Aufbruch ins Ungewisse | Die historische Familiensaga im 20. Jahrhundert - Elisa Rimpach - E-Book
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Aufbruch ins Ungewisse | Die historische Familiensaga im 20. Jahrhundert E-Book

Elisa Rimpach

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Beschreibung

Ein neues Zeitalter beginnt und zwei Geschwister versuchen, ihren Platz in der Welt zu finden…
Elisa Rimpach erzählt über die nächste Generation der Familie Hartmann



München, im Herbst 1918: Die Geschwister Hermann und Hilde Hartmann erleben das Ende des ersten Weltkriegs und den Zerfall des Königreichs Bayern. Die Welt, in der sie aufwuchsen, liegt nun in Scherben. Doch wo Hermann als heimgekehrter Offizier schockiert von den Ereignissen ist, wird Hilde von der Euphorie der Revolution und des Neubeginns mitgerissen. Sie verliebt sich in Paul Ludwig, einen glühenden Kommunisten, der Hilde in seiner Begeisterung für diese neue Ära ansteckt. Nach den langen Jahren des Kriegsschreckens keimt in Hilde Hoffnung für die Zukunft auf. Doch Hermann ist alles andere als begeistert von dieser Verbindung und die beiden Geschwister finden sich auf unterschiedlichen Seiten dieser zeitumbrechenden Revolution wieder. Werden sie es schaffen, ihren Platz in der Welt zu finden und trotz allem, auch ein kleines Fünkchen Glück für sich beanspruchen können?

Erste Leser:innenstimmen
„Diese historische Familiensaga hat mich von Anfang an gefesselt. Die Geschichte der beiden Geschwister, die auf der gegensätzlichen Seite der bayrischen Revolution Kämpfen schildert die damaligen Ereignisse in München lebendig nahe.“
„Ein Muss für Fans von historischen Romanen. Die Charaktere sind vielschichtig und die tragische Liebe zwischen Hilde und Hermann sowie Hermanns innerer Zwiespalt haben mich tief berührt.“
„Sehr empfehlenswert. Dieses Buch ist ein großartiger Roman über Liebe, Verrat und den Mut, in dunklen Zeiten das Richtige zu tun.“
„Wer Geschichten mit authentischem Zeitgeist liebt, wird dieses Buch verschlingen. Die Figuren, allen voran Hermann und Hilde, wachsen einem ans Herz, und die historischen Details zur Revolution in Bayern machen das Buch zu einem echten Leseerlebnis.“

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Seitenzahl: 402

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses E-Book

München, im Herbst 1918: Die Geschwister Hermann und Hilde Hartmann erleben das Ende des ersten Weltkriegs und den Zerfall des Königreichs Bayern. Die Welt, in der sie aufwuchsen, liegt nun in Scherben. Doch wo Hermann als heimgekehrter Offizier schockiert von den Ereignissen ist, wird Hilde von der Euphorie der Revolution und des Neubeginns mitgerissen. Sie verliebt sich in Paul Ludwig, einen glühenden Kommunisten, der Hilde in seiner Begeisterung für diese neue Ära ansteckt. Nach den langen Jahren des Kriegsschreckens keimt in Hilde Hoffnung für die Zukunft auf. Doch Hermann ist alles andere als begeistert von dieser Verbindung und die beiden Geschwister finden sich auf unterschiedlichen Seiten dieser zeitumbrechenden Revolution wieder. Werden sie es schaffen, ihren Platz in der Welt zu finden und trotz allem, auch ein kleines Fünkchen Glück für sich beanspruchen können?

Impressum

Erstausgabe Mai 2025

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-904-5 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-978-8

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: ©Mikolaj Niemczewski https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marienplatz,_Munich,_Bavaria,_Germany-LCCN2002696145.jpg: This image is available from the United States Library of Congress's Prints and Photographs division under the digital ID ppmsca.00072 elements.envato.com: ©alit_design, ©ukraine_studio trevillion.com: © CollaborationJS / Trevillion Images Lektorat: The Write Spirit

E-Book-Version 16.04.2025, 09:31:38.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Aufbruch ins Ungewisse

Kapitel 1

Westfront und München, Sedanstag, Montag, 2. September 1918

Es war die Stille, die Hermann am meisten irritierte. Vier Jahre an der Westfront hatten ihn gelehrt, dass vollkommene Ruhe nichts Gutes zu bedeuten hatte. Nicht nur die Waffen schwiegen. Auch kein Naturgeräusch war zu hören. Kein Lüftchen regte sich, kein Vogel sang, nicht einmal die allgegenwärtigen Ratten wuselten quiekend durch die Schützengräben.

„Bald geht es wieder los“, sagte Rainer von Dassel, ein gerade erst volljährig gewordener Unteroffizier aus Franken, auf dessen bleicher Stirn dutzende Schweißtropfen im Schein der Petroleumleuchte glänzten.

„Dann sollten Sie den Stahlhelm besser wieder aufsetzen“, sagte Hermann. „Wir wollen doch nicht, dass die englischen Granaten Ihren Scheitel verrücken.“

Rainer grinste. „Die Jerrys haben bisher daneben geschossen und ich bin zuversichtlich, dass sie mich weiter verfehlen werden.“

Hermann, der zwar erst 22 Jahre alt war, aber vier Jahre mehr Fronterfahrung als der Unteroffizier besaß, legte den Kopf schief. „Sie sind erst vor vier Tagen hier angekommen. Allzu viele Gelegenheiten, von den Briten aufs Korn genommen zu werden, hatten Sie noch nicht.“

Der Unteroffizier richtete sich auf. Eine leichte Röte färbte sein Gesicht. Er strich sich den dünnen Schnurrbart zurecht. „Dann wollen wir hoffen, dass ich noch eine Chance bekomme, mir meine Sporen zu verdienen.“

Hermann unterdrückte ein Seufzen. Er war dankbar, dass von Dassel nicht weitersprach, denn natürlich war ihm klar, wie der Satz fortzusetzen war. Ihnen war bewusst, dass der Krieg auf sein Ende zusteuerte. Die Übermacht der um die Amerikaner verstärkten Briten und Franzosen war zu groß. Und die Reihen ihrer einst so stolzen bayerischen Kompanie waren ausgedünnt und bestanden nur noch aus erschöpften, ausgehungerten Männern mit toten Augen. Sie würden nicht mehr lange standhalten können. Und dass man nun schon kaum dem Knabenalter entwachsene Milchbärte wie Rainer von Dassel an die Front schickte, zeugte von der Verzweiflung der Obersten Heeresleitung.

„Ich werde mich auf einen Rundgang begeben“, sagte Hermann. „Begleiten Sie mich?“

Von Dassel erhob sich von der Pritsche in dem tief in den Boden eingegrabenen Unterstand. Hermann ließ ihm den Vortritt, dann folgte er ihm hinaus in den Schützengraben. Das Wetter war ihnen zuletzt gnädig gewesen. Es hatte nur wenig geregnet und so war die Erde nicht matschig, sondern staubig. Der vor dem Eingang zum Bunker wachhabende Soldat salutierte, als sie ihn passierten. Hermann steuerte auf einen Verbindungstunnel zu, der sie in die erste Grabenreihe bringen würde. Nach wenigen Schritten gelangte er zu einem Maschinengewehrnest. Die drei Gefreiten nahmen Haltung an. Hermann erwiderte den Gruß und nickte den Soldaten aufmunternd zu. Einer der Männer lächelte, ein seltener Anblick in diesen Tagen. Hermann ging zum Wall des Schützengrabens, wo ein Periskop-Fernglas angebracht war, mit dem er über den Rand spähen konnte, ohne dass ihn die britischen Scharfschützen ins Visier nahmen. Er sah in das Okular. Vor ihm breitete sich das Niemandsland aus. In den vier Jahren Krieg war hier jede Spur von Leben zerstört worden. Es war ein braunes, von Kratern durchzogenes, mit einzelnen zersplitterten Baumstämmen durchsetztes Gelände, das sich kilometerweit in Richtung Westen erstreckte. In der Ferne konnte er Stacheldrahtverhaue erahnen, den Beginn der britischen Linien.

