AUSRADIERT - Martin S. Burkhardt - E-Book

AUSRADIERT E-Book

Martin S. Burkhardt

4,6

Beschreibung

Wie fühlt sich jemand, der auf einen Schlag für die gesamte Welt unbekannt geworden ist, an den sich weder die eigene Freundin noch die Kollegen erinnern? Genau das passiert Moritz. Als er kurz darauf von nebulösen Erscheinungen angegriffen und beinahe getötet wird, ist das erst der Anfang eines schrecklichen Albtraumes. ---------------------------------------------------------- "Ich bin von diesem Buch sehr begeistert und empfehle es weiter. Es lohnt sich zu lesen!" [Lesermeinung] "Insgesamt hat mir AUSRADIERT gerade aufgrund der durchdachten und tiefergehenden Story sehr gut gefallen, was mich veranlasst eine uneingeschränkte Lese-Empfehlung auszusprechen und es mit 5 Sternen zu bewerten." [Lesermeinung] "… lesenswerter Fantasy-Thriller, mit einzigartigem Inhalt! Überraschungen sind vorprogrammiert …" [Lesermeinung]

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Inhalte

Ausradiert

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Der Autor

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Leseprobe

Der LUZIFER Verlag

AUSRADIERT

Martin S. Burkhardt

Impressum

Deutsche Erstausgabe
Copyright Gesamtausgabe © 2015LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Mark Freier
Lektorat: Heike Müller

ISBN E-Book: 978-3-95835-111-0

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Prolog

Er hatte keine Zeit, zu reagieren.  Der eiserne Schürhaken sauste Millimeter an seinem Kopf vorbei und schlug eine tiefe Kerbe in die Kommode. Das Holz zerbarst in einer gewaltigen Explosion, unzählige kleine Splitter flogen umher. Schreiend taumelte Moritz zurück und spürte, wie winzige Holzspeere den Weg in die Haut seiner Arme fanden, die er schützend ums Gesicht geschlungen hatte.   Es ging so furchtbar schnell. Vor fünf Minuten war noch alles in bester Ordnung gewesen.   Moritz suchte im Wohnzimmer nach der Fernbedienung, als plötzlich dieses unangenehme Geräusch ertönte. Ein Summen, wie von einem wild gewordenen Schwarm Hornissen.   Direkt neben dem Fenster schwebte etwas in der Luft. Ein nebliger, grauer Dunst, als wäre ihm eine trübe Regenwolke bis in seine Wohnung gefolgt.   Moritz ging auf die Erscheinung zu. Augenblicklich veränderte der Nebel seine Form. Er schrumpfte und schien sich währenddessen aufzulösen. Im Inneren des Gebildes nahm Moritz eine Bewegung wahr. Eine Grimasse starrte ihn aus flammenden Augen an, die hell wie Scheinwerfer leuchteten. Und dann überschlugen sich die Ereignisse.   Moritz stieß einen Schrei aus und taumelte einen Schritt zurück. Fast gleichzeitig löste sich der Dunst vollends auf und eine Kreatur mit langem, schwarzen Mantel wurde sichtbar. Die leuchtenden Augen hafteten sich an Moritz und er spürte ein unbehagliches Kribbeln auf der Haut. Das Wesen streckte einen Arm in seine Richtung. Dort wo die Hand sein sollte, erkannte Moritz einen gewaltigen, schillernden Haken, der ausgezeichnet zu einem klischeehaft ausstaffierten Piraten gepasst hätte.   Dann raste das Ding auf ihn zu.   Noch ehe er einen weiteren Gedanken fassen konnte, stieß die Erscheinung mit voller Wucht gegen ihn. Er verlor den Halt und wurde gegen die Wand geschleudert. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn, als sein Hinterkopf auf die Raufasertapete schlug. Jetzt war das Wesen direkt vor ihm. Moritz nahm die Bewegung eher aus den Augenwinkeln wahr. Wie eine Rakete schnellte der Haken nach vorne. Reflexartig ließ sich Moritz auf die Knie sinken. Die eigentümliche Hand des Ungetüms traf einen gläsernen Bilderrahmen, der sich bis vor einer Sekunde noch genau hinter Moritz’ Kopf befunden hatte. Mit einem ohrenbetäubenden Scheppern ging das Glas zu Bruch. Moritz stieß einen weiteren Schrei aus und krabbelte auf allen vieren durch die Tür in den Flur. Was auch immer das für eine Erscheinung war, sie wollte ihn offensichtlich töten. Die Spitze des Hakens hätte sich direkt in seine Stirn gebohrt, wenn er sich nicht rechtzeitig fallen gelassen hätte. Jetzt also die Kommode. Seine Haut fühlte sich an, als hätte ihm eine tollwütige Katze die Unterarme zerkratzt. Viel Zeit darüber nachzudenken blieb ihm nicht. Wieder holte die Kreatur aus und unmittelbar im Anschluss ächzte die Kommode ein weiteres Mal. Diesmal grub sich der Haken noch tiefer ins Holz. Ein schrilles Geräusch ertönte. Das Wesen zog den Arm zurück, und die Kommode gab ein unsägliches Quietschen von sich. Nun erst wurde ihm bewusst, dass sich der Haken in dem Holz verfangen hatte. Die Kommode wanderte einen halben Meter in den Raum, der Kreatur hinterher.   Mit einem Satz sprang Moritz auf. Die Haustür war nicht weit. Nach drei großen Schritten erreichte er die Klinke. Hinter ihm zerbarst etwas. Das Möbelstück schien keinen Widerstand mehr zu leisten. Moritz riss die Tür auf und taumelte ins Treppenhaus. Er umgriff das Geländer und nahm vier Stufen auf einmal. Dann stolperte er und fiel mit der Schulter auf den Absatz, eine Etage weiter unten. Kurz blieb ihm die Luft weg. Für einen schrecklichen Moment fürchtete er, die Besinnung zu verlieren. Nur der Gedanke an das spitze Mordwerkzeug, das so problemlos durch Sperrholzplatten drang, hielt ihn bei Verstand. Stöhnend drehte er sich um. Er lag direkt vor einer Wohnungstür. Wenn dort jetzt jemand herauskäme, würde der arme Bewohner gnadenlos aufgespießt werden. Erst in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er kein Geräusch hörte. Es summte nicht mehr.

