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Zwei Schwestern streben nach einer selbstbestimmten Zukunft im München des 19. Jahrhunderts
Die ersten beiden Teile der bewegenden Familiensaga jetzt in einem Band
Glanz der Zukunft
München, 1895: Isolde und Elsa führen ein behütetes Leben in der Oberschicht Münchens. Als ihr Vater unerwartet stirbt und die Hofsattlerei vor dem Ruin steht, müssen die Schwestern einen Weg finden, um das Familienunternehmen zu retten. Dabei stehen ihnen nicht nur ihre eigenen Erwartungen ans Leben im Weg, sondern auch gesellschaftliche Vorurteile gegen die sie mit allen Mitteln ankämpfen. Während Isolde versucht ihren Wunsch nach Unabhängigkeit und beruflicher Selbstständigkeit über das familiäre Pflichtgefühl zu stellen, strebt Elsa nach einem glanzvollen Leben in der Münchner High Society und sozialem Aufstieg. Doch ihr Herz hat eigene Pläne und auf einmal muss sie eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes Leben verändern wird …
Schatten der Freiheit
München, 1899: Nach dem Tod ihres Vaters und dem Verlust des gewohnten Umfelds versuchen die beiden Schwestern Elsa und Isolde alles, um sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Allerdings ist Elsa gefangen in einer lieblosen Ehe und nur ihr dreijähriger Sohn sorgt für etwas Glück in ihrem tristen Alltag. Als sie auf einer Gesellschaft einen früheren Bekannten wieder trifft, erwachen vergangen geglaubte Gefühle, die ihr endlich wieder Mut geben. Währenddessen führt Isolde ein glückliches Leben an der Seite von Emily. Die beiden genießen die Kunst und die ausschweifenden Feste des Fin de Siècle. Doch das Schicksal hat grausame Pläne für die Schwestern, denn die Schatten der Vergangenheit greifen nach ihnen und ein weiterer Verlust könnte ihr Leben erneut ins Chaos stürzen.
Erste Leser:innenstimmen
„Eine packende Geschichte über Mut, Liebe und das Streben nach Unabhängigkeit!“
„Eine mitreißende Familiensaga des 19. Jahrhunderts mit starken Frauenfiguren!“
„Isoldes und Elsas Kampf um die Rettung der Hofsattlerei und ihren Platz in der Gesellschaft ist nicht nur spannend, sondern auch emotional tief berührend.“
„Die Beschreibungen der Münchner Gesellschaft und der damaligen Lebensumstände sind unglaublich detailliert und authentisch.“
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Seitenzahl: 713
Veröffentlichungsjahr: 2025
Glanz der ZukunftMünchen, 1895: Isolde und Elsa führen ein behütetes Leben in der Oberschicht Münchens. Als ihr Vater unerwartet stirbt und die Hofsattlerei vor dem Ruin steht, müssen die Schwestern einen Weg finden, um das Familienunternehmen zu retten. Dabei stehen ihnen nicht nur ihre eigenen Erwartungen ans Leben im Weg, sondern auch gesellschaftliche Vorurteile gegen die sie mit allen Mitteln ankämpfen. Während Isolde versucht ihren Wunsch nach Unabhängigkeit und beruflicher Selbstständigkeit über das familiäre Pflichtgefühl zu stellen, strebt Elsa nach einem glanzvollen Leben in der Münchner High Society und sozialem Aufstieg. Doch ihr Herz hat eigene Pläne und auf einmal muss sie eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes Leben verändern wird …
Schatten der FreiheitMünchen, 1899: Nach dem Tod ihres Vaters und dem Verlust des gewohnten Umfelds versuchen die beiden Schwestern Elsa und Isolde alles, um sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Allerdings ist Elsa gefangen in einer lieblosen Ehe und nur ihr dreijähriger Sohn sorgt für etwas Glück in ihrem tristen Alltag. Als sie auf einer Gesellschaft einen früheren Bekannten wieder trifft, erwachen vergangen geglaubte Gefühle, die ihr endlich wieder Mut geben. Währenddessen führt Isolde ein glückliches Leben an der Seite von Emily. Die beiden genießen die Kunst und die ausschweifenden Feste des Fin de Siècle. Doch das Schicksal hat grausame Pläne für die Schwestern, denn die Schatten der Vergangenheit greifen nach ihnen und ein weiterer Verlust könnte ihr Leben erneut ins Chaos stürzen.
Erstausgabe Januar 2025
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-866-8
Dieses Bundle enthält die Romane Glanz der Zukunft (978-3-98778-619-8) und Schatten der Freiheit (978-3-98778-609-9), die 2023 im dp Verlag, einem Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH, erschienen sind.
Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von commons.wikimedia.org: © Photochrom Print Collection stock.adobe.com: © teerawit, © Parichart, © Aastels Trevillion: © Ildiko Neer / Trevillion Images Lektorat: The Write Spirit
E-Book-Version 10.12.2024, 15:06:33.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Sonntag, 6. Mai 1895
Ein Sturm tobte in den Bergen. Die Föhnlage, die seit Tagen für herrliches Frühsommerwetter gesorgt hatte, brach blitzend und donnernd in sich zusammen. In der Stadt war nichts davon zu spüren. Die Münchener genossen den lauen Abend. Späte Spaziergänger flanierten durch den Englischen Garten. In den Bierkellern wurde getrunken und Karten gespielt, in den Kaffeehäusern diskutiert und philosophiert. Die Daheimgebliebenen auf ihren Terrassen, Balkonen oder an ihren weit geöffneten Fenstern bestaunten das Schauspiel, das ihnen das ferne Wetterleuchten über der Zugspitze bot.
In der Bogenhausener Villa des Sattlermeisters und Leder-Fabrikanten Maximilian Hartmann war das Personal mit den letzten Vorbereitungen für den abendlichen Empfang beschäftigt. Die Dienstmädchen rückten das im Schein der Glühbirnen funkelnde Silbergeschirr auf der langen Tafel zurecht. Angus, der Butler, begutachtete derweil die Weinflaschen, die eine nicht abreißende Prozession von Küchenjungen aus dem Keller herauf schafften, mit einem, von einem Monokel riesenhaft vergrößerten Auge. Würzige Bratendüfte waberten von der Küche her in den großen Saal, in dem das Festbankett stattfinden sollte. Dessen Glastüren öffneten sich zum Garten hin und gaben den Blick frei auf die blau-weiß geflieste Terrasse, wo zwei Diener die Kerzenleuchter auf den in einem Halbrund angeordneten Stehtischchen entzündeten.
Das grelle Licht der elektrischen Beleuchtung des Saals reichte bis zum ersten der beiden, durch einen Rosenbogen und vier hohe Tannen getrennten Rondelle aus englischem Rasen, die den größten Teil des Gartens der Villa einnahmen. Es wurde von pfirsichfarbenen Rosen eingerahmt, deren noch halb geschlossene Blüten das Nahen des Sommers ankündigten. Die zweite Rasenfläche lag im abendlichen Schatten. Das Klirren der Gläser und die Gespräche der Dienstboten drangen nur gedämpft durch die Nadeln der Bäume und die dichten Rosenbüsche. Ganz am Ende des Gartens stand ein von einem Zwiebeltürmchen gekrönter persischer Pavillon. Auf einer Bank saß dort eine junge Frau und las im Schein einer Petroleumlampe in einem Buch. Ihre Stirn war gefurcht und ihre Augen glitten unentwegt über die Zeilen. Sie war so in ihre Lektüre vertieft, dass sie das Mädchen nicht hörte, das sich ihr mit raschen Schritten näherte.
„Wusste ich doch, dass ich dich hier finden würde“, sagte die neu Angekommene.
Die Angesprochene las den Absatz fertig, ehe sie aufblickte.
„Was gibt es, Elsa?“, fragte sie.
„Du sollst zu Papa kommen. Die Gäste werden jeden Augenblick eintreffen.“
Die Leserin seufzte. „Manchmal wünschte ich, Papa würde wieder heiraten. Am besten eine Frau, die in der Rolle der Gastgeberin aufgeht. So wie du“, sagte sie.
Elsa lachte hell auf. „Ach, Isolde, eine Stiefmutter wünschst du dir ebenso wenig wie ich. Und jetzt komm! Du solltest dich frisch machen. Deine Haare sehen aus, als ob ein Vogelschwarm darin leben würde. Und was trägst du denn da für ein Kleid? Herrje, du hast dich ja gar nicht umgezogen!“
Isolde seufzte noch einmal und sah auf ihr weißes Leinenkleid hinab. „Geh schon vor, ich komme gleich nach.“
„Gut, aber beeil dich! Die ersten Gäste treffen bereits ein.“
Von der Straße her war das Rumpeln schwerer Räder zu hören. Isolde nickte, doch ihr Blick fand den Absatz wieder, bei dem sie zu lesen aufgehört hatte, und als ihre Schwester durch den Rosenbogen eilte, waren ihre Gedanken längst an einem weit entfernten Ort.
***
Als Elsa in den Saal zurückkehrte, waren die ersten Gäste bereits eingetroffen. Der Vater stand bei einer Gruppe von Herren seines Alters. Er trug einen schwarzen Frack, den ein Dienstmädchen am Nachmittag stundenlang von Fusseln befreit hatte, sowie ein blütenweißes Hemd, von Angus gebügelt und gestärkt. Das Gesicht ihres Vaters war gerötet und die Spitzen seines Schnurrbartes hüpften auf und ab, während er sich unterhielt.
Der Butler führte vom kleinen Salon her drei Männer in blauen Galauniformen mit scharlachroten Krägen und Aufschlägen in den Saal. Ihr Anblick ließ Elsas Herz ein wenig rascher schlagen. Es waren Offiziere, Unterlieutenants zwar nur, wie sie an der einzelnen goldenen Metalltresse an den Kragenenden erkannte. Aber in einem Alter, in dem sie auf glänzende Laufbahnen hoffen konnten.
