Auferstehung - Lew Tolstoi - E-Book

Auferstehung E-Book

Lew Tolstoi

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Beschreibung

Die Handlung thematisiert die Läuterung der Protagonisten durch moralisches Handeln. Ein adliger Gutsherr, als Geschworener bei Gericht, erkennt in einer angeklagten Prostituierten ein von ihm verführtes Mädchen wieder, verführt in einer Osternacht, dem Fest der Auferstehung Christi. Er fühlt sich mitschuldig an ihrem Schicksal und bemüht sich um eine Urteilsrevision. Er erfährt die ganze Unvollkommenheit des damaligen Rechtssystems und folgt ihr schließlich in Zwangsarbeit und Verbannung. Eine Ehe mit ihm schlägt sie aus, obwohl oder eher weil sie ihn liebt. Sie hat vor, einen anderen Häftling zu heiraten.

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Seitenzahl: 874

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Auferstehung

Leo Tolstoi 

Inhaltsverzeichnis
IMPRESSUM
Erster Band.
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Elftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.
Sechzehntes Kapitel.
Siebzehntes Kapitel.
Achtzehntes Kapitel.
Neunzehntes Kapitel.
Zwanzigstes Kapitel.
Einundzwanzigstes Kapitel.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Dreiundzwanzigstes Kapitel,
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Achtundzwanzigstes Kapitel.
Neunundzwanzigstes Kapitel.
Dreißigstes Kapitel.
Einunddreißigstes Kapitel.
Zweiunddreißigstes Kapitel.
Dreiunddreißigstes Kapitel.
Vierunddreißigstes Kapitel.
Fünfunddreißigstes Kapitel.
Sechsunddreißigstes Kapitel.
Siebenunddreißigstes Kapitel.
Achtunddreißigstes Kapitel.
Neununddreißigstes Kapitel.
Vierzigstes Kapitel.
Einundvierzigstes Kapitel.
Zweiundvierzigstes Kapitel.
Dreiundvierzigstes Kapitel.
Vierundvierzigstes Kapitel.
Fünfundvierzigstes Kapitel.
Sechsundvierzigstes Kapitel.
Siebenundvierzigstes Kapitel.
Achtundvierzigstes Kapitel.
Neunundvierzigstes Kapitel.
Fünfzigstes Kapitel.
Einundfünfzigstes Kapitel.
Zweiundfünfzigstes Kapitel.
Dreiundfünfzigstes Kapitel.
Vierundfünfzigstes Kapitel.
Fünfundfünfzigstes Kapitel.
Sechsundfünfzigstes Kapitel.
Siebenundfünfzigstes Kapitel.
Achtundfünfzigstes Kapitel.
Neunundfünfzigstes Kapitel.
Zweiter Band
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Elftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.
Sechzehntes Kapitel.
Siebzehntes Kapitel.
Achtzehntes Kapitel.
Neunzehntes Kapitel.
Zwanzigstes Kapitel.
Einundzwanzigstes Kapitel.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Achtundzwanzigstes Kapitel.
Neunundzwanzigstes Kapitel.
Dreißigstes Kapitel.
Einunddreißigstes Kapitel.
Zweiunddreißigstes Kapitel.
Dreiunddreißigstes Kapitel.
Vierunddreißigstes Kapitel.
Fünfunddreißigstes Kapitel.
Sechsunddreißigstes Kapitel.
Siebenunddreißigstes Kapitel.
Achtunddreißigstes Kapitel.
Neununddreißigstes Kapitel.
Vierzigstes Kapitel.
Einundvierzigstes Kapitel.
Zweiundvierzigstes Kapitel.
Dritter Band.
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Elftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.
Sechzehntes Kapitel.
Siebzehntes Kapitel.
Achtzehntes Kapitel.
Neunzehntes Kapitel.
Zwanzigstes Kapitel.
Einundzwanzigstes Kapitel.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Achtundzwanzigstes Kapitel.
Zwei Fragmente zur »Auferstehung«
I. Die Exekution.
II. In den Kasematten.
In den Kasematten.
IMPRESSUM

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(c) mehrbuch

 

Erster Band.

Dieser neue Roman Tolstois ist der schlechteste, den der berühmte Autor geschrieben hat, — insofern ein Roman uns leichte, leere Unterhaltung bieten soll. Und er ist der beste Roman Tolstois, einer der besten Romane, die die Welt überhaupt gesehen hat, — insofern der Roman, neben dem Theater, das modernste und erhabenste Mittel der Kunst ist, auf die Menschheit zu wirken, sie zu erziehen, zu veredeln. Wir sagen nicht zu viel, und die Zukunft wird uns Recht geben, wenn wir behaupten, daß nur sehr wenige Romane der Weltliteratur von so großem Einfluß auf ihre Zeit gewesen sind, wie dieser es für die seinige werden wird.

Das Lügengespinnst, daß das moderne soziale Leben umwoben, zerreißt der große Philosoph Tolstoi mit starker, rücksichtsloser Hand, um dem noch größeren Künstler Tolstoi Raum zum Aufbau einer neuen Weltordnung zu geben, die aus den Trümmern der alten in hinreißender, fast greifbarer Schönheit ersteht.

In der »Auferstehung« ist Tolstoi dem in seinem letzten Werke (Was ist Kunst?) aufgestellten Prinzip, daß wahre Kunst auf alle wirken müsse, treu geblieben. In der That wird dieser Roman alle gleich stark ergreifen, den Greis und die Jungfrau, den Mann aus dem Volk und den von den »Zehntausend«, — freilich in ganz verschiedener Weise. Aber alle werden sie dem, allein durch die Liebe bezwingenden Worte des Dichters unterthan werden, und niemand wird das Buch aus der Hand legen können, ohne daß es für sein Leben die Bedeutung einer Epoche gewonnen hätte.

In Bezug auf den Dichter selbst darf man wohl sagen, daß »Anna Karenina« und »Auferstehung« die beiden Grenzpunkte in seiner Entwickelung, in seinem eigenen Leben geworden sind. Darum wird auch der, den der gleißende Zauber des ersten Buches bestrickt hat, unentrinnbar der qualvoll-süßen Erkenntnis des letzten verfallen.

Die Übersetzung geschieht nach der zensurfreien, außer halb Rußlands erscheinenden Ausgabe und ist daher unverkürzt. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, die längeren Perioden des russischen Originals in kürzere, leicht verständliche Sätze aufzulösen und somit ein gutes, lesbares Deutsch zu bieten.

 

 

 

Matthäus 18,21. Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündiget, vergeben? Ist es genug siebenmal?

 

22. Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzig siebenmal.

 

Matthäus 7,3. Was stehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?

 

Johannes 8,7 . . . Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.

 

Lucas 6,40. Der Jünger ist nicht über seinem Meister; wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen.

Erstes Kapitel

Wohl gaben sich die zu Hunderttausenden zusammengepferchten Menschen auch jetzt die erdenklichste Mühe, die Erde zu verunstalten. Sie pflasterten sie mit Steinen, damit nichts auf ihr wüchse, und vernichteten jeden Grashalm, der sich dennoch hervorwagte. Sie verpesteten die Luft mit Steinkohlen- und Petroleumqualm. Sie verschnitten die Bäume und verscheuchten alle Tiere und Vögel. Aber der Frühling blieb Frühling sogar in der Stadt. Die Sonne strahlte und wärmte. Das Gras belebte sich und begann nicht nur auf den Rasenflächen der Boulevards, sondern auch zwischen den Steinen zu grünen, überall da, wo es nicht ausgerottet wurde. Birken, Pappeln und Faulbeerbäume entfalteten ihre klebrigen, duftenden Blättchen, die Linden schwellten ihre berstenden Knospen. Die Dohlen, die Sperlinge und Tauben gingen lenzesfreudig ans Nesterbauen. An den Mauern summten sonnendurchwärmt die Bienen und Fliegen. Pflanzen und Vögel und Insekten und Kinder jubelten in glücklichem Einklang.

Nur die Menschen, die großen, erwachsenen Menschen hörten nicht auf, sich selbst und einander zu hintergehen, zu quälen. Ihnen war nicht dieser Frühlingsmorgen das Heiligste und Wesentlichste, nicht die zum Wohle Aller offenbarte Schönheit von Gottes Natur — eine Schönheit, die nur zum Frieden, zu Einheit und Liebe mahnte, nein, den Menschen erschien das, was sie sich selbst erdacht und erschaffen, um über einander herrschen zu können, viel heiliger und wesentlicher.

So hielt man auch im Bureau des Gouvernementgefängnisses nicht das für heilig und wesentlich, daß alle Menschen und Tiere in Frühlingsfreudigkeit vergingen, sondern daß am Tage vorher ein mit Nummer, Siegel und Titelkopf versehenes Schreiben eingegangen war, demzufolge am heutigen Tage, am 28. April um neun Uhr morgens, drei in Untersuchungshaft befindliche Arrestanten — zwei Frauen und ein Mann, dem Gerichtshof vorgeführt werden sollten, und zwar die eine der beiden Frauen, als besonders schwere Verbrecherin, apart von den anderen. Und nun trat, auf Grund dieser Vorschrift, am 28. April um acht Uhr morgens, in den stinkenden Korridor der Frauenabteilung der Oberaufseher ein. Hinter ihm her schritt eine Frau mit abgehärmtem Gesicht und grauem, sich kräuselnden Haar, die eine Jacke mit betreßten Ärmeln anhatte und um die Taille einen blaugekanteten Gurt. Das war die Aufseherin.

»Sie wollen die Maslowa?« fragte sie, mit dem wachthabenden Aufseher an die Thür einer der am Korridor liegenden Zellen herantretend.

Der Aufseher öffnete rasselnd das Schloß und rief, indem er die Thür der Zelle, aus welcher ihm eine noch übelriechendere Luft entgegenflutete, aufsperrte:

»Maslowa, vor Gericht!« Dann machte er die Thür wieder zu und wartete.