„Und, stürmen die Jerrys schon auf uns zu?“, fragte von Dassel. Es sollte wohl scherzhaft klingen, aber die Anspannung in der Stimme des jungen Unteroffiziers war nicht zu überhören. „Ich würde diesen Teesäufern zu gerne ein paar Gramm deutschen Ruhrstahls zu schmecken geben.“

Hermann trat von dem Periskop zurück. „Nein, noch ist alles ruhig. Aber anstelle eines Sturmangriffs würde ich erwarten, dass sie uns zunächst zwei oder drei Stunden lang bombardieren, dann ihre Tanks vorschicken und am Schluss die Infanterie einsetzen. So haben sie es die letzten vier Jahre lang gehalten.“

Er wandte sich nach links und ging den Graben entlang. Etwa zehn Meter vor sich sah er zwei Soldaten, die lässig an den Rand der Brüstung lehnten. Einer von ihnen rauchte eine dünne Zigarette, der andere trank aus einem Becher. Hermann hielt inne. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, als er in dem Raucher Paul Ludwig erkannte, einen Gefreiten, der wie er aus München stammte. Er mochte den Mann, sie hatten schon viele Angriffe der Alliierten durchlitten und manche Zigarette geteilt.

Die Soldaten schienen Hermann und seinen Begleiter nicht kommen zu sehen, denn keiner von ihnen änderte seine Haltung. Sie waren in ein Gespräch vertieft.

„Du wirst sehen, es wird nicht mehr lange gehen“, sagte der Gefreite Ludwig. „Die Oberste Heeresleitung wird bald um einen Frieden ersuchen müssen. Es gibt niemanden mehr, den die Herren Junker noch verheizen könnten.“

Hermann schluckte. So etwas durfte er doch nicht hören. Das war Verrat. Worte wie diese, so wahr sie auch sein mochten, untergruben die Moral an der Front. Und derartige Äußerungen konnten einen Soldaten vors Kriegsgericht und schlussendlich auch vor das Erschießungskommando bringen.

„Die Oberste Heeresleitung wird noch die nächsten zwei Jahrgänge einberufen und in den Tod schicken, ehe sie daran denkt, Frieden zu schließen“, sagte der andere Soldat. Hermann verzog das Gesicht. Auch diese Aussage konnte als Verrat gewertet werden. Er räusperte sich.

Die beiden Soldaten wandten ihm ihre Blicke zu und er erkannte die Furcht in der Miene dessen, der zuletzt gesprochen hatte. Paul Ludwig dagegen wirkte gelassen. Er sah Hermann ernst an. Dann nahm er Haltung an und salutierte. Hermann erwiderte den Gruß.

„Sie wissen schon, dass ich Sie gehört habe?“, sagte Hermann.

„Ihr verräterisches Geschwätz haben wahrscheinlich sogar die Briten drüben gehört“, ergänzte von Dassel. „Dafür werden Sie sich vor dem Kriegsgericht verantworten müssen.“

Hermann hob die Hand. Es widerstrebte ihm, dass der Unteroffizier sich einmischte. Er war der ranghöhere Offizier und er musste entscheiden, was zu tun war.

„Habe ich etwa Unrecht?“, fragte der Gefreite Ludwig.

„Sie wissen, dass es nicht um Recht oder um Unrecht geht“, sagte Hermann. Eine Augenbraue des Soldaten wanderte nach oben. Hermann spürte, wie sein Mund trocken wurde. Er musste dringend etwas ergänzen, sonst waren seine Worte ebenfalls als verräterisch zu werten. „Es geht darum, ob Ihre Aussagen der Moral schaden. Und das tun sie.“

„Inwiefern?“, fragte Ludwig.

„Das ist unverschämt! So reden Sie nicht mit Ihrem Offizier“, rief von Dassel.

Hermann hob wieder die Hand. „Danke, ich kann für mich selbst sprechen. Das Wichtigste in einer Infanterieeinheit ist der Kampfgeist. Alles, was diesem schadet, wird dazu führen, dass die Aussichten, den Gegner zu schlagen, geringer werden. Sie sprechen von Niederlage. Von Waffenstillstand. Wie soll das den Kampfgeist heben?“

Auf Pauls Gesicht erschien fast so etwas wie ein Lächeln. „Der ist unseren Leuten doch schon längst verloren gegangen. Sie schleichen sich in Scharen davon. Und wer sollte es ihnen verdenken? Wollen Sie etwa in einem schlammigen Schützengraben verrecken?“

Hermann hörte, wie der Unteroffizier erneut Atem holte. Gleich würde er sich wieder einmischen. Er hob noch einmal die Hand. Aber in diesem Moment nahm er ein hochfrequentes Pfeifen wahr.

„In Deckung!“, rief Ludwig. Im nächsten Augenblick bebte die Erde und Hermann wurde von den Füßen gerissen. Er flog durch die Luft und prallte gegen etwas Hartes. Und dann war mit einem Mal alles schwarz.

***

„Es tut so weh!“

Das Gesicht des Mannes war verzerrt. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Augen waren auf Hilde gerichtet, seine Hand griff nach der ihren. Instinktiv ließ sie zu, dass er seine Finger in ihre Handfläche krallte. Es schmerzte, aber sie vermutete, dass das kein Vergleich zu den Qualen war, die der Verwundete litt.

„Ich werde gleich die Ärztin rufen, damit sie Ihnen ein Schmerzmedikament gibt“, sagte sie. Sie hatte gehofft, dass der Verwundete den Griff lösen würde, doch seine Finger gruben sich nur noch fester in ihre Hand.

„Verlassen Sie mich nicht“, flehte er. „Lassen Sie mich nicht allein sterben.“

Hilde spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunterlief. Der Atem des Mannes ging schnell und hektisch und sie legte ihre freie Hand auf seine Stirn. Die schweißnasse Haut glühte.

Sie sah an dem Verwundeten hinab. Unter der grauen, groben Decke war deutlich zu erkennen, dass sein Körper unterhalb des Beckens endete. Eine Granatexplosion hatte ihm beide Beine weggerissen. Er war in einem Feldkrankenhaus hinter der Front operiert und dann mit dem Zug nach München in das in der Implerschule untergebrachte Lazarett E verlegt worden. Dort sollte er sich auskurieren. Aber Hilde befürchtete, dass der Mann in einem recht hatte. Er würde hier nicht geheilt werden. Er würde sein Leben verlieren, so wie die vielen anderen vor ihm.

„Was gibt es?“, hörte sie Isolde sagen. Hilde atmete tief durch. Endlich war ihre Tante gekommen. Endlich eine fähige Ärztin, die dem Leidenden helfen konnte.

„Der Mann hat große Schmerzen“, sagte sie. „Und ich glaube, er hat Fieber.“

Sie hörte Isolde seufzen. „Dass er große Schmerzen hat, ist anzunehmen. Jemand, dem man beide Beine abgesägt hat, leidet Höllenqualen. Aber wenigstens gibt es Medikamente dagegen. Was mir Sorgen macht, ist das Fieber.“

Die Schreie des Verwundeten waren in ein hochfrequentes Heulen übergegangen.