Sie eilte auf die Soldaten zu, die ihre mit Hahnenfedern geschmückten Zweispitze absetzten, Haltung annahmen und salutierten.
Elsa schenkte ihnen ihr schönstes Lächeln. „Im Namen meines Vaters darf ich Sie von Herzen zu unserem kleinen Empfang begrüßen. Es freut mich ganz besonders, dass Sie als Angehörige des Offizierskorps uns mit Ihrer Anwesenheit beehren.“
„Mademoiselle“, sagten die drei Unterlieutenants im Chor und schlugen dabei ihre Hacken so knallend zusammen, dass die ältere Frau, die eben am Arm ihres Gatten vorbei flanierte, zusammenzuckte.
„Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen meine Kameraden vorstelle?“, fragte einer der drei, ein Hüne mit flachsblondem, kurz geschorenem Haar, einem sorgfältig gestutzten Schnurrbart und einer wulstigen Narbe auf der rechten Wange. Elsa neigte den Kopf zur Seite und hob auffordernd die Augenbrauen. Das war ganz nach ihrem Geschmack. Für Offiziere mit einem Schmiss hatte sie eine Schwäche.
„Zu meiner Linken Unterlieutenant von Waldsee, zu meiner Rechten Unterlieutenant von Heilmann. Und meine Wenigkeit, Bruno, Graf von Scharfenberg, ebenfalls Unterlieutenant. Vom 1. Schweren Reiterregiment.“
Die Vorgestellten verneigten sich.
„Es ist mir eine Ehre“, sagte Elsa. „Ich hoffe, die Herren haben einen bequemen Sitz auf unseren Sätteln?“
Die breite Mensurnarbe auf der linken Wange von Unterlieutenant von Waldsee glänzte fleischig im Schein der Glühbirnen. „Zu bequem darf ein echter Kavalleriesattel nicht sein. Wenn wir im Felde dem Feinde mit gezogenem Säbel entgegen jagen, zählt allein die Festigkeit. Ein sicherer Sitz, das ist es, was wir Kavalleristen brauchen, und das zeichnet die Hartmannschen Sättel vor allen anderen aus.“
Seine Begleiter nickten beifällig. Elsa lächelte.
„Es freut mich, das zu hören. Ich hoffe, die Herren amüsieren sich auch gut auf unserem bescheidenen kleinen Empfang?“
„Ausgezeichnet, Fräulein Hartmann“, sagte der Graf. „Wobei ich hervorheben muss, dass es insbesondere Ihre angenehme Gesellschaft ist, die verspricht, dass aus diesem schönen Abend ein glänzender werden könnte.“
Das Kompliment ließ einen behaglichen Schauer durch ihren Körper laufen.
„Wohl gesprochen, Scharfenberg“, sagte von Heilmann und nickte ihr lächelnd zu.
„Nun, dann sollten wir auf diesen glänzenden Abend anstoßen, meinen Sie nicht?“
Sie winkte den Dienstboten herbei, der ein Tablett voller Champagnerkelche durch die Grüppchen der Gäste balancierte. Von Scharfenberg reichte Elsa ein Glas, dann bedienten er und seine Kameraden sich.
Sie hob den Kelch. „Auf das Schwere Reiterregiment Nummer 1.“
Die Offiziere schlugen die Hacken zusammen und wiederholten den Toast wie aus einem Munde. Elsa verkniff sich ein zufriedenes Lächeln, als sie den Kelch an ihre Lippen führte. Sie spürte das Kribbeln des Champagners auf ihrer Zunge, schmeckte die herbe Fruchtigkeit des Getränks und genoss die bewundernden Blicke der Herren. Das versprach tatsächlich ein großartiger Abend zu werden.
***
Isoldes Körper saß noch immer auf der Bank im Pavillon. Doch in ihrer Fantasie war sie inmitten des indischen Neujahrsfests. Staunend beobachtete sie die mit roter und gelber Farbe besprengten Menschen, die zu einer fremdartigen Musik sangen und tanzten. Der Duft von Zimt, Kardamom und tausend anderen Gewürzen, deren Namen sie nicht kannte, erfüllte ihre Nase. Ein feiner Schweißfilm bildete sich auf ihrer Haut.
„Entschuldigen Sie“, sagte eine Stimme und die Fantasie brach in sich zusammen.
Sie blinzelte. Vor ihr stand ein Mann. Er war noch jung, in ihrem Alter. Das dunkelblonde Haar war mit einer gehörigen Menge Wichse zu einer glänzenden Tolle gebändigt worden. Seine grauen Augen musterten sie aufmerksam. Isolde spürte, wie eine Woge der Wut in ihr anbrandete. Was wollte der Kerl hier? Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Er musste doch gesehen haben, dass sie las. Sie war schon im Begriff, ihn darauf hinzuweisen, als ihr einfiel, dass es sich wohl um einen Gast ihres Vaters handeln musste. Da würde sie sich zusammenreißen müssen. Sie atmete tief durch und versuchte, ihr Bestes zu geben.
„Ja, bitte?“, erwiderte sie.
„Verzeihen Sie mir meine Unverfrorenheit. Ich habe auf Einladung des Hausherrn ein wenig den Garten erkundet und als ich Sie hier sitzen sah, ein Buch in Händen, wollte ich Sie nicht in Ihrer Lektüre unterbrechen.“
„Nun, warum haben Sie mich dann angesprochen?“ Isolde biss sich auf die Zunge. Das war unverschämt gewesen. Ihr Gegenüber schien sich daran jedoch nicht zu stören. Die Grübchen vertieften sich in dem Maße, in dem sein Lächeln sich verbreiterte.
„Der Einwand ist berechtigt, ich hoffe aber, mich hinreichend verteidigen zu können. Ich habe mich der Sünde der Neugier schuldig gemacht. Das Lesen ist eine meiner größten Leidenschaften. Als ich Sie hier sitzen sah, musste ich erfahren, welches Buch die Macht besitzt, Sie derart in seinen Bann zu ziehen, dass Sie es der glänzenden Soirée dort drüben vorziehen.“
„Ich würde auch einem deutlich langweiligeren Werk den Vorzug gegenüber dem Empfang geben“, erwiderte Isolde. „Aber dieses hier ist tatsächlich eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe. Es ist der dritte Band des Reiseberichts von Ida Pfeiffer.“
Der Gast pfiff leise vor sich hin. „Eine Frauenfahrt um die Welt. Da haben Sie recht. Das ist ein großartiges Buch. Ich bewundere Frau Pfeiffer für ihren Mut.“
„Warum? Weil eine Frau es gewagt hat, eine Weltreise zu unternehmen, oder weil sie darüber schreibt?“
Er legte den Kopf schief. „Nun, ersteres. Wobei ich einer Frau nicht das Recht absprechen möchte, zu reisen. Eine Weltreise ist ein Abenteuer und ich bewundere jeden, der dieses Wagnis auf sich nimmt. Oder jede.“
Er lächelte sie wieder an.
„Ich bewundere und beneide Frau Pfeiffer“, sagte Isolde mit leiser Stimme. „Was gäbe ich darum, durch die Welt zu reisen und fremde Länder und Menschen kennenzulernen.“
Er nickte. „Ja, davon träume ich auch.“
Sie schwiegen und je länger die Stille andauerte, desto unbehaglicher fühlte sich Isolde. Sie hatte die Künstlichkeit des gesellschaftlichen Miteinanders noch nie ausstehen können und die Myriaden an Regeln des Umgangs und der Höflichkeit waren ihr ein Rätsel geblieben. Sollte sie etwas sagen? Das Gespräch wieder aufnehmen? Die Gastgeberin spielen? Sie hatte keine Ahnung, wie sie das anstellen konnte. Konnte der Mann sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie wollte doch nur weiterlesen.
„Nun“, sagte der Gast und nahm ihr damit eine schwierige Entscheidung ab. „Dann werde ich Ihre Lektüre nicht weiter stören. Grüßen Sie die weite Welt von mir!“
Er nickte ihr zu und ging in Richtung Haus davon. Isolde zögerte. Sollte sie ihn bitten, zu bleiben? Wer war der Mann überhaupt? Er hatte sich ihr gar nicht vorgestellt. Doch während sie darüber nachdachte, hatte er bereits den Rosenbogen erreicht. Waren seine Worte nicht eine eindeutige Aufforderung gewesen? Sie klappte das Buch auf und fuhr fort, zu lesen.
***
Elsa war ein wenig schwindelig. Das musste der Champagner sein. Vielleicht war es aber auch der Rausch des Abends. Die bewundernden Blicke der Offiziere, die Komplimente der älteren Herren, die neidischen Mienen der sie begleitenden Damen. Elsa fühlte sich schön und begehrt und dieses Gefühl war so erhebend, dass sie hoffte, es würde nie vergehen.
„Ich sehe, du genießt das Fest“, hörte sie eine vertraute Stimme in ihrem Ohr. Sie wandte sich um.
„Ja, Papa, es ist großartig.“
Die Lippen unter dem Walrossschnurrbart ihres Vaters verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns. Sein Gesicht war krebsrot und auf der Stirn standen dicke Schweißtropfen, die er sich mit einem bereits feuchten Taschentuch abtupfte.
„Ist dir nicht wohl?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Es ist die Hitze. Du weißt doch, wie schlecht ich damit zurechtkomme. Hoffentlich gibt es bald ein ordentliches Gewitter.“
„Aber erst, wenn der Empfang vorbei ist“, erwiderte Elsa.
Das Lächeln unter dem Schnurrbart wurde breiter.
„Du hast ein natürliches Talent zur Gastgeberin. Das hast du von deiner Mutter geerbt. Ich wünschte nur, dass Isolde sich auch einmal Mühe geben würde, ihren Pflichten nachzukommen. Wo ist sie denn?“
Elsa sah sich um. Sie konnte ihre Schwester nirgendwo entdecken.