Sogar auf dem Gefängnishof spürte man den frischen, belebenden Odem der Felder, den der Wind in die Stadt geweht hatte. Aber im Korridor war eine deprimierende, typhöse Luft, von Teer und Fäulnis gesättigt, die jeden Neuankommenden sofort mit Betrübnis und Trauer erfüllte. Auch die Aufseherin, die eben vom Hofe kam, spürte dieses, obgleich sie an schlechte Luft gewöhnt war. Sie fühlte sich plötzlich, als sie in den Korridor ein trat, müde und schläfrig.

In der Zelle hörte man Hasten und Gehen, weibliche Stimmen und das Auftreten nackter Füße.

»Nun, schneller, Maslowa, rühr’ dich!« — schrie der Oberaufseher zur Thür hinein.

Zwei Minuten später trat aus der Zelle ein junges, mittelgroßes Weib, mit sehr vollem Busen, in einem grauen, über eine weiße Nachtjacke und weißen Unterrock angezogenen Schlafrock. Sie drehte sich rasch um und stellte sich neben den Aufseher.

An den Füßen hatte sie leinene Strümpfe und darüber die Gefängnispantoffeln, um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch, unter welchem sie, offen bar nicht ohne Absicht, einige Löckchen des krausen, schwarzen Haares hervorscheinen ließ. Das ganze Gesicht des jungen Weibes zeigte jene besondere Blässe, welche Leuten, die sehr lange nicht an der frischen Luft waren, eigen ist, und die an die farblosen Kellerschößlinge der Kartoffeln erinnert. Ebenso blaß waren auch die zwar nicht großen, aber etwas breiten Hände und der weiße, volle Hals, der unter dem weiten Schlafrockkragen hervorsah. Bei der matten Blässe des Gesichts fielen die tief schwarzen, glänzenden, von etwas geschwollenen Lidern umrandeten Augen besonders auf. Sie waren sehr lebhaft und das eine schielte ein wenig. Das junge Weib hielt sich aufrecht, indem sie die volle Brust herausdrückte. Mit einwenig zurückgeworfenem Kopf sah sie dem Aufseher gerade in die Augen und blieb stehen, bereit, alles, was man von ihr verlangen würde, zu erfüllen. Der Aufseher wollte bereits die Thür verschließen, als sich aus der Zelle das bleiche, strenge und faltige Gesicht einer barhäuptigen, alten Frau herausstreckte. Die Alte wollte der Maslowa etwas sagen, aber der Aufseher warf ihr die Thür vor der Nase zu und der Kopf verschwand. In der Zelle erscholl das Gelächter einer Frauenstimme. Auch die Maslowa lächelte und wandte sich zu dem kleinen, in der Thür befindlichem Gitterfenster. Die Alte drückte sich von innen an das Fensterchen und sagte mit heiserer Stimme:

»Vor allem: red’ nicht zuviel. Und bleib bei dem Einen und damit basta.«

»Ach, wenn’s nur ein Ende nähme, schlimmer kann’s nicht werden«, sagte die Maslowa.

»Natürlich, eins und nicht zwei«, sagte der Oberaufseher, überzeugt von der Trefflichkeit seines Vorgesetztenwitzes. — »Na, marsch, mir nach!«

Das durch das Fensterchen blitzende Auge der Alten verschwand und die Maslowa folgte in der Mitte des Korridors mit kleinen Schritten dem Oberaufseher. Sie stiegen eine steinerne Treppe hinunter und gingen an den Zellen der Männerabteilung vorüber, in der es noch viel übler roch und lärmender war. Hinter all den Guckfensterchen heraus schauten ihnen Augen nach. Als sie in das Bureau traten, standen dort schon zwei Eskorte Soldaten mit Gewehren. Ein Schreiber gab einem der Soldaten das von Tabakrauch durchdrungene Begleitschreiben und sagte, auf die Gefangene weisend: »Nimm sie in Empfang.« Der Soldat, ein Bauer aus dem Gouvernement Nishnij-Nowgorod, mit einem roten, pockennarbigen Gesicht, steckte das Papier hinter den Ärmelaufschlag und blinzelte, die Arrestantin anlächelnd, seinem Kameraden, einem Tschuwaschen mit starken Backenknochen, zu. Die Soldaten gingen mit der Gefangenen die Treppe hinunter und schritten dem Haupthaus gang zu.

In dem Hauptthor öffnete sich ein Pförtchen. Die Soldaten und die Gefangene traten über die Schwelle des Pförtchens in den Hof, verließen das Areal des Gefängnisses und marschierten durch die Stadt, in der Mitte der gepflasterten Straßen.

Droschkenkutscher, Krämer, Köchinnen, Arbeiter und Beamte blieben stehen und betrachteten neugierig die Gefangene. Einige schüttelten die Köpfe und dachten: »Dazu also führt ein schlechter Lebenswandel, ein anderer, als der unserige.« Die Kinder schauten voll Entsetzen auf die Räuberin und beruhigten sich nur damit, daß hinter ihr her die Soldaten gingen und sie jetzt niemand mehr was anthun könnte. Ein Bauer vom Lande, der seine Kohlen verkauft hatte und eben aus einem Theehaus herauskam, trat auf sie zu, bekreuzigte sich und reichte ihr einen Kopeken. Die Gefangene errötete, neigte den Kopf und murmelte etwas.

Sie fühlte die auf sie gerichteten Blicke und suchte unbemerkt, ohne den Kopf zu wenden, zu denen, die sie ansahen, hinüberzuschielen. Das Aufsehen, das sie erregte, freute sie. Auch an der, im Vergleich zu der Gefängnisatmosphäre, reinen Frühlingsluft empfand sie Freude, aber das Auftreten auf die Steine mit den des Gehens entwöhnten, mit plumpen Pantoffeln beschuhten Füßen that ihr weh und sie sah auf den Weg und bemühte sich, vorsichtig aufzutreten. Als sie an einer Mehlhandlung vorbeiging, vor welcher Tauben sorglos mit ihren wiegenden Schrittchen umherspazierten, streifte die Gefangene beinahe mit dem Fuß eine blaugraue Taube. Der Vogel flatterte auf, flog mit bebendem Flügelschlag hart am Ohre der Arrestantin vorbei und überschauerte sie mit Wind. Sie lächelte. Dann aber kam ihr ihre jetzige Lage in den Sinn und sie seufzte tief auf.

Zweites Kapitel

Die Geschichte der Arrestantin Maslowa war eine sehr gewöhnliche Geschichte. Die Maslowa war die Tochter einer unverheirateten Viehmagd, die mit ihrer Mutter auf dem Lande bei zwei Gutsbesitzerinnen, zwei Fräulein, lebte. Dieses unverehelichte Weib kam jedes Jahr nieder, das Kind wurde getauft, dann aber, wie das so häufig auf dem Lande zu geschehen pflegt, nährte die Mutter das unerwünschte, lästige und an der Arbeit behindernde Kind nicht mehr genügend, sodaß es bald vor Hunger zu sterben pflegte.

So starben fünf Kinder. Sie wurden alle getauft, nicht mehr genährt und starben. Das sechste Kind, das sie von einem vagabundierenden Zigeuner hatte, war ein Mädchen, und sein Schicksal wäre wohl dasselbe gewesen, wie das seiner Geschwister. Aber es geschah, daß das eine der alten Fräulein in den Viehhof kam, um den Viehmägden, wegen der nach der Kuh riechenden Sahne einen Verweis zu erteilen. Auf dem Viehhofe lag gerade die Wöchnerin mit dem hübschen, gesunden Kinde. Das alte Fräulein äußerte ihren Unwillen sowohl bezüglich der Sahne, als auch darüber, daß man eine Wöchnerin in den Viehhof gelassen hatte, und sie wollte schon gehen, als sie das Kind erblickte und von einer momentanen Rührung erfaßt, sich erbot, das Kind zur Taufe zu halten. Das Fräulein hielt dann auch das Kind zur Taufe und gab später, aus Mitleid für ihr Patenkind, der Mutter Milch und Geld. Und so blieb das Mädchen am Leben und wurde von den alten Fräulein mit Recht die »Gerettete« genannt.

Das Kind war drei Jahr alt, als die Mutter erkrankte und starb. Seiner Großmutter, der Viehmagd, war es zur Last, und so nahmen es die alten Fräulein zu sich. Das schwarzäugige Mädchen wurde ungewöhnlich lebhaft und nett, und die alten Fräulein hatten ihre Freude an ihm.

Von den beiden Fräulein hatte die jüngere und gutmütigere, Sofja Iwanowna, das Kind zur Taufe gehalten, es später geputzt und lesen gelehrt, um aus ihm eine Ziehtochter zu machen. Das ältere, strengere Fräulein, Marja Iwanowna, sagte, daß man aus dem Mädchen eine Arbeiterin, ein tüchtiges Stubenmädchen machen müsse, und war daher dem Mädchen gegenüber anspruchsvoll, strafte und schlug es sogar zuweilen bei übler Laune. So wuchs denn das Kind unter diesen beiden Einflüssen halb als Stubenmädchen, halb als Ziehkind heran. Es wurde daher auch weder Katharine, noch Käthchen genannt, sondern mit einem mittleren Namen — Käthe oder Katjuscha. Katjuscha nähte, räumte die Zimmer auf, putzte mit Kreide die Metallverkleidungen der Heiligenbilder, röstete, mahlte und servierte den Kaffee, besorgte die kleine Wäsche, und saß bis weilen mit den Fräulein und las ihnen vor.

Es fehlte ihr nicht an Freiern, aber sie wollte keinen nehmen. Sie fühlte, daß das Zusammen leben mit jenen Arbeitsleuten, die bei ihr anhielten, für sie, die durch die Süße des herrschaftlichen Lebens, bereits verwöhnt war, zu schwer fallen würde.

