Aufforderung zum Tanz - Christa Grasmeyer - E-Book

Aufforderung zum Tanz E-Book

Christa Grasmeyer

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Beschreibung

Bettina ist Schülerin an der Berliner Ballettschule. Die Ausbildung dort fällt ihr nicht leicht. Zum Glück geht es nicht ihr allein so. Die anderen machen auch Fehler. Bettina vergleicht sich im Spiegel mit ihnen, und es tröstet sie zu sehen, wie schön ihre eigenen Beine auswärts gedreht sind und wie exakt geschlossen und gestreckt in der fünften Position. Es ist zwar nicht ihr Verdienst, ihre Beine können das von Natur aus, aber schließlich ist es auch kein Verdienst, von Natur aus musikalisch zu sein, so musikalisch zum Beispiel wie das Mädchen Nathalie. Nathalie ist Bettinas Freundin. Im Unterschied zu ihr hat sie schon einen Freund, einen Slawistik-Studenten. „Schläfst du mit ihm?“, fragt Bettina in geheimnisvollem Flüsterton. „Natürlich. Das würdest du wohl nicht tun?“ Bettina beeilt sich zu beteuern, doch, das würde sie auch tun, wenn sie einen Freund hätte. „Durch Chris hab ich einen Begriff gekriegt, was Sex eigentlich ist“, sagt Nathalie. Sie spricht keineswegs im Flüsterton, während sie neben Bettina durch den hellen verglasten Verbindungsgang zum Umziehen ins Hauptgebäude geht. Bettina nickt und wünscht den Augenblick herbei, in dem sie ebenfalls erfahren könnte, was Sex ist. Zunächst aber muss sie die allereinfachsten Erfahrungen sammeln, zum Beispiel, wie man sich anzieht in einem Studentenklub. Nathalie zuckt die Schultern. „Chris würde sagen: Jeder, wie er möchte.“ Dann aber findet auch Bettina einen Freund – oder besser gesagt, ein Freund findet Bettina und zwar auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. „Und wer bist du?“, fragt sie. „Ich bin Arne Bornstedt, Bauarbeiter, Berliner von Geburt an, neunzehn Jahre alt, wohnhaft Greifswalder Straße, eins zweiundsiebzig groß, krummbeinig, ansonsten gesund bis vor Kurzem. Seit etwa einer Stunde psychisch erkrankt, mit rapider Verschlechterung.“ „Ist das ansteckend?“ „Hoffentlich.“ Bettina neigt den Kopf zurück. Sie möchte ebenfalls sein Gesicht genau betrachten, aber es liegt im Schatten seiner Mähne. „Was hast du für Augen, blaue?“ „Ja. Sie sind funktionstüchtig und zuverlässig. Sie haben nur die Neigung, sich zu vergucken. Beinah wären sie mir sogar aus dem Kopf gefallen, vorhin, als zwei Mädchen über den Weihnachtsmarkt gingen, und die eine davon. Also da fing das an mit den Augen. Die eine von den beiden hatte nämlich bemerkenswerte Ohren, musst du wissen.“ Aber ist der junge Mann auch der Richtige für Bettina? Und was passiert, wenn Arne zur Armee muss?

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Impressum

Christa Grasmeyer

Aufforderung zum Tanz

ISBN 978-3-95655-026-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1986 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Christa Grasmeyer • Aufforderung zum Tanz

1. Kapitel

Sie sieht in den großen Spiegel, und sie staunt, dass sie es wirklich ist, sie, Bettina Stoll, Schülerin an dieser Schule, am Ziel ihrer Wünsche. Gleich fällt ihr ein, wie weit sie entfernt ist vom Ziel. Aber sie trägt nun ein schwarzes, an Hals und Rücken ausgeschnittenes Trikot, dazu ein weißes Beintrikot und an den Füßen Schuhe mit über den Knöcheln gekreuzten Bändern, Schläppchen genannt. Sie hat das Haar streng aus der Stirn genommen, wie es hier Vorschrift ist, und am Hinterkopf aufgesteckt. Sie sieht so viel reifer und bedeutender aus als früher.