„Ich habe sie vorhin im Garten getroffen und sie gebeten, ihre Lektüre zu beenden. Du kennst sie doch, wahrscheinlich ist sie wieder in einem ihrer Bücher verschwunden.“
Ihr Vater atmete schwer aus. „Dieses Kind. Was soll nur aus ihr werden?“
„Eine Forscherin“, entgegnete Elsa. „Deswegen will sie doch auch die Universität besuchen. Um danach die Welt zu bereisen.“
Er rollte mit den Augen. „Man sollte nicht glauben, dass sie bald volljährig sein wird. Diese ständigen Träumereien. Studieren. Reisen. Wo sind wir denn? Ich bin froh, dass es ihr nicht gelungen ist, ihrer jüngeren Schwester einen dieser Flöhe ins Ohr zu setzen.“
„Nein, das ist nichts für mich.“ Elsa schüttelte den Kopf. „Ich liebe die gute Gesellschaft. Und deshalb werde ich mir einen Gatten auswählen, in dessen Haus ich meine eigenen Soirées geben kann.“
Papa nickte. „Meinen Segen hast du.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ist heute Abend jemand dabei, den du dir als zukünftigen Ehemann vorstellen könntest?“
Elsa ließ ihren Blick schweifen und blieb schließlich an den drei Offizieren hängen. „Der Graf von Scharfenberg ist fesch.“
„Und reich. Seine Eltern gehören zu den größten Grundbesitzern in der Oberpfalz“, entgegnete er mit einem Lächeln.
„Wenn es nach dem Reichtum ginge, müsste ich wohl eher den Sohn von Herrn Berlitz wählen“, sagte sie.
Ihr Vater schnaubte. „Berlitz. Untersteh dich, den Erben meines größten Konkurrenten zu heiraten. Das könnte ihm so passen. Es wäre die perfekte Gelegenheit, sich meine Firma unter den Nagel zu reißen.“
Sie ließ ein kurzes Lachen ertönen. „Keine Sorge. Dieses blasse Jüngelchen kann mir gestohlen bleiben. Der hat ja nicht einmal gedient.“
„Gut“, sagte Papa. Sein Blick wanderte zur Salontür und seine Augen weiteten sich. Elsa sah ebenfalls hin. Angus hatte einen weiteren Offizier hereingeführt. Es war ein älterer Mann mit einem Vollbart, dessen unauffällige Erscheinung durch das Dutzend Orden wettgemacht wurden, die an seiner Brust glänzten.
„Generalmajor von Schacky auf Schönfeld“, sagte Papa. „Endlich.“
„Wer ist das?“, fragte Elsa.
„Er ist der Grund, weshalb ich diesen Empfang gebe. Dieser Abend ist wichtig. Sehr wichtig. Von seinem Gelingen hängt vieles ab.“
„Ein Geschäft?“
Der alte Hartmann nickte. „Es geht um die neuen Militärsättel. Wenn ich den Zuschlag erhalte, sind unsere Auftragsbücher für die nächsten beiden Jahre gefüllt. Zweitausend Sättel, dazu Zaumzeug, Taschen und Zubehör. Entschuldige mich bitte, ich muss den General begrüßen.“
Er eilte davon. Elsa ließ den Blick schweifen. Vielleicht gab es ja noch ein paar fesche Offiziere zu entdecken?
***
Isolde war zurück in Indien. Sie folgte der Erzählerin, die einen Tempel erkundete. Im Fackelschein konnte sie erkennen, dass die Wände mit Reliefs von Göttinnen und Göttern geschmückt waren. Einige von ihnen hatten Tierköpfe, andere sechs Arme. Unheimliche Geräusche drangen aus den verborgenen Kammern des Heiligtums, ein Ächzen, ein Stöhnen. Isolde spürte, wie eine Gänsehaut sich über ihren Rücken ausbreitete. Stimmen drängten sich durch den Schleier ihrer Fantasie und holten sie in die Bogenhausener Realität zurück. Sie brummte und klappte das Buch zu.
„Aber Herr General, ich dachte, der Abschluss des Geschäfts wäre nur eine Formalität.“
Das war ihr Vater. Die andere Stimme erwiderte:
„Ich bedauere sehr, wenn Sie aus unseren unverbindlichen Gesprächen darauf geschlossen haben, dass schon eine Entscheidung gefallen sei. Aber nachdem nun alle Gebote vorliegen, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir ein wesentlich günstigeres Angebot angenommen haben.“
„Wie günstig? Ich unterbiete es.“ Ihr Vater klang atemlos, gehetzt.
„Ich fürchte, das ist nicht möglich. Der Vertrag ist schon unterzeichnet.“
Sie hörte, wie ihr Vater scharf die Luft einzog. „Wer … wer wird Ihnen die Sättel liefern?“, fragte er. Seine Stimme zitterte.
„Herr Berlitz.“
Ihr Vater stöhnte. Berlitz. Den Namen hatte er öfter einmal bei Tisch erwähnt. Wenn sie sich richtig erinnerte, besaß dieser ebenfalls eine große Lederwarenfabrik.
„Und nun muss ich mich leider schon von Ihnen verabschieden, Herr Kommerzienrat. Die Pflicht ruft“, sagte der General. Sie hörte feste Schritte, die sich langsam in Richtung des Hauses entfernten.
Isolde erhob sich und eilte auf ihren Vater zu, der mit einer Hand am Rosenbogen lehnte. Sein Oberkörper war nach vorne gebeugt. Er atmete schwer, japste stoßweise nach Luft. Als sie sich näherte, hob er den Kopf und sah sie an. Sein wirrer Blick ließ sie zunächst daran zweifeln, dass er sie erkannte.
„Isolde?“, sagte er dann doch leise.
„Ja, ich bin es. Was ist geschehen?“
„Es ist aus“, flüsterte er.
„Was ist aus?“
„Alles.“
Sie kniete sich neben ihn und nahm seine freie Hand. Sie fühlte sich eiskalt und schweißig an. Er erwiderte ihren sanften Druck nicht, murmelte weiter nur leise vor sich hin.
„Alles ist aus. Alles.“
Er schloss die Augen. Ein Krampf zuckte durch seinen Körper. Seine Hand entwich Isoldes Griff und fuhr an seine Kehle, der ein ersticktes Stöhnen entfuhr. Sie sah mit wachsender Sorge, wie das Gesicht ihres Vaters sich violett verfärbte. Seine massige Gestalt wankte und kippte schließlich zur Seite in einen Rosenbusch, dessen Zweige knackten und raschelten, als sie unter seinem Gewicht zerbrachen.
***
Elsa hatte keine weiteren Offiziere mehr entdeckt. Stattdessen war sie Alfred Berlitz und seinem Sohn in die Arme gelaufen. Sie kannte den Unternehmer von früheren Empfängen. Und sie mochte ihn nicht. Lang und hager war er. Die Spitzen seines drahtigen, schwarzen Schnurrbarts waren wie Pfeile in die Höhe gereckt, seine kleinen, braunen Augen wanderten wachsam über die Umgebung, so als ob sie Ausschau nach bedeutsameren Gesprächspartnern hielten.
„Fräulein Hartmann, welche Freude, Sie zu sehen“, sagte er. Elsa reichte ihm die Hand und er hauchte einen Kuss darauf. Sie war froh, dass seine Lippen nicht ihre Haut berührten.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, erwiderte sie und hoffte, dass das Lächeln, das sie aufsetzte, echt genug wirkte.
Auch sein Sohn begrüßte sie nun, ein blasser Jüngling von vielleicht achtzehn Jahren, auf dessen Oberlippe ein erster, zarter Flaum spross. Er spulte seine Höflichkeitsfloskeln so leise ab, dass Elsa ihn kaum verstand.
„Einen schönen Empfang haben Sie ausgerichtet. Das muss eine Stange Geld gekostet haben“, sagte Berlitz senior.
„Darum kümmert sich mein Vater“, sagte Elsa, die diese Bemerkung reichlich unverschämt fand.
„Richtig. Ein erfolgreicher Geschäftsmann wie er kann sich das sicherlich leisten. Vor allem, wenn die Auftragslage anhaltend gut bleibt.“
Er zwinkerte ihr scheinbar vergnügt zu, doch hinter seinen kleinen Augen erahnte sie eine Schlange, die auf ihre Beute lauerte.
„Sättel werden gebraucht, solange es Pferde gibt“, sagte Elsa. „Ich sehe nicht, dass sich an dieser Tatsache so bald etwas ändern wird.“
„Die Nachfrage ist das eine. Aber das Angebot muss stimmen, wenn man eine Ware absetzen möchte.“
Elsa lächelte. „Das sollte in unserem Fall kein Problem sein. Die Hartmannschen Produkte sind ausgezeichnet. Mein Großvater wurde zum königlich-bayerischen Hoflieferanten ernannt, weil er dem verstorbenen König die schönsten und prächtigsten Sättel angefertigt hat. Und für meinen Vater war diese Handwerkskunst immer der hellste Leitstern, als er die Firma erweiterte und vergrößerte.“
„Die Qualität ist ein wichtiger Faktor, da gebe ich Ihnen Recht, aber ausschlaggebend ist heutzutage meistens der Preis. Ich weiß nicht, ob das alle in der Branche verstanden haben.“
Sie wollte etwas erwidern, doch da ertönte ein Rufen aus Richtung des Gartens – Isolde! Elsa wandte sich um und stürmte hinaus. Der Schrei ebbte nicht ab. Nun konnte sie hören, dass er aus einem Wort bestand, das ihre Schwester ständig wiederholte. „Hilfe! Hilfe! Hilfe!“
Elsa rannte über die Terrasse. Hinter ihr hörte sie die Schritte weiterer Gäste. Sie flog über das erste Rondell. Als sie den Rosenbogen erreichte, hielt sie erschrocken inne. Eine große, massige Gestalt lag auf dem Rasen. Die wulstigen Lippen waren violett angelaufen, das Gesicht von blutigen Kratzern entstellt. Isolde kauerte neben ihrem Vater und schrie in einem fort.