So lebte sie bis zum sechzehnten Jahr. Als sie aber sechzehn Jahr alt geworden war, kam zu den alten Fräulein ihr Neffe, ein reicher Fürst, der Student war, auf Besuch. Und Katjuscha verliebte sich in ihn, ohne es zu wagen, sich selbst, geschweige denn ihm dieses Geständnis zu machen.

Zwei Jahre später besuchte derselbe Neffe seine Tanten auf der Durchreise zum Kriegsschauplatz und blieb vier Tage bei ihnen. Er verführte und betrog Katjuscha, steckte ihr dann am letzten Tage einen Hundertrubelschein zu und reiste weiter. Fünf Monate nach seiner Abfahrt wußte sie genau, daß sie in anderen Umständen sei.

Von der Zeit an ward ihr alles gleichgültig, und sie dachte nur daran, wie sie der Schande, die ihr bevorstand, entgehen könnte. Sie bediente die Fräulein widerwillig und schlecht, und einmal — sie wußte selbst nicht, wie es gekommen war — platzte sie los, sagte den alten Fräulein Unverschämtheiten, die sie selbst später bereute, und bat um ihre Entlassung.

Und die Fräulein, die sehr unzufrieden mit ihr geworden, entließen sie. Von ihnen kam sie als Stubenmädchen zu einem Landpolizeimeister, aber konnte dort nur drei Monate bleiben, da der Polizeimeister, ein Mann von bereits 5O Jahren, ihr nachzustellen begann. Einmal, als er besonders unternehmungslustig war, brauste sie auf, nannte ihn einen Narren und alten Teufel und stieß ihn so vor die Brust, daß er hinfiel. Sie wurde wegen Grobheit entlassen. Eine neue Stellung anzunehmen hatte keinen Zweck, da sie bald niederkommen mußte, und so mietete sie sich bei einer Dorfhebamme ein, die nebenbei einen Branntweinhandel betrieb. Die Geburt war eine leichte. Aber die Hebamme, die vorher im Dorf bei einer kranken Wöchnerin gewesen war, infizierte sie mit dem Kindbettfieber. So wurde das Kind in das Findelhaus gebracht, wo der Knabe, wie die Alte, die ihn hingebracht hatte, erzählte, sofort nach seiner Ankunft verstarb.

Geld hatte Katjuscha, als sie sich bei der Hebamme einmietete, im ganzen hundert und sieben und zwanzig Rubel: sieben und zwanzig Lohn und hundert Rubel, die ihr damals ihr Verführer gegeben hatte. Als sie aber die Hebamme verließ, behielt sie nur sechs Rubel. Sie verstand das Geld nicht zu sparen, verausgabte selbst viel und lieh jedem, der sie darum bat. Die Hebamme nahm von ihr für Kost und Logis für zwei Monate vierzig Rubel, fünf und zwanzig Rubel kostete die Expedierung des Kindes ins Findelhaus, vierzig Rubel bat sich die Hebamme leihweise zur Anschaffung einer Kuh aus, gegen zwanzig Rubel gingen so, für Kleider, für Geschenke u. s. w. darauf. Auf diese Weise also hatte Katjuscha, als sie gesund wurde, kein Geld mehr und mußte sich nach einer Stellung umsehen. Sie fand dieselbe bei einem Förster. Der Förster war ein verheirateter Mann, aber auch er begann ihr, ebenso wie der Polizeimeister, vom ersten Tage an nachzustellen. Er war ihr widerwärtig und sie ging ihm aus dem Wege. Aber er war erfahrener und schlauer, als sie, und vor allem ihr Herr, der sie schicken konnte, wohin er wollte. So bemächtigte er sich denn ihrer in einem günstigen Augenblick. Die Frau erfuhr es, und als sie einmal ihren Mann mit dem Mädchen allein im Zimmer traf, stürzte sie auf Katjuscha los und wollte sie schlagen. Aber Katjuscha ergab sich nicht und so entstand eine Prügelei. Infolge dessen jagte man Katjuscha aus dem Hause, ohne ihr auch nur den Lohn auszuzahlen.

Da fuhr Katjuscha in die Stadt und stieg dort bei ihrer Tante ab. Der Mann der Tante war Buchbinder und lebte früher gut. Um die Zeit aber hatte er bereits alle seine Kunden verloren, ergab sich dem Trunke und vertrank alles, was ihm nur in die Hände kam.

Die Tante hielt eine kleine Waschanstalt und ernährte damit sich, ihre Kinder und den verlorenen Mann. Sie bot Katjuscha an, bei ihr als Wäscherin einzutreten. Aber da die Maslowa das schwere Leben, das die bei der Tante wohnenden Frauen, die Wäscherinnen, hatten, sah, so zögerte sie und suchte unterdes in den Bureaux nach einer Stellung als Dienstmädchen. Und so eine Stelle fand sich bei einer Dame, die mit ihren zwei Söhnen, Gymnasiasten, lebte. Eine Woche nach ihrem Eintritt hörte der ältere, ein schnurrbärtiger Tertianer, zu lernen auf und ließ ihr keine Ruhe. Die Mutter gab an allem der Maslowa Schuld und kündigte ihr. Eine neue Stelle fand sich nicht, aber es traf sich, daß die Maslowa in einem Stellenvermittelungsbureau einer Dame mit beringten Fingern und vielen Spangen an den vollen, nackten Armen begegnete. Diese Dame gab der Maslowa, als sie von ihrer Stellenlosigkeit hörte, ihre Adresse und lud sie zu sich ein. Die Maslowa ging hin. Die Dame empfing sie freundlich, bewirtete sie mit Pastetchen und süßem Wein, und schickte unterdes ihr Mädchen irgendwohin mit einem Briefchen. Abends trat in das Zimmer ein hochgewachsener Herr mit langem ergrauenden Haar und grauem Barte. Der alte Herr setzte sich sofort zu der Maslowa heran, begann sie mit glänzenden Augen zu betrachten und mit ihr zu scherzen. Die Hausfrau rief ihn ins Nebenzimmer, und die Maslowa hörte, wie sie ihm sagte: ein frisches Ding, vom Lande. Dann rief die Frau die Maslowa heraus und sagte ihr, daß der Herr ein Schriftsteller sei, der sehr viel Geld habe und der, wenn sie ihm gefiele, nicht knauserig sein würde. Sie gefiel ihm und der Schriftsteller gab ihr fünf und zwanzig Rubel und versprach, sie häufiger wiederzusehen. Das Geld verausgabte sich schnell zur Bezahlung der Schuld an die Tante, für ein neues Kleid, einen Hut, für Bänder. Nach einigen Tagen schickte der Schriftsteller wieder nach ihr und sie ging. Er gab ihr noch fünf und zwanzig Rubel und schlug ihr vor, in eine aparte Wohnung überzusiedeln.

Während die Maslowa in der vom Schriftsteller gemieteten Wohnung lebte, verliebte sie sich in einen lustigen Kommis, der auf demselben Hof logierte. Sie sagte das selbst dem Schriftsteller und zog in eine kleinere Wohnung hinüber. Der Kommis aber, der ihr versprochen hatte, sie zu heiraten, reiste, ohne ihr was zu sagen und mit der offenbaren Absicht, sie zu verlassen, nach Nishnij ab, und die Maslowa blieb allein. Sie wollte anfangs die Wohnung behalten, aber das wurde ihr nicht gestattet. Der Revieraufseher sagte ihr, daß sie nur dann so wohnen könnte, wenn sie eine gelbe Karte nehmen und sich der Kontrolle unterwerfen würde. Da ging sie wieder zur Tante.

Als die Tante sie jetzt in moderner Toilette, mit Mantelet und Hut wiedersah, empfing sie sie mit Respekt und wagte ihr nicht mehr eine Wäscherinnenstelle anzubieten, denn ihrer Meinung nach stand ihre Nichte jetzt auf einer höheren Lebensstufe. Auch für die Maslowa existierte die Frage, ob sie Wäscherin werden sollte, nicht mehr. Sie blickte voll Mitleid auf das Galeeren leben, das in den Vorderzimmern die bleichen, abgemagerten Wäscherinnen, von denen einige bereits schwindsüchtig waren, führten. Bei im Sommer und Winter geöffneten Fenstern wuschen und plätteten sie im Seifendampf, in einer Temperatur von dreißig Grad. Die Maslowa schauderte bei dem Gedanken, daß auch sie zu diesem elenden Sklavenleben hätte herabsinken können. Eben in dieser, für die Maslowa besonders trüben Zeit, wo sie keinen Beschützer finden konnte, wurde sie von einer Agentin aufgesucht, die für die öffentlichen Häuser junge Mädchen lieferte.

Die Maslowa rauchte schon seit langem, aber in der letzten Zeit ihres Verhältnisses mit dem Kommis, und besonders seitdem er sie verlassen hatte, gewöhnte sie sich immer mehr an das Trinken. Der Wein zog sie nicht nur darum an, weil er ihr schmeckte, sondern noch viel mehr, weil er sie all das Schwere, was sie durchlebt hatte, vergessen machte; er verlieh ihr jene Ungezwungenheit des Auftretens, jene selbstbewußte Sicherheit, die ihr sonst mangelten. Ohne Wein schämte sie sich ihrer selbst und war traurig.