„Ich muss ihn untersuchen“, sagte Isolde und an den Mann gewandt: „Das wird jetzt noch mehr schmerzen.“

Hilde wandte den Blick ab, als ihre Tante die Decke hochschlug. Sie sah das Gesicht des Soldaten, dessen Augen verzweifelt auf sie gerichtet waren. Als Isolde damit begann, die Wunden zu untersuchen, bemerkte sie, wie der Mann die Kiefer zusammenbiss, wie die Wangenknochen nach außen drängten und wie sein Gesicht immer bleicher wurde. Endlich schlug sie die Decke wieder zurück. Hilde musterte ihre Tante. Diese schloss kurz die Augen.

„Es ist Wundbrand. An beiden Stümpfen. Wir müssen noch mehr Gewebe entfernen. Aber ich fürchte, selbst diese Tortur wird er nicht überleben. Er ist zu sehr geschwächt.“

Sie ging zu dem Schränkchen in der Ecke und holte eine Ampulle heraus, von der sie die Spitze abbrach und eine Spritze hineinsteckte. Sie zog diese auf und setzte sie mit geübten Griffen an. Schon Augenblicke, nachdem sie den Kolben hinuntergedrückt hatte, entspannte sich der Körper des Verwundeten. Seine Finger ließen Hildes Handfläche los. Die Nägel hatten sich so tief eingegraben, dass kleine Blutstropfen zu sehen waren. Dann sank der Kopf des Soldaten zur Seite und sie hörte ihn leise atmen.

„Heroin ist ein wirksames Schmerzmittel. Er wird für ein paar glückliche Minuten nichts spüren.“ Isolde wandte sich ab und ging davon. Hilde folgte ihr. Sie passierten lange Reihen von Feldbetten, in denen verwundete Soldaten lagen. Manche hatten Gliedmaßen verloren, andere waren angeschossen worden, hatten Verbrennungen erlitten oder waren bei einem Gasangriff verätzt worden. Gemeinsam war ihnen der leere Blick, das leise Stöhnen und das Zusammenzucken, wenn die Tür des Schlafsaals zu laut zugeschlagen wurde.

Isolde trat hinaus ins Freie. Hilde folgte ihr. Es war ein schöner Spätsommertag, die Blätter hatten gerade erst damit begonnen, sich einzufärben, und die frische Luft vertrieb den beißenden Gestank nach Körperflüssigkeiten, Desinfektionsmittel und Tod, der die Säle und Gänge im Lazarett erfüllte. Isolde setzte sich auf eine Treppenstufe und bedeutete Hilde, neben ihr Platz zu nehmen.

„Ich muss dir ein großes Kompliment machen“, sagte sie. „Du erträgst dieses Grauen viel besser, als ich gedacht hätte.“

„Na ja, ich dachte mir, wenn ich schon mit dem Gedanken spiele, Ärztin zu werden, sollte ich mir einmal selbst ein Bild davon machen.“

„Das ist eine sinnvolle Überlegung. Aber du hättest deine Sommerferien auch bei Bertha in der Praxis verbringen können, anstatt mich ins Lazarett zu begleiten. Dann hättest du dir all das sinnlose Leid und all den Tod ersparen können.“

„Du hättest dich auch nicht freiwillig zum Lazarettdienst melden müssen.“

„Du hast gesehen, was hier los ist. Die Herren Stabsärzte sind froh um jede helfende Hand, selbst wenn es die einer Frau ist.“

„Aber Bertha hat in der Praxis sicher alle Hände voll zu tun ohne dich.“

„Dort ist es glücklicherweise ein wenig ruhiger geworden. Die Grippe, die uns im Juli überrollt hat, war schon heftig. Wir haben die Jahre des Mangels zu spüren bekommen. Die Widerstandskräfte der Leute sind aufgezehrt.“

„Ja, viele sind gestorben. Auch Onkel Anton. Ich vermisse ihn.“

Isolde seufzte. „Ich vermisse ihn auch. Aber, auch wenn es hart klingt: Ich bin froh, dass er nicht lange leiden musste. Er hatte zwei Tage hohes Fieber, dann konnte sein Körper der Grippe nichts mehr entgegensetzen. Er musste sich nicht Wochen oder Monate quälen wie die Verwundeten hier im Lazarett.“

„Das ist doch Wahnsinn, oder?“, sagte Hilde so leise, dass es nur ihre Tante hören konnte. „Das ist nur eines von zwölf Lazaretten hier in München. Im ganzen Reich gibt es Einrichtungen wie diese. Millionen von Männern sind verwundet oder getötet worden. Und ich kann mir vorstellen, dass es in Russland, in Frankreich und in England nicht anders aussieht.“

„Ja, es ist Wahnsinn. Und du tust gut daran, zu flüstern. Wenn einer der Herren Stabsärzte das hört und sich bei deinem Schulleiter beschwert, kann es sein, dass sie dir den Zugang zum Abitur verweigern. Und dann wirst du nicht Medizin studieren können.“

„Ehrlich gesagt bin ich mir unsicher, ob ich das noch will. Du hast schon recht, das hier ist eine Vorstufe zur Hölle. Und so viele deiner Patienten sterben, ohne dass du ihnen helfen kannst. Ich weiß nicht, ob ich das mein Leben lang ertragen könnte. Ich will etwas bewirken. Ich will, dass die Menschen, mit denen ich zu tun habe, ein besseres, ein schöneres Leben haben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass du nichts tun kannst, als deinen Patienten das Sterben zu erleichtern.“

Auf den Lippen ihrer Tante erschien ein schmales Lächeln. „Ein Kriegslazarett ist vielleicht nicht der beste Ort, um einen Einblick in die ärztliche Heilkunst zu erlangen. Aber ich verstehe, was du meinst. Überlege dir gut, ob du Medizin studieren willst. Der Beruf kann sehr frustrierend sein.“

Isolde erhob sich und ging ins Lazarett hinein. Hilde folgte ihr. Ihre Tante kehrte zu ihrem zweifach amputierten Patienten zurück. Sie nahm seinen Arm und fühlte ihm den Puls. Hilde stellte sich neben sie. Auf Isoldes Stirn erschien eine tiefe Falte. Sie beugte sich hinab und hielt ihr Ohr nah an den Mund des Mannes. Als sie sich wieder aufrichtete und Hilde ansah, sah sie, dass die Augen ihrer Tante glänzten. „Für ihn ist das Leiden vorbei“, sagte sie.

Kapitel 2

München, Dienstag, 15. Oktober 1918

„Das sieht gut aus. Ein paar Narben werden zurückbleiben, aber die Wunde ist nicht entzündet“, sagte Isolde. Sie legte Hermanns rechte Hand zurück auf das Kissen und fragte: „Hast du noch Schmerzen?“

Er schüttelte den Kopf. „Wenn ich die Hand bewege, schießt es manchmal in die Finger. Und ein wenig steif sind sie bisweilen. Aber im Großen und Ganzen kann ich mich nicht beklagen“, sagte er. Er erhob sich aus seinem Bett und trat zum Fenster, wo Hilde auf dem Sims saß und ihn mit großen Augen ansah.

„Wann wirst du entlassen?“, fragte seine Schwester.

Isolde schmunzelte. „Das musst du den Oberstabsarzt fragen. Aber ich denke, dass es spätestens in drei Tagen soweit sein sollte. Was hast du dann vor?“, fragte sie.

Hermann lehnte sich mit dem Gesäß gegen den Fenstersims und rückte die Binde zurecht, die seinen rechten Arm am Körper fixiert hielt. Die Bewegung ließ den Schmerz in seine Finger schießen und er zuckte kurz zusammen.

