eishölle zu schaffen, muss ich mich auch auf meine Wahrnehmung verlassen können. Die allerwichtigste Frage lautet in einem solchen Wettbewerb: «Kann ich da entlanggehen, oder sollte ich besser einen anderen Weg wählen?» Ich registriere jede Veränderung im Schnee, jeden plötzlichen Wechsel des Windes, jede neue Schattierung in meiner Umgebung. Mein Leben besteht zu einem großen Teil aus Scannen.

Niemals bleibt mein Blick geradeaus gerichtet. Selbst wenn ich durch eine Straße gehe oder bei einer Wanderung an einem Haus vorbeikomme, drehe ich mich um. Schon zuvor habe ich meine Umgebung mit großer Aufmerksamkeit gerastert, aber der Blick zurück erlaubt eine völlig neue Perspektive. Ein Haus von vorne – besonders dann, wenn ich es mir als Marker ausgesucht habe – kann ganz anders aussehen als ein Haus von hinten. War die Vorderfront grau, düster und abweisend, kann die Rückfront aus großen hellen und hübschen Fenstern bestehen, davor eine einladende Terrasse mit Garten. Hätte man das Gebäude nur von vorn gesehen, wäre aber bei einer Verirrung auf seine Rückseite gestoßen, man hätte verneint, hier je gewesen zu sein. Ein Irrtum, der nicht ohne Folgen geblieben wäre. So aber weiß ich: Hier bin ich richtig.

Auch ein Baum oder ein Hügel werden von mir aus allen Blickwinkeln gescannt. Auf diese Weise kann ich mich orientieren, gerate tatsächlich nie in unsichere und womöglich sogar in gefährliche Situationen. Ich zweifele nicht, wenn ich etwas wie einer Erderhebung aus einer anderen Richtung gegenüberstehe. Ich kenne sie rundum, von allen Seiten – oder sie ist wirklich fremd, dann kann ich an ihr noch nicht vorbeigelaufen sein. In der Stadt mag dieses panoramahafte Wahrnehmen keine so große Rolle spielen, aber in der Wildnis ist es überlebenswichtig. Und ist ein Baum erst einmal erfasst, finde ich ihn noch nach zwanzig Jahren wieder. Dafür kann ich mir nur schwer Namen merken. Aber für mich sind Wege bedeutsamer als das Wissen von Namen.

Mit diesem Rundumblick betrachte ich natürlich auch meine einsam gelegene Heimat in Norwegen. Ich lebe in einem Haus, das nur über einen See zu erreichen ist, keine Straße führt dorthin. Das Auto parkt an einer Uferstelle, wohin ich im Sommer mit einem Boot gelange, im Winter übers zugefrorene Eis mit einem Snowmobil. Manchmal fahre ich los und sehe über dem Eis eine Farbe, die sich von der übrigen Umgebung unterscheidet. Es ist ein wenig dunkler dort, obwohl auch hier Schnee auf dem Eis liegt. Dennoch weiß ich, unter der Schneedecke befindet sich im Eis ein Riss. Ein Crack. Zwei Eisplatten, die sich minimal gegeneinander verschoben haben, nach oben oder nach unten. Die leichte Farbveränderung hat mit dieser physikalischen Besonderheit zu tun. Nimmt man sie nicht wahr, kann man sich hier den Hals brechen, besonders nachts ist das extrem gefährlich, wenn sich die Platten gegenseitig hochgedrückt haben. Im anderen Fall, wenn sie sich nach unten verschoben haben, kann man in ein Loch fallen. Dann droht ein Erfrieren und Ertrinken.

Meine Nachbarn leben noch einsamer und versteckter. Ständig werde ich mit der Frage konfrontiert: Warum haben sich Menschen diesen oder jenen Ort zum Leben ausgesucht? Welchen Pass haben sie in früheren Zeiten benutzt, um irgendwo ihre Milch, ihre Strickwaren in größeren Ortschaften zu verkaufen? Warum haben sie ihre Tiere, die Schafe oder Rinder, auf diesen Trail geschickt und nicht auf jenen, um kleine Weideflächen für sie zu finden? Die Vorfahren in dieser rauen Gegend haben sich, so kann es nur gewesen sein, genau überlegt, wie sie am sichersten in dieser doch recht unwirtlichen Region – jedenfalls aus der Sichtweise vieler Städter, die nur kurzfristig mit Minusgraden konfrontiert sind – vorwärtsbewegten. Es ging ihnen um den geringsten Verlust. Die Milch sollte nicht verschüttet werden, die Wolle nicht einen Abhang hinunterstürzen.