Die Agentin bewirtete zuerst die Tante und machte die Maslowa betrunken. Dann proponierte sie der letzteren, in eine gute Anstalt, die erste der Stadt, einzutreten, indem sie ihr alle Vorzüge einer solchen Lage erklärte. Sie stand jetzt vor der Wahl: entweder die erniedrigende Stellung einer Dienstmagd, die sie sicher den Nachstellungen der Männer aussetzte und zu periodischem, heimlichen Ehebruch verführte, oder eine sorgenlose, ruhige, durch das Gesetz beschirmte Lage und offener, chronischer, vom Gesetze geduldeter, gut bezahlter Ehebruch. Sie wählte das letztere. Da durch glaubte sie sich auch an ihrem Verführer, am Kommis und an allen Menschen, die ihr Böses gethan, zu rächen. Außerdem verführte sie und war für ihren endgültigen Entschluß der Umstand ausschlaggebend, daß, wie die Agentin ihr sagte, sie sich Kleider, soviel und welche sie wollte, bestellen konnte: samtene, seidene, Ballkleider mit bloßem Halse und Armen. Und als sich die Maslowa sich im grellen gelben Seidenkleide mit schwarzem samtenen Besatz vorstellte, decolletiert, da konnte sie der Versuchung nicht mehr wider stehen. Am selben Tage nahm die Agentin eine Droschke und brachte das Mädchen in die berühmte Anstalt der Kitajewa.

Von der Zeit an begann für die Maslowa jenes, in der chronischen Übertretung menschlicher und göttlicher Gesetze bestehende Leben, das hundert und aberhundert Tausende von Frauen, nicht nur unter der Duldung, sondern auch unter dem Schutze der Regierung, die für das Wohl der Bürger zu sorgen hat, führen. Von zehn Frauen bezahlen es neun mit qualvollen Krankheiten, früh zeitiger Altersschwäche und frühzeitigem Tode.

Des Morgens und am Tage ein schwerer Schlummer nach den Orgien der Nacht. Um drei, vier Uhr ein mattes Aufstehen aus dem schmutzigen Bett; dann Selterwasser gegen den Brand, Kaffee trinken, ein müßiges Umherschlendern in den Zimmern im Nachtjäckchen, Peignoir oder Schlafrock, das Hinausgucken zu den Fenstern hinter den Gardinen her vor, lässiges Wortgeplänkel; dann das Waschen, Ein reiben und Parfümieren des Körpers und der Haare,das Anpassen der Kleider und der Streit um dieselben mit der Wirtin; dann das Stehen vor dem Spiegel, das Schminken; dann ein süßes und fettes Essen, das Anziehen einer grellen Seidentoilette; endlich der Eintritt in den geputzten, hellerleuchteten Saal, die Ankunft der Gäste, Musik, Tanz, Süßigkeiten, Wein, Cigaretten. Dann Ehebruch mit Jünglingen und Männern, mit halben Kindern und verfallenen Greisen, mit Junggesellen und Ehemännern, mit Kaufleuten, Kommis, Armeniern, Juden, Tataren, mit Reichen, Armen, Gesunden, Kranken, Betrunkenen, Nüchternen, Rohen und Zärtlichen, mit Militärs, Zivilisten, Studenten, Gymnasiasten — mit Leuten jeden Standes, Alters und Charakters.

Und Geschrei und Späße und Keilereien und Musik, Tabak und Wein, und Wein und Tabak, und Musik vom Abend bis zum Morgengrauen. Und nur am Morgen Erlösung und ein schwerer Schlummer. Und so jeden Tag, die ganze Woche hindurch. Am Ende der Woche aber die Fahrt in ein staatliches Institut, das Polizeibureau, wo im Staatsdienste stehende Beamte, Ärzte, Männer, — zuweilen ernst und streng, zuweilen unter Scherzen und Späßen, die von der Natur, zur Verhütung des Verbrechens, nicht nur dem Menschen, sondern auch den Tieren verliehene Scham vernichtend — diese Frauen untersuchten und ihnen dann das Patent zur Fortsetzung derselben Verbrechen, die sie mit ihren Genossen die Woche über vollführt hatten, erteilten. Und wieder eine eben solche Woche. Und so jeden Tag — im Sommer und im Winter, an Wochen- und an Feiertagen.

So lebte die Maslowa sieben Jahre hindurch. Während dieser Zeit hatte sie zweimal die Anstalt gewechselt und war einmal im Krankenhause gewesen. Im siebenten Jahre ihres Aufenthaltes im öffentlichen Hause und im achten Jahre nach ihrem ersten Fall, als sie sechs und zwanzig zählte, ereignete sich das, wofür man sie ins Gefängnis gesperrt hatte und jetzt, nach sechsmonatlicher Untersuchungshaft in Gesellschaft von Mörderinnen und Diebinnen, vors Gericht brachte.

Drittes Kapitel

Um die nämliche Zeit, als die Maslowa, ermüdet vom langen Gehen, mit ihrer Eskorte vor dem Gebäude des Bezirksgerichts anlangte, lag derselbe Neffe ihrer Erzieherinnen, der sie verführt hatte, Fürst Dmitrij Iwanowitsch Nechljudow, noch in seinem hohen, zerwühlten Sprungfederbett. In sauberem holländischen Nachthemd mit feingebügelten Brustfalten, lag er mit aufgeknöpftem Kragen und rauchte eine Cigarette. Unverwandten Auges sah er vor sich hin und dachte darüber nach, was ihm heute bevorstünde und was gestern gewesen war.

Er dachte an den gestrigen Abend, den er bei Kortschagins, reichen und angesehenen Leuten, deren Tochter er nach der Meinung Aller heiraten sollte, verbracht hatte, und seufzte. Er warf die ausgerauchte Cigarette weg und wollte sich aus dem silbernen Etui eine neue holen, bedachte sich aber, streckte seine glatten weißen Füße zum Bett hinunter, und suchte mit ihnen die Pantoffeln auf. Dann warf er sich um die vollen Schultern einen seidenen Schlafrock und ging, mit schnellen, schweren Schritten in das neben dem Schlafgemach gelegene Toilettenzimmer, welches von einem künstlichen Geruch von Elixiren, Eau de Cologne, Vixatoirs und Parfüms durchsogen war. Dort putzte er sich die an vielen Stellen plombierten Zähne mit einem besonderen Pulver, spülte sich den Mund mit einem aromatischen Wasser, begann sich dann von allen Seiten zu waschen und mit verschiedenen Handtüchern abzureiben. Nachdem er sich die Hände mit einer parfümierten Seife gewaschen und die langen Nägel sorgfältig gebürstet, spülte er sich vor einem Marmorbecken das Gesicht und den dicken Hals ab und ging in ein drittes Zimmer, wo eine Dusche bereitet war. Dort übergoß er seinen muskulösen, fettbelegten weißen Körper mit kaltem Wasser und trocknete sich mit einem zottigen Handtuch. Dann zog er sich reine gebügelte Wäsche an, wie ein Spiegel glänzende Schuhe, und setzte sich vor den Toilettentisch, um sich, mit Hilfe zweier Bürsten, den kleinen, krausen schwarzen Bart und das vorne gelichtete, lockige Haupthaar zu glätten.

Alle Toilettengegenstände, die er benutzte, die Wäsche, die Kleider, das Schuhwerk, die Kravatten, Nadeln, Hemdknöpfe waren von der besten, teuersten Qualität, unauffällig, schlicht, dauerhaft und kostbar.

Nachdem er sich aus einem Dutzend Kravatten und Nadeln die ersten besten gewählt hatte — früher einmal war das noch neu gewesen, und hatte ihm Spaß gemacht, während er jetzt kein Interesse mehr dafür hatte — zog Nechljudow die gebürsteten und auf einem Stuhl bereitgelegten Kleider an. Dann trat er, zwar nicht besonders frisch, aber sauber und duftend, in das lange Speisezimmer, dessen Parkettboden gestern von drei Männern gebohnert worden war. Im Speisezimmer stand ein riesiges Eichen-Buffet und ein ebenso kolossaler Ausziehtisch, der mit seinen weit auseinanderstehenden, in Form von Löwentatzen geschnitzten Füßen etwas feierliches an sich hatte. Auf dem, von einem feinen Linnentuch mit gestickten Monogrammen bedeckten Tisch standen: eine silberne Kanne mit duftendem Kaffee, eine ebensolche Zuckerdose, ein Kännchen mit gekochter Sahne und ein Körbchen mit frischen Semmeln, Zwieback und Biskuits. Neben dem Service lagen die eingegangenen Briefe, Zeitungen und das neueste Heft der »Revue des deux Mondes«. Nechljudow wollte eben die Briefe vornehmen, als durch die in den Korridor führende Thür eine volle ältere Frau, in Trauer und mit einem Spitzenaufsatz, der den etwas lichten Scheitel verdeckte, hereinsegelte. Es war Agrafena Petrowna, das Stubenmädchen der seeligen, unlängst in ebendieser Wohnung verstorbenen Mutter Nechljudows, die jetzt beim Sohn die Stelle einer Wirtschafterin versah.

Agrafena Petrowna hatte zu verschiedenen Zeiten mit Nechljudows Mutter gegen zehn Jahre im Auslande verbracht und hatte das Aussehen und die Manieren einer Dame. Sie lebte im Nechljudowschen Hause von Kind auf und hatte Dmitrij Iwanowitsch noch als Mitenjka gekannt.

»Guten Tag, Dmitrij Iwanowitsch.«

»Guten Morgen, Agrafena Petrowna. Was giebt’s Neues?« fragte Nechljudow scherzend.

»Ein Brief von der Frau Fürstin, oder viel leicht auch von der Prinzeß. Das Mädchen hat ihn schon lange gebracht und wartet jetzt bei mir«, sagte Agrafena Petrowna, den Brief mit bedeutungsvollem Lächeln überreichend.

»Gut, gleich«, sagte Nechljudow. Als er aber den Brief entgegennahm, bemerkte er das Lächeln und machte ein finsteres Gesicht.

Das Lächeln Agrafena Petrownas bedeutete, daß der Brief von der Prinzeß Kortschagina war, mit welcher sich, ihrer Meinung nach, Nechljudow verheiraten wollte. Und diese, durch Agrafena Petrownas Lächeln ausgedrückte Annahme war dem Fürsten unangenehm.