Füße seitwärts gedreht, mit den Fersen geschlossen, also in erster Position, linke Hand auf der Stange, rechter Arm in vorbereitender Haltung, Kopf nach vorn. Der Mann am Flügel, der Korrepetitor, beginnt zu spielen. Rechten Arm in die erste Position führen, dann in die zweite. Kopf nach rechts und Kopf nach vorn. Becken und Schultern genau ausrichten, Rücken gerade, Schultern gesenkt, geradeaus blicken. Den rechten Fuß vorn gekreuzt vor den linken stellen, das heißt die fünfte Position schließen, seitwärts schleifen, bis die Fußspitze den Boden berührt, fünfte Position hinten schließen, wieder seitwärts schleifen und die erste Position schließen. Wenden und Wiederholung der Übung mit dem linken Bein.

Wie oft hat sie das schon gemacht? Als es hier losging, mit dem Allereinfachsten, das dem Anfänger als erstes beigebracht wird, hat sie sich beinah erhaben gefühlt, denn zu Hause, in der Tanzgruppe bei Dietmar Stiller, ist sie längst darüber hinaus gewesen. Beide Hände auf die Stange legen, mit Mittelkörperspannung stehen, Füße in der ersten Position. Wenn’s weiter nichts ist, hat sie gedacht, aber nicht lange. Die Hände sind nicht irgendwie, sondern in Schulterbreite auf die Stange zu legen, Daumen und die übrigen Finger nebeneinander, und man hat in Unterarmentfernung von der Stange zu stehen, Oberarme in senkrechter Haltung neben dem Körper, Schultern nach unten, Blick nach vorn. Was für eine Penibligkeit!

Bei Dietmar Stiller haben sie oft gemacht, was sie wollten, gelacht, geschwatzt, zwischendurch gestöhnt über Schwierigkeiten, sogar mittendrin einfach aufgehört und erklärt: „Ich kann nicht mehr." Was hätten sie wohl gesagt, wenn es Dietmar in den Sinn gekommen wäre, jede einzeln prüfend zu betasten? „Bauch rein“, hat er gerufen: „Rücken gerade, Knie durchdrücken!“ Damit ist es hier nicht getan. Hier kommt die Lehrerin, diese Frau Reichert, auf einen zu und pikt einem mit den Fingern gegen der Po, zur Kontrolle, ob die Gesäßmuskeln gespannt sind. Sie begrabbelt den Rücken, kneift in die Oberschenkel, eine Handgreiflichkeit, die Bettina zuerst hat zusammenzucken lassen. Inzwischen hat sie sich daran gewöhnt, und sie hat gelernt, neunzig Minuten durchzuhalten. Von wegen, ich kann nicht mehr. Hier muss man können, oder man ist an dieser Schule fehl am Platz.

Woher der Muskelkater kommt, ist Bettina anfangs unerklärlich gewesen. Auf einmal machten sich Muskeln bemerkbar, von deren Existenz sie vorher keine Ahnung gehabt hat. Dabei hat sie doch früher Tennis gespielt und geturnt, und weil sie, aus Angst vor den Geräten, immer bloß am Boden turnen mochte, ist sie schließlich nicht mehr zum Turnen gegangen, sondern mit vierzehn Jahren zur Tanzgruppe beim Fritz-Reuter-Ensemble. Da hat Dietmar Stiller sie eigentlich noch nicht aufnehmen wollen, sie war zu jung für seine Gruppe. Aber dann hat er ihre Beine gesehen, und ein Jahr später hat er ihr geraten, zur Eignungsprüfung nach Berlin zu fahren. Er hat ihr gesagt, was sie erwarten würde, und sie war bereit, alles in Kauf zu nehmen und zu ertragen, alles an Mühsal und Plackerei, wenn sie nur Tänzerin werden durfte.

Sie ist verzweifelt, weil Frau Reichert schon wieder ihre Armhaltung korrigiert. Der Unterarm muss leicht eingebogen werden, aber nicht das Handgelenk, denn die Hand verlängert die Linie des Unterarms, und die Finger werden nur leicht gestreckt, nicht gespannt, und immer die Arme schön gerundet halten.

„Verstehst du?“, fragt Frau Reichert.

Bettina nickt.

„Warum tust du es dann nicht? Ich kann dir nicht in jeder Stunde dasselbe sagen, dazu haben wir keine Zeit.“

Bettina nickt wieder. Verzagtheit wird ungern gesehen, man muss Zuversicht und Bereitwilligkeit zeigen. Die Armhaltung heißt port de bras. Der Unterricht wimmelt von französischen Ausdrücken, die meisten sind Bettina noch fremd, aber das entsetzliche port de bras hat sich ihr eingehämmert. Manchmal möchte sie sich die Arme abhacken. Was nützen ihr die Beine, solange ihre Arme wie Stöcke sind?