Samstag, 12. Mai 1895
„Et lux perpetua luceat eo.“
Die Stimme des Pfarrers hallte durch das Kirchenschiff und dröhnte in Isoldes Ohren.
„Amen“, erwiderte der Chor der Trauergemeinde.
Isolde bewegte ihre Lippen, doch kein Laut drang aus ihrer ausgetrockneten Kehle hervor. Vier Gesellen der Hartmannschen Lederwarenfabrik hoben den Sarg, der auf den Stufen vor dem Chorraum der Kirche aufgestellt worden war, auf ihre Schultern. Sie schwankten ein wenig hin und her, ehe sie einen festen Stand fanden. Der Kommerzienrat war füllig gewesen und sein Gewicht lastete schwer auf den Männern. Langsam und vorsichtig trugen sie seine sterblichen Überreste durch den Mittelgang des Kirchenschiffs. Die Trauergäste bekreuzigten sich, als der Leichnam sie passierte.
Isolde griff nach Elsas Hand. Der Körper ihrer Schwester bebte. Sie schluchzte, ließ sich jedoch widerstandslos mitziehen. Isolde beugte das Knie vor dem Hochaltar und wandte sich um. Die Kirche war bis auf den letzten Platz mit schwarz gekleideten Menschen gefüllt. Und nun schienen sich alle Augen auf sie zu richten. Auf sie, die dabei gewesen war, als ihr Papa den tödlichen Herzanfall erlitten hatte. Auf sie, die nichts hatte tun können, als daneben zu kauern, um Hilfe zu schreien und zuzusehen, wie das Leben ihren Vater verließ. Die Erinnerungen an diesen Abend, an ihre Verzweiflung und ihre Hilflosigkeit trieben ihr die Tränen in die Augen.
Ihr Blick fiel auf ihren Onkel, Anton Würth, den Bruder ihrer verstorbenen Mutter. Er trug einen ausgebeulten schwarzen Anzug. Der Stoff war an den Ellenbogen abgewetzt und einer der silbernen Knöpfe baumelte an einem schmalen Faden. Auf dem Rücken seiner rechten Hand prangte ein grüner Farbklecks. Der Onkel nickte ihr zu und sie erwiderte den Gruß. Seine Gegenwart tröstete sie und der Sturm aus Verzweiflung, Traurigkeit und Schuldgefühlen, der in ihrem Innern tobte, flaute ein wenig ab.
Die Blicke der anderen Gäste, der Nachbarn, der Bekannten, der Geschäftspartner und der Arbeiter ihres Vaters mied sie jedoch, aus Furcht, darin die Anklage zu lesen, die sie selbst gegen sich erhob. Den Vorwurf, versagt zu haben. Ihres Papas Tod verschuldet oder zumindest nicht verhindert zu haben.
Endlich passierte der Sarg und kurz darauf auch Isolde das Kirchenportal. Sie spürte die Erleichterung, ein Schweregefühl in ihren Gliedern, als sie aus dem Blickfeld der Anwesenden trat. Doch dieses angenehme Gefühl würde nur wenige Momente währen, denn gleich am Grab wären alle Augen wieder auf sie gerichtet. Was gäbe sie darum, weit weg zu sein, auf einem Pferderücken durch das persische Gebirge zu galoppieren oder den rauen Pazifik in einer Nussschale zu überqueren!
Sie folgten dem Sarg über die Kieswege, die den Friedhof der Bogenhausener Pfarrkirche durchzogen. Im Gegensatz zu den riesigen Totenackern in der Stadt hatte dieser seinen dörflichen Charakter weitestgehend bewahrt. Und doch war unübersehbar, dass der Zuzug der reichen Künstler und Geschäftsleute, die dieses Viertel in den letzten Jahren für sich entdeckt hatten, auch hier seine Spuren hinterlassen würde. Die alten, schmucklosen Grabsteine und simplen Metallkreuze waren noch in der Mehrzahl. Doch dazwischen ragten die aufwendig in Marmor gemeißelten Epitaphe der Zugezogenen auf. Ob Papa sich ein derart protziges Denkmal gewünscht hätte? Isolde wusste es nicht. Sie hatte nie mit ihm darüber gesprochen. Warum auch? Bis vor einer Woche war er kerngesund gewesen. Zumindest hatte er so gewirkt. Aber nun war er tot. Erneut traten die Tränen in ihre Augen und verschleierten ihr die Sicht.
Die Gesellen hielten vor einer tiefen Grube an. Behutsam legten sie den Sarg auf zwei Seile, die von dem Totengräber und seinen Gehilfen in ihren schwarzen Fräcken und überdimensionierten Zylinderhüten über der Öffnung gespannt wurden. Als das Gewicht des Vaters vollständig darauf ruhte, ließen sie den Sarg langsam hinabsinken. Der Pfarrer trat neben das Grab und sprach seine lateinischen Gebete. Er schüttete Erde auf den Sargdeckel und besprenkelte ihn mit Weihwasser. Aus dem Rauchfass, das einer der Ministranten schwenkte, waberten schwere, süßlich duftende Wolken hervor. Die mit weißen Lilien geschmückte Holzkiste verschwand immer tiefer im Boden. Isolde wurde bewusst, dass hier und heute etwas zu Ende ging. Es war nicht nur das irdische Leben ihres Vaters. Es war auch ihr Dasein und das ihrer Schwester, das nun unwiderruflich eine neue, ungewisse Bahn eingeschlagen hatte. Der Gedanke ängstigte sie und gleichzeitig trauerte sie um eine Vergangenheit, die nie wiederkehren würde. Als die oberste der Lilien aus ihrem Blickfeld verschwunden war, drängten die Tränen in ihre Augen und sie weinte und schluchzte ebenso hemmungslos wie Elsa.
Da spürte sie, wie die Hand ihrer Schwester, die sie noch immer in der ihren hielt, sich fest um ihre Finger schloss. Durch einen Tränenschleier sah sie Elsa an. Deren Augen und blasse Wangen waren vom Weinen gerötet. Ein Rotzfaden hing ihr aus dem linken Nasenloch und eine Locke ihres dicken, braunen Haares klebte an der schweißnassen Stirn. Sie sah aus wie ein todunglückliches, verzweifeltes Mädchen, viel jünger als die achtzehn Jahre, die sie alt war.
„Ich habe Angst“, flüsterte Elsa. „Was soll aus uns werden?“
Isolde erwiderte den Druck ihrer Hand. „Ich weiß es nicht“, sagte sie leise. „Aber was auch geschieht. Du bist nicht allein. Ich bin bei dir.“
***
„Muss das sein?“, fragte Elsa. Sie saß auf der Bank im persischen Pavillon. Neben ihr lehnte ein mit schwarzer Seide bespanntes Schirmchen, das sie vor der unbarmherzig stechenden Sonne beschützt hatte. Die letzten Trauergäste waren eine Stunde zuvor aufgebrochen, doch nun hatte der Notar seinen Besuch angekündigt.
„Ja, ich fürchte schon“, erwiderte Isolde. „Wenn Vaters Testament eröffnet wird, müssen wir als seine Erbinnen anwesend sein.“
Elsa brach in Tränen aus. „Es ist so ungerecht. Warum musste Papa sterben?“
„Ich weiß es nicht.“ Isoldes Stimme klang brüchig wie altes Papier und ihre Augen waren gerötet.
Elsa sah sie erstaunt und ein wenig besorgt an. Sie hatte ihre Schwester noch nie weinen sehen, doch heute schien sie damit gar nicht mehr aufhören zu können. Sanft drückte sie ihr die Hand. „Lass uns reingehen, wenn es sein muss“, flüsterte sie.
Dr. Nottke, der Notar, war ein spindeldürres Männchen mit einem enormen, schlohweißen Backenbart. Seine stecknadelkopfgroßen Augen huschten aufmerksam zwischen den Schwestern hin und her. Elsa und Isolde ließen sich auf den beiden Stühlen nieder, die Angus im großen Salon bereitgestellt hatte. Nottke saß ihnen gegenüber. Er zog einen mit einem Siegel versehenen Umschlag aus einer Aktenmappe und legte ihn auf seinen Schoß. Dann räusperte er sich und begann, mit einer seltsam hohen und gleichzeitig heiseren Stimme zu sprechen. „Meine Damen, mein Herr“, begann er und nickte Onkel Anton zu, der hinter den Mädchen Platz genommen hatte, „Es ist meine traurige Pflicht, den letzten Willen von Herrn Kommerzienrat Maximilian Hartmann zu verlesen.“
Elsa schluchzte laut auf und nun war es Isolde, die ihre Hand drückte. Die Berührung tat ihr wohl. Sie holte tief Luft und beruhigte sich.
Der Notar zerbrach das Siegel und öffnete den Umschlag. Er zog einen Bogen Papier heraus. Selbst aus mehreren Metern Entfernung konnte Elsa erkennen, dass das Dokument in der engen, ordentlichen Schrift ihres Vaters verfasst worden war. Der Anblick versetzte ihr einen Stich ins Herz. Letzter Wille. Was für ein furchtbarer Begriff.
Nottke räusperte sich noch einmal und las dann vor:
„Ich, Maximilian Hartmann, königlich-bayerischer Hofsattler, verfüge, dass mit meinem Besitz nach meinem Tode folgendermaßen verfahren werde:
1. Mein Barvermögen, meine Wertpapiere und mein Haus in Bogenhausen gehen zu gleichen Teilen an meine Töchter Isolde und Elsa Hartmann. Ein Verkauf der Immobilie kann nur durch eine einstimmige Willensbekundung der beiden genannten bzw. bis zu deren Volljährigkeit durch Schiedsspruch ihres Vormundes erfolgen.
2. Meine Firma inklusive der Liegenschaften, der Maschinen und des Kapitals vermache ich meiner Tochter Isolde. Sie soll – wenn möglich – den Familienbetrieb im Sinne ihres Vaters und ihres Großvaters fortführen.“
Elsa schluckte. Sie sah ihre Schwester an, deren Gesicht kreideweiß geworden war. Isolde sollte die Firma leiten? Ausgerechnet Isolde?