»Ich werde ihr also sagen, daß sie wartet«, und Agrafena Petrowna segelte, nachdem sie eine nicht am Platz liegende Tischbürste im Vorbeigehen genommen und an den richtigen Ort gethan hatte, wieder zur Thür hinaus.

Nachdem Nechljudow den von Agrafena Petrowna überreichten parfümierten Brief geöffnet hatte, begann er zu lesen:

»Indem ich der von mir übernommenen Verpflichtung, Ihnen Ihr Gedächtnis zu ersetzen, nach komme«, so stand auf dem dicken, grauen Bogen mit gerissenen Rändern, in scharfer aber weiter Schrift, »erinnere ich Sie daran, daß Sie heute, am 28. April, im Geschworenengericht sein müssen und daher durchaus nicht in der Lage sind, mit uns und Kolossow nach der Gemäldeausstellung zu fahren, wie Sie es gestern mit dem Ihnen eigenen Leichtsinn versprochen hatten. A moins que Vous ne soyez disposé à payer a la, cour d’assises les 300 roudles d’amende que Vous Vous refusez pour Votrs cheval dafür, daß sie nicht rechtzeitig erscheinen. Es fiel mir gestern, als Sie eben gegangen waren, ein. Vergessen Sie es also nicht.

Pr. M. Kortschagina.«

Auf der anderen Seite war hinzugesetzt:

»Maman Vous fait dire que Votre couvert Vous attendra jusqu’à la nuit. Venez absolument à quelle heure que cela soit.« M.K.

Nechljudow runzelte die Stirn. Dieses Briefchen war die Fortsetzung jener geschickten Arbeit, die von der Prinzeß Kortschagina nun schon seit zwei Monaten betrieben wurde und darin bestand, ihn mit unsichtbaren Fäden immer mehr und mehr mit der Prinzeß zu verknüpfen. Nechljudow dagegen hatte, außer der bei nicht mehr ganz jungen und nicht leidenschaftlich verliebten Männern gewöhnlichen Zaghaftigkeit der Ehe gegenüber, noch einen andern wichtigen Grund, weshalb er, auch wenn er gewollt hätte, nicht gleich um die Hand der Prinzeß an halten konnte. Dieser Grund bestand nicht darin, daß er vor zehn Jahren Katjuscha betrogen und verlassen hatte — dieses hatte er völlig vergessen und hielt es nicht für ein Hindernis für seine Ehe. Der Grund war vielmehr der, daß er zu gleicher Zeit mit einer verheirateten Frau ein Verhältnis unterhielt, das zwar von seiner Seite jetzt gelöst, von ihr aber noch nicht als gelöst betrachtet wurde.

Nechljudow war Frauen gegenüber sehr schüchtern, und eben diese Schüchternheit hatte in jener verheirateten Frau den Wunsch erweckt, ihn sich zu unterwerfen. Sie war die Gattin des Adelsmarschalls von dem Kreise, in welchem Nechljudow wählte. Und diese Frau hatte Nechljudow in ein Verhältnis gezogen, welches für ihn mit jedem Tage immer bindender und zugleich immer ab stoßender wurde. Anfangs hatte Nechljudow der Versuchung nicht widerstehen können; nachher, im Bewußtsein der Schuld ihr gegenüber, konnte er das Verhältnis nicht ohne ihre Einwilligung lösen. Dieses war eben der Grund, weswegen Nechljudow sich nicht für berechtigt hielt, auch wenn er es gewollt hätte, bei der Kortschagina anzuhalten.

Auf dem Tisch lag gerade ein Brief von dem Manne dieser Frau. Als Nechljudow die Handschrift und den Stempel erkannte, errötete er und empfand sofort jenen Zufluß von Energie, der sich bei ihm immer beim Nahen einer Gefahr einstellte. Aber seine Aufregung war unnütz: der Mann, der Adelsmarschall jenes Kreises, in welchem die Hauptgüter Nechljudows lagen, setzte den Fürsten davon in Kenntnis, daß zu Ende Mai eine Extrasitzung der »Landschaft« einberufen war. Zu dieser Sitzung bat er nun Nechljudow durchaus zu kommen, um bei den wichtigen Beratungen bezüglich der Schulen und Zufuhrwege, wo man eine starke Opposition von Seiten der Reaktionspartei erwartete, »donner un coup d’épaule.«

Der Adelsmarschall gehörte zu den Liberalen, kämpfte mit einigen Gesinnungsgenossen gegen die unter Alexander III. eingetretene Reaktion, ging im Parteikampfe ganz auf und wußte nichts von seinem unglücklichen Familienleben.

Nechljudow dachte an alle die qualvollen Augen blicke, die er in feinen Beziehungen zu diesem Menschen durchlebt hatte. Er erinnerte sich, wie er einmal geglaubt hatte, daß der Mann alles wisse, und auf ein Duell, bei welchem er in die Luft schießen wollte, gefaßt gewesen; er erinnerte sich an die furchtbare Szene mit ihr, wo sie in Verzweiflung in den Garten zum Teich hinunter gelaufen war, mit der Absicht, sich zu ertränken, während er ihr nachstürmte.

»Ich kann jetzt nicht fahren und kann nichts unternehmen, ehe sie mir geantwortet hat«, dachte Nechljudow. Vor einer Woche hatte er ihr einen entschlossenen Brief geschrieben, in welchem er sich für schuldig und bereit zu jeder Sühne erklärte, aber dennoch, in ihrem eigenen Interesse, seine Beziehungen zu ihr endgültig abgebrochen wissen wollte. Auf diesen Brief erwartete er eine Antwort, erhielt sie aber nicht. Daß eine Antwort nicht kam, war in gewisser Hinsicht ein gutes Zeichen. Wäre sie mit einem Bruch nicht einverstanden gewesen, so hätte sie schon längst geschrieben, oder wäre sogar selbst gekommen, wie sie es früher gethan. Nechljudow hatte gehört, daß augenblicklich irgend ein Offizier bei ihr sei, der ihr den Hof mache, und dieses quälte ihn mit Eifersucht und erfüllte ihn zugleich mit Hoffnung auf Befreiung von dem peinlichen Lügengespinst.

Ein anderer Brief war von dem Verwalter seiner Landgüter. Der Verwalter schrieb ihm, daß er, Nechljudow, selbst kommen müsse, um sich in seine Erbschaftsrechte introduzieren zu lassen, und außerdem auch, um nun die Frage zu entscheiden, wie die Bewirtschaftung der Güter weitergeführt werden sollte: ob in der Weise, wie es bisher geschehen war, oder so, wie er es schon der seligen Fürstin vorgeschlagen hatte und es jetzt ihm selbst, dem Fürsten, vorschlägt? In letzterem Falle müßte man das Inventar vergrößern und das ganze, den Bauern verpachtete Land selbst bewirtschaften. Der Verwalter schrieb, daß eine solche Art der Exploitation bedeutend vortheilhafter sein würde. Bei dieser Gelegenheit entschuldigte sich der Verwalter, daß er sich mit der Absendung der plan mäßig zum 1. fälligen 3000 Rubel verspätet hätte. Das Geld würde mit der nächsten Post abgefertigt werden. Aufgehalten sei die Sendung dadurch worden, daß er das Geld von den Bauern auf keine Weise habe eintreiben können; sie seien in ihrer Gewissenlosigkeit so weit gegangen, daß man sich, um sie zu zwingen, an die Behörden hätte wenden müssen.

Dieser Brief war Nechljudow zugleich angenehm und unangenehm. Angenehm berührte ihn das Bewußtsein der Macht über ein großes Besitztum, und unangenehm war das, daß er, während er in seiner Jugend ein eifriger Verehrer Herbert Spencers gewesen war, jetzt als Großgrundbesitzer durch den Satz der Sozialen Statik, daß die Gerechtigkeit einen Grundbesitz nicht zulasse, ganz besonders getroffen wurde. Mit der der Jugend eigenen Geradheit und Entschiedenheit hatte er damals nicht nur behauptet, daß der Boden kein Objekt des Privatbesitzes bilden dürfe, und darüber in der Universität einen Aufsatz verfaßt, sondern auch in der That damals ein vom Vater ererbtes, kleines Stück Land unter den Bauern verteilt, um nicht gegen seine Überzeugung Grundbesitzer zu bleiben. Jetzt, wo er durch Erbschaft Großgrundbesitzer geworden war, blieb ihm nur eines von beidem übrig: entweder seinem Besitze zu entsagen, wie er es vor zehn Jahren, bezüglich der zweihundert Deßjatinen väterlichen Bodens gethan hatte, oder durch stillschweigendes Eingeständnis alle seine früheren Ideen für irrig und falsch zu erklären.

Das erstere konnte er nicht, weil er, außer vom Grundbesitz, keine anderen Einkünfte hatte. In den Staatsdienst wollte er nicht treten, anderseits aber hatte er bereits luxuriöse Lebensgewohnheiten angenommen, von denen er sich nicht mehr freimachen zu können glaubte. Und es hätte auch keinen Zweck gehabt, da er nunmehr weder jene Kraft der Überzeugung, noch jene Entschlossenheit, noch jenen Ehrgeiz und Wunsch besaß, andere in Erstaunen zu setzen, die er in der Jugend hatte.

Das zweite aber, — sich von den Begründungen der Unrechtmäßigkeit des Grundbesitzes, die er damals aus Spencers Sozialer Statik geschöpft hatte und deren Bestätigung er viel später in den Werken Henry Georges gefunden hatte, sich davon lossagen, — das konnte er unmöglich.

Und daher war ihm der Brief des Verwalters unangenehm.