Bei Dietmar reichte es aus, die Arme zur Seite zu führen oder nach oben. Hauptsache, man drehte einigermaßen die Beine nach außen und man war insgesamt beweglich und stellte sich nicht tramplig an. Sicher wusste er Bescheid über port de bras. Aber seine Aufgabe war es nicht, den Mädchen in seiner Gruppe das Einmaleins des klassischen Tanzes einzupauken. Das tat er bloß in großen Zügen, großzügig also, als allgemeine Trainingsgrundlage. Hier reichen die Vorschriften vom kleinen Finger bis zum großen Zeh. Sogar die Augen haben in eine bestimmte Richtung zu gucken, und wer zu heulen anfängt, muss die Tränen eben laufen lassen.

Frau Reichert hat alle sieben Mädchen im Blick, die nun nicht mehr an der Stange stehen, sondern frei im Raum verteilt. Zu den ersten drei Takten der Musik haben sie die Arme über den Kopf gehoben, in die dritte Position. Beim vierten Takt wird die Position gehalten, beim fünften Takt in die zweite Position geführt, eine Bewegung, die mit den Unterarmen beginnt.

„Leicht strecken“, sagt Frau Reichert, „und, ohne anzuhalten, senken, aus den Schultergelenken, ganz natürlich. Ganz natürlich, Bettina!“, wiederholt sie, und Bettina, die sich müht, im Takt zu bleiben, empfindet ihre Arme wie fremde, an ihr befestigte Gegenstände, die sie bewegen soll, als seien es ihre Arme.

Sechster Takt, zählt sie mit, Arme in der zweiten Position halten. Siebter Takt, in die vorbereitende Haltung senken. Achter Takt, mit dem rechten Fuß seitwärts schleifen, das nennt man battement tendu, und hinten die fünfte Position schließen, Kopf nach links. Besser wär’s, sie würde den Rhythmus gefühlsmäßig erfassen, anstatt ihn auszuzählen. Dann könnte sie sich voll auf die Bewegung konzentrieren, und es wäre nicht eine solche Gespanntheit in ihr, bloß nichts zu spät oder zu früh zu tun. Sie muss so viel auf einmal bedenken, darf weder die Arme noch die Beine oder den Kopf oder die Schultern oder die Bauchdecke vergessen, und immer hören dabei, genau auf die Musik hören, und wenn die Übung wiederholt wird, muss sie außerdem beachten, was Frau Reichert gesagt hat. Es kommt vor, dass Bettina denselben Fehler beim dritten oder vierten Mal noch macht und am nächsten Tag wieder. Dann fragt Frau Reichert, ob sie die Absicht habe, ihre Fehler für alle Zeit fest einzustudieren, und Bettina schüttelt in stummem Entsetzen über sich selbst den Kopf.

Zum Glück geht es nicht ihr allein so. Die anderen machen auch Fehler. Bettina vergleicht sich im Spiegel mit ihnen, und es tröstet sie zu sehen, wie schön ihre eigenen Beine auswärts gedreht sind und wie exakt geschlossen und gestreckt in der fünften Position. Es ist zwar nicht ihr Verdienst, ihre Beine können das von Natur aus, aber schließlich ist es auch kein Verdienst, von Natur aus musikalisch zu sein, so musikalisch zum Beispiel wie das Mädchen Nathalie.

Mit Nathalie vergleicht sich Bettina nicht gern, das ist zu betrüblich für sie. Nathalie steht da in einer Haltung, als habe sie endlich die einzig ihr gemäße Art gefunden, erlöst von plumper Erdenschwere, die sie bisher notgedrungen hat ertragen müssen. Ihre hellen Augen werden dunkel vor Konzentration, ihre Brauen, die wie mit einem Pinsel in ihr Gesicht getuscht wirken, heben sich und zittern, wenn ihr eine Übung nicht sofort gelingt. Wer Nathalie auf der Straße sieht, würde vielleicht nichts Bemerkenswertes an ihr finden. Hier aber, in dem kahlen Raum, an der Stange, vor dem großen Spiegel, ist sie etwas Besonderes. Einmal hat Bettina im Vorübergehen gehört, wie Frau Reichert zu der Lehrerin einer anderen Klasse sagte: „Sie hat Ausstrahlung.“ Und obwohl Bettina dabei keinen Namen aufgefangen hat, ist ihr klar gewesen, wer gemeint war.