„Der Oberstabsarzt hat mich zu mindestens drei weiteren Wochen Genesungsurlaub verdonnert, damit die Funktion meiner Hand wieder voll hergestellt wird. Ich werde wohl zunächst in das Palais meines Großvaters ziehen. Schließlich muss ich mich endlich um seine Angelegenheiten kümmern. Nachdem er im Sommer in der Festungshaft verstorben ist, habe ich sein Privatvermögen und die Bank geerbt. Ich weiß gar nicht, was da alles auf mich zukommt.

„Willst du dann Bankier werden?“, fragte Hilde.

Hermann schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich dazu geschaffen bin. Nach der Schule habe ich die Offizierslaufbahn eingeschlagen. Ich kann und kenne nichts anderes als zu kämpfen. Aber wir werden sehen. Nach dem Genesungsurlaub werde ich wohl wieder an die Front zurückkehren.“

Er bemerkte, dass Hilde schluckte, und auf Isoldes Stirn erschienen die Falten, die er nur zu gut kannte.

„Verzeih mir meine Offenheit“, sagte seine Tante. „Aber glaubst du wirklich, dass der Krieg so lange dauern wird, dass du noch einmal an der Front eingesetzt wirst?“

Hermann atmete tief ein und aus. Als Offizier stand ihm ein Einzelzimmer im Lazarett zu. Die Tür war geschlossen. Man konnte ihn also nicht hören. Trotzdem war er es nicht gewohnt, seine Meinung offen auszusprechen. Die Zeit an der Front hatte ihn gelehrt, seine Worte auf eine Goldwaage zu legen. „Ich glaube, dass es einen Waffenstillstand geben muss. Noch in diesem Jahr. Unsere Kräfte sind erschöpft. Seitdem die Amerikaner in den Krieg eingetreten sind, ist unsere Niederlage unausweichlich. Wenn wir nicht wollen, dass sie die Kämpfe in die Heimat tragen, müssen wir so bald wie möglich um Frieden ersuchen.“

Er sah, dass Hildes Augen sich weiteten. „Aber in den Zeitungen steht doch immer, dass wir nicht weichen, dass der Sieg kurz bevorsteht.“

„Was sollen die Zeitungen denn schreiben? Dass wir immer weniger wehrfähige Männer haben? Dass wir uns Schritt um Schritt zurückziehen müssen? Dass bald nicht mehr um französischen, sondern deutschen Boden gerungen wird?“

„Glaubst du, der Krieg könnte München erreichen?“, fragte Isolde.

Hermann schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, dass die Oberste Heeresleitung einen Rest Verstand hat und rechtzeitig um einen Waffenstillstand ersucht. Aber behaltet dieses Gespräch bitte für euch. Ich will nicht unehrenhaft entlassen werden oder sogar noch ein schlimmeres Schicksal erdulden müssen.“

„Natürlich, wir werden schweigen“, sagte Hilde.

„Wie geht es denn dem Gefreiten Ludwig“, fragte Hermann. Er hatte beinahe täglich an ihn gedacht und sich schon länger nach dessen Befinden erkundigen wollen. „Hat er sich von seiner Verletzung erholt?“

„Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er schon eifrig über die Oberste Heeresleitung geschimpft. Ich glaube nicht, dass die ausgekugelte Schulter ihn ins Grab bringen wird, viel eher schon sein unvorsichtiges Mundwerk“, sagte Isolde.

„Ja, ich fürchte, mit seinen Äußerungen ist er ein wenig zu sorglos“, sagte Hermann. „Kurz vor dem Einschlag der Granate, der ich meinen gebrochenen Unterarm verdanke, hat er noch zersetzende Reden im Schützengraben geschwungen. Das englische Geschoss hat ihn wohl vor Schlimmerem bewahrt.“

Hermanns Mund trocknete schlagartig aus, als ihn die Erinnerung überkam. Er war kurz nach dem Granateinschlag aufgewacht, doch war ein Teil des Schützengrabens über ihm zusammengebrochen. Erde und Geröll lagen auf seinem Brustkorb, drangen ihm in den Mund. Er schnappte nach Luft, konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Als er versuchte, sich mit der Hand frei zu graben, schoss ein Schmerz in seinen Arm, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Die Pein war kaum auszuhalten. Aber dann ließ der Druck auf seiner Brust nach. Er spürte, wie eine Hand ihn fest am Kragen packte und aus der Erde zog. Und dann blickte er in das von Anstrengung und Schmerz verzerrte und blutüberströmte Gesicht von Paul Ludwig. Der Gefreite zog ihn aus der Erde und aus den Augenwinkeln sah Hermann die Leiche des anderen Gemeinen und den toten Körper von Rainer von Dassel. Dann war er ohnmächtig geworden und erst im Lazarett hinter der Front aufgewacht.

„Könntest du vielleicht ein Auge auf Paul Ludwig haben?“, bat Hermann seine Tante. „Ich verdanke ihm mein Leben und ich möchte nicht, dass ihn sein Mundwerk in Schwierigkeiten bringt. Vielleicht kannst du ihm gut zureden?“

„Ich glaube kaum, dass er sich von mir überzeugen lässt“, sagte Isolde. „Wie du weißt, bin ich es gewohnt, Menschen an meiner Seite zu haben, die starke Meinungen ausdrücken. Lotte kann es in dieser Hinsicht locker mit dem Gefreiten aufnehmen. Und ich habe mir oft genug den Mund fusselig geredet, ohne sie davon überzeugen zu können, ihre sozialistischen Parolen für sich zu behalten.“

„Dann lass es mich einmal versuchen“, schlug Hilde vor. „Ehe ich nach Hause gehe, schaue ich noch bei diesem Paul Ludwig vorbei und rede ihm ins Gewissen. Der kann doch nicht einfach meinen Bruder retten und sich dann selbst ins Grab reden. Das geht ja gar nicht.“

Die drei brachen in ein herzhaftes Lachen aus und Hermann spürte, wie gut das tat. Wie sehr er das all die Jahre vermisst hatte, die er an der Front verbracht hatte. Als Isolde und Hilde gegangen waren, stellte er sich ans Fenster und sah hinaus in den Herbsttag. Die Blätter fielen, die Färbung wechselte schon von gelb zu braun. Und es wurde langsam kühler. Leise flüsterte er sich vor sich hin: „Im traurigen Monat November war‘s, die Tage wurden trüber. Der Wind riss von den Bäumen das Laub, da reist‘ ich nach Deutschland hinüber …“

***

Hilde betrat den großen Schlafsaal des Lazaretts E. Sie war froh, dass sie nicht mehr jeden Morgen hierher kommen musste, auch wenn sie sich in den Sommerferien freiwillig für den Dienst gemeldet hatte. Seitdem sie wieder in der Schule war, konnte sie den Unterricht viel mehr wertschätzen als früher. Sie hatte einen anderen Blick auf das Leben gewonnen und erkannt, wie schnell es vorbei sein konnte. Sie hoffte, dass sich Hermanns Worte als wahr erweisen würden, dass der Krieg nicht nach Deutschland käme. Dass ein Waffenstillstand geschlossen würde. Dass das Kämpfen und das Töten dann endgültig vorbei wären. Und dass all die Verwundeten im Lazarett E nach Hause zurückkehren, ihre erlernten Berufe ausüben und Familien gründen konnten.