In einer wesentlich umfassenderen Dimension mussten sich die Späher Hannibals mit der für sie unbekannten, steinigen alpinen Welt beschäftigen. Da waren die Reiter, die Fußsoldaten, die Handwerker und Hirten, die etwa aus der Wolle und dem Leder mitgeführter und geschlachteter Schafe, Ziegen, Ochsen und Yaks Gürtel, Kleidung und damaliges Schuhwerk herstellten. Diejenigen, die sich um die Versorgung dieser mobilen Stadt kümmern mussten. Es war eine Logistik ohnegleichen, und alle mussten in möglichst hoher Anzahl über schwieriges Gelände gebracht werden. Meister im Auskundschaften von Routen waren gefragt. Engstellen, Schluchten mussten gemieden werden, sie waren Fallen für die vielen keltischen Bergvölker, die in den Alpen lebten und sich nicht immer als Verbündete gewinnen ließen.

Deshalb auch die Elefanten. Sie waren nicht etwa mitgekommen, weil sie über den Ausgang des Krieges entscheiden konnten, sondern weil sie von jeher als Machtsymbol galten, perfekt für die Kriegspropaganda – damit konnte man die Gallier ganz schön einschüchtern. Oder sie nachdenklich stimmen, sie könnten sich ja überlegen, sich doch Hannibal und seinen Berufssoldaten anzuschließen. Was dann auch geschah. Freundschaften wurden geschlossen, weil es einen gemeinsamen Feind gab. «Die spinnen, die Römer!»

Und plötzlich – nachdem Hannibal schon so lange in meinem Kopf herumgeschwirrt war – hatte ich eine Idee: Konnte es nicht sein, dass ich mit meinen Erfahrungen in der Wildnis, mit meiner speziellen Wahrnehmung und meinem strategischen Denken, geschult durch wochenlange Rennen in Alaska und Kanada, eine andere Sichtweise auf Hannibals alpinen Aufstieg hatte als Archäologen, Militärwissenschaftler oder Historiker? War es möglich, dass diese Experten sich Scheuklappen aufgesetzt hatten – trotz oft jahrelanger Detektivarbeit? Hatten sie sich jemals in das Denken eines Expeditionsmenschen hineinversetzen können? Das klang irgendwie vermessen, sicher. Und natürlich konnte es auch sein, dass all die klugen Köpfe richtiglagen. Aber auf einmal fand ich die Vorstellung herrlich, dass ich alles in einem anderen Licht zu sehen vermochte. Womöglich konnte ich zu einer ganz anderen Sichtweise gelangen … Das konnte richtig spannend werden. Ich war Feuer und Flamme von meiner zweifelsohne waghalsigen Annahme. Aber wer keine solchen entwarf, war auch nicht unbedingt der große Abenteurer.

Inzwischen hatte ich recherchiert, dass der Weg, für den Hannibal sich aufgrund seiner Späher, seines männlichen, leiblichen und somit körperlich anfassbaren GPS, entschieden hatte, nicht vergleichbar war mit einem abgesteckten Trimm-dich-Pfad. Oder etwa dem Goethe-Weg. Der reisefreudige Dichter zog von München aus über die Alpen nach Venedig, eine Strecke von 660 Kilometern, jede kleinste Ortschaft des Fernwanderwegs ist erkundet und nachzugehen, wenn man denn will und den entsprechenden Reiseführer hat.

Nein, bei Hannibal wurde und wird um den Weg, den er nahm, um die Römer in Schockstarre zu versetzen, erbittert gestritten. Es gibt die unterschiedlichsten Lager, drei Spekulationen haben sich gehalten, es sind die Vertreter der Nord-, der mittleren sowie der Südroute. Die Verteidiger der Nordroute gehen davon aus, dass Hannibal entlang der Isère durch die Schluchten Pontcharra und La Rochette seine Alpeninvasion gestartet hat, danach soll er entweder über den Col du Mont Cenis oder den Col de Clapier gegangen sein. Die Anhänger der mittleren Route behaupten, er lief vom Tal der Isère über das Pelvoux-Massiv zur Durance und von dort über den Col de Montgenévre hinab in die Poebene. Bei der südlichen Route wäre der Karthager durch das Tal der Drôme marschiert, dann über den Col de Grimone, anschließend entlang der Queyras-Schlucht und über den Col de la Traversette.

Livius zum Beispiel nahm an, dass sich Hannibal für den niedriger liegenden Pass Col de Clapier entschieden hatte, also für die Nordroute, bei den anderen Strecken hätte man auf fast dreitausend Meter steigen müssen. Dieser Ansicht war auch Napoléon gewesen. Die Südroute wurde vor rund hundert Jahren von dem Hannibal-Forscher und Leiter des Londoner Naturhistorischen Museums Sir Gavin den Beer erstmals favorisiert. Er hatte sich mit Wetterkunde, Geographie und Botanik auseinandergesetzt, um sich an den tatsächlichen Trail des Karthagers heranzupirschen. Nie aber war er den Weg real gegangen, ebenso wenig war er die Strecke mit dem Auto gefahren. Unfassbar fand ich das. Wie konnte man ein solches Problem allein vom Schreibtisch aus lösen, womöglich entspannt zurückgelehnt in einem Armsessel? Beers Theorie wurde von der akademischen Welt dann auch nicht akzeptiert, seine Ansicht wurde als unpopulär abgetan.