Viertes Kapitel

Nachdem Nechljudow Kaffee getrunken hatte, ging er in sein Kabinett, um im Vorladungsschreiben nachzusehen, zu welcher Zeit er im Gericht sein müsse, und um der Prinzessin zu antworten. Ins Kabinett mußte er durch sein Atelier gehen. Im Atelier stand auf einer Staffelei ein angefangenes Bild, das umgekehrt war, und hingen an den Wänden Studien. Der Anblick dieses Bildes, an welchem er sich zwei Jahre lang abgemüht hatte, der Studien und des ganzen Ateliers — alles erinnerte ihn an das, in letzter Zeit besonders stark zum Bewußtsein gekommene Gefühl des Unvermögens, in der Malerei fortzuschreiten. Er erklärte sich dieses Gefühl durch ein zu fein entwickeltes ästhetisches Empfinden, aber immerhin war ihm diese Erkenntnis sehr unangenehm.

Vor sieben Jahren hatte er den Staatsdienst aufgegeben, in der Meinung, ein Talent zur Malerei zu haben. Und von der Höhe seiner künstlerischen Thätigkeit hatte er mit gewisser Verächtlichkeit auf alle anderen Berufsarten hinabgesehen. Jetzt zeigte es sich nun, daß er dazu kein Recht gehabt. Und darum war ihm jede Erinnerung daran unangenehm. Mit einem drückenden Gefühl betrachtete er die luxuriöse Ausstattung des Ateliers und betrat in nicht besonders heiterer Stimmung sein Kabinett, ein großes, hohes Zimmer, mit allen erdenklichen Einrichtungen, Bequemlichkeiten und Schmuckgegenständen ausgestattet.

In der Schublade des großen Tisches fand er unter der Rubrik »Terminsachen« sogleich das Vorladungsschreiben, in welchem es hieß, daß er um elf Uhr im Gericht sein mußte. Dann setzte Nechljudow sich, um der Prinzeß einen Brief, des Inhalts, daß er danke und sich bemühen werde, zu Mittag zu erscheinen, zu schreiben. Aber als er den Brief geschrieben hatte, zerriß er ihn wieder, denn er schien ihm zu intim. Der zweite Brief war wieder zu kalt, beinahe beleidigend; er zerriß auch ihn und drückte auf den Knopf an der Wand. Ein nicht mehr junger Lakai mit finsterem Gesichtsausdruck, rasiertem Kinn und Kotelettes, in einer grauen Kalikoschürze, trat ein.

»Bitte, schicken Sie nach der Droschke.«

»Zu Befehl.«

»Und sagen Sie, — hier wartet jemand von Kortschagins, — ich ließe danken und würde mich bemühen zu kommen.«

»Jawohl.«

»Höflich ist’s ja nicht, aber ich kann nicht schreiben. Ich sehe sie doch noch heute«, dachte Nechljudow und ging, um sich anzukleiden.

Als er angekleidet auf die Freitreppe hinaustrat, erwartete ihn schon seine ständige Droschke auf Gummirädern.

»Und gestern waren Sie eben vom Fürsten Kortschagin weg, als ich angefahren kam«, sagte der Kutscher, seinen braungebrannten, feisten Hals im weißen Hemdkragen halb umwendend, »der Portier sagte mir: »»eben durchgegangen.««

Sogar die Droschkenkutscher wissen von meinen Beziehungen zu Kortschagins«, dachte Nechljudow, und jene ungelöste Frage, ob er die Kortschagina heiraten sollte, stand wie fast immer in letzter Zeit, wieder vor ihm. Und wie die meisten Fragen, die sich ihm in dieser Zeit entgegenstellten, ließ sie sich auf keine Weise, weder so noch so, entscheiden.

Zu Gunsten der Ehe überhaupt sprach erstens das, daß die Ehe außer den Annehmlichkeiten eines häuslichen Herdes, auch die Möglichkeit eines »moralischen Lebenswandels«, wie er ein solches Familienleben nannte, bot. Zweitens und hauptsächlich erhoffte Nechljudow von der Ehe, daß Familie und Kinder seinem Dasein den inneren Gehalt verleihen würden, den er bis jetzt vermißte. Das alles sprach für die Ehe überhaupt.

Gegen die Ehe aber war erstens die, allen älteren Junggesellen eigene Furcht vor dem Verlust der Freiheit, und zweitens ein unbewußtes Bangen vor dem geheimnisvollen Wesen der Weiblichkeit.

Für die Ehe, mit Missy im besonderen (Prinzeß Kortschagina hieß Marie, hatte aber, wie es in allen Familien ihrer Kreise üblich, einen besonderen Zunamen) — war erstens das, daß sie Rasse hatte und in allem, von der Toilette, bis zu ihrer Manier zu sprechen, zu gehen, zu lachen, sich von gewöhnlichen Leuten unterschied. Dieser Unterschied bestand nicht gerade in etwas Besonderem, Exceptionellen, sondern einfach in ihrer »Anständigkeit«, — er fand für diese Eigenschaft keine andere Bezeichnung und schätzte diese Eigenschaft sehr hoch. Zweitens fiel auch das ins Gewicht, daß sie ihn höher als alle anderen Leute schätzte und folglich, wie er es auffaßte, ihn verstand. Und dieses Verstehen, diese Anerkennung seiner vorzüglichen Eigenschaften, galt Nechljudow als ein Beweis ihres Verstandes und sicheren Urteils.

Gegen die Ehe, mit Missy im besonderen, war erstens die große Wahrscheinlichkeit, daß man ein Mädchen mit noch viel größeren Vorzügen als Missy, ein ihm selbst also auch ebenbürtigeres, finden konnte; zweitens aber, daß sie bereits sieben und zwanzig Jahre zählte und daher wahrscheinlich schon früher Passionen gehabt hatte, und dieser Gedanke war für Nechljudow qualvoll. Sein Stolz konnte sich damit nicht aussöhnen, daß sie, wenn auch nur in der Vergangenheit, nicht ihn geliebt hatte. Sie konnte natürlich nicht wissen, daß sie ihm begegnen würde, aber der bloße Gedanke, daß sie früher jemand anderes geliebt haben konnte, verletzte ihn.

So gab es also ebenso viel Gründe dafür, als auch dagegen; in ihrer Überzeugungskraft wenigstens waren die Gründe vollkommen gleichwertig, und so verglich sich Nechljudow, sich selbst ironisierend, mit Buridans Esel. Und er blieb ein solcher auch in der That, da er nicht wußte, welchem der beiden Bündel er sich zuwenden wollte.

»Übrigens, so lange ich von Marja Wassiljewna, der Frau des Adelsmarschalls, noch keine Antwort habe, kann ich nichts unternehmen«, sagte er sich selbst.

Und dieses Bewußtsein, daß er die Entscheidung aufschieben könne und müsse, war ihm angenehm.

»Übrigens, das alles kann ich auch später über legen«, dachte er, als sein Wagen geräuschlos zur Asphaltrampe des Gerichtsgebäudes auffuhr.

»Jetzt aber muß ich gewissenhaft, wie ich es immer zu thun pflege und es für meine Schuldigkeit halte, meine öffentlichen Verpflichtungen er füllen. Zudem ist das zuweilen auch nicht uninteressant«, und mit diesen Gedanken trat er, an dem Portier vorbei, in die Vorhalle des Gerichts ein.

Fünftes Kapitel.

Als Nechljudow das Gericht betrat, herrschte dort bereits reges Leben.

Die Gerichtsdiener liefen atemlos, die Füße kaum vom Boden hebend, mit schlürfenden Schritten hin und her, besorgten Aufträge, trugen Akten. Die Kommissare, Advokaten und Beamten des Gerichts gingen hierhin und dahin, Supplikanten und die nicht eskortierten Angeklagten schlichen trübsinnig an den Wänden umher oder saßen erwartungsvoll da.

»Wo ist das Bezirksgericht?« fragte Nechljudow einen der Diener.

»Welches wünschen Sie? Wir haben eine Civilabteilung, einen Kassationshof . . . .«

»Ich bin ein Geschworener.«

»Kriminalabteilung. Hätten Sie das gleich gesagt! Hier, rechts und dann die zweite Thür links.«

Nechljudow ging, wie ihm gewiesen worden.

Bei der zweiten Thür links standen zwei Leute und warteten. Der eine von ihnen war ein großer, dicker Kaufmann, ein gutmütiger Mensch, der offenbar soeben ein Gläschen getrunken und gefrühstückt hatte und sich daher in heiterer Gemütsstimmung befand; der andere war ein Kommis jüdischer Herkunft. Sie unterhielten sich über Wollpreise, als Nechljudow sich ihnen näherte und sich erkundigte, wo das Geschworenenzimmer sei.

»Hier, mein Herr, hier. — Also auch einer von uns, ein Geschworener?« fragte mit lustigem Blinzeln der gutmütige Kaufmann.

»Schön, da machen wir also gemeinsame Arbeit«, fuhr er auf die bejahende Antwort Nechljudows fort. »Von der 2. Gilde, Baklaschow«, sagte er, seine breite und weiche, sich nicht zusammenbiegende Hand hinhaltend. »Mit wem also habe ich das Vergnügen?«

Nechljudow nannte seinen Namen und ging in das Zimmer der Geschworenen.

In dem kleinen Zimmer waren etwa zehn verschiedenartige Leute versammelt. Alle waren erst eben gekommen; einige von ihnen saßen, andere gingen umher, musterten einander und machten sich bekannt. Ein Offizier a. D. war in Uniform, andere waren in Salonröcken und Jacketts und nur einer hatte einen langen, volkstümlichen Rock an.

Obgleich viele durch diese Obliegenheit in ihren Geschäften behindert wurden und darüber klagten, so verlieh doch das Bewußtsein der Erfüllung einer wichtigen öffentlichen Pflicht allen den Ausdruck eines gewissen Vergnügens.