Als sie den Mittelgang passierte, erkannte sie, dass sie etwas Entscheidendes vergessen hatte. Sie hatte Hermann nicht danach gefragt, wie dieser Paul Ludwig aussah. Wie sollte sie ihn unter all diesen Männern erkennen? Sie beschloss, die Schwester zu fragen, die sie am anderen Ende der großen Halle sah. Doch als sie auf die ganz in weiß gekleidete Frau mit dem seltsamen Hütchen zusteuerte, das Hilde vor gar nicht so langer Zeit selbst getragen hatte, hörte sie einen Patienten sagen: „Der Krieg wird bald enden. Und dann wird alles sich ändern.“

Sie wandte den Blick und sah, dass ein hochgewachsener Mann mit verstrubbelten schwarzen Haaren an der Wand neben einem Fenster lehnte und zu zwei Verwundeten sprach, die auf ihren Pritschen lagen. Sie hatte zwar keine Beschreibung davon, wie dieser Paul Ludwig aussehen musste, aber sie vermutete stark, dass die Worte, die sie eben gehört hatte, genau die waren, was Hermann Sorgen bereitete. Sie ging auf den Mann zu und fragte: „Und was wird sich ändern?“

„Ich hoffe sehr, dass Frauen endlich das Wahlrecht erhalten“, sagte der Mann.

Hilde war Bass erstaunt. Sie hatte erwartet, dass Ludwig irgendwelche sozialistischen Parolen von sich geben, die Enteignung der Reichen oder die Diktatur des Proletariats fordern würde. Doch nun sprach er über das Frauenwahlrecht, ein Thema, das Hilde selbst am Herzen lag, seitdem ihre Tante Isolde ihr erstmals von ihrem lebenslangen Kampf für dieses Privileg berichtet hatte. Der Mann schien ihr die Verblüffung anzumerken, denn auf seinen Lippen erschien ein breites Lächeln.

„Wäre diese Veränderung nicht auch in Ihrem Sinne?“, fragte er.

„Natürlich“, erwiderte Hilde, die ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Meine Tante und viele ihrer Freundinnen kämpfen schon seit vielen Jahren dafür. Ich wünsche ihnen von Herzen, dass ihr Bemühen endlich von Erfolg gekrönt wird. Und mir als Frau wünsche ich das natürlich auch.“

„Sie werden sehen, es wird nicht mehr lange dauern. Der Krieg wird enden. Und dann folgt die Revolution. Und wenn erst einmal die Räte regieren, werden alle Ungerechtigkeiten vom Angesicht der Erde gewischt.“

„Halt dein dreckiges Maul“, hörte Hilde eine Stimme hinter sich sagen. Sie wandte sich um. Von einer der Pritschen auf der anderen Seite des Schlafsaals hatte sich ein kleiner, aber nichtsdestotrotz breitschultriger und kräftiger Mann erhoben. Eine breite Wunde zog sich von seinem Haaransatz bis hin zu seinem Hals. „Du mieser Verräter, wenn wir diesen Krieg verlieren, dann wegen Leuten wie dir“, keifte er und zeigte dabei mit dem Finger auf Paul Ludwig.

„Es heißt deinetwegen“, sagte Hilde.

Der untersetzte Mann schnaubte. „Das ist ein Lazarett für Soldaten. Weibsbesuch ist hier verboten. Sie mag verschwinden, sonst lasse ich sie von der Krankenschwester hinauswerfen“, zischte er.

Hilde schluckte. In was war sie hier nur hineingeraten. Sie sah zu dem vermeintlichen Gefreiten Ludwig hin. Das Lächeln war von seinen Lippen verschwunden.

„Ich gebe diesem Rüpel ungern recht, aber ich glaube, es wäre tatsächlich besser, wenn Sie gehen. Ich hoffe, dass bald eine Zeit anbrechen wird, in der wir beide frei sprechen und über unser Schicksal entscheiden können. Noch scheint es nicht so weit zu sein.“

„Und genau aus diesem Grund bin ich hier“, sagte sie und ignorierte den anderen Mann, der sie feindselig beäugte. „Sie bitten mich darum, zu gehen? Das werde ich tun. Erfüllen Sie mir dann auch einen Wunsch?“

Er legte den Kopf schief. „Welchen Wunsch könnte ich Ihnen denn erfüllen?“

„Eigentlich ist es nicht mein Wunsch, sondern der meines Bruders. Hermann von Lampeck. Er hat mich gebeten, Sie aufzusuchen und Sie zu bitten, in Ihrer Wortwahl etwas vorsichtiger zu sein.“

Nun erschien wieder das breite Grinsen auf dem Gesicht des Gefreiten und sie war sich nun wirklich sicher, Paul Ludwig vor sich zu haben. „Das ist ja nett von ihm. Ehrlich gesagt frage ich mich immer, was wohl geschehen wäre, wenn die Granate nicht eingeschlagen hätte. Ob er mich dann gemeldet hätte?“

„Wie dem auch sei“, sagte Hilde. „Ich bin seine Botin und ich überbringe Ihnen hiermit seine Bitte, dass Sie sich etwas zurückhalten mögen. Und ich werde nun Ihrer Bitte entsprechen und mich entfernen.“

„Ich würde Ihnen versprechen, dass ich mich anstrenge, der Bitte Ihres Bruders Folge zu leisten“, erwiderte er. „Aber das wäre eine Lüge“, sagte er. „Ich habe lange genug geschwiegen. Und ich habe mir vorgenommen, dass ich nicht mehr kusche. Ich war viele Jahre in Ketten gelegen. Es reicht. Übermitteln Sie Ihrem Bruder bitte meinen herzlichen Dank für seine fürsorgliche Geste und meine besten Wünsche zu seiner baldigen Genesung.“

Nun war genau das Gegenteil von dem eingetreten, was Hilde bezwecken wollte. Der Mann redete sich immer mehr um Kopf und Kragen. Was, wenn einer der anwesenden Soldaten ihn meldete? Sie sah Ludwig noch einmal an und dann verstand sie es. Es war ihm gleichgültig. Er fühlte sich frei und vielleicht war er das auch. Das musste ein herrliches Gefühl sein! Das Lächeln auf seinen Lippen war mit einem Mal ansteckend. Hilde spürte, wie auch ihre Mundwinkel nach oben zuckten. Sie nickte ihm noch einmal zu, wandte sich um und ging hinaus.

Kapitel 3

München, Sonntag, 20. Oktober 1918

Hermann trat durch den Vorgarten und zog dabei den Handschuh von der rechten Hand. Wieder schoss ihm ein kurzer, scharfer Schmerz in die Finger. Er drückte auf die Klingel und gleich darauf öffnete sich die Tür. Hermann kannte den livrierten Bediensteten nicht, der ihm aufwartete. Angus, der schottische Butler seiner Mutter, war kurz nach Kriegsausbruch in seine Heimat zurückgekehrt. In einem ihrer Briefe an die Front hatte ihm seine Mutter Elsa von ihren Schwierigkeiten berichtet, fähiges Personal zu finden. Der junge Mann in der schlecht sitzenden Uniform führte ihn in den großen Salon, wo seine Mutter und Hilde bereits auf ihn warteten. Als er eintrat, erhob sich Elsa und trat lächelnd auf ihn zu. In ihren Haaren zeigten sich erste graue Strähnen. Sie hatte ein wenig zugenommen, was ihrem Erscheinungsbild etwas Matronenhaftes verlieh. Doch auch das passte zu ihr, der Unternehmerin, deren Geschäfte mit dem Heer, an das sie alle Arten von Lederwaren verkauft hatte, in den vergangenen vier Jahren prächtig gelaufen waren. Die Firma stand nun trotz Mangelwirtschaft besser da als vor dem Krieg und das war eindeutig ein Verdienst seiner Mutter.

„Schön, dass du da bist. Und schön, dass du dich so gut von deiner Verletzung erholt hast“, sagte sie und streckte die Hand aus. Er hauchte einen Kuss darauf und trat dann wieder einen Schritt zurück. Es fiel ihm immer noch schwer, das richtige Verhältnis von Nähe und Abstand zu seiner Mutter zu finden, nachdem sie sich so viele Jahre fremd gewesen waren. Er lächelte seiner Halbschwester zu. Elsa bot ihm einen Stuhl an und er nahm an der Tafel Platz.