Frau Reichert sagt die nächste Übung an. Petit temps levé sauté in der ersten Position. Das sind kleine schnelle Sprünge auf der Stelle. Ohne Stange, also ohne Hilfsmittel, und die Arme frei in der vorbereitenden Position. Früher, bei Dietmar, sind die kleinen Sprünge eine lustige Hüpferei gewesen. Jetzt heißt es aufpassen, Beine und Füße in der Luft straff durchstrecken und vor allem das Tempo beachten, abspringen beim Auftakt und ankommen bei eins im ersten Takt, kleine Kniebeuge, demi-plié genannt, vertiefen und wieder hochspringen, genau im Takt bleiben, nicht nachlassen, nicht schlaff werden, springen wie ein Ball, nicht auf die Bretter krachen jeden Sprung abfedern ...

„Danke!“, ruft Frau Reichert dem Korrepetitor zu. Sie bricht die Übung ab und schüttelt den Kopf. „Ein trauriger Anblick. Seht ihr nicht im Spiegel, dass ihr keinen Hals mehr habt? Die Schultern bleiben unten! Stützt die Hände auf die Hüften, vielleicht geht’s dann besser. Bitte“, sagt sie zum Korrepetitor, und der fängt wieder an.

Sie springen. Der Atem wird knapp. Neunzig Minuten sind fast vorbei. Die Sprünge kommen immer am Schluss, da werden die Reserven verbraucht. Wer zwei oder drei Pfund zuviel wiegt, der merkt es jetzt. Silke zum Beispiel, sie ist bestimmt nicht dick, aber ein Pfund hat sie wohl allein schon im Busen, die Ärmste, und jedes Gramm muss mit hochgewuchtet werden.

Dann endlich die Verabschiedung, révérence genannt, eine kleine Verbeugung mit demi-plié vor dem Korrepetitor, wenden und noch einmal vor Frau Reichert. Damit beginnt und damit endet jeder Unterricht.

Der Korrepetitor packt seine Noten zusammen und geht. Die Mädchen trocknen sich Gesicht und Hals. Ihre Handtücher, Bademäntel, Trainingsanzüge hängen über der Stange bei der Tür. Noch sprechen die Mädchen nicht, noch reicht ihnen die Luft gerade zum Atmen. Sie knüpfen die Bänder der Schläppchen auf und ziehen Turnschuhe, Hausschuhe, Sandalen an.

Frau Reichert öffnet eine Fensterklappe in der Wand aus Glasbausteinen. Die anderen beiden Wände sind einfach gemauert und geweißt, die vierte Wand nimmt der Spiegel ein. Rundherum die Stangen, eine etwas höher angebracht, eine etwas tiefer für kleine Schüler. Nichts weiter im Raum als der Flügel und einige Holzstühle in der Ecke, nichts, wohin der Blick abschweifen könnte, vielleicht nach draußen wandern zu den Wolken, zu Regen oder Sonnenschein. Solange der Unterricht dauert, spielt sich die Welt hier drinnen ab, und möglichst auch noch nachher, möglichst den ganzen Tag. Fünfundvierzig Minuten Mittagspause, zum Essen, zum Verschnaufen. Duschen lohnt nicht. Nach der Pause geht es weiter mit Folklore und dann mit Gestaltung. Aber wenn Klassisch vorbei ist, hat man das Schwerste geschafft.

Die Mädchen werden munter. Immerhin haben die kleinen Sprünge schon besser geklappt als gestern, da schickte Frau Reichert nach den ersten Versuchen die Mädchen an die Stange zurück, und heute hat sie das nicht getan. Die Hände auf den Hüften sind zwar noch ein Hilfsmittel, und Nathalie hat es verschmäht, aber morgen vielleicht, morgen, hofft jede für sich, könnte sie es ebenfalls verschmähen.