„3. Meine von meinem Großvater ererbten Werkzeuge sowie die Werkstatt meines Vaters vermache ich meiner Tochter Elsa. Möge sie die in ihr schlummernden Fertigkeiten in den Dienst der Familientradition stellen.“
Elsa spürte Isoldes Blick, erwiderte ihn aber nicht. Wie konnte Vater ihr das antun? Ihre Schwester erbte die Firma und sie nur einen Haufen abgegriffener, halb vermoderter Werkzeuge und eine seit Jahren leer stehende Werkstatt?
„4. Sollten meine Töchter zum Zeitpunkt meines Todes die Volljährigkeit noch nicht erreicht haben, ist es mein Wunsch, dass mein Schwager, Anton Würth, die Vormundschaft für sie übernehmen möge.“
Elsa drehte sich um und sah ihren Onkel an. Kam es ihr nur so vor oder war der Teil seines Gesichts, den der Rauschebart freiließ, um drei Schattierungen bleicher geworden?
„5. Mein Schwager Anton Würth möge auch die Verwaltung des Erbes meiner verstorbenen Frau übernehmen. Jeder meiner Töchter wird aus diesem Fonds bei Erreichen der Volljährigkeit oder beim Eintreten in den Ehestand ein Betrag von 10.000 Mark ausbezahlt.“
Elsa sog die Luft ein. Das war eine fürstliche Summe. Eine Mitgift, die ihr die Türen in die höchsten Kreise der Münchener Gesellschaft öffnen würde. Allerdings erst zu ihrem 21. Geburtstag in drei Jahren. Drei lange Jahre. Sie spürte, wie ein neues, starkes Gefühl sich in ihrem Körper ausbreitete und die Traurigkeit verdrängte: eine heiße, rauschende, alles verzehrende Wut. Wut auf Isolde, die es als die ältere Schwester so viel besser getroffen hatte. Wut auf ihren Onkel, der über ihr Schicksal entscheiden konnte, wie er wollte. Wut auf ihren Vater, dass er sich so einfach aus dem Staub gemacht hatte und ihr nichts als eine Tasche mit Werkzeugen und eine modrige Werkstatt hinterlassen hatte. Und vor allem Wut auf sich selbst, die in diesem Augenblick nicht um einen lieben Menschen trauerte, sondern voller Zorn und Bitterkeit war.
„Ich stelle fest, dass das Testament ordnungsgemäß von zwei volljährigen Herren bezeugt und von mir notariell beurkundet wurde. Es ist somit gültig“, sagte der Notar, erhob sich, trat auf die Schwestern zu und verbeugte sich. „Ich darf Ihnen mein tiefstes Beileid ausdrücken.“
„Wir danken Ihnen“, sagte Isolde.
Angus führte den Notar zur Tür. Isolde stand auf. Onkel Anton tat es ihr nach. Nur Elsa blieb sitzen.
„Und nun?“, fragte sie. Ihre Stimme klang unnatürlich schrill in ihren Ohren und sie musste die linke Hand mit der rechten festhalten, um das Zittern zu verbergen, das sie nicht mehr kontrollieren konnte.
„Nun werden wir ausführen müssen, was Vater uns in seinem Testament aufgetragen hat“, sagte Isolde.
„Was er dir aufgetragen hat, willst du wohl sagen“, erwiderte Elsa. „Du hast die Firma geerbt. Und da du bald volljährig sein wirst, kannst du über deine 10.000 Mark frei verfügen. Was soll mit mir geschehen? Soll ich zu Onkel Anton ziehen, wo er doch jetzt unser Vormund ist? Das wäre zu deinem Vorteil, dann hättest du die Villa für dich allein!“
„Elsa!“, rief der Onkel. „Bitte mäßige dich! Ich kann verstehen, dass du aufgebracht bist. Du hast einen schrecklichen Verlust erlitten. Glaub mir, auch ich bin zutiefst schockiert über den Tod deines Vaters. Ich habe mir nicht ausgesucht, euer Vormund zu werden. Hoffentlich werden wir eine Lösung finden, mit der wir alle leben können.“
Es klopfte an der Tür und Angus kündigte Albert Kirmayer an, den Prokurator der Hartmannschen Lederwarenfabrik. Er schüttelte die Hand des Onkels und verbeugte sich vor den Schwestern.
„Ich bin hier wohl überflüssig“, knurrte Elsa und wollte sich verabschieden, doch Isolde hielt sie zurück.
„Bleib“, sagte sie, und als sich Elsa anschickte, sich loszureißen, fügte sie hinzu: „Bitte. Ich möchte nicht, dass du dich ausgeschlossen fühlst.“
Elsa nahm wieder Platz. Sie hatte keinerlei Lust darauf, sich mit geschäftlichen Fragen auseinanderzusetzen, und hoffte, dass jeder im Raum dies an ihrem sauertöpfischen Gesichtsausdruck ablesen konnte.
„Ich muss leider gleich zum Punkt kommen“, sagte Herr Kirmayer mit betretener Miene.
„Wie meinen Sie das?“, fragte Isolde.
„Eigentlich sollte ich Ihnen zur Übernahme der Sattlerei gratulieren und Ihnen gleichzeitig meinen Rücktritt als Prokurator anbieten, wie es die Tradition will“, sagte Kirmayer. „Doch stattdessen muss ich Ihnen mitteilen, dass die Firma zahlungsunfähig ist.“
Elsa hielt den Atem an. Sie hatte keine Ahnung von wirtschaftlichen Zusammenhängen, aber das Wort „zahlungsunfähig“ klang selbst in ihren Ohren katastrophal.
„Was bedeutet das?“, fragte Onkel Anton.
„Es bedeutet, dass wir unsere Verbindlichkeiten nicht mehr begleichen können. Wir sind bankrott.“
Isoldes Gesicht wurde um eine Schattierung bleicher.
„Wie … wie konnte es so weit kommen? Papa hat immer den Eindruck vermittelt, dass das Unternehmen auf einem sicheren Grund stehe.“
Kirmayer kratzte sich am Kinn. „Nun, ich muss wohl annehmen, dass Ihr Herr Vater Sie und Ihre Schwester schonen wollte. Die Geschäfte liefen bereits seit Längerem nicht mehr gut. Zudem haben wir uns mit Investitionen in neue Maschinen übernommen. Die Firma hätte gerettet werden können, wenn wir den Auftrag für die Neuausstattung der königlich-bayerischen Kavallerieregimenter bekommen hätten. Doch nun sind unsere finanziellen Reserven ausgeschöpft.“
„Was bedeutet das?“, fragte der Onkel noch einmal.
Kirmayer räusperte sich und wandte sich direkt an Isolde. „Es bedeutet, dass alles, was Ihr Vater Ihnen und Ihrer Schwester vererbt hat, in die Konkursmasse einfließen wird. Wenn Sie Glück haben, reicht es aus, um die Verbindlichkeiten der Firma zu bezahlen.“
„Und wenn nicht?“, fragte Isolde.
Der Prokurator sah sie lange an. „Dann werden Sie den Rest Ihres Lebens damit verbringen, die Schulden Ihres Vaters abzutragen.“
Montag, 21. Mai 1895
Elsa lag auf ihrem Bett und las das Billett, das ihr das Dienstmädchen eine halbe Stunde zuvor gebracht hatte – die Einladung zu einem Tanzkränzchen. Sie musste daran teilnehmen! Alle ihre Freundinnen würden da sein. Und sie könnte einmal wieder ein feines Abendkleid anziehen, anstelle des schrecklichen schwarzen Trauergewandes, in dem sie seit Papas Tod steckte.
Es klopfte an der Tür.
Sie hatte damit gerechnet, Isolde zu sehen oder vielleicht ihren Onkel. Auf den Anblick des glatzköpfigen Butlers war sie dagegen nicht vorbereitet.
„Angus“, sagte sie und erhob sich.
„Ich bitte um die Erlaubnis, eintreten zu dürfen.“ Sein schottischer Akzent unterlegte die Silben mit einem kehligen Grummeln.
„Aber natürlich!“
Er schloss die Tür hinter sich, kam zwei Schritte auf sie zu und stellte sich in seiner üblichen, kerzengeraden Haltung auf.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Elsa.
In Angus’ Gesicht zuckte es kurz. „Mit Verlaub, gnädiges Fräulein“, erwiderte er. „Unter normalen Umständen wäre es an mir, diese Frage zu stellen.“
„Die Umstände sind aber leider nicht normal“, entgegnete sie mit leiser Stimme.
Er nickte. „Nun, da kann ich Ihnen nur beipflichten. Um Ihre Frage zu beantworten: Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden.“
Elsa schluckte. „Sie verlassen uns?“
„Ja, wie mir Ihr Onkel zu verstehen gegeben hat, wird in Ihrem neuen Hausstand kein Platz mehr für einen Butler sein.“
„Wie bitte?“, rief sie und schnaubte. „Was hat er gesagt?“
Angus wiederholte es.
„Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!“
Der Butler schüttelte den Kopf. „Doch. Ich werde nicht mehr länger hier arbeiten. Das ist beschlossene Sache.“
„Werden Sie nach Schottland zurückkehren?“
„Nein, ich habe eine neue Anstellung gefunden.“
„Das ist gut. Bei wem, wenn ich fragen darf?“
Sie bemerkte, dass er einen Augenblick zögerte. „Bei Herrn Berlitz“, sagte er schließlich.
Elsas Augen weiteten sich. „Bei Berlitz?“ Ausgerechnet bei diesem geistlosen Krämer? Was würde mein Vater dazu sagen?“
„Es würde ihm wohl missfallen“, erwiderte Angus. Er sah zu Boden.
Elsa unterdrückte einen Wutschrei. Sie grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Der Schmerz lenkte sie von ihrem Zorn ab.