„Ich habe Zenzi gebeten, einen Apfelstrudel zu backen. Wie es aussieht, hat sie Äpfel auftreiben können, aber irgendwie hapert es mit dem Mehl“, sagte sie.

Hermann zog eine Augenbraue nach oben. „Ich dachte, wenn man genügend Geld und Einfluss hat, kann man trotz der Mangelwirtschaft wie die Made im Speck leben“, sagte er.

Seine Mutter sah ihn finster an. „Das könnte ich. Aber ich werde niemals meine Macht und meinen Einfluss missbrauchen, um mir einen Vorteil zu verschaffen. Ich habe oft genug am eigenen Leib erfahren müssen, wie furchtbar sich das anfühlt. Deshalb nehme ich nur das, was ich guten Gewissens annehmen kann.“

„Und ich denke, dass Zenzi auf jeden Fall etwas Leckeres zubereitet hat“, sagte Hilde. Es war wie immer. Seine Schwester versuchte, die aufkeimende Anspannung zu vertreiben. Ob sie es irgendwann einmal schaffen würden, wie Sohn und Mutter miteinander umzugehen, auch wenn eine komplizierte Geschichte zwischen ihnen stand?

Die Tür öffnete sich und Zenzi trat ein. Das Gesicht der alten Haushälterin war gerötet. In den Händen trug sie eine Schüssel, die sie mitten auf den Tisch stellte.

Sie räusperte sich, dann sagte sie: „Es gab leider nicht genügend Mehl. Und Weinberl habe ich auch keine bekommen. Aber dafür sind die Äpfel frisch und wir hatten noch etwas Zimt da. Also habe ich ein Apfelkompott gemacht. Ich hoffe, den Herrschaften schmeckt es.“

„Mir hat noch nie etwas nicht geschmeckt, was du zubereitet hast, Zenzi“, sagte Hilde und begann lächelnd die Schüsseln, die auf den Tisch bereitstanden, zu befüllen. Ein Husten wie ein Donnerschlag rollte durch den Salon. Hermann zuckte zusammen. Er sah zu der Haushälterin hin, die eine Hand vor den Mund hielt.

„Entschuldigung“, sagte sie. Auf ihrer Stirn standen dicke Schweißtropfen. Ihre Augen sahen irgendwie glasig aus.

„Geht es dir gut?“, fragte Elsa.

„Es ist nichts“, sagte Zenzi. „Ich muss mich beim Anstehen auf dem Markt wohl verkühlt haben. Es sind schlimme Zeiten. Stundenlang warten und dann bekommt man doch nichts.“ Ein erneutes Husten unterbrach ihre Worte.

„Wie wäre es denn, wenn du dich auskurierst?“, schlug Elsa vor. „Überlass den beiden Küchenmädchen die Arbeit, geh in dein Zimmer und schlaf dich gesund!“

Zenzi winkte ab. „Die jungen Dinger machen das nicht richtig“, sagte sie und schlurfte davon.

Elsa wandte sich Hermann zu. „Wie sehen deine Pläne nun aus?“

„Ich werde Anfang November meinen Dienst wieder antreten“, sagte er. „Und dann werden wir sehen, wie es mit dem Krieg …“

Es klirrte, dann war ein leiser Schrei zu hören, gefolgt von einem dumpfen Schlag.

Hermann wandte den Blick und sah, dass Zenzi auf dem Boden lag. Sie hatte sich wohl an der Kommode neben der Tür zur Küche abstützen wollen, was ihr nicht gelungen war. Im Fallen hatte sie eine der Tonmasken aus den Kolonien mit sich zu Boden gerissen, die auf dem Parkett in tausend Stücke zersprungen war. Er eilte zu Zenzi, Hilde tat es ihm nach. Hermann kniete vor ihr. Die Augen der alten Frau waren geschlossen. Ihr Atem ging rasselnd. Hilde legte eine Hand an ihre Stirn und zuckte zurück.

„Sie glüht beinahe“, sagte sie.

„Hoffentlich ist es nicht die Grippe“, sagte Hermann.

Elsa war zu ihnen getreten. Sie sah auf Zenzi hinab. Dann sagte sie: „Ich lasse Isolde holen.“

***

Isolde kniete sich neben das Bett. Ihre Finger strichen zuerst zart über Zenzis Stirn und schoben eine dort klebende graue Haarsträhne beiseite, ehe sie zur Hand der Haushälterin wanderten und dort ihren Puls suchten. Hilde hielt den Atem an. Sie hatte genügend Krankheit, Leiden und Sterben gesehen, um zu erkennen, dass das hier ein ernster Fall war. Sie sah, dass Isoldes Lippen sich bewegten. Ihre Tante schloss kurz die Augen, dann legte sie noch einmal die Hand auf Zenzis Stirn und streichelte ihr sanft über den Kopf, ehe sie sich erhob und sich zu ihrer versammelten Verwandtschaft umdrehte. Neben Hilde hatten sich auch ihre Mutter und Hermann in die kleine Kammer gequetscht, die vor Zenzi Angus, der Butler, bewohnt hatte.

„Ich fürchte, es ist die Grippe“, sagte Isolde. „Das Fieber ist auf 39,8° gestiegen. Der Puls rast.“

„Was können wir tun?“, fragte Hilde. Sie versuchte erst gar nicht, das Schluchzen in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie fühlte sich an jenen furchtbaren Abend im Juli zurückversetzt, als der Onkel plötzlich an der Grippe erkrankt und zwei Tage später daran verstorben war.

„Wir können nichts tun“, sagte Isolde. „Vielleicht sollten wir uns abwechseln und versuchen, ihr immer wieder ein wenig Wasser einzuflößen. Das Fieber zehrt sie innerlich aus, es verbrennt sie. Wenn sie nicht genügend Flüssigkeit aufnimmt, wird das ihr sicherer Tod sein. Und wir sollten versuchen, ihre Körpertemperatur mit Wadenwickeln zu senken.“

„Ich bleibe bei ihr“, sagte Elsa. Sie nahm Isoldes Platz an der Seite der Haushälterin ein. Hilde war erstaunt. So hatte sie ihre Mutter schon seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt. Damals in Afrika, als sie selbst ein kleines Kind gewesen war, hatte Elsa auch an ihrem Bett gewacht und ihre Hand gehalten, wenn sie Fieber gehabt hatte. Aber seit ihrem Umzug nach München und insbesondere seitdem sie beruflich so erfolgreich war, hatte ihre Mutter sich mehr und mehr verhalten wie eine vornehme Dame der feinen Gesellschaft. Trotz des Krieges und trotz der Einschränkungen hatten sie so gut gelebt, wie es auf legalem Wege möglich gewesen war, und stets war sie auf ihren Status bedacht gewesen. Doch nun war sie sich nicht zu schade, sich an das Bett zu setzen, in dem ihre Haushälterin um ihr Leben kämpfte.

„Ich löse dich in einer Stunde ab“, sagte Hilde.

Elsa schüttelte den Kopf. „Ich bleibe bei ihr, das bin ich ihr schuldig“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. Hilde spürte, wie sich eine Hand an ihren Unterarm legte. Sie sah auf. Es war Isolde. Ihre Tante nickte ihr zu und Hilde folgte ihr aus dem Zimmer. Sie verabschiedeten sich von Hermann, der in das Palais seines Großvaters zurückkehrte, und gingen in den Salon.

„Sei ehrlich, Tante Isolde. Wird Zenzi es schaffen?“, fragte Hilde.