Die nächste Gruppe kommt herein, zwölf- oder dreizehnjährige Jungen, die haben die Mittagspause hinter sich und legen ihre Sachen ab und hören, was die älteren Mädchen reden. Großspurig vergewissern sie sich, petit temps levé sauté? Und das soll schwierig sein? Sie üben jetzt grande sissonne ouverte. Sie plappern die französischen Ausdrücke, und sie lachen, weil die großen Mädchen nicht mal wissen, was das ist, geschweige denn, wie man es macht. Einer von ihnen führt den Sprung vor, und ein anderer, ein Kleiner mit frechen Augen, meint gönnerhaft, sie würden es schon noch lernen, irgendwann. Dabei mustert er die Mädchen, als zweifle er sehr, dass sie es jemals lernen würden, viel zu alt, wie sie sind.

Die Mädchen hören öfter solche Andeutungen, meistens von kleineren Jungen. Aber auch Mädchen aus den jüngeren Klassen schlagen ihnen gegenüber gern einen schnippischen Ton an, tragen die Nasen hoch und lassen ihre Spitzenschuhe an den Bändern baumeln, wenn sie vorbeigehen wie Primaballerinen. Spitzenschuhe haben die Mädchen aus der Sonderklasse, die jetzt erst anfangen, mit sechzehn oder sogar achtzehn Jahren, noch nie an den Füßen gehabt, während sie, die Kleinen, die mit zehn angefangen haben, damit längst vertraut sind.

Bettina lässt das Gehabe der Jungen kalt. Sie sieht jedoch Nathalies Gesicht starr werden, und da sagt sie in dem milden Ton , über den man sich ärgert, wenn man der Jüngere ist: „Ihr gebt an wie Ziegenböckchen, die können auch springen und wollen schon frech werden und stoßen und haben noch gar keine Hörner."

„Wozu brauchen wir Hörner!“, ruft der mit den frechen Augen und wirft sich das Handtuch über die Schulter.

„Das weißt du nicht? Warte, bis sie dir aufgesetzt werden, dann weißt du’s."

Nun sind es die Mädchen, die lachen, und die Jungen, verunsichert, weil sie den Sinn nicht recht verstehen, wenden sich ab und gehen zum Warmmachen an die Stangen.

Nathalie schweigt. Im Speiseraum setzt sie sich neben Bettina. Sie holt sich kein Essen. Erst als es auffällt, dass nur sie an dem Tisch, der für die Klasse reserviert ist, keinen Teller vor sich hat, und als die anderen fragen, lächelt Nathalie zerstreut und entschließt sich, zur Küche zu gehen.

„Ein komischer Typ“, stellt Julia fest, indem sie mit Hingabe zu essen beginnt. Sie hat sich tüchtig auflegen lassen. Der Mittwoch, der Wiegetag, ist noch weit. Julia sitzt ebenfalls neben Bettina, auf der anderen Seite, und sie teilt auch mit ihr im Wohnheim ein Zimmer. „Nathalie“, sagt sie, „die kann überhaupt nichts locker nehmen.“ Sie kaut, sie guckt umher, bereit zu Spaß und Schabernack.

„Vielleicht kennen wir sie bloß noch nicht genug, weil sie zu Hause wohnt“, gibt Bettina zu bedenken.

Claudia schaltet sich ein. Leise, aber mit Nachdruck, sagt sie: „Nathalie ist eingebildet.“

Bettina sieht von ihrem Teller auf, zu Claudia hinüber, die ist ihr irgendwie unsympathisch. Alle Mädchen kennen sich noch nicht sehr gut, und Bettina denkt, dass man abwarten muss, wie sich jede einzelne entpuppt. Aber soviel meint sie doch schon herausgefunden zu haben, dass Claudia missgünstig ist. Sowie sich eine Gelegenheit bietet, sagt Claudia was gegen Nathalie.

„Ist mir noch nie aufgefallen“, erwidert sie und starrt mit deutlicher Zurückweisung über den Tisch.

Claudia lacht. „Ja, du, Betti, dir fällt so leicht nichts auf.“ Zu Hause wird Bettina Betti genannt, dort ist es in Ordnung. Hier nennt sie keiner so. Wie kommt Claudia dazu? Bettinas Gesicht verfinstert sich, und Claudia lacht wieder.

„Was sollte mir denn auffallen?“, fragt Bettina.