Die Geschworenen, die sich zum Teil bekannt gemacht hatten, zum Teil auch nur einer vom anderen vermuteten, wer er sei, unterhielten sich über das Wetter, über den zeitigen Frühling und die bevorstehende Verhandlung. Die, die es noch nicht waren, beeilten sich, mit Nechljudow bekannt zu werden, indem sie sich es offenbar zur besonderen Ehre anrechneten. Und Nechljudow nahm das, wie immer unter fremden Leuten, als etwas auf, was ihm von Rechts wegen zustand. Hätte man ihn gefragt, warum er sich für höher als die meisten anderen Leute hielt, so hätte er darauf nicht antworten können, denn sein ganzes Leben konnte durchaus keine besonderen Verdienste auf weisen. Daß er im Englischen, Französischen und Deutschen eine gute Aussprache besaß, daß er Wäsche, Kleider, Krawatten und Hemdknöpfe von den ersten Lieferanten dieser Waren bezog, das alles, fühlte er selbst, konnte durchaus kein Grund für seine Bevorzugung sein. Trotzdem aber er kannte er seine Überlegenheit vollkommen an, empfing alle ihm erwiesenen Zeichen der Hochachtung, wie etwas Selbstverständliches, und fühlte sich beleidigt, wenn sie ausblieben.

Und gerade jetzt, in dem Zimmer der Geschworenen, mußte er das peinliche Gefühl, welches in ihm durch unterlassene Hochachtungsbezeugung jedesmal erweckt wurde, empfinden. Unter den Geschworenen befand sich ein Bekannter Nechljudows. Es war Pjotr Gerassimowitsch (Nechljudow kannte seinen Familiennamen nicht und renommierte sogar damit ein wenig), der frühere Hauslehrer der Kinder seiner Schwester. Dieser Pjotr Gerassimowitsch war jetzt Lehrer an einem Gymnasium. Nechljudow war er immer unerträglich gewesen wegen seiner Familiarität, seines selbstzufriedenen Lachens und überhaupt wegen seiner ganzen »Communheit«, wie die Schwester es nannte.

»Ah, auch Sie sind also hereingefallen«, empfing ihn mit schallendem Gelächter Pjotr Gerassimowitsch. »Konnten diesmal nicht kneifen?«

»Ich dachte auch gar nicht zu kneifen«, antwortete streng und müde Nechljudow.

»So, das ist ja eine bürgerliche Heldenthat. Warten Sie nur, wenn Sie hungrig werden und nicht schlafen können, werden Sie schon ein anderes Liedchen singen!« lachte noch lauter Pjotr Gerassimowitsch.

»Dieser Pfaffensohn wird mich gleich zu duzen anfangen«, dachte Nechljudow und drehte sich von ihm mit einem so trübseligen Gesichtsausdruck ab, daß man glauben könnte, er hätte soeben die Nachricht vom Tode seiner sämtlichen Verwandten erhalten. Er näherte sich einer Gruppe, die sich um einen rasierten, hochgewachsenen, repräsentablen Herrn, der lebhaft etwas erzählte, gebildet hatte. Dieser Herr sprach von dem soeben in der Civilabteilung verhandelten Prozeß, wie von einer ihm nahe bekannten Angelegenheit, indem er die Richter und berühmten Advokaten beim Vor- und Vaternamen nannte. Er erzählte von der wunderbaren Wendung, die der berühmte Advokat der Sache zu geben verstanden, infolgedessen die eine der Parteien, eine alte Dame, trotzdem sie vollständig im Rechte war, der anderen Partei für nichts und wieder nichts eine große Summe auszahlen mußte.

»Ein genialer Advokat!« sagte er.

Man hörte ihm mit Achtung zu, und einige versuchten, ihre Bemerkungen einzuschieben, aber er schnitt allen das Wort ab, als könnte nur er allein alles, wie sich’s gehörte, wissen.

Obgleich Nechljudow spät gekommen war, mußte er dennoch lange warten. Der Aufenthalt geschah durch die Verspätung eines der Mitglieder des Gerichtshofes.

Sechstes Kapitel.

Der Präsident war schon früh im Gericht er schienen. Derselbe war ein großer voller Mann mit einem starken, ergrauenden Backenbart. Er war verheiratet, führte aber ein sehr zügelloses Leben, ebenso wie auch seine Frau. Sie störten einander nicht. Heute Morgen hatte er von der Gouvernante, einer Schweizerin, die bei ihnen im Hause im Sommer gelebt hatte, und jetzt vom Süden her nach Petersburg reiste, ein Briefchen erhalten, demzufolge sie ihn heute zwischen 3 und 6 Uhr im »Hotel Italic« erwarten würde. Und deshalb wollte er die heutige Sitzung möglichst früh eröffnen und schließen, um noch vor sechs Uhr Zeit zu einem Besuch bei der rotblonden Klara Wassiljewna, mit der er im vorigen Jahr in der Sommerfrische einen Roman angeknüpft hatte, zu finden.

Nachdem er in sein Kabinett eingetreten war, verschloß er die Thür und holte aus dem Aktenschrank vom untersten Regal zwei Hanteln, mit denen er zwanzig Ausfälle nach oben, nach vorn, seitwärts und nach unten machte, worauf drei gelinde Kniebeugen, mit über dem Kopf gehaltenen Hanteln, folgten.

»Nichts konserviert so gut, wie kalte Abwaschungen und Turnen«, dachte er, während er mit der mit einem Goldring geschmückten Linken den gespannten Biceps der Rechten befühlte. Es blieb ihm noch übrig die »Moulinet« zu machen (er führte diese beiden Übungen jedesmal vor der langwierigen Sitzung aus), als die Thür erdröhnte. Jemand wollte sie öffnen. Der Präsident legte die Hanteln schleunigst zurück und öffnete die Thür.

»Verzeihen Sie«, sagte er.

In das Zimmer trat eines der Mitglieder des Gerichtshofs, ein kleiner Herr, mit in die Höhe gezogenen Schultern, finsterem Gesicht und einer goldenen Brille.

»Matwej Nikititsch ist wieder nicht da«, sagte das Gerichtsmitglied unzufrieden.

»Nein, er ist noch nicht da«, antwortete, seine Uniform anziehend, der Präsident. »Er kommt immer zu spät.«

»Merkwürdig, daß er sich nicht schämt«, sagte das Mitglied und holte, sich ärgerlich setzend, seine Cigaretten hervor.

Dieses Gerichtsmitglied, ein sehr peinlicher Mann, hatte heute Morgen mit seiner Frau einen unangenehmen Konflikt, weil die Frau, noch vor

Ablauf des Monats, das ganze Wirtschaftsgeld ausgegeben hatte. Sie hatte ihn um einen Vorschuß gebeten, während er nicht von seinen Prinzipien abweichen wollte. Es kam zu einer Szene. Die Frau sagte, daß wenn dem so sei, es zu Hause auch keinen Mittag geben würde und er sich nicht heimzubemühen brauchte. Damit war er weggefahren. Und jetzt fürchtete er, daß sie ihre Drohung ausführen würde, denn von ihr konnte man alles erwarten.

»Da soll man nun ein gutes, moralisches Leben führen«, dachte er, den strahlenden, gesunden, heiteren und wohlwollenden Präsidenten anblickend, der, mit auseinanderstehenden Ellbogen, sich mit den schönen weißen Händen den dichten, ergrauen den Backenbart seitwärts vom gestickten Kragen wegstrich; »der ist immer zufrieden und heiter, während ich mich abquälen muß.«

Der Sekretär trat ein und brachte irgend welche Akten.

»Ich danke Ihnen sehr«, sagte der Präsident und rauchte sich eine Cigarette an. »Welchen Prozeß lassen wir denn zuerst von Stapel?«

»Ich denke den Giftmord«, sagte scheinbar gleichgültig der Sekretär.

»Schön, meinetwegen den Giftmord«, sagte der Präsident, indem er sich überlegte, daß ein Prozeß wie dieser bis vier Uhr wohl beendigt werden könnte und er dann die Möglichkeit hätte, wegzufahren. »Und Matwej Nikititsch ist noch nicht da?«

»Immer noch nicht.«

»Und Brede?«

»Ist da«, antwortete der Sekretär.«

»So sagen Sie ihm, wenn Sie ihn sehen, daß wir mit dem Giftmord beginnen.«

Brede war der Staatsanwaltsadjunkt, der in dieser Sitzung die Anklage vertrat.

Der Sekretär traf Brede auf dem Korridor. Mit hochgezogenen Schultern, im aufgeknöpften Uniformrock, ein Portefeuille unter dem Arm, ging er fast im Laufschritt, mit den Absätzen klappernd, den Korridor entlang, während er den freien Arm in der Weise schwenkte, daß die Handfläche immer perpendikulär zur Richtung seines Ganges blieb.

»Michail Petrowitsch bat mich, Sie zu fragen, ob Sie fertig sind?« fragte ihn der Sekretär.

»Natürlich, ich bin immer fertig«, sagte der Staatsanwalt. »Was geht denn zuerst?«

»Der Giftmord.«

»Wunderbar«, sagte der Staatsanwalt, in Wirklichkeit aber fand er es gar nicht wunderbar, denn er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie hatten einem Kollegen das Geleit gegeben, es wurde viel getrunken und bis zwei Uhr gespielt. Hernach fuhr man zu den Mädchen, in dasselbe Haus, in welchem vor sechs Monaten noch die Maslowa gewesen war, sodaß er zum Studium gerade der den Giftmord betreffenden Akten keine Zeit gehabt und sie jetzt erst durchlesen wollte. Der Sekretär aber, der sehr wohl wußte, daß der Staatsanwalt die Giftmordakten nicht gelesen, hatte eben darum dem Präsidenten vorgeschlagen, diesen Prozeß zuerst vorzunehmen. Der Sekretär war ein Mann von liberaler, ja sogar radikaler Denkungsart. Brede da gegen war konservativ und dem orthodoxen Glauben, wie alle in Rußland dienenden Deutschen, ganz besonders ergeben. Und der Sekretär mochte ihn nicht leiden und neidete ihm seine Stellung.