Isolde seufzte. „Wenn du mich vor einem Jahr gefragt hättest, ob Zenzi eine Grippe überlebt, hätte ich abgewunken und gelacht. Zenzi ist der zäheste Mensch, den ich kenne. Aber diese Krankheit ist anders. Tausende von Menschen leiden daran. Alles hustet, schnieft und niest. Aber das ist keine normale Erkältung. Diese Grippe ist heftiger als alles, was ich jemals erlebt habe. Nachdem der Onkel im Juli gestorben war, bin ich auch daran erkrankt. Ich hatte Glück, mein Verlauf war leicht und doch war ich fast zwei Wochen außer Gefecht gesetzt. Ich hatte gehofft, wir hätten das Schlimmste überstanden. Aber die Krankheit kommt in Wellen. Diese zweite Welle ist noch schwerer als die erste und ich fürchte, dass sie Zenzi unter sich begraben könnte.“

Hilde schluchzte. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Welt ohne Zenzi aussehen soll. Ich kenne sie, seitdem ich nach München gekommen bin. Sie war immer die gute Seele unserer Familie, zuerst im Haus des Onkels und dann bei uns.“

„Gute Seele trifft es“, erwiderte Isolde. „Das ist sie. Und auch wenn ihr Leben in Gefahr ist, lass uns nicht über sie sprechen, als ob sie schon gestorben wäre.“

„Warum wacht Mama an ihrem Bett?“, fragte Hilde nach einer Weile. „Sie macht sich doch sonst nicht so gerne die Hände schmutzig. Und ihr Verhältnis zu den Dienstboten ist eher distanziert.“

Isolde warf ihr einen traurigen Blick zu „Glaubst du wirklich, dass Zenzi für deine Mutter eine Dienstbotin ist?“

Hilde spürte, wie ihr eine warme Röte ins Gesicht schoss. „So habe ich das nicht gemeint, aber ich hätte nicht gedacht, dass Mama und Zenzi sich so nahestehen würden.“

„Zenzi war für deine Mutter da, in den dunkelsten Stunden ihres Lebens. Sie war da, als sie sie gebraucht hat. Wir haben unsere Mutter früh verloren. Und als dann auch unser Vater gestorben ist, waren wir zwei Waisen, nicht mehr Kinder, aber auch nicht erwachsen. Wir sind zum Onkel gekommen. Er war ein Vater für uns und trotz anfänglicher Schwierigkeiten war uns niemand mehr eine Mutter als Zenzi, ganz besonders für Elsa. Wie gesagt, sie und Zenzi haben gemeinsam schwere Stunden überstanden. Auch für mich war Zenzi da. Damals, als Emily gestorben ist, hat sie mich mit Apfelstrudel aufgepäppelt. Dafür werde ich ihr immer dankbar sein und doch war ihr Verhältnis zu deiner Mutter viel enger als zu mir.“

Hilde wusste nicht, was sie mit dem eben Gehörten anfangen sollte. Ihre Mutter hatte selten über die Vergangenheit gesprochen. Sie wusste in groben Zügen, was geschehen war, nachdem ihr Großvater verstorben war und den Schwestern nichts als Schulden hinterlassen hatte. Aber es gab viele schwarze Flecken und offenbar hatte auch Zenzi ihre Rolle in dieser Geschichte zu spielen gehabt.

Die Tür öffnete sich. Ihre Mutter trat ein. Elsas Augen glänzten, aber ihre Miene war wie versteinert. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. Sie öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder und beantwortete die fragenden Blicke von Hilde und Isolde mit einem Kopfschütteln. Hilde spürte, wie ihre Kehle sich zuschnürte. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie trat auf ihre Mutter zu. Isolde tat es ihr nach. Und dann lagen die drei Frauen sich in den Armen und die Tränen flossen.

Kapitel 4

München, Donnerstag, 31. Oktober 1918

Hilde klopfte an die Tür. Sie hörte ein schwaches „Herein!“ und trat in das Schlafzimmer ihrer Mutter. Dabei balancierte sie vorsichtig die große Teetasse in einer Hand. Elsa lag in ihrem Bett, ihr Oberkörper war ein wenig aufgerichtet, das Gesicht gerötet, die Stirn schweißnass. Sie atmete schwer.

„Ich habe dir eine Tasse Thymiantee aufgebrüht“, sagte Hilde. Sie stellte das Getränk auf das Nachtkästchen und setzte sich auf den Hocker neben ihre Mutter. Elsa ächzte und griff mit einer Hand nach der Tasse. Sie zitterte und Hilde half ihr, den Tee zum Mund zu führen. Sie trank einen kleinen Schluck und ließ sich dann in die Kissen zurückfallen.

„Wie geht es dir?“, fragte Hilde.

„Ich habe mich noch nie so krank gefühlt“, flüsterte Elsa. Jedes Wort schien eine gewaltige Anstrengung für sie zu bedeuten. „Ich muss mich wohl bei Zenzi angesteckt haben.“

Hilde spürte, wie sich die Angst als eiskaltes Gefühl um ihren Hals legte. Ihre Mutter schien es zu bemerken, denn sie sagte: „Keine Sorge, ich bin jünger und kräftiger als Zenzi. Es geht mir schon besser als vor ein paar Tagen.“

„Kann ich dir denn etwas Gutes tun? Soll ich Tante Isolde noch einmal holen?“

Elsa schüttelte den Kopf. „Was soll sie tun? Fieber messen? Das kann ich selbst. Ach, eine Hühnerbrühe wäre jetzt gut.“

Hilde sah verlegen zu Boden. „Leider sind Milli und Gabi auch krank. Ich habe den Tee selbst zubereitet. Aber ich kann schauen, ob ich ein Hühnchen für uns auftreiben kann und versuchen, eine Suppe daraus zu kochen. So schwer kann das doch nicht sein.“

Elsa seufzte, der Laut ging nahtlos in ein Husten über. Nachdem sie sich erholt hatte, sagte sie: „Eine Suppe zu kochen ist in diesen Tagen weit weniger schwierig als die Zutaten aufzutreiben. Auf dem Markt wirst du kein Hühnchen kaufen können.“

Hilde spürte, wie sie der Mut verließ. „Aber wie komme ich an eines?“

Ihre Mutter schloss kurz die Augen. „Du weißt, dass ich bislang aus Prinzip darauf verzichtet habe, mir durch mein Geld oder meine Beziehungen einen Vorteil zu verschaffen. Aber heute werden wir eine Ausnahme davon machen. Versuche es bei Herrn von Linden. Er hat Verwandte in Oberbayern, die ihm immer wieder heimlich etwas zu schmuggeln. Isolde und Lotte versorgt er regelmäßig mit Fleisch und Eiern. Und ich glaube, Isoldes Nichte wird er die Bitte nach einem Hühnchen nicht abschlagen.“

Hilde musste schmunzeln. Wenn ihre Mutter so etwas sagte, schien es ihr wirklich etwas besser zu gehen. Sie verabschiedete sich, ging zur Straßenbahnhaltestelle und nahm die Tram in Richtung Hauptbahnhof. Von dort aus war es noch eine gute Viertelstunde Fußweg zu Johann von Lindens Wohnung in der Maxvorstadt. Es nieselte leicht und der Nachmittag versank bereits in einer kühlen Dämmerung. Die Schulen waren nun schon seit einer Woche geschlossen und die Grippewelle hatte München im Würgegriff.