„Ach, nichts Besonderes. Du findest eben jeden nett.“ Dich nicht, denkt Bettina, und da sagt Claudia auch schon: „Mich natürlich nicht. Du musst aufpassen, dir liest man immer vom Gesicht ab, was du denkst.“

Die Jungen setzen sich an den Nebentisch. Zur Klasse gehören fünf Jungen. Eigentlich sind nur zwei von ihnen als Jungen zu bezeichnen, die anderen sind älter, neunzehn, sogar zwanzig bereits. Sie werden in Klassisch getrennt von den Mädchen unterrichtet und haben etwas später Schluss gehabt. Einer von ihnen hat das Kompott in der Küche vergessen. Er geht zurück, und Julia tauscht seinen gefüllten Teller gegen ihren leeren aus, da wird er staunen.

Bettina vergisst ihren Groll, Kichernd flüstert sie mit Julia, und als der Junge kommt und seinen Teller vertauscht sieht und verwundert umherguckt, muss sie laut auflachen.

Es ist ein Glück für Bettina, dass sie gerade die vergnügte Julia als Zimmergefährtin zugewiesen bekommen hat, und sie mag diese Pausen sehr, in denen sie alle entspannt beisammensitzen und schwatzen. Dann denkt sie nicht an zu Hause, und sie achtet nicht auf ihre Aussprache. Mehr oder weniger spricht hier jeder Dialekt, aber Bettina ist die einzige aus Mecklenburg, und wenn sie auch aus einer Stadt kommt, bangt sie doch immer ein bisschen, man könne sie in Berlin als Landpomeranze belächeln. Alles ist ihr fremd und sie fühlt sich oft zum Heulen. Davon darf keiner was merken, sie würde sich schämen. Sie hat direkt einen Schreck gekriegt, als Claudia behauptete, man könne ihr die Gedanken vom Gesicht ablesen. Bloß das nicht!

Inzwischen hat sich Nathalie wieder auf den Stuhl neben Bettina gesetzt. Still, aber aufmerksam, verfolgt sie, was gesprochen wird. Nicht dass sie gehemmt wäre und Zeit zum Auftauen brauchte. Schüchternheit, wie Bettina sie kennt, macht Nathalie sicher nicht zu schaffen. Nathalie beobachtet. Irgendwie tun sie das natürlich alle, nur nicht so gezielt wie Nathalie. Merkwürdig ist allerdings eins, und da hat Claudia nun ganz unrecht mit ihrer Annahme, ihr, Bettina, falle so leicht nichts auf. Ihr ist vom ersten Tag an aufgefallen, dass Nathalie für sie einen besonderen Blick hat. Über die übrigen schaut sie flüchtig hin. Wenn sie Bettina sieht, tritt ein Ausdruck von Interesse in ihre Augen, und sie spricht mit ihr in einem anderen Ton, und sie wählt den Platz neben ihr, ob nun im Speisesaal oder beim theoretischen Unterricht.

Nach dem Essen, als sie zurückgehen durch die verglasten Verbindungsgänge, die über den Hof zu den Übungsräumen in den hinteren Gebäuden führen, sagt Nathalie: „Wie du die kleinen Bengel vorhin hast abblitzen lassen, das war gut.“

„Ach, eigentlich wär’s kaum eine Antwort wert gewesen.“

„Aber du hast geantwortet. Für mich, nicht? Du hast für mich geantwortet.“

Bettina nickt. „Dir ist das so unter die Haut gegangen, was die Bengel quatschen.“

„Weil’s stimmt.“

„Und wenn schon! Auf dich trifft es nicht zu. Du lernst doch spielend in drei Jahren, wozu andere acht Jahre brauchen.“

„Spielend? Ich geb mir Mühe in jeder Stunde."

„Das tun wir alle, bloß bei dir kommt mehr dabei raus.“

Nathalie lächelt. Sie verändert sich, wenn sie so lächelt wie jetzt. Ihr Gesicht wird offen, und ihre hellen kühlen Augen nehmen einen Ausdruck an, der über schlichte Freundlichkeit hinausgeht. „Magst du mich?“, fragt sie unvermutet.

„Ja“, sagt Bettina, und da sie etwas verwirrt ist, fügt sie hinzu: „Natürlich, warum denn nicht?“

„Natürlich“, wiederholt Nathalie unzufrieden. „Wieso, natürlich? Bist du ein Allmannsfreund?“

Bettina zuckt die Schultern. Sie ahnt, worauf Nathalie hinauswill, und sie ist auch einverstanden, stolz sogar, dass sich die kritische Nathalie ausgerechnet um sie bemüht. Sie versteht nur nicht recht, was sie für Nathalie bedeuten könnte, und sie fürchtet, sich zu täuschen und lächerlich zu machen.