»Nun, und mit dem Prozeß der Kastratensekte?« fragte der Sekretär.

»Ich habe schon gesagt, daß ich nicht kann«, antwortete der Staatsanwalt: »wegen Abwesenheit der Zeugen, und werde das auch dem Gerichtshof wiederholen.«

»Es ist doch gleich . . . «

»Ich kann nicht«, sagte der Staatsanwalt und lief, in gewohnter Weise mit der Hand schwenkend, in sein Kabinett.

Er schob den Prozeß der Kastratensekte, unter dem Vorwande der Abwesenheit eines Zeugen, der aber durchaus nicht wichtig und für die Sache von Belang war, nur darum auf, weil dieser Prozeß, wenn er vor einem Gerichtshof mit einem intelligenten Geschworenenpersonal verhandelt würde, leicht mit einer Freisprechung enden konnte. Um das zu verhindern, hatte er mit dem Präsidenten die Vereinbarung getroffen, daß dieser Prozeß bis zu einer Kreisstadtsession verschoben würde, wo es unter den Geschworenen mehr Bauern gab und daher auch mehr Chancen für eine Verurteilung.

Die Bewegung im Korridor wuchs immer mehr. Das meiste Publikum drängte sich an den Thüren der Civilabteilung, wo eben die Sache verhandelt wurde, von welcher den Geschworenen jener repräsentable Herr, der Prozeßliebhaber, erzählte. Während einer Pause trat aus dem Saal dasselbe alte Mütterchen, deren ganzes Eigentum der geniale Advokat zum Besten jenes Spekulanten, der nicht das geringste Anrecht auf das selbe hatte, zu rauben verstanden hatte. Daß das ein Unrecht war, wußten die Richter so wohl als auch ganz besonders der Supplikant und sein Advokat. Aber der von den letzteren erdachte Tric war derart, daß man gar nicht anders konnte, als das Eigentum des Mütterchens dem Spekulanten zu übergeben. Das Mütterchen war eine dicke Frau, in einem aufgeputzten Kleide, mit riesigen Blumen auf dem Hut. Nachdem sie aus der Thür herausgetreten, war sie auf dem Korridor stehen geblieben und wiederholte, mit den kurzen, dicken Armen fuchtelnd, zu ihrem Advokaten gewandt, immerfort: »was ist denn das? Erbarmen Sie sich doch! Was ist denn das?« Der Advokat betrachtete die Blumen auf ihrem Hut und hörte nicht auf sie, in irgend welche Kalkulation versunken.

Gleich nach dem Mütterchen trat aus dem Sitzungssaal mit schnellen Schritten jener berühmte Advokat, der es so eingefädelt hatte, daß das Mütterchen mit den Blumen das Nachsehen hatte, während der Spekulant dem Advokaten dafür zehntausend Rubel zahlte und hunderttausend Rubel erhielt. Der Plastron der tief ausgeschnittenen Weste und das selbstzufriedene Gesicht des Advokaten glänzten. Die Augen aller wandten sich auf ihn und er fühlte das und schien gleichsam durch sein ganze? Äußere zu sagen: »Ich verzichte auf alle Huldigungen.« Mit schnellen Schritten ging er an allen vorbei.

Siebentes Kapitel.

Endlich erschien auch Matwej Nikititsch, und der Gerichtskommissar, ein magerer langhalsiger Mensch, mit schrägem Gange und ebenso schräg zur Seite vorgeschobener Unterlippe, trat in das Zimmer der Geschworenen.

Dieser Gerichtskommissar war ein ehrlicher Mann, besaß akademische Bildung, konnte sich aber in keiner Stellung dauernd halten, da er einer periodischen Trunksucht ergeben war. Erst vor drei Monaten hatte eine Gräfin, die seine Frau protegierte, ihm diesen Posten verschafft, und er hielt sich bis jetzt auf ihm und freute sich dessen.

»Nun, meine Herren, sind Sie alle versammelt?« fragte er, seine Pincenez aufsetzend, während sein Blick über dasselbe hinwegschweifte.

»Ich glaube, alle«, sagte der lustige Kaufmann.

»So, sehen wir ’mal nach«, sagte der Gerichtskommissar, holte aus der Tasche eine Liste hervor und begann, die Anwesenden bald über das Pincenez hinweg, bald durch dasselbe musternd, die Namen aufzurufen.

»Staatsrat I.M. Nikiforow.«

»Ich«, sagte der repräsentable Herr, der über alle Gerichtsangelegenheiten so gut unterrichtet war.

»Oberst a. D. Iwan Ssemjonowitsch Iwanow.«

»Hier«, antwortete der magere Herr in Uniform.

»Der Kaufmann 2. Gilde Pjotr Baklaschow.«

»Jawohl«, sagte der freundliche Kaufmann, über das ganze Gesicht lächelnd. »Zu Diensten!«

»Gardelieutenant Fürst Dmitrij Nechljudow.«

»Ich«, antwortete Nechljudow.

Der Gerichtskommissar verbeugte sich, über das Pincenez hinwegblickend, besonders höflich und liebenswürdig, um den Fürsten gleichsam von den anderen zu unterscheiden.

»Kapitän Jurij Dmitrijewitsch Dantschenko, Kaufmann Grigorij Jefimowitsch Kuleschow u.s.w. u.s.w.«

Alle, außer zweien, waren zur Stelle.

»Jetzt, meine Herrn, bitte ich Sie in den Saal«, sagte, mit einer verbindlichen Handbewegung auf die Thür weisend, der Gerichtskommissar.

Alle setzten sich in Bewegung und traten, einer dem andern den Vortritt in der Thür lassend, zuerst in den Korridor und dann in den Saal ein.

Der Gerichtssaal war ein großes langes Zimmer, auf dessen einem Ende ein Podium, zu welchem drei Stufen führten, aufgebaut war. In der Mitte des Podiums stand ein mit grünem, etwas dunkler befranztem Tuch bedeckter Tisch. Hinter dem Tisch standen drei Lehnstühle mit sehr hohen, eichenen, geschnitzten Rücklehnen. Hinter den Lehnstühlen sah man im goldenen Rahmen ein lebensgroßes grelles Porträt des Kaisers, der mit vorgestrecktem Fuß, die Hand auf den Säbel gestützt, in Generals uniform mit Ordensband dastand. In der rechten Ecke hing ein Heiligenschrein mit einem dornengekrönten Christusbilde und befand sich ein Betpult. Auf der rechten Seite stand auch der Tisch des Staatsanwalts. Links, gegenüber diesem Tisch, stand mehr im Hintergrunde ein kleinerer für den Sekretär, und, etwas näher zum Publikum zu, befand sich ein gedrechseltes Eichenholzgitter, hinter welchem die noch unbesetzte Bank der Angeklagten war. Rechts auf dem Podium standen in zwei Reihen Stühle mit ebenso hohen Rücklehnen, für die Geschworenen, und unten Tische für die Advokaten.

Alles das befand sich im vorderen Teil des von einem Gitter durchquerten Saales. Der hintere Teil war ganz mit Bänken besetzt, die, immer höher aufsteigend, bis an die Rückwand reichten. Im hinteren Teile des Saales saßen nicht weit von der Barriere vier Frauen, etwa Fabrikarbeiterinnen oder Mägde, und zwei Männer, ebenfalls Arbeiter. Sie waren offenbar erdrückt von der großartigen Ausstattung des Saales und flüsterten darum nur schüchtern miteinander.

Bald nach den Geschworenen trat der Gerichtskommissar mit seinem einseitigen Gang mitten in den Saal hinaus und verkündete mit lauter Stimme, als wollte er die Anwesenden erschrecken, das übliche:

»Das Gericht!«

Alle erhoben sich von den Plätzen und auf dem Podium erschienen die Richter.

Zuerst kam der Präsident mit den muskulösen Armen und dem prächtigen Backenbart.

Dann kam das finstere Gerichtsmitglied mit der goldenen Brille. Es sah jetzt noch finsterer aus, denn kurz vor der Sitzung hatte er seinen Schwager, den Gerichtsamtskandidaten getroffen, der ihm mitteilte, daß er bei der Schwester gewesen sei und sie auch ihm erklärt hätte, daß es heute kein Mittagessen gäbe.

»Wir werden also in irgend ein Lokalchen fahren müssen«, sagte lachend der Schwager.

»Dabei ist nichts Lächerliches«, meinte das finstere Gerichtsmitglied und wurde noch finsterer.

Und endlich erschien das dritte Gerichtsmitglied, derselbe Matwej Nikititsch, der immer zu spät kam; er war ein bärtiger Mann mit großen, zu Boden gesenkten, gutmütigen Augen. Er litt an einem Magenkatarrh und hatte mit dem heutigen Morgen, auf Anraten des Arztes, ein neues Regime begonnen. Und dieses neue Regime hatte ihn heute noch länger als gewöhnlich zu Hause aufgehalten. Jetzt, als er auf das Podium hinauf stieg, hatte er ein konzentriertes Aussehen, da er nämlich die Gewohnheit besaß, in allen Fragen, die er sich stellte, auf jede erdenkliche Weise das Orakel zu befragen. Jetzt hatte er mit sich aus gemacht, daß, wenn die Anzahl der Schritte von der Kabinettthür bis zu seinem Lehnstuhl durch drei teilbar sein wird, ihn sein neues Regime vom Katarrh befreien wird, geht aber drei in der Zahl nicht auf — dann nicht. Es kamen sechs und zwanzig Schritte heraus, aber er machte noch ein kleines Schrittchen und setzte sich genau nach dem sieben und zwanzigsten in den Lehnstuhl.