Naturwissenschaft hin oder her, das musste man doch mit eigenen Augen gesehen haben, um sich eine Meinung bilden zu können. Wahrscheinlich waren die anderen Experten ähnlich vorgegangen, hatten geglaubt, eine Expertise aus der Ferne formulieren zu können. Einzig Napoléon war mit der Gegend wirklich vertraut gewesen, aber er war auch ein Eroberer.

Ohne dass ich es so richtig wahrhaben wollte, fasste ich nach und nach einen Plan. Ich musste vor Ort nachschauen, musste diesem Hannibal und seinen Elefanten zu Leibe rücken – und womöglich meine eigene logische Version vor Ort entwickeln.

«Nimmst du auch siebenunddreißig Hunde mit?», fragte Jürgen, als ich ihm beim Abendessen von meiner Idee erzählte. «Du hast gerade so viele hier herumlaufen. Statt siebenunddreißig Elefanten könntest du siebenunddreißig Huskys über die Alpen rennen lassen. Hat bestimmt noch keiner gemacht.»

«Spinnst du!» Ich lachte. «Bei so vielen Hunden brauche ich Helfer, um die ich mich dann auch noch kümmern muss. Das würde mich nur viel zu sehr ablenken. Ich will doch keine Heerscharen um mich haben.»

«Aber alleine, ganz ohne Hund, gehst du nicht los, so wie ich dich einschätze. Du brauchst einen Kameraden an deiner Seite.»

«Richtig. Ich ohne Hund, das passt nicht. Einen nehme ich mit. Das muss sein. Damit ich ihn unterwegs vollquatschen kann.»

«Und er hat nicht mal die Möglichkeit, Einspruch zu erheben. Ich kenne das.»

Ich warf Jürgen einen vernichtenden Blick zu.

«Und wer ist dein Opfer?», fuhr er fort. «Hast du schon eine Entscheidung getroffen?»

Das hatte ich. Zuerst hatte ich Scott mitnehmen wollen, einen Alaskan Husky, benannt nach dem Polarforscher Scott. Doch dann hatte sich etwas ereignet, das ich nicht unbedingt so geplant hatte. Meine Wahl war schließlich auf Mulan gefallen. Wobei: Mulan hatte ich bislang noch nicht persönlich kennengelernt.

Aufbruch mit einem Exsoldaten

13. Juli, frühmorgens

Wo verdammt noch mal war dieser einstige Pferdehof? Ole hatte mir die GPS-Koordinaten geschickt, als ehemaliger Angehöriger und jetziger Mitarbeiter der Bundeswehr war er da auf Zack. Dennoch stimmte etwas nicht. Bei Koordinaten ein bekanntes Problem. Er hatte mir per E-Mail geschrieben, dass keine richtige Straße zu ihm führen würde, er würde an einem Weiler wohnen, der zu einem einstigen Pferdehof gehörte.

Ich steuerte meinen schwarzen Dodge Ram gerade über eine Baumallee auf etwas zu, das aussah, als könnte es mal ein Reitergestüt gewesen sein. Die GPS-Koordinaten passten. Doch die Baumallee war eindeutig eine richtige Straße gewesen. Wusste Ole vielleicht nicht genau, wo er wohnte? Immerhin war es hier wunderschön, durch die Bäume fielen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass es fünf Uhr morgens war. Ich war die ganze Nacht von Hamburg aus durchgefahren, um meinen «Scout» zeitig abzuholen – und dann nichts wie weg, um Hannibal so schnell wie möglich nah zu sein. Doch wo wohnte Ole? Ich zählte fünf Türen bei dem Vierkanthof, aber an keiner wollte ich klingeln, dafür war es einfach zu früh.

Wozu hatte ich ein Handy und seine Nummer. Ich rief ihn an.

«Hallo, Ole, guten Morgen, ich bin’s, Silvia. Ich bin jetzt hier.»

«Aber wo bist du?», fragte eine etwas verschlafene Stimme. «Ich sehe keinen schwarzen Dodge, wenn ich aus dem Fenster schaue.»

«Du siehst keinen schwarzen Dodge?»

«Genau. Du musst falsch gefahren sein.»

«Was heißt hier falsch gefahren? Ich bin nicht falsch gefahren. Ich bin dahin gefahren, wo du gesagt hast, dass ich hinfahren soll.»

«Ja, ja, aber du bist anscheinend mitten auf den Hof gekurvt, du musst außen rum und dann diesen kleinen Feldweg nehmen.»

Gut, ich steuerte meinen Truck aus dem Hof heraus, folgte den Erklärungen von Ole. Es rumpelte kräftig auf der noch ziemlich freien Ladefläche, der Feldweg hatte ordentliche Schlaglöcher. Mein Begleiter hatte genau wissen wollen, ob der Dodge hinten einen Aufbau hatte. Ich erklärte ihm, dass es eine Plane gebe.

«Ist die auch wasserdicht?», fragte Ole nach.

«Natürlich ist die wasserdicht», erklärte ich. «Aber wieso ist das so wichtig?»

«Na, meine Sachen dürfen nicht nass werden.»