Nach zehn Minuten hatte sie das stattliche Wohnhaus erreicht, in dem von Linden eine Wohnung besaß. Sie klopfte, gab sich zu erkennen und wurde gleich zum Hausherrn geführt. Als dieser erfuhr, wie es um Elsa stand, zögerte er nicht, den Inhalt seiner Speisekammer mit Hilde zu teilen und fünf Minuten später war sie, einen Korb unter dem Arm, auf dem Rückweg zur Tramhaltestelle. Sie hatte nicht nur ein Hühnchen, sondern auch frische Karotten, Lauch und eine Sellerieknolle dabei. Das würde ein Festmahl geben. Sie bog um eine Ecke und zog den Schal enger, weil ein aufkommender Herbstwind ihr den Nieselregen ins Gesicht wehte. Etwa fünfzig Meter vor sich sah sie drei Männer gehen. Sie trugen Arbeiterkleidung und einer von ihnen schwankte hin und her. Hilde spürte, wie es ihr kalt den Rücken hinunterlief. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Als Frau hatte sie schon immer ein mulmiges Gefühl begleitet, wenn sie alleine unterwegs gewesen war. Aber nun schnürte ihr eine kalte Angst die Kehle zu.

Einer der Männer rief: „Ja, wen haben wir denn da?“

„Ist das eine alte Jungfer oder ein hübsches junges Ding?“, fügte der Zweite hinzu. Der Dritte, derjenige, der schwankte, gab nur ein Grunzen von sich. Hilde sah nach rechts und nach links. Es gab keine Seitenstraße, in die sie hätte entweichen können. Die Männer kamen direkt auf sie zu. Sie waren nicht mehr weit entfernt.

„Und einen Korb hat sie auch dabei“, sagte der eine. „Ich wette, sie hat etwas Feines darin. Ein Brot vielleicht oder einen Kuchen?“

„Und wenn wir Glück haben, noch eine Flasche Wein“, rief der andere. Die beiden Männer bauten sich vor Hilde auf, während der dritte sich mit dem Kopf an ein Mäuerchen lehnte. Zu ihrem Schrecken sah sie, dass er seine Hose nach unten zog, und hörte kurz darauf einen Strahl auf das Trottoir plätschern.

„Lassen Sie mich vorbei“, sagte sie. Aber die Männer machten keine Anstalten, ihrer Bitte nachzugeben. Die Kerle musterten sie mit einer Mischung aus Neugier und etwas anderem, das ihr Sorgen bereitete.

„Lass uns mal in deinen Korb sehen. Was ist da wohl drin?“, sagte der eine. Hilde legte ihre Hand auf das Geschirrtuch, das den Inhalt des Behältnisses bedeckte, doch der Mann schob sie weg und hob das Tuch.

„Ja, sieh mal einer an, ein ganzes Huhn. Was für ein Luxus in diesen Tagen.“

„So etwas bekommt ja heute nicht einmal mehr der König vorgesetzt, wie man hört“, sagte der andere. „Das Gemüse kann sie behalten.“

Er griff in den Korb und wollte das Huhn herausziehen. Hilde trat ihm gegen das Schienbein. Er zog seine Hand zurück und stieß einen Fluch aus. Der andere versuchte, Hilde zu packen, aber sie wandte sich um und rannte los. Vielleicht konnte sie die Männer abschütteln.

Doch zu rasch hörte sie Schritte hinter sich. Sie hatte eben die Abzweigung erreicht, die sie in eine belebtere Straße führen würde, als sich eine Hand auf ihrer Schulter legte und sie herumriss. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Der Korb entglitt ihr und die Karotten verteilten sich auf dem Pflaster.

„Das soll dir noch leidtun, dass du mich getreten hast“, sagte der eine Mann. Er baute sich über Hilde auf. Sie kroch zurück, aber er folgte ihr. Er hob seine Hand. Würde er sie schlagen?

„Was ist hier los?“, hörte sie eine Stimme. Sie wandte den Kopf. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Mann über ihr unbeeindruckt weiter ausholte. In diesem Augenblick traf ihn ein Gegenstand mit voller Wucht an der Schläfe. Er taumelte ein paar Schritte zurück und fiel um. Etwas kullerte zu Boden. Bass erstaunt sah sie, dass es die Sellerieknolle war.

„He, was soll das?“, rief der andere. Ein Mann trat auf ihn zu und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Nun ging auch der zweite Verfolger zu Boden. Die Gestalt trat zu Hilde und reichte ihr die Hand. Sie sah ihn an.

„Herr Ludwig“, sagte sie, als sie den Gefreiten erkannte, der ihrem Bruder das Leben gerettet hatte. Er lächelte ihr zu und zog sie hoch. „Fräulein Müller“, erwiderte er. „Es ist mir eine Freude, Sie wieder zu treffen, auch wenn ich mir dafür andere Umstände gewünscht hätte. Wollen wir gemeinsam Ihre Möhren einsammeln?“

Er half ihr dabei, das Gemüse in den Korb zu packen und ging mit ihr die Straße entlang. Die Verfolger hatten sich inzwischen zurückgezogen, selbst der schwer Betrunkene war nicht mehr zu sehen.

„Danke, es war ein Glück, dass Sie vorbeigekommen sind“, sagte sie, als sie sich an der Tramhaltestelle von ihm verabschiedete.

Er zwinkerte ihr zu. „Offenbar bin ich immer zur Stelle, wenn Sie oder Ihr Bruder in Schwierigkeiten sind.“

Sie erwiderte sein Lächeln. „Jeder Mensch braucht einen Schutzengel. Offensichtlich teilen mein Bruder und ich uns einen. Leben Sie wohl und danke noch mal.“ Er nickte ihr zu, wandte sich um und ging davon. Sie sah, wie seine Gestalt sich im Nieselregen verlor. Ihr Herz raste.

***

Mit klopfendem Herzen betrat Hermann erstmals nach mehr als vier Jahren das Arbeitszimmer seines Großvaters. Nachdem dieser im schicksalhaften Sommer 1914 verhaftet und zu Festungshaft verurteilt worden war, weil er einen Mord in Auftrag gegeben hatte, um Elsa zu schaden, hatte Hermann nur noch zwei Wochen im Palais der Familie gewohnt. Er hatte nach dem Abitur die Offizierslaufbahn einschlagen wollen und war in die Kaserne eingetreten, nur um kurz darauf als blutjunger Soldat an die Front geschickt zu werden. In seinen Urlauben hatte er das schlossähnliche Gebäude abgesehen von seinem Zimmer nicht weiter genutzt. Um das Arbeitszimmer des Großvaters hatte er jedoch immer einen Bogen gemacht. Er verband zu viele unschöne Erinnerungen damit.

Aber heute hatte es sich nicht vermeiden lassen, den Raum zu betreten. Hermann strich mit einem Finger über die blank geputzte Oberfläche des Schreibtischs. Das Personal kümmerte sich weiterhin darum, dass hier nichts einstaubte, so als ob sein Großvater noch lebte. Es war schon seltsam. Der alte Mann war tot, und trotzdem war sein Geist überall. Er zögerte kurz, dann schob er den Stuhl zurück und nahm Platz. Ein Gefühl der Macht strömte durch Hermanns Körper. Großvater hatte in diesem Stuhl weitreichende Entscheidungen getroffen, hatte sein Urteil über das Wohl und Wehe von Unternehmern oder anderen Banken gefällt. Nun saß sein Enkel hier. Und die Frage war, ob er die Rolle des alten Bankiers übernehmen würde und – was wesentlich schwerer wog – ob er sie ausfüllen konnte.

Es klopfte an der Tür. Auf sein Rufen trat ein kleiner, hagerer Mann in einem tadellosen schwarzen Frack ein. Er trug eine Mappe unter dem Arm. Der Ankömmling verbeugte sich. Hermann wies auf den Stuhl, der auf der anderen Seite des Schreibtischs stand. Der Besucher nahm Platz.