Solche Bedenken kennt Nathalie nicht, oder sie schiebt sie beiseite, wenn sie was erreichen will. „Man kann“, sagt sie, „mit jedermann befreundet sein. Dann hat man in Wirklichkeit gar keinen Freund. Bist du so? Das wär schade.“

„Ich hab zu Hause eine Freundin“, sagt Bettina in dem Gefühl, sich verteidigen zu müssen.

„Ach so, zu Hause“, stellt Nathalie fest, reserviert zurückweichend, dass Bettina an liebsten sofort einlenken möchte.

Dazu hat sie keine Gelegenheit mehr. Julia schiebt sich zwischen sie und Nathalie, henkelt sich bei Bettina ein und redet drauflos, irgendwas Belangloses. Bettina hört kaum zu. Sie sieht, wie Nathalie aus den Augenwinkeln Julia fixiert und wie sie sich dann abwendet.

2. Kapitel

Jetzt kommt wieder das Heimweh. Bettina liegt auf ihrem Bett. Vielleicht wird sie einschlafen, bevor sich das Heimweh richtig an ihr festkrallen kann. Müde genug ist sie nach dem Tag in der Schule, und dann haben sie auch noch immer einen langen Weg bis zum Wohnheim, mit der S-Bahn und mit der U-Bahn, und zu Fuß, das dauert eine Stunde. Sie essen von den Vorräten, die sie unterwegs einkaufen. In dem kleinen Bad, das zum Zimmer gehört, waschen sie ihre Trikots und Slips und Strümpfe und hängen die Sachen über die Badewanne.

Wohnheim ... Wer wohnt hier, wer fühlt sich hier heimisch? Bettina nicht. Das große Haus, die steinernen Treppen, die vielen Türen an den langen Fluren sind ihr unheimlich. Kann man die gekachelten Räume, in denen Herde und Kühlschränke stehen, überhaupt Küchen nennen? Kaum einer kocht darin, und die Schränke sind gähnend leer, denn Töpfe und Geschirr würden sofort verschwinden. Die Kühlschränke haben zwar verschließbare Fächer, aber die sind mit einiger List und Gewaltanwendung leicht zu öffnen und werden ausgeraubt, besonders in den letzten Tagen vor der Auszahlung der Stipendien. In einer Küche, wie Bettina sie kennt, riecht es gut, da ist es warm, da erzählt man, sitzt am Tisch und isst miteinander, da steht und liegt jedes Ding an seinem Platz, da spült man Geschirr, schält Kartoffeln, wischt den Fußboden, da scheint die Sonne herein durch die kleinen Fenster, von draußen, vom Garten ...

Bettina seufzt. Draußen ist die riesige Stadt, eine Endlosigkeit von lauter fremden Straßen. Züge donnern in Bahnhöfe, über die Treppen schwappt eine Flut von Menschen, ergießt sich in Busse und Straßenbahnen, von denen Bettina nicht weiß, woher sie kommen und wohin sie fahren. Irgendwo ist ein Stadtteil, der Karlshorst heißt, darin steht ein Haus, ein Neubau, nach wenigen Jahren schon den Stempel der Verlotterung tragend, weil es für all die Studenten, die aus und eingehen, nur eine Unterkunft ist, nicht für die Dauer bestimmt, und hinter einer der unzähligen Türen, in einem der Zimmer, auf einem der Betten liegt sie. Bettina Stoll.

Ihre Stadt ist anders, da oben zwischen den Seen, auch nicht gerade klein, und voller Menschen, im Zentrum sogar überfüllt, denn die Straßen sind viel enger als hier, und Straßenbahnen und Busse und Autos schieben sich hindurch, und die Neubaugebiete sind wie überall. Und doch anders.

Vielleicht bloß deshalb, weil ich sie kenne, denkt Bettina. Was man kennt, ist nicht fremd. Mit der Zeit werde ich hier auch nicht mehr fremd sein. Aber dann sieht sie das Haus ihrer Eltern vor sich und die Gärtnerei, und sie reißt die Augen auf, um nicht das Haus zu sehen, die Haustür und die Stufen davor, sondern dieses Zimmer, in dem drei Stühle sind und ein Tisch und drei Betten, eins davon unbelegt, und das andere gehört Julia. Sie haben Glück, Bettina und Julia, dass sie nur zu zweit sind und ein bisschen mehr Platz haben als Doreen, Silke und Claudia im Zimmer gegenüber, auf der anderen Seite vom Flur. Julia hat Poster von Beatgruppen an die Wände gepinnt, daneben sehen Bettinas zwei Poster treuherzig aus. Auf dem einen sind Hunde, die erinnern sie an den guten Janko, und auf dem zweiten sind Blumen, die erinnern sie an den Garten.