„Nun gut, es ist ja nicht Ihre Schuld, dass sie dazu gezwungen wurden, sich eine neue Stelle zu suchen“, überwand sie sich zu erwidern. „Ich wünsche Ihnen alles Gute!“
Angus nickte ihr zu, wandte sich um und ging hinaus.
Elsa kochte innerlich. Sie wusste nicht, auf wen sie wütender war. Auf ihren Onkel, der den Butler aus dem Haus gejagt hatte, oder auf Alfred Berlitz, der den Leibdiener seines alten Widersachers mit offenen Armen empfangen würde.
Es klopfte erneut an der Tür. Ob das Lucia, die Köchin war, die sich verabschieden wollte, weil sie eine neue Stellung bei Berlitzens in Aussicht hatte? Doch es war Isolde.
„Angus geht zu Berlitz. Wusstest du das?“, begrüßte Elsa ihre Schwester.
„Ja, er hat sich eben von mir verabschiedet.“
„Das ist das Werk von Onkel Anton“, knurrte Elsa. „Furchtbare drei Jahre werden das, bis ich endlich volljährig bin.“
„Nein, das hat nicht Onkel Anton veranlasst. Ich habe vorgeschlagen, den Dienstboten zu kündigen.“
„Allen?“ Elsa war wie vor den Kopf gestoßen.
„Ja, allen Dienstboten. Wir können die Löhne nicht mehr bezahlen.“
„Und wer soll uns die Wäsche machen? Wer soll uns bekochen? Wer soll sich um die Reparaturen im Haus kümmern? Willst du das erledigen? Oder gibt Onkel Anton das Malen auf, um unser neues Mädchen für alles zu werden?“
Elsa lachte schrill auf.
Isolde kniff die Lippen zusammen und sah sie eine Weile an. „Wir werden keine Dienstboten mehr benötigen. Das Haus muss verkauft werden“, sagte sie schließlich.
Elsas Unterkiefer klappte nach unten. „Das ist nicht dein Ernst!“, rief sie mit einer dünnen, hohen Stimme, die kurz davor stand, in ein tränenersticktes Jammern zu kippen.
„Doch“, sagte Isolde. „Es ist mein voller Ernst. Wenn wir Vaters Firma retten wollen, benötigen wir jede Mark. Vielleicht reicht der Verkaufserlös, den wir für die Villa bekommen können, aus, um die Verbindlichkeiten auszugleichen. Dann könnte das Unternehmen weitergeführt werden. So wie Papa es wollte.“
„Und wo sollen wir leben? Und wovon?“
„Wir werden zu Onkel Anton ziehen. In sein Haus in Schwabing.“
Ein Schleier legte sich vor Elsas Blickfeld. Ihr wurde schwindelig und sie musste sich an dem Beistelltischchen festhalten, um ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren.
„In diese windschiefe, alte Bruchbude?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, da bringen mich keine zehn Pferde freiwillig hin.“
„Elsa, hör mir zu“, sagte Isolde. Sie trat einen Schritt auf ihre Schwester zu und streckte die Hand aus, um sie zu berühren, doch sie wich zurück.
„Ich weiß, dass das ein furchtbarer Schlag für dich sein muss. Mich trifft es auch hart. Ich habe mich hier wohlgefühlt. Es ist mein Elternhaus ebenso wie deines. Aber es gibt keine andere Möglichkeit. Da bin ich mir mit Onkel Anton einig.“
„Warum verkaufst du nicht den Betrieb?“, rief Elsa. Die Tränen liefen ihr über beide Wangen. „Dann könnten wir die Villa behalten.“
Isolde schüttelte den Kopf. „Das geht nicht“, sagte sie leise. „Wenn die Firma wieder gut läuft, können wir vielleicht einmal das Haus zurückkaufen. Aber ohne das Unternehmen würde uns jegliche Einnahmequelle fehlen. Die Kosten des Haushalts sind ohnehin schon gewaltig. Allein die Löhne für die achtzehn Dienstboten belaufen sich auf mehrere tausend Mark im Monat.“
„Dann entlassen wir eben fünfzehn Bedienstete. Die übrigen drei werden die Arbeit auch erledigen können.“
„Das habe ich alles schon hin- und her erwogen. Es reicht nicht. Es gibt keinen anderen Weg.“
Isolde nickte ihrer Schwester zu und ging aus dem Zimmer. Elsa warf sich auf ihr Bett und schlug mit beiden Fäusten auf die Kissen, bis die Daunen durch die Luft wirbelten.
***
„Wie hat sie es aufgenommen?“, rief der Onkel. Er saß Isolde gegenüber in dem offenen Fiaker und musste seine Stimme erheben, weil die Räder des Gefährts auf dem Kopfsteinpflaster der Lindwurmstraße einen Höllenlärm veranstalteten.
„Nicht gut, fürchte ich“, erwiderte Isolde. „Aber damit hatte ich schon gerechnet.“
Der Onkel zwirbelte die Spitze seines Schnurrbarts. „Das ist eine große Verantwortung, die du tragen willst“, sagte er. „Vaterersatz für deine Schwester und Geschäftsfrau. Du bist fest entschlossen, die Firma zu retten?“
Sie zuckte mit den Achseln. „Was bleibt mir denn anderes übrig? Es war Vaters letzter Wille. So hat er es in seinem Testament verfügt.“
„Er hat aber ein ‚wenn möglich‘ hinzugefügt. Und ich bezweifle sehr, dass es überhaupt realistisch ist, die Firma zu halten“, entgegnete er und schüttelte den Kopf.
„Dann lass uns einmal abwarten, was Herr Kirmayer dazu zu sagen hat.“
„Willst du den Betrieb denn fortführen? Dass es der Wunsch deines Vaters war, ist mir bewusst. Aber – entschuldige bitte meine Offenheit – bislang hatte ich nicht den Eindruck, dass du dich jemals in der Rolle der Unternehmerin gesehen hättest?“
Isolde stieß ein freudloses Lachen aus. „Was ich will, hat noch nie jemanden interessiert, am allerwenigsten meinen Vater. Und meine Wünsche sind ohnehin nur Träumereien, wie er mir oft genug deutlich gemacht hat. Vielleicht ist Papas Tod ein Zeichen dafür, dass ich mich der Wirklichkeit stellen muss, ob ich das nun möchte oder nicht.“
Der Fiaker hielt vor einem Fabrikgebäude in Sendling. Isolde bezahlte den Kutscher und ging gemeinsam mit dem Onkel auf die Halle zu, deren Glasfenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Sonnenlicht blitzten und funkelten. Es war erst das dritte Mal, dass sie den Firmensitz besuchte, seitdem ihr Vater fünf Jahre zuvor den großväterlichen Betrieb so bedeutend vergrößert hatte, dass auch ein Umzug in neue Räumlichkeiten notwendig gewesen war.
Sie trat durch das offenstehende Tor in den Innenhof. Was ihr als erstes auffiel, war die Ruhe. Kein Hämmern, kein Rattern, kein Zischen. Nirgendwo war ein Arbeiter zu sehen. Sie betrat die Halle, in der an normalen Arbeitstagen zwei Dutzend Gesellen sämtliche Arbeitsschritte der Herstellung von Sätteln – vom Erstellen des Rahmens über die Lederbearbeitung bis hin zur Polsterung des fertigen Produkts – vollzogen. Doch die Werkbänke waren verwaist.
Isolde stieg die Treppe zum Büro im rückwärtigen Bereich der Halle empor. Als sie die Türe öffnete, sah sie Herrn Kirmayer über ein aufgeschlagenes Kontorbuch gebeugt hinter dem Schreibtisch ihres Vaters sitzen.
Er schien ihr Kommen nicht bemerkt zu haben, denn sein Blick war auf die handschriftlichen Einträge auf den dicht beschriebenen Seiten fokussiert, während er kaum hörbar vor sich hin murmelte. Isolde glaubte, so etwas wie „Katastrophe“ und „das Ende“ herauszuhören.
Sie räusperte sich. Kirmayers Kopf zuckte nach oben.
„Fräulein Hartmann. Und Herr Würth. Sie sind schon da!“
„Ganz offensichtlich“, sagte Isolde.
Sie setzte sich auf einen der beiden Stühle, die vor dem Schreibtisch standen, ihr Onkel nahm auf dem anderen Platz.
„Was haben Sie für Neuigkeiten? Wissen wir inzwischen, auf welche Summe sich die Verbindlichkeiten belaufen?“
„Mit dem heutigen Tag sind es 102.000 Mark. Die ausstehenden Löhne der Arbeiter noch nicht eingerechnet.“
Isolde schloss die Augen. „Es wird nicht reichen“, murmelte sie.
„Entschuldigen Sie?“ Kirmayer wirkte irritiert.