Kapitel 1

Kopfschüttelnd starrte Moritz ins Wohnzimmer. Sein leicht verschwommenes Konterfei glotzte von der Fensterscheibe zurück, aber das war auch schon alles. Kein Nebel, keine Kreatur. Schwerfällig ließ er sich in den mit den Jahren abgewetzten Ledersessel fallen, stellte die Bierdosen auf das Tischchen davor und schaltete den Fernseher ein.  Normalerweise saß Amy mit ihm auf dem nostalgischen Stoffsofa und sie benutzten den Tisch als Fußablage. Oder sie entspannten gemeinsam auf Amys edler Designercouch mit glänzenden Chromlehnen. Er öffnete die erste Bierflasche mit zittrigen Händen. Er musste jetzt dringend auf andere Gedanken kommen. Vielleicht vermochte Amy zu helfen. Wenn er an seine Freundin dächte, würde er sich womöglich ein wenig beruhigen. Obwohl sie erst seit vier Tagen beruflich unterwegs war, vermisste er sie ganz außerordentlich. Sascha, der cholerische Chef der Produktionsfirma, für die sie beide arbeiteten, hatte sie kurzfristig zu Recherchearbeiten nach Frankreich beordert. Es ging um irgendeine Geschichte über Wachteln und deren grausame Aufzucht. Wie gut, dass er selbst nicht redaktionell arbeiten musste. Das war sterbenslangweilig. Als Kameramann hatte man es da leichter, Kopf ausschalten und einfach immer draufhalten. Im Großen und Ganzen gefiel ihm sein Job. Mit den sensationslüsternen Reportagen, die seine Firma herstellte, hatte er keine Probleme. Die Leute liebten so etwas.   Als die Nachrichten vorbei waren, drehte er den Ton lauter. Die Titelmusik der Sendung erschien. ›Ertappt‹ stand in Blut durchnässten Buchstaben auf dem Bildschirm. Ein reißerischer Titel … der passte. Sie hatten einen alten Mann ausfindig gemacht, der vor knapp dreißig Jahren als erfolgreicher Heiratsschwindler sein Unwesen getrieben hatte. Jochen, der Reporter, stellte ihm unangenehme Fragen und er, Moritz, hielt mit seiner Kamera immer feste drauf. Besonders gefiel ihm eine Szene, in der sie den Mann in einem voll besetzten Linienbus mit seinen Verbrechen konfrontierten. Alle Fahrgäste hörten gespannt zu. Der Alte zitterte und wurde aschfahl. Moritz klebte die ganze Zeit über mit der Kamera an seinem Gesicht. Jede Falte war zu erkennen. Der Angstschweiß lief dem Mann über die schlecht rasierten Wangen. Die flehenden Augen glänzten. Es fehlte nicht mehr viel und er hätte vor laufender Kamera einen Herzkasper bekommen. Als die letzte Szene gesendet wurde, öffnete Moritz das zweite Bier. Er war zufrieden, zumindest mit seiner Arbeit. Redaktionell gesehen war die Folge natürlich Murks. Es gab keine Zeugen für all die aufgestellten Behauptungen. Es schien, als hätte der Alte überhaupt nie jemanden betrogen. Moritz würde mit Amy ein paar ernste Worte sprechen müssen. Sie und ihr Team mussten bei solchen Reportagen stichhaltiger recherchieren. Aber handwerklich betrachtet war die Folge in Ordnung, seine Kameraführung wirkte dramatisch und authentisch.  Seufzend griff er nach der Bierdose. Es war ärgerlich, wenn im Abspann bereits für das folgende Programm geworben wurde. Eine Unsitte, die inzwischen hoffähig geworden war. Immerhin tauchten hier die Leute auf, die für Entstehung und Gelingen der Sendung verantwortlich waren. Sein Name kam kurz vor Schluss. Im Abspann nach seinem Namen zu suchen, war ihm zur Gewohnheit geworden. Es gab ihm ein Gefühl von Wichtigkeit. Nach der Redaktionsassistenz wurde das WortKameraeingeblendet und Moritz stieß ein überraschtes Knurren aus.Pascal Wimmermannstand dort geschrieben. Sekunden später war der Abspann verschwunden und ein Werbeblock flimmerte über die Mattscheibe. Ein Fehler! Den Kollegen war ein Fehler unterlaufen. Wer hatte da nicht aufgepasst? Pascal war der zweite Kameramann, sein Name erschien nie im Abspann. Er stand bereit, um Aufnahmen zu machen, falls Moritz behindert oder angegangen wurde. Das kam schon mal vor, besonders bei Leuten, die tatsächlich etwas auf dem Kerbholz hatten. Moritz fuhr sich durch die Haare und starrte missmutig auf den Bildschirm. Er war ja nicht eitel, aber der korrekte Name des Kameramanns sollte schon erscheinen. Wieder wünschte er, dass Amy jetzt bei ihm säße. Sie konnte ihn so wunderbar trösten. Wie sehnte er sich nach ihren Streicheleinheiten und ihrer zarten Haut. Moritz griff nach der leeren PET-Bierflasche, die neben dem Sofa auf dem Boden stand. Mit der rechten Hand zerdrückte er sie und warf sie mit Wucht gegen den Fernseher. Zwei kleine Tropfen blieben am Bildschirm kleben und schillerten bunt um die Wette. Was war denn heute bloß los?

***

Das Läuten des Telefons riss ihn aus den Gedanken. Es war Jochen, der von dem eben ausgestrahlten Bericht schwärmte.  »Das war wieder eine Folge«, sagte er gut gelaunt. »Hast du das Gesicht von diesem Schisser gesehen?« Jochen hustete und räusperte sich. »Der Alte wäre fast umgefallen.«   Moritz nickte stumm ins Telefon. Er hatte nicht die geringste Lust, irgendeinen Kommentar abzugeben.   »Also weißt du, du klingst irgendwie merkwürdig«, sagte Jochen, als einige Sekunden verstrichen waren.   »Ich sage doch gar nichts.«   »Eben. Was ist denn los mit dir? Die Folge war doch gut. Deine Kameraführung war exzellent. Was willst du mehr? Oder hast du es satt, Strohwitwer zu sein? Amy kommt doch schon übermorgen wieder.«   »Das ist es nicht.« Moritz drückte die Fingerkuppen aneinander und schaute hinüber in den Flur. Von hier konnte er die zerstörte Kommode nicht sehen. Aber die Bruchstücke des Bilderrahmens, der ursprünglich an der Wohnzimmerwand neben der Tür gehangen hatte, glänzten wie lustige, kleine Konfettistücke auf dem Teppich. Hätte jemand anderes als Jochen angerufen, hätte er vielleicht sogar von der Erscheinung erzählt. Aber Jochen würde er bestimmt nichts sagen. Außerdem gab es da auch noch das andere Malheur … der versaute Abspann. Er erzählte Jochen in aller Kürze davon.   »Hör mal, das kann schon mal passieren«, sagte Jochen gedehnt. »Wahrscheinlich gab es mal wieder Stress beim Fertigstellen der Sendung. Ein dummer Fehler, was soll’s. Nächste Woche erscheint dein Name wieder.«