Es ist gar nicht gut, wenn sie sich erinnert, Heimweh ist kindisch. Das soll sich mal einer vorstellen, mit sechzehn Jahren wälzt sie sich auf dem Bett und heult beinah vor Heimweh, vor Sehnsucht nach den Eltern, nach ihrem Zimmer zu Hause, das so hübsche Tüllgardinen und gedrechselte Regale hat, und auf den gelackten Dielen liegt ein bunter Teppich. Sogar nach Bernhard sehnt sie sich, dem spöttischen großen Bruder, ja, und nach Janko.

Julia hat sich von den Studenten der Artistenschule, die ein Stockwerk tiefer wohnen, beschwatzen lassen und ist zu Besuch runtergegangen. Julia hat kein Heimweh, Kunststück, sie stammt aus Potsdam und fährt jedes Wochenende nach Hause. Bettina ist in den sechs Wochen, die inzwischen vergangen sind, erst zweimal zu Hause gewesen, und hinterher hat sie sich scheußlicher gefühlt als vorher. Es ist wahrscheinlich unnormal. Man hockt nicht im Elternhaus bis ins hohe Alter. Aber Bettina hat da bisher eben immer gehockt, sie hat keine Krippe, keinen Schulhort gekannt, weil ihre Mutter in der Gärtnerei mitarbeitet, also in der Nähe, ständig greifbar und bei Bedarf abkömmlich. Vielleicht ist das der Grund. Es nützt ihr aber gar nichts, über den Grund zu grübeln. So wenig nützt es, als wolle man den Grund für eine Erkältung herausfinden. Deshalb schnieft und hustet man doch.

Sie ruft oft die Eltern an, das hat der Vater ihr eingeschärft. Mindestens zweimal in der Woche anrufen, natürlich als R-Gespräch. Dann plaudert sie munter ins Telefon. Würde sie klagen, käme der Vater nach Berlin gefahren, im Auto, um sein Kind in die Arme zu schließen und mit nach Hause zu nehmen. Gern würde er sie oft besuchen, und noch lieber würde er sie jedes Wochenende bei sich zu Hause haben. Aber erstens werden solche häufigen Heimfahrten von der Schule nicht gebilligt, und zweitens will Bettina doch Tänzerin werden, sie will es mit aller Macht. Dazu gehört, dass sie sich einlebt, hier in Berlin, dass sie ihr Heimweh überwindet.

Der Fragebogen zur Eignungsprüfung verlangte Angaben zur Konstitution, da konnte Bettina guten Gewissens schreiben, dass Bruder und Eltern und Großeltern mager sind und allesamt schlechte Nahrungsverwerter. Der Vater hatte den Kopf geschüttelt. Gute oder schlechte Futterverwerter, das spielt beim Schlachtvieh eine Rolle! Und als er seine Tochter zur Eignungsprüfung begleitete, widerwillig und im Stillen hoffend, sie würde abgelehnt, da ärgerte ihn, dass sie, wie sie ihm nachher erzählte, vor den Prüfern hatte stehen müssen und sich begutachten lassen und dass man ihre bloßen Füße in die Hand genommen und gebogen hatte. Wozu muss seine Tochter ihre Füße herzeigen und später peinigen beim Spitzentanz? Weil sie es nun mal wollte und weil sie die Eignungsprüfung bestand und weil er nicht imstande ist, ihr einen Wunsch abzuschlagen, hat er sie zur Aufnahmeprüfung erneut nach Berlin gefahren und seine Unterschrift gegeben, halb bekümmert, halb verdrossen, als habe man ihn veranlasst, eine Orchidee wider alle Vernunft aus dem Treibhaus zu nehmen und an einen Platz zu pflanzen, wo raue Winde wehen. Seitdem lauert er auf ein Anzeichen von Verwelken, von Verkümmerung. Bettina sieht beim Telefonieren den