„Das Haus meines Vaters. Mehr als 50.000 Mark werden wir dafür nicht erwirtschaften. Ich habe diesbezüglich Erkundigungen eingezogen.“
„Damit war leider zu rechnen“, sagte der Prokurist. „Aber wenn Sie das Unternehmen verkaufen, werden die Verbindlichkeiten mit hoher Wahrscheinlichkeit gedeckt sein.“
„Und wenn ich es nicht verkaufen will?“
Kirmayer schob die Brille auf seinem Nasenrücken zurecht und sah sie entgeistert an. „Warum sollten Sie das nicht wollen?“
„Ich habe die Firma geerbt. Mit dem Auftrag, sie zu führen. Von einem Verkauf stand nichts im Testament meines Vaters.“
Der Kopf des Prokuristen wurde eine Spur röter und auf seiner Stirn erschienen kleine, funkelnde Schweißperlen. „Nun, ich dachte nicht, dass Sie wirklich die Leitung der Firma übernehmen wollen, weil …“
„Weil ich eine Frau bin?“, fragte Isolde. „Oder weil ich in geschäftlichen Dingen vollkommen unerfahren bin?“
Der Prokurist neigte den Kopf. „So wollte ich das jetzt nicht ausdrücken.“
Isolde nickte. „Ich gebe zu, dass ich keine Ahnung davon habe, wie man eine Firma dieser Größe leitet. Mein Vater hat mich nicht darauf vorbereitet und ich hatte bislang auch keinerlei Interesse daran. Ich vermute, dass er nicht damit gerechnet hatte, zu sterben, ehe ich oder meine Schwester einen Ehemann präsentieren konnten, der sich als möglicher Nachfolger eignete. Aber da er in seinem Testament ausdrücklich gewünscht hat, dass ich die Leitung der Firma übernehmen soll, um die Familientradition fortzuführen, steht es mir nicht an, mich dieser Aufgabe zu widersetzen. Und dabei rechne ich auf Ihre Unterstützung.“
„Es ehrt Sie, dass Sie sich dem Andenken Ihres Vaters verpflichtet fühlen“, sagte der Prokurist. „Und ich möchte Ihnen weder den Willen noch die Fähigkeiten absprechen, als Frau ein Unternehmen dieser Größe zu führen. Aber die Umstände sind katastrophal. Das Leder in unseren Lagern reicht allerhöchstens für fünf Sättel. Und wir haben keine Barmittel mehr, um die Löhne auszuzahlen. Deshalb habe ich die Belegschaft letzten Freitag nach Hause geschickt.“
„Dann müssen wir ein Darlehen aufnehmen“, warf der Onkel ein.
„Daran ist Herr Hartmann bereits gescheitert. Die Banken haben den Auftrag über die Sättel für die Schwere Reiterei zur Bedingung für die Einräumung eines Kredits gemacht. Es ist aus. So leid es mir tut, ich habe keine bessere Nachricht für Sie.“
Isolde sog ihre Unterlippe zwischen die Schneidezähne. Sie wechselte einen Blick mit ihrem Onkel. Da hörte sie Schritte hinter sich auf der Treppe. Sie wandte sich um und sah einen Mann durch die Tür des Büros treten. Bei seinem Anblick stellten sich ihr die Härchen auf dem Arm auf.
„Herr Berlitz“, sagte sie.
„Fräulein Hartmann“, erwiderte der Unternehmer. „Ich dachte mir schon, dass ich Sie hier antreffen würde.“
„Was wollen Sie?“, fragte Isolde. „Ich habe keine Dienstboten mehr, die sie noch abwerben könnten.“
Er lächelte und winkte ab. „Ach, das. Sehen Sie es doch so: Ich habe das Personal Ihres Vaters vor der Arbeitslosigkeit bewahrt. Da spiele ich gerne den guten Samariter. Und mit der Belegschaft Ihrer Firma werde ich es genauso handhaben.“
Isolde kniff die Augen zusammen. „Sie wollen die Arbeiter meines Vaters einstellen?“
„Nicht nur das. Ich möchte das Unternehmen erhalten. Mit Mann und Maus.“
„Und wie wollen Sie das anstellen?“
Berlitz schmunzelte. „Ich bin gekommen, um Ihnen ein Angebot zu unterbreiten.“
„Sie wollen die Firma kaufen und Ihrem Unternehmen angliedern?“
„Nein, ich möchte, dass der Firmenname und der Titel des bayerischen Hofsattlers erhalten bleiben.“
„Und wie wollen Sie das anstellen?“
„Ich möchte, dass Sie die Firma leiten. Zumindest dem Namen nach.“
Isoldes Augen weiteten sich. „Das ist nicht Ihr Ernst!“
Er lachte. „Doch, das ist mein voller Ernst.“
„Und was verlangen Sie im Gegenzug? Sie werden mir sicher nicht aus Gutmütigkeit die erforderlichen Geldmittel zuschießen.“
„Da haben Sie recht. Ich bin immer noch ein Geschäftsmann. Aber seitdem ich Männer von Adel zu meinen Kunden zähle, habe ich so einiges darüber gelernt, wie derartige Angelegenheiten in höheren Kreisen geregelt werden.“
„Ich verstehe nicht …“
„Das merke ich“, sagte Berlitz. „Ich biete Ihnen Folgendes an. In drei Tagen wird mein Sohn bei Ihnen vorsprechen und in aller Form um Ihre Hand anhalten. Sie werden den Antrag annehmen. Als Mitgift bringen Sie den Betrieb und die Villa Ihres Vaters mit in die Ehe. Mein Sohn ist damit einverstanden, gemeinsam mit Ihnen in Ihrem Elternhaus zu leben. Ich werde die Schulden der Firma tilgen und Sie werden die Geschäftsführerin sein. Geleitet wird das Unternehmen jedoch von einem Prokuristen, den ich ernennen werden.“
Isolde spürte, wie ihr Mund austrocknete. Sie war unfähig, ein Wort zu erwidern, und kämpfte noch damit, zu begreifen, was Berlitz ihr da eben vorgeschlagen hatte. Er setzte seinen Hut auf und nickte ihr zu.
„Das ist ein vernünftiges Angebot. Überlegen Sie es sich. Ich und mein Sohn erwarten Ihre Antwort am Freitag.“
Freitag, 25. Mai 1895
„Ich weiß nicht, was du hast“, rief Elsa und schlug mit der Handfläche so fest auf das Tischchen, dass das Porzellanservice klirrte. „Das ist eine großartige Gelegenheit. Wir behalten die Firma und die Villa. Und du heiratest in die Gesellschaft ein. Gut, er ist nicht von Adel und kein Soldat, aber er hat Geld. Viel Geld. Er kann dir alles bieten, was du dir nur wünschst.“
„Nein, das kann er nicht“, erwiderte Isolde. Sie saß ihrer Schwester mit verschränkten Armen gegenüber in einem der ledergepolsterten Sessel, die ihr Vater für den Rauchsalon seiner Villa anfertigen hatte lassen.
Elsa rollte mit den Augen. Nicht das schon wieder! „Du willst doch reisen und die Welt sehen. Mit einem Mann an deiner Seite ist das viel einfacher.“
Isolde schnaubte. „Ich will aber keinen Mann an meiner Seite. Ich brauche niemanden. Ich bin mir genug. Wenn ich mir ausmale, wie ich Reisen in ferne Länder unternehme, bin ich alleine unterwegs. Zudem reizt es mich nicht, an die Riviera zu fahren oder in ein französisches Seebad oder wohin auch immer sich die feine Gesellschaft zur Sommerfrische hinbegibt. Ich will nach Asien, nach Afrika. Und dass dieser Krämerjüngling mich dorthin begleiten will, wage ich zu bezweifeln.“
„Du kennst ihn doch gar nicht.“
„Ich will ihn auch nicht kennenlernen.“
Elsa schluckte. Das konnte nicht wahr sein. Als sie vom Vorschlag des alten Berlitz erfahren hatte, hatte sie einen Freudensprung getan. Das war die Rettung in letzter Sekunde. Sie und Isolde würden ihre gesellschaftliche Stellung behalten. Und vor allem würden sie nicht in die kalte und verdreckte Künstlerbude des Onkels ziehen müssen. Doch nun drohte dieses rettende Licht zu erlöschen. Sie konnte Isolde nicht verstehen. „Aber warum denn? Er wird nur dein Ehemann. Selbst wenn ihr euch nicht liebt, haben wir alle einen Nutzen davon, dass ihr heiratet.“
Isolde sah sie finster an. „Ich bin mir sicher, dass du einen Nutzen darin siehst. Du wirst weiter in der Villa leben, Bälle und Empfänge besuchen und dir irgendwann einen feschen Offizier angeln.“
„Genau.“
„Aber welchen Nutzen sollte ich von diesem Arrangement haben? Kannst du mir das bitte erklären?“, fragte Isolde mit leiser Stimme.
Elsa zog ihre dichten Augenbrauen zusammen. „Das liegt doch auf der Hand. Du brauchst dich nicht mehr darum zu sorgen, ob wir genügend Geld haben, um Dienstboten oder Nahrung oder was weiß ich zu bezahlen. Du kannst den ganzen Tag Bücher lesen und jeden Sommer eine große Reise mit deinem Mann unternehmen.“
„So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt.“
„Ich habe mir auch nicht vorgestellt, dass Papa stirbt, bevor ich heirate“, sagte Elsa.
„Ich hatte immer gehofft, dass du einen Mann findest, mit dem du die Firma hättest weiterführen können.“
Elsa riss die Augen auf. „Ich? Die Firma weiterführen?“
„Du hast das Talent der Hartmanns geerbt. Weißt du noch, wie du als kleines Mädchen stundenlang dem Großvater in der Werkstatt zugeschaut hast, wenn er das Leder bearbeitet hat? Und wie stolz du warst, als er dir kleine Stücke vorbereitet hat, an denen du dich selbst erproben konntest? Du hast die Gabe, eine Sattlerin zu sein. Vater wusste schon, warum er dir die Werkzeuge und die Werkstatt vererbt hat. Ich kann meine Hände nur zum Schreiben nutzen. Auch das wusste er. Vielleicht hat er gehofft, dass ich meinen Wissensdrang auf wirtschaftliche Zusammenhänge richten und mir genügend Kenntnisse aneignen würde, um die Firma leiten zu können. Aber da hat er sich geirrt. Ich kann das nicht und ich will das nicht.“
„Das musst du auch nicht“, sagte Elsa. „So wie ich das Angebot von Berlitz verstanden habe, wird ein Prokurist das Unternehmen für dich führen.“
Isolde lachte, aber es klang freudlos in Elsas Ohren. „Natürlich. Er macht mich zu einer Marionette. Wenn ich seinen Sohn heirate, werde ich immer von ihm abhängig sein.“
„Aber das ist unser Los. Wir sind nun einmal Frauen“, erwiderte Elsa seufzend.