Kapitel 2

Auch sonntags sprang sein Radiowecker an, zwar erst um 12:00 Uhr mittags, aber das rettete ihn davor, den ganzen Tag im Bett zu verdösen. Warum war er nur so müde? Gestern ging es doch gleich nach dem Krimi ins Bett. Oder lag es daran, dass die Welt um ihn herum seit einigen Tagen dunkler wirkte? Als er vor Kurzem mit der S-Bahn gefahren war, war ihm dieses Phänomen zum ersten Mal aufgefallen. Die Sonne schien hell am Himmel, aber Moritz kam es so vor, als würde er alles durch einen Schleier sehen. Nicht wirklich finster, aber eben auch nicht strahlend hell. Es war, als würde die Sonne auf einmal nur noch mit der Hälfte ihrer Kraft leuchten. Jetzt war es genauso. Der frische, unverbrauchte Tag drängte durch das Schlafzimmerfenster, aber die Schatten in den Ecken blieben dennoch bestehen. Das Licht füllte längst nicht den gesamten Raum aus. Wäre es jetzt später Nachmittag, wäre es vollkommen in Ordnung gewesen. Aber für die Mittagszeit war es eindeutig zu dunkel. Und das, obwohl keine Wolke am Himmel stand. Moritz atmete geräuschvoll aus, stemmte schwerfällig die Füße auf den Boden und schlurfte fast automatisch in die Küche. Die Schale mit den Erdnussflipkrümeln stand noch auf der Arbeitsfläche. Er wusch sie kurz aus, füllte anschließend Smacks und Milch hinein, löffelte im Stehen und kämpfte mit seiner Müdigkeit. Sein Blick fiel auf die Fotografie am Kühlschrank. Sie war einen halben Meter hoch und nahm fast die gesamte Breite der Tür in Anspruch. Er hatte sie damals vergrößern lassen, weil die Aufnahme so gelungen war. Amy und er lagen eng aneinandergekuschelt im weißen Sand von Fuerteventura. Während sie ihren Kopf mit den Händen abstützte, hatte er einen Arm um ihre Schulter gelegt und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dabei schielte er in die Kamera. Mann o Mann, war das ein herrlicher Urlaub gewesen. Grinsend fiel ihm ein, wie oft sie diese Aufnahme mit dem unzuverlässigen Selbstauslöser seiner alten Kamera hatten wiederholen müssen. Aber das Ergebnis war alle Versuche wert gewesen. Träge löffelte Moritz seine Schale leer und platzierte sie in der Geschirrspülmaschine. Er roch an seinem T-Shirt und rümpfte die Nase. Es wurde Zeit für eine gründliche Wäsche.  Zwanzig Minuten später betrachtete er, den pustenden Föhn in Händen, zweifelnd sein Gesicht im Spiegel. Es war nichts zu machen, er sah eigentlich ständig so aus, als ob die letzte Nacht zu lang gewesen wäre. Ringe um die Augen, die Pausbäckchen leicht aufgedunsen, als wäre sein Körper permanent zugedröhnt. Obwohl ihm klar war, dass sie in Kürze sowieso wieder kreuz und quer auf seinem Kopf stehen würden, wanderte seine Bürste durch die schwarzen Haare.   Inspiriert durch das Bild am Kühlschrank entschloss er sich zu einem gemütlichen DVD-Nachmittag mit dem Video von seinem und Amys Urlaub auf Fuerteventura. Der würde hoffentlich auch die unangenehmen Fragen nach der gestrigen Erscheinung übertünchen, die sich seit einer Weile aufdringlich Gehör verschaffen wollten.   Kurz danach flimmerten die ersten Bilder über den Bildschirm. Amy, die eine gewaltige Düne hinunterlief. Ihr rosa Poloshirt harmonierte unheimlich gut mit der Farbe des Sandes. Die nächste Szene zeigte Amy an einem kleinen Brunnen sitzend. Sie trug ein Tanktop und lächelte ihn an. Das Tattoo auf ihrem rechten Oberarm glänzte in der Sonne. Er mochte den kleinen Skorpion mit drohend erhobenem Schwanz, den sie sich schon lange vor ihrer gemeinsamen Zeit auf den Arm hatte stechen lassen. Dann kamen einige Bilder ihrer Jeeptour durchs Landesinnere, die sie am vorletzten Tag unternommen hatten. An dieser Stelle schien die DVD einen Kratzer zu haben. Bildstörungen flimmerten über den Fernseher, ausgerechnet, als einer der Mitfahrer sie beide zusammen gefilmt hatte. Schließlich gab es wieder Strandbilder, diesmal trug Amy einen Badeanzug. Sie mochte keine Bikinis, wusste der Himmel, warum. Ihr Körper war athletisch, sie musste sich bestimmt nicht verstecken. Schließlich wurde das Bild schwarz, und Moritz überlegte, ob er sich auch noch die gemeinsamen Winterurlaubsbilder aus Seefeld anschauen sollte, verwarf den Gedanken aber. Sicherlich würde er dann den restlichen Tag viel zu sehr an Amy denken müssen, und hätte den Kopf nicht mehr frei für andere Dinge gehabt. Für seinen Job zum Beispiel, denn morgen begannen die Arbeiten an einer neuen Reportage. Das Thema: freilaufende Hühner, die überhaupt nicht frei herumlaufen konnten; inklusive Überraschungsbesuch auf einem verdächtigen Bauernhof. Solche Storys kamen immer an. Sie hatten schon einmal eine Reportage über ein ähnliches Thema gedreht. Die könnte er sich genauso gut noch einmal ansehen, als Vorbereitung sozusagen. Mit einem Vanille-Orangen-Tee zur Stärkung kniete er bald darauf erneut vor dem weiß lackierten Schrank mit den DVDs, zog die entsprechende Kopie heraus und legte sie ein. Den Fernsehsessel mied er. Tagsüber dort zu sitzen und auf die Mattscheibe zu starren, fühlte sich falsch an. So etwas machten doch nur Langzeitarbeitslose, die sowieso den ganzen Tag vor der Glotze hingen. Auf dem Boden sitzend verfolgte er die dramatisch gestrickte Reportage rund um Hühner in viel zu engen Käfigen und den aufgebrachten Landwirten, die das Fernsehteam quer über den Hof jagten. Der Abspann erschien und Moritz wollte sich gerade vom Bildschirm wegdrehen, als er stutzte. Fehlte da nicht etwas? Der Schlusstext war zu Ende und die Titelmelodie der nächsten Folge begann. Er nahm die Fernbedienung und spulte zurück. Sein Name tauchte nicht auf, als Kameramann wurde wiederum nur Pascal erwähnt.   Was hatte das zu bedeuten?   Weil er immer penibel auf seinen Namen achtete, hätte ihm das doch bereits damals auffallen müssen! Unerklärlich. Und eine Frechheit! Gleich morgen würde er mit Sascha, seinem Chef, sprechen. Womöglich gab es rechtliche Gründe oder Probleme, die den Sender zwangen, seinen Namen aus dem Abspann zu streichen. Er konnte sich zwar beim besten Willen nicht vorstellen, was für Gründe das sein konnten, aber man wusste ja nie.

Kapitel 3

Moritz öffnete die Tür zum Bürohaus und schaute zufrieden auf seine Armbanduhr. Viertel nach neun, deutlich unter seiner üblichen, unakademischen halben Stunde. Die Kollegen würden Augen machen, wenn ihr Kameramann fast pünktlich im Konferenzraum erschiene. Und das an einem Montag. Er ging einen dezent beleuchteten Flur entlang, dessen Wände aus grauen Marmorplatten bestanden. Das Bürogebäude befand sich direkt am vornehmen Hamburger Neuen Wall und er mochte es nicht besonders. Das Ambiente störte ihn. Seiner Meinung nach war die Produktionsfirma, neben etlichen Notaren, Anwälten und Vermögensberatungsgesellschaften, der einzig normale Mieter in diesem Haus. Der goldeingefasste Fahrstuhlknopf kam ihm jeden Tag kitschiger vor. Mit einem kaum wahrnehmbaren Läuten öffnete sich die Tür des Lifts. Die vollverspiegelte Kabine brachte ihn zum Knurren, denn sein Antlitz schien ihm von allen Seiten entgegen. Er sah aus, als hätte er vor einem Ventilator geschlafen. Kurz bevor die Tür sich schloss, huschte eine weitere Gestalt in den Fahrstuhl. Sie würdigte ihn keines Blickes. Mit zusammengekniffenen Augen schaute Moritz auf die zierliche Frau mit dem Igelschnitt. Petra war eine Kollegin von Amy. Sie arbeitete mit ihrem Team für eine andere Sendung, die ebenfalls von der Produktionsfirma herausgegeben wurde. Sie kannten sich nicht besonders gut. Trotzdem hatten sie sich bisher zumindest immer gegrüßt. Hatte sie etwa noch einen Kater vom Wochenende? Petra erwiderte seinen Blick kurz und zog missbilligend die Mundwinkel herunter. So eine Frechheit! Das würde er Amy stecken!  Sie gingen hintereinander durch die verglaste Eingangstür im dritten Stock. Die Redaktionssitzung fand wohl, wie immer, im großen Besprechungszimmer statt, von dem aus man einen herrlichen Blick auf das Hamburger Rathaus hatte. Während Petra nach rechts abbog, wandte er sich zur anderen Seite, ging direkt am Empfangstresen vorbei, hinter dem Lina missmutig auf einen Bildschirm starrte. Auf eine Begrüßung verzichtete er. Diese Frau hatte noch nie zu seinen Favoriten gezählt. Sie war kaum Mitte zwanzig, tat aber stets so, als wäre sie die wichtigste Person in der Firma. Unangenehm. Er sah bereits die geschlossene Tür des Besprechungsraumes, als Linas Stimme hinter ihm ertönte.   »Warte mal.«   Moritz drehte sich ärgerlich um. Lina war inzwischen aufgestanden. Wie die immer herumlief! Sie trug lediglich ein Trägertop mit irre weitem Ausschnitt. Skeptisch fiel sein Blick auf den dunkelroten BH, der fast über den Rand des Tops quoll.   »Ich muss zur Redaktionssitzung«, knurrte Moritz genervt. »Bin spät dran.«   Lina rümpfte die Nase. Über diese Geste musste er stets grinsen. Kein Mensch rümpfte so oft die Nase wie Lina. Ein Wunder, dass der Zinken in ihrem Gesicht noch nicht verknittert war.   »Das kann ich mir gar nicht vorstellen«, gab sie zickig zurück. »Neue Leute gehen erst einmal zu Herrn Wahrschneit. Du bist hoffentlich angemeldet?«   Wahrschneit war Saschas Familienname – und Sascha wollte er wegen des Fehlers im Abspann ohnedies sprechen. Aber was sollte Linas dämliches Gesülze von neuen Leuten? Die Redaktionssitzung war wichtig. Es ging um die ersten Fakten für die nächste Reportage.   »Ich geh erst in die Konferenz«, sagte er so höflich wie möglich. »Wahrscheinlich ist Sascha sowieso dabei.«   Lina lächelte spöttisch.   »Das wirst du nicht wagen«, knurrte sie leise.  Er zuckte mit den Achseln, drehte sich um und ließ sie stehen. Was redete die bloß wieder für einen gequirlten Mist zusammen? Und seit wann sagte sieHerr Wahrschneitzu Sascha? In der Firma duzten sich doch alle. Während er seine Schritte beschleunigte, hörte er, wie Lina hinter ihm hereilte.  »Halt!«, schrie sie schließlich in ohrenbetäubender Lautstärke, doch seine Hände ruhten bereits auf den Griffen der schweren Eichentüren. Als er in den Konferenzraum schritt, brachen die Gespräche ab und ein halbes Dutzend Augenpaare schauten ihn neugierig an. Sascha stand neben einem Flipchart und hatte mehrere Kreise aufs Papier gemalt. Sein kurzärmeliges Hemd zeigte Schweißflecken unter den Achseln.   »Hier bin ich«, sagte Moritz und breitete die Arme aus. »Ich wäre fast pünktlich gewesen, wenn Lina mich nicht aufgehalten hätte.«   Sekunden später erschien Lina an der Tür.   »Tut mir leid Sascha, dieser Kerl scheint sich hier gut auszukennen. Platzt einfach in die Konferenz.«   »Schon in Ordnung, Lina«, sagte Sascha und kam auf Moritz zu. »Hilf mit auf die Sprünge. Momentan haben wir so viele freie Mitarbeiter, dass ich unmöglich alle Namen behalten kann.«   Eine Pause entstand. Moritz schaute seinen Chef skeptisch an. War Sascha wieder mal auf Speed? Aber schon so früh am Morgen?   »Was haben die Freien damit zu tun?«, fragte er achselzuckend.   Sascha stand nun direkt vor ihm und klopfte ihm väterlich auf die Schulter.   »Wir sprechen in den nächsten Tagen über alles. Wir finden was für dich.« Er drehte sich auf dem Absatz um. »Momentan habe ich keine Zeit. Eine wichtige Redaktionssitzung läuft gerade. Da darfst du nicht einfach so hineinplatzen.«   Moritz stöhnte gequält auf. Er wusste, dass Sascha manchmal viel um die Ohren hatte. Eigentlich war der Chef meistens im Stress. Irgendwo gab es immer Probleme, Termine wurden nicht eingehalten, Aufnahmen dauerten zu lange oder bereits ausgestrahlte Sendungen verursachten unangenehme Nachspiele in Form von Klagen oder Richtigstellungen. Da konnte man schon mal den Durchblick verlieren. Aber auch bei seinen eigenen, langjährigen Mitarbeitern? Hilfe suchend starrte Moritz Jochen an. Die Haare des Reporters waren frisch gegelt und er strotzte geradezu vor Energie. Neben ihm saß Pascal, der sich gerade eine Zigarette in den Mundwinkel geschoben hatte. Der konnte auch keine halbe Stunde ohne die Glimmstängel auskommen. Beide Kollegen schauten interessiert in seine Richtung, taten aber so, als würden sie ihn überhaupt nicht kennen.   »Mein Gott, was für ein Kinderkram«, sagte Moritz aufgebracht.   »Ganz recht«, antwortete Lina und zeigte auf die Ausgangstür. »Und wenn du jetzt nicht verschwindest, bekommst du ganz gewaltige Probleme.«   Ihm fiel beim besten Willen keine schlagfertige Antwort auf diese Frechheit ein. Sein Blick wanderte an ihr hinunter und fixierte mehrere Sekunden lang ihren roten BH. Vielleicht konnte er sie damit ärgern. Es schien ihr jedoch nicht unangenehm zu sein, genauestens unter die Lupe genommen zu werden. Sascha räusperte sich ungeduldig.

Kapitel 4

Wütend stürmte Moritz auf die Straße. Was sollte dieses unglaubliche Verhalten? Mit dieser Show konnten Sascha und seine treudoofen Schafe einen Oscar gewinnen. Warum verleugneten sie ihn plötzlich? Wenn sie ihn rauswerfen wollten, war das eine Sache. Wenn sie ihn aber zusätzlich noch behandelten, als würden sie sich kaum an ihn erinnern, war das eine bodenlose Frechheit. Selbst Jochen tat so, als kenne er ihn nicht. Moritz schlängelte sich an shoppenden Touristen vorbei und erreichte keuchend den Rathausmarkt. Er machte eindeutig zu wenig Sport, schnelles Gehen war anstrengend geworden. Jeden Augenblick hätte seine Lunge kollabieren können, aber er wollte unbedingt die nächste U-Bahn erreichen, sich so schnell wie möglich in seiner Wohnung verbarrikadieren und diesen Scheißtag einfach draußen lassen. Er hastete noch ein wenig schneller über den Platz. Hatte man ihn tatsächlich klammheimlich gefeuert? Vielleicht wollte Sascha ihn schon seit Längerem loswerden? Vielleicht wurde Pascal bereits kontinuierlich als sein Nachfolger aufgebaut? Das würde auch erklären, warum sein eigener Name im Abspann nicht mehr auftauchte, wohl aber der von Pascal. Ob es daran lag, dass er nicht pünktlich sein konnte? Wann hatte er zuletzt rechtzeitig einer Redaktionssitzung beigewohnt? Vielleicht hätten auch die Mittagspausen mit Amy nicht immer so ausufern dürfen. Trotzdem wäre es nur fair gewesen, ihn vorher wenigstens einmal gewarnt zu haben. Fast wäre er mit einer Gruppe merkwürdig sprechender Menschen zusammengestoßen, die mit ihren Fotoapparaten wild auf das Rathaus einschossen. Schnaufend wich er aus. Irgendetwas stimmte nicht, diese zusammengebastelten Erklärungsversuche konnten ihn nicht beruhigen. Sascha war ein umgänglicher Mensch, der das Gespräch mit ihm gesucht hätte. Ganz sicher. Außerdem war da immer noch der Abspannfehler der anderen Sendung. Der Bericht über die Käfighühner war vor etwa einem Jahr gelaufen. Wenig wahrscheinlich, dass Sascha ihn schon zu diesem frühen Zeitpunkt aus der Firma hatte ekeln wollen. Außerdem hätte es Tratsch gegeben. Amy und Jochen hätten ihm davon berichtet. Moritz ballte die Fäuste und trat gegen eine achtlos weggeworfene Butterkeksschachtel auf dem Boden. Sein Kopf begann zu brummen. Die Unterführung zur U-Bahn lag nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Jetzt konnte er es sich erlauben, wieder etwas langsamer zu gehen. Nicht, dass sein Körper noch einen Hitzeschlag bekam. Obwohl, so richtig heiß war ihm gar nicht. Sein Blick wanderte in den erneut wolkenlosen Himmel. Erst dann fiel ihm auf, dass er direkt in die Sonne hineinschauen konnte. Das ging sonst doch nur, wenn sich Wolken- oder Nebelschleier davor setzten und auf diese Weise die Lichtkraft reduzierten. Aber da war nichts, was die Sonne verdecken konnte. Irritiert senkte Moritz den Kopf und betrachtete seinen Schatten auf den großen, quadratischen Steinplatten, der sich nur sehr blass abzeichnete. Eigentlich war seine Silhouette kaum mehr als eine hellgraue Trübung, so wie ein Milchkaffee, bei dem man es mit der Milch doch etwas zu gut gemeint hatte.  Es war keine Zeit mehr, großartig über dieses Phänomen nachzudenken. Die Unterführung tauchte vor ihm auf. Die Stufen in den U-Bahn-Schacht schlenderte er fast in Zeitlupe hinunter. Ein warmer Wind wehte ihm aus dem Schacht entgegen. Auf der untersten Stufe saß ein Bettler, der die Beine angezogen hatte und sich gegen das Mauerwerk lehnte. Ebenfalls wie in Zeitlupe hob der Typ die grüne Flasche ohne Etikett an den Mund und trank einen ausgiebigen Schluck. Moritz runzelte die Stirn. Der Oberlippenbart des Mannes war sauber gestutzt. Als Moritz an ihm vorbeiging, schaute der Bettler hoch. Plötzlich riss er die Augen weit auf, verschluckte sich und ein Teil des Getränkes landete auf seiner einstmals bestimmt sehr teuren und vornehmen Tweedhose. Was für ein seltsamer Kauz! Der Geruch von Rotwein wehte Moritz in die Nase. Eigentlich hätte er etwas Härteres erwartet. Der Bettler zitterte und schaute ihn mit einem so verwunderten Gesichtsausdruck an, als würde der Heilige Geist persönlich vor ihm stehen. Moritz blickte schnell zu Boden. Normalerweise hegte er keinen Unmut gegenüber Obdachlosen. Meistens warf er ihnen sein Kleingeld zu. Diesmal allerdings war er dafür nicht in der Stimmung. Noch immer schüttelte sich der Bettler, als herrschten in der Unterführung eisige Temperaturen. Dann hob der Mann den Arm und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn.   »Du auch!«, rief er aufgewühlt. »Das gibt es nicht. Dich hat’s auch erwischt.«   Einen Moment hatte Moritz das Gefühl, als ob die Welt um ihn herum einfach aufhörte zu existieren. Voller Abscheu und gleichzeitig hoch fasziniert betrachtete er den Zeigefinger des Stadtstreichers. Der Finger schien ihn magisch anzuziehen. Moritz konnte ihn so unglaublich deutlich sehen, viel klarer als alles andere in dieser Unterführung. Dann war das Gefühl ebenso schnell vorbei, wie es gekommen war. Unsicher riss er sich von dem Anblick des Fremden los und beeilte sich, an dem Mann vorbeizukommen. Eine Gruppe laut quasselnder Kids stürmte aus dem Schacht und im Hintergrund donnerte bereits der einfahrende Zug. Heute schien die ganze Welt verrückt zu spielen.

***

Moritz bog in die Straße seiner Wohnung ein und ging an einem türkischen Händler vorbei, der Unmengen von Obstkisten am Rand des Bürgersteigs deponiert hatte. Es roch nach reifen Früchten. Kurz darauf fiel sein Blick auf den Möbelwagen, der sich vor der Eingangstür seines Wohnhauses breitgemacht hatte. Zwei Männer in schweren Arbeitshosen wuchteten gerade eine Waschmaschine an den Rand der Laderampe. Ein dritter Mann gab vom Hauseingang aus Anweisungen und fuchtelte dabei aufgeregt mit den Händen in der Luft herum. Moritz schätzte, dass der Kerl in etwa sein Alter hatte. Er trug ein seidenartiges Hemd, dessen obere drei Knöpfe geöffnet waren. Auf seiner glatt rasierten Hühnerbrust glänzte der Schweiß und ein fingerbreiter Kinnbart zierte sein spitzes Gesicht. Als Moritz neben ihn trat, lachte der Mann ihn offen und freundlich an.  »Ich hoffe, du kommst noch durch die Tür. Der Möbelwagen steht ziemlich dicht am Eingang.«   Moritz nickte. »Kein Problem.«   Er schaute auf die Arbeiter, die mit der Laderampe heruntergefahren waren und die Waschmaschine auf den Bürgersteig schoben.   »Ziehst du hier ein?«   »Ja, in die Wohnung im zweiten Stock. Rechts.«   »Dann kann ich dir zukünftig auf dem Kopf herumtrampeln. Ich wohne direkt über dir.« Moritz streckte ihm die Hand entgegen und stellte sich vor.   »Ich bin der Tobias«, sagte der Kinnbart und schaute wieder angespannt auf die Ladefläche des Transporters. Einer der Möbelpacker hatte mehrere großblättrige Grünpflanzen an den Rand der Rampe gestellt. Tobias schnalzte mit der Zunge. »Vorsichtig. Die fallen doch um.«   Er griff nach den Übertöpfen und stellte die Gewächse nacheinander an den Rand der Hauswand.   »Die brauchen dringend Wasser«, sagte er kurz darauf besorgt und versuchte, alle Pflanzen auf einmal zu umklammern. Dabei rutschte ihm einer der Töpfe aus den Händen und fiel auf den Gehweg.   »Meine Efeutute«, rief er panisch.   Moritz lachte und klopfte ihm auf die Schulter.   »Geh schon vor und kümmere dich um die anderen Pflanzen. Ich nehme mich des Krauts hier an.«   »Das ist lieb von dir. Du kennst ja den Weg.«   Während Tobias im Hauseingang verschwand, füllte Moritz die ausgekippte Erde zurück in den Plastiktopf. Tobias hatte anscheinend einen ausgeprägten grünen Daumen. Der Efeu sah kräftig grün aus und bildete Unmengen neuer Triebe. Moritz dachte an sein kümmerliches Zyperngras vor dem Badezimmerfenster, das alles andere als gesund aussah, obwohl es regelmäßig gegossen wurde und auch die Sonne den halben Tag lang direkt in das Fenster schien. Die Tür zu Tobias’ Wohnung stand weit offen. Eben betraten die Möbelpacker mit der Waschmaschine den Wohnungsflur.   »Der Efeu ist gerettet«, rief Moritz, während er durch den Flur ging.   Tobias saß auf dem Fußboden seiner neuen Wohnung und begutachtete eine seiner Pflanzen. Neben ihm stand eine grüne Plastikgießkanne.   »Eigentlich sollten Zimmerpflanzen ausschließlich Regenwasser bekommen«, sagte er, als Moritz den Raum betrat. »Aber noch habe ich natürlich nichts gesammelt. Da muss es Leitungswasser auch tun.«  Moritz nickte und stellte den Efeu zu den anderen Gewächsen. Wie wollte Tobias hier Regenwasser sammeln? Die Wohnungen in diesem Haus besaßen keine Balkone. Oder wollte er Flaschen mit großen Trichtern im Innenhof aufstellen? Das würde bestimmt lustig aussehen. Dann hätte er aber seinen Ruf im Hause weg.Tobias, der Pflanzenversteher.»Was lächelst du so?« Tobias hatte sich umgedreht und schaute ihn mit großen Augen an.   »Ach nichts. Der ganze Tag heute war bisher ziemlich scheiße. Da bin ich froh für jede Ablenkung.«   Tobias nickte. »Ich habe noch mehr Grünpflanzen im Lkw, die auch alle dringend Wasser bräuchten«, sagte er augenzwinkernd.   »Kein Problem. Ich helfe dir.« Moritz war froh, etwas tun zu können. Vielleicht lenkte ihn das ein wenig ab. Es war frustrierend und beunruhigend, dauernd über die Geschehnisse in seiner Firma nachzudenken. Und so schleppte er in der nächsten Stunde nicht nur Dutzende weiterer Grünpflanzen in Tobias’ neue Wohnung, sondern auch kleine Bänke und Tische aus Holz, auf denen das Grünzeug besonders gut zur Wirkung kommen sollte. Nachdem Tobias jeden Topf penibel ausgerichtet hatte, nickte er zufrieden.   »So werden sie gedeihen. Das Licht ist in dieser Wohnung viel besser als in meiner alten.«   Tobias ging zu einem Korb und kam mit zwei Dosen wieder zurück. »Danke für deine Hilfe. Darauf trinken wir jetzt erst mal ein Radler.«   Moritz nahm lächelnd eine der Dosen in die Hand.   »Bei uns heißt das aber Alsterwasser«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger.   Sein neuer Nachbar nickte und setzte sich auf einen der zwei Stühle, die die Möbelpacker mittlerweile ins Wohnzimmer geschafft hatten.   »Ich habe bisher in der Nähe von Stuttgart gewohnt. Bin mal gespannt, wie es mir hier gefallen wird.«   Moritz setzte sich auf den zweiten Stuhl und trank einen großen Schluck. Eigentlich mochte er Biergetränke nur eiskalt, aber jeder sollte mal über seinen Schatten springen. Tobias’ Kühlschrank befand sich wohl noch irgendwo im Möbelwagen.   »Dann bist du ein echter Schwabe?«   »Gott bewahre!« Tobias kicherte hektisch. »Ursprünglich stamme ich aus Osnabrück.«   Moritz nickte und trank weiter. Der Gute schien recht weit herumzukommen.   »Ich freue mich auf das Hamburger Nachtleben«, sagte Tobias nach einer Weile.   Moritz grinste. Man sah Tobias auf dem ersten Blick nicht unbedingt an, dass er gerne ausging.   »Die Kneipenszene ist ganz hervorragend in Eimsbüttel«, erklärte Moritz.   »Das freut mich. Ich habe vor, jede Einzelne auszutesten.«   »Dabei bin ich dir gern behilflich«.   Die Möbelpacker kamen mit verschiedenen Holzteilen ins Wohnzimmer gepoltert.   »Den Tisch bauen Sie aber selbst zusammen«, sagte einer der Packer mürrisch.   Tobias nickte und sprang auf. »Dann will ich mal.«   Er stellte seine Dose auf den Boden und grinste Moritz an. »Du musst mich entschuldigen. Bis heute Abend will ich alles aufgebaut haben.«   Moritz stand auf und schüttete den Rest des Getränkes in sich hinein.   »Schon gut. Ich muss sowieso in meine Wohnung. Hab noch ein paar Dinge zu erledigen.«   Pflanzentragen war ja ganz in Ordnung gewesen. Aber Möbel aufzubauen musste nun wirklich nicht sein. Zum Glück hatte ihn Tobias nicht um Hilfe gebeten.

***

Kapitel 5

Der Wecker war auf Punkt Sieben gestellt. So früh war er zuletzt vor einem halben Jahr aufgestanden, als seine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt bevorgestanden hatte. Moritz sprang aus dem Bett und lächelte. Es ging ihm wesentlich besser als gestern. Das lag hauptsächlich an der Überraschung, die er sich vor dem Einschlafen für Amy ausgedacht hatte. Mit einem grandiosen Frühstück wollte Moritz seine Freundin begrüßen. Fröhlich pfeifend stürmte er in den Treppenhausflur. Leise Bohrgeräusche, die von einem Akkuschrauber hätten stammen können, drangen in seine Ohren, als er an Tobias’ Wohnungstür vorbeikam. Gut gelaunt setzte Moritz sich in seinen in die Jahre gekommenen hellblauen Opel Astra und fuhr los. Die ersten Straßen fuhr er praktisch blind. Das Auto wurde nicht sehr häufig gefahren und auf der Frontscheibe hatte es sich eine klebrige Schmutzschicht gemütlich gemacht. U-Bahn- und S-Bahn-Stationen befanden sich in der Nähe und es war immer die reinste Hölle, am Abend einen Parkplatz in diesem dicht besiedelten Stadtteil suchen zu müssen. Auf halbem Weg zu Amy lag eine große Bäckerei. Er stiefelte in den Laden und kaufte mit Wurst und Käse belegte Roggenbrötchen, Croissants, Kringel und Milchbrötchen. Amy liebte Milchbrötchen. Dazu erstand er einige Scheiben Lachs und zwei große Pappbecher Latte Macciatto. Als die Straße ihn wieder hatte, war es halb neun. Amy würde ganz schön müde sein. Immerhin dürfte sie nicht vor zwei Uhr im Bett gewesen sein. Höchstwahrscheinlich würde er sie aus dem Schlaf reißen. Na, egal, sie würde ihm nicht böse sein. Schließlich gab es leckere Sachen. Außerdem vermisste er sie ganz schrecklich und hoffte, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Als eine Parklücke direkt vor ihrem Haus frei wurde, schnalzte er fröhlich mit der Zunge. Er öffnete die Eingangstür des Mietshauses, die dermaßen verzogen war, dass sie nicht mehr ins Schloss fallen konnte und ständig offen war, und trug das Frühstück in das Treppenhaus.

***

Mit klopfendem Herzen lauschte er auf das Summen der Klingel. Er hatte die Tüten mit den Brötchen und dem Lachs auf ihre Fußmatte gelegt. Seine Hände hielten die beiden Kaffeebecher. Auf diese Weise würde sie ihn besser umarmen können. Ihr Schlaf schien nicht besonders tief gewesen zu sein. Es dauerte keine halbe Minute, da wurde die Tür schon geöffnet. Amy blinzelte ihm aus müden Augen entgegen. Obwohl sie gerade erst aufgestanden war, sah sie umwerfend aus. Ihre langen, braunen Haare hingen ihr kraus ins Gesicht, ihren großen Mund hatte sie ein wenig geöffnet. Wie hatte er diese Lippen vermisst! Unter ihrem linken T-Shirt Ärmel lugte ein Teil ihres Tattoos hervor. Wie er sich danach sehnte, über den angriffslustigen, kleinen Skorpion zu streicheln.  »Ich habe meiner Geliebten ein reichhaltiges Frühstück gebracht«, sagte er ernst. »Ob mich die Gnädigste wohl hereinlassen wird?« Dann lachte Moritz ausgelassen, beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange.   Amy schaute ihn einen Moment mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie stand bewegungslos an der Tür, als wäre sie zu Stein geworden. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie lächelte ihm mit ihren sinnlichen Lippen zu.   »Man, das ist ja vielleicht eine Anmache«, sagte sie grinsend. »So etwas habe ich noch nie erlebt. Und mich haben schon jede Menge Männer angemacht.«   Sie hob die Brötchentüte auf und schaute hinein. »Wow. Sogar Milchbrötchen hast du mitgebracht. Die mag ich nämlich besonders gerne. Als ob du es gewusst hättest.«   Moritz schaute sie stirnrunzelnd an. Konnte man es als Anmache bezeichnen, wenn man seine Freundin mit einem Frühstück überraschte? Und was sollte das mit den Milchbrötchen? Natürlich kannte er ihre Vorlieben. Sie schien wirklich noch nicht richtig wach zu sein. Fröhlich nickte er, hielt ihr die Pappbecher vor die Nase und machte einen Schritt nach vorne. Er hatte keine Lust mehr, auf dem Flur herumzustehen. Ihre Hände drückten gegen seine Brust. Sie schoben ihn sanft aber bestimmt wieder zurück.   »Nicht so schnell«, sagte sie abwehrend. »Es tut mir wirklich leid. Der Zeitpunkt ist schlecht gewählt. Ich bin in der Nacht gerade von einer Dienstreise zurückgekommen.« Moritz sah sie verwirrt an.   »Was redest du denn da? Das weiß ich doch. Deswegen ja die Überraschung.«   Wieder ging er näher an sie heran. »Ich habe dich wahnsinnig vermisst.«   Er wollte ihr einen weiteren Kuss geben, diesmal auf ihren Mund. Mit einer hastigen Bewegung zog sie ihren Kopf zurück.   »Halt«, rief sie aufgebracht. »So geht das nicht. Was denkst du von mir? Nur weil du mit frischen Brötchen vor meiner Tür stehst, darfst du noch lange nicht deine Zunge in meinen Hals stecken.«   Sie funkelte ihn böse an.   Moritz hob hilflos und ärgerlich die Arme in die Höhe.   »Was soll denn das?«, fragte er genervt. »Hattest du so eine beschissene Reise? Dein Freund darf dir wohl noch einen Kuss geben.«   Wieder beugte er sich zu ihr vor. Diesmal knurrte sie leise, als sie ihn ein weiteres Mal unsanft berührte und zurück ins Treppenhaus schubste.  »Schluss damit«, rief sie. »Das war ja am Anfang ganz lustig, aber jetzt nervst du langsam. Du hast wohl Schwierigkeiten mit dem WortNein.«  Sie starrte ihn groß an. »Wie kommst du auf die absurde Idee, dass wir befreundet wären? Ich kenne dich kaum. Du bist einer der freien Mitarbeiter, die ab und zu mal für die Redaktion arbeiten, oder?«   Moritz schnappte nach Luft. Ihm war, als würde etwas in seinem Bauch explodieren. Ärgerlich stellte er den Kaffee ab. Am liebsten hätte er die Pappbecher jetzt mit Wucht gegen eine der hellgrün getünchten Wände des Treppenhauses geschleudert.   »Spinnst du?«, rief er wütend. »Auf welchem Trip bist du denn? Warum verleugnest du mich?«  »Duscheinst auf einem Trip zu sein. Ich kenne dich kaum.«  »Hast du einen Anderen?«   Sie fuhr sich genervt durch ihre langen Haare. »Was geht dich das an? Aber wenn es dich beruhigt, ich bin zurzeit solo.«   Sie schüttelte nochmals den Kopf und trat zurück in die Wohnung. »Und dabei wird es auch bleiben. Nimm deine Brötchen und verschwinde.«   Sie wollte die Wohnungstür schließen, aber er hielt die Tür mit einer Hand fest. Mit der anderen Hand zog er seine Geldbörse aus der Hintertasche seiner Jeans und klappte sie zitternd auf.   »Amy, wir sind seit fast zwei Jahren ein Paar.«   Er trug stets ein Bild von Amy bei sich. Das Foto wurde ebenfalls auf Fuerteventura gemacht, beim Abendessen in einem kleinen, aber feinen Restaurant. Amy trug ein kurzes Lederkleid und sie grinste wie ein Honigkuchenpferd. Der Fotograf war ein schmieriger, stinkender Mensch gewesen, aber seine Aufnahme war wirklich fabelhaft. Moritz hielt es Amy vors Gesicht und sie studierte das Bild einen Augenblick lang mit eingefrorener Mine.   Dann starrte sie ihn durchdringend an.   »Bist du krank, oder was?« zischelte sie verächtlich. »Hast du dir da irgendetwas eingeredet mit uns beiden?«   Sie tippte gegen die Plastikfolie der Geldbörse, unter der das Foto sicher verwahrt war. »Wo hast du das her? Das ist eines meiner Urlaubsfotos aus Fuerteventura.«   Sie riss ihm das Portemonnaie aus der Hand und warf es ihm hohen Bogen die Stufen hinunter.

Kapitel 6

Moritz kochte vor Wut. Tatsächlich hatte er das Gefühl, als ob er jeden Moment überbrodeln und eine feurig rote Masse aus seinem Hals schießen würde. Sein Portemonnaie lag auf der untersten Stufe. Es war aufgeschlagen. Amy lächelte ihm auf dem Foto verführerisch entgegen. Fluchend hob er es auf. Gesicht ausgeschnitten? So ein Quatsch!  Auf der Straße hob er den Kopf. Sein Blick wanderte die Fassade des Hauses hinauf. Es war unmöglich, einfach wieder abzuzotteln, als wäre nichts geschehen. Aber was blieb ihm anderes übrig? Verwirrt, wütend und ängstlich zugleich schloss er seinen Wagen auf und startete den Motor.   Gleich die erste Ampel war rot. Wenigstens ließ ihm das Zeit, zu überlegen, wohin er jetzt eigentlich wollte. Zurück in seine Wohnung? Bestimmt nicht. Es bestand die ernsthafte Gefahr, dass er sich den ganzen Tag über volllaufen lassen würde. Und es war noch früh am Tag. Eine Menge Zeit zum Trinken. Als die Ampel auf Grün sprang, wechselte er den Fahrstreifen und bog an der nächsten Kreuzung Richtung Stadtmitte ab. Er würde jetzt direkt ins Büro fahren und ein ernstes Gespräch mit Sascha führen. In all den Jahren war er noch nie mit dem Auto zur Arbeit gefahren. Welchen Sinn hätte das auch gemacht? Parkplätze gab es im Zentrum so gut wie keine und wenn doch, dann kosteten sie ein Heidengeld. Und mit der Bahn war man mindestens ebenso schnell in der City. Jetzt allerdings, da er bereits in seinem Auto saß und die Scheiben mittlerweile sogar fast schlierenfrei waren, hatte er keine Lust mehr, in eine U-Bahn oder S-Bahn zu steigen. Er würde in den sauren Apfel beißen müssen und in eines der Parkhäuser fahren. Und wenn schon. So, wie die Dinge lagen, würde sein Besuch nicht lange dauern. Er wollte nur endlich Klarheit. Sascha sollte wenigstens den Anstand besitzen und ihm einen Grund für das plötzliche, feindselige Verhalten nennen. Er hetzte den Neuen Wall entlang und betrat den eleganten Vorraum zu den Fahrstühlen. Dieses ganze glitzernde Ambiente ging ihm gehörig auf den Geist. Von Mal zu Mal mehr. Am liebsten hätte er jetzt seine Hose hinuntergelassen und auf die messingfarbenen Aschenbecher gepinkelt, die zu beiden Seiten des Fahrstuhles standen. Aber dazu fehlte ihm leider der Mumm, wie er nicht ohne Bedauern feststellte.   Die Türen des Lifts öffneten sich und er schaute in sein finsteres Gesicht, das ihn von allen Seiten anstarrte. Diesen Aufzug hasste er fast noch mehr als den protzigen Vorraum. Zum Glück fuhr niemand mit ihm nach oben. Keiner seiner feinen Kollegen ließ sich blicken. Moritz atmete tief aus, als er in den Flur hinaustrat. Durch die Glastüren hindurch konnte er bereits Linas genervtes Gesicht sehen. Sie wirkte, als hätte ihr jemand den Lieblingslippenstift geklaut. Diesmal trug sie ein Zwischending aus Kimono und Postsack. Natürlich wieder ärmellos und tief ausgeschnitten. Er polterte durch den Eingang und machte sich gar nicht erst die Mühe, sie freundlich anzusehen. Stattdessen donnerte seine Faust auf den dekadenten Empfangstresen, den er ebenfalls von Besuch zu Besuch scheußlicher fand.   »Hi, ich will Sascha sprechen«, sagte er ungeduldig, »und zwar sofort.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Moritz sich zur Seite und wollte vorbeigehen. Lina schaute ihn eine Sekunde lang mit weit geöffneten Augen an. Dann sprang sie von ihrem Stuhl auf, als hätte sie der Teufel persönlich in den Hintern gezwickt. Sie langte über den Tresen und bekam Moritz’ Arm zu fassen. Er hätte nie für möglich gehalten, dass sie so sportlich sein konnte. Sie drückte ihre Hände tief in sein Fleisch.   »Was bist du denn für ein Komiker?«, zischelte sie. Dabei verstärkte sie den Druck auf seinen Arm. Die Frau schien auch noch sadistisch veranlagt zu sein. Morgen würde er einen schaurigen blauen Fleck am Arm haben.   »Hier kann doch nicht jeder Stelzfuß einfach ein- und ausgehen.«   »Ich habe wohl ein Recht …«, begann er aufgebracht, bevor Lina ihn unterbrach.   »Einen Dreck hast du«, rief sie laut und riss seinen Arm mit Wucht nach vorne. Obwohl er sich keine Blöße geben wollte, konnte er den Schmerzensschrei nicht unterdrücken. Hatten sich Linas lackierte Fingernägel schon durch seine Haut gebohrt?   »Wir haben keine Arbeit für dich. Hier arbeiten nämlich nur qualifizierte Leute. Also verschwinde.«   Endlich ließ sie seinen Arm los. Im nächsten Moment lagen ihre Hände auf seinem Rücken und schubsten ihn nach vorne zur Glastür. Er fasste den Metallgriff der Tür an und stellte dabei fest, dass seine Hände klitschnass waren. Er zwang sich zur Ruhe. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Was wäre, wenn Lina die Wahrheit sagte? Was wäre, wenn man ihn in diesem Büro tatsächlich nicht kannte? Seine Füße versagten für einen Moment ihren Dienst.   »Sag mal Lina, kannst du dich gar nicht mehr an mich erinnern?«, fragte er so gefasst wie möglich.   Seine friedliche Stimme zeigte Wirkung. Plötzlich war auch Lina nicht mehr so abweisend. Sie schenkte ihm sogar den Ansatz eines Lächelns.