Isolde schnaubte. „Nein, ich weigere mich, das als unser Schicksal zu sehen.“
„Ich finde das nicht so schlimm. Ich verstehe so wenig von den meisten Angelegenheiten des Lebens, dass ich froh bin, wenn ein Mann mir das abnimmt. Dann habe ich schon mehr Zeit, mich den angenehmen Dingen zu widmen.“
Isolde schüttelte den Kopf. „Dann solltest vielleicht du Berlitz junior heiraten.“
„Er wird dir einen Heiratsantrag machen, nicht mir.“
„Ja, weil ich die Firma geerbt habe. Gib es zu, du wärst auch nicht erfreut, wenn du einen Krämersohn heiraten müsstest. Dich zieht es in den Adel.“
Elsas spürte, wie ihr Gesicht sich rötete. Sie sah zu Boden.
„Es ist nichts Verwerfliches daran, eine gute Partie anzustreben“, sagte sie.
„Und es ist nichts Verwerfliches daran, eine scheinbar gute Partie auszuschlagen.“
Elsa riss den Kopf hoch und starrte Isolde an. „Du willst den Antrag ablehnen?“
„Ich weiß es nicht. Ich will mir anhören, was der junge Berlitz mir zu sagen hat.“
„Aber es gibt keinen anderen Weg!“
„Doch, den gibt es.“
„Was für einen?“, rief Elsa.
Isolde atmete tief durch. „Wir verkaufen die Firma und die Villa und ziehen zu Onkel Max. Ich besuche ein Lehrerinnenseminar und suche mir danach eine Stelle als Gouvernante oder Hauslehrerin. Damit und mit den 10.000 Mark meiner Mitgift, die im nächsten April zu meinen 21. Geburtstag fällig werden, müsste ich genügend verdienen, um dich bis zu deiner Volljährigkeit unterstützen zu können.“
Elsa schnappte nach Luft. „Das ist nicht dein Ernst!“
„Doch. Aber wie gesagt, ich will mir erst einmal anhören, was der junge Berlitz mir zu sagen hat. Entschieden ist noch nichts.“
„Aber …“
Isolde hob die Hand und Elsa verstummte. „Ich habe gehört, was du wünschst, und ich werde es in meine Überlegungen miteinbeziehen. Und jetzt sollte ich mich umziehen, schließlich erhalte ich in einer Stunde einen Antrag.“
Sie erhob sich und verließ den Salon. Elsa sah ihr nach. Ihr Herz schlug rasch in ihrer Brust. Sie schloss die Augen und begann, darum zu beten, dass Isolde die richtige Entscheidung treffen würde.
***
Isolde stand im Salon, die Hände vor dem Körper ineinander verschränkt. Sie trug ein einfaches, schwarzes Kleid. Wahrscheinlich wäre es der Gelegenheit angemessener gewesen, wenn sie feineren Stoffen und aufwendigeren Schnitten den Vorzug gegeben hätte, aber das war ihr gleichgültig. Sie trauerte um ihren Vater und wenn sie schon dazu gezwungen werden sollte, sich den Antrag eines Mannes anzuhören, mit dem sie noch nie zuvor gesprochen hatte, so nahm sie sich wenigstens die Freiheit heraus, sich zu kleiden, wie es ihr beliebte.
Hinter sich hörte sie die tiefen, regelmäßigen Atemzüge ihres Onkels und ein beständiges Tapsen und Knarren, das wahrscheinlich von Elsa herrührte, die vor Aufregung nicht still stehen konnte.
Durch die geöffnete Haustür trat ein junger Mann in einem Frack. Er sah ein wenig aus wie einer dieser seltsamen Vögel, die sie auf Bildern einer Ausstellung zu einer Forschungsreise in die Antarktis gesehen hatte. Berlitz junior – sie kannte nicht einmal seinen Vornamen – trug einen glänzenden Zylinder, der seine Gestalt imposanter erscheinen ließ, als sie war. Er ging langsam auf sie zu, ein nervöses Lächeln auf den vollen Lippen unter dem Schnurrbärtchen.
Nach ihm trat sein Vater ein. Er grinste breit und schlug seinem Sohn auf die Schulter. Dieser zuckte zusammen.
„Guten Tag“, sagte Isolde. „Ich begrüße Sie in unserem Haus.“
Berlitz senior legte den Kopf schief. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite.“
Nun schaltete sich wie verabredet der Onkel ein. „Wir haben einen Nachmittagstee im Garten vorgesehen, die beiden jungen Leute können sich vielleicht in der Laube ein wenig besser kennenlernen. Von der Terrasse ist diese gut einzusehen.“
Der alte Berlitz lachte. „Ich hatte nicht befürchtet, dass mein Filius gleich über Ihre Nichte herfallen würde, aber gut, die Regeln der Schicklichkeit müssen beachtet werden.“
Isolde spürte, wie sich ihr Gesicht zu röten begann. Sie wandte sich um und ging in Richtung Terrasse voran. Dort hatte sie mit Elsa den ganzen Vormittag über aus dem bestehenden Geschirr und dem feinen Damasttischtuch eine vorzeigbare Tafel für den Tee vorbereitet. Die beiden silbernen Kannen standen auf dampfenden Samowars und der Onkel hatte beim Konditor eine Schokoladentorte anfertigen lassen, die in der Mitte des Tischs thronte.
Isolde hätte liebend gerne Platz genommen, Tee getrunken und Kuchen gegessen, nur um sich nicht dem aussetzen zu müssen, was ihr bevorstand. Doch als sie die Terrasse erreicht hatte, sah sie an den erwartungsvollen Blicken des alten Berlitz und ihrer Schwester, dass sie keinen weiteren Aufschub gewährt bekommen würde.
Sie atmete tief durch und wandte sich an Berlitz junior. „Wollen wir ein wenig durch den Garten spazieren?“
Er nickte und reichte ihr den Arm. Sie legte ihre Hand darauf und gemeinsam schritten sie in Richtung des ersten Rondells davon.
„Ich will das hier genauso wenig wie Sie“, sagte er, während sie durch den Rosenbogen traten.
Isolde hatte den Impuls, innezuhalten, aber da ihr Begleiter weiter voranschritt und ihre Hand fest auf seinem Arm lag, zog er sie mit.
„Wie bitte?“, fragte sie.
„Mir ist bewusst, dass mein Vater Sie in diese Ehe zwingt, um sich Ihre Firma einzuverleiben.“
„Und Sie machen sich bei diesem Spiel zu seinem Komplizen“, sagte Isolde, die ein wenig von ihrer Fassung zurückgewonnen hatte.
Er stieß zischend die Luft aus und als sich dabei sein Mund öffnete, sah sie, dass zwischen den oberen Schneidezähnen eine kleine Lücke klaffte. „Wenn Sie mit meinem Vater aufgewachsen wären, wüssten Sie, dass es keinen Weg gibt, sich ihm zu widersetzen. Wenn er einen Plan gefasst hat, wird dieser umgesetzt. Koste es, was es wolle.“
„Und was wollen Sie? Was ist Ihr Plan?“
Nun hielt er inne und dies stoppte auch die noch immer an seinem Arm klebende Isolde.
„Ich? Ich möchte Sattlermeister werden. Die Arbeit mit Leder liegt mir im Blut. Am liebsten würde ich in einer kleinen Werkstatt Sättel mit der Hand anfertigen, bis mein Augenlicht erlischt und meine Finger verkrüppeln.“
Isolde sah ihn mit plötzlichem Interesse an. Seine zuvor bleichen Wangen hatten sich gerötet.
„Und Sie? Was wollen Sie?“, fragte er.
„Ich will studieren“, sagte sie. „Und dann will ich forschend die Welt bereisen.“
„Was wollen Sie studieren?“
„Am liebsten alles.“
Er lachte und dieses kleine Geräusch der Freude ließ auch Isolde lächeln.
„Ich kann mir Sie schwerlich als Juristin vorstellen“, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, mich reizen die Naturwissenschaften. Die Biologie, die Physik. Vielleicht auch die Medizin. Ich will wissen, wie das Uhrwerk aufgebaut ist, das die Welt am Laufen hält. Und dieses Wissen will ich hinaustragen, will in fernen Ländern Pflanzen sammeln und Tiere dort beobachten, wo sie leben.“
Er nickte. „Das klingt gut. Besser, als ein Lebtag als Marionette meines Vaters zu versauern.“
„Können wir nicht einfach sagen, dass wir nicht zusammenpassen?“, fragte sie. „Sie wollen mich nicht heiraten und ich will genauso wenig Ihre Frau werden.“
„Mein Vater würde mir das Leben zur Hölle machen. Und Ihnen auch. Er wird versuchen, Sie zu vernichten. Sie und Ihre Schwester. Er ist seit Jahren neidisch auf den Erfolg Ihres Vaters. Immer war er davon überzeugt, dass ihm der Titel eines Hofsattlers viel eher gebühre. Nun ist seine Gelegenheit gekommen und die wird er ergreifen, koste es, was es wolle.“
„Und was machen wir nun?“
Er zuckte mit den Achseln. „Ich kann Ihnen anbieten, dass ich Ihnen in unserer Ehe alle Freiheiten lasse, die sie brauchen. Gut – mit dem Studieren wird es schwierig. Dass das Frauenstudium erlaubt wird, ist nicht zu erwarten. Und Sie können nicht in die Schweiz ziehen, um dort eine Universität zu besuchen. Aber wir können reisen. Gerne auch einmal nach Ägypten oder nach Nordamerika. Ich werde Sie zu nichts zwingen, was Sie nicht wollen. Im Gegenzug erwarte ich, dass Sie das mit mir genauso handhaben.“
„Meinen Sie das ernst?“, fragte sie ihn zögernd.
„Ja, ich verspreche es Ihnen.“ Er griff nach ihrer Hand und sah Sie direkt an. In seinen braunen Augen lag eine Wärme, die gegen Isoldes Willen Sympathie in ihr weckte. „Fräulein Hartmann. Ich bitte Sie, mir die Ehre zu erweisen, meine Frau zu werden.“
Sedantag, 1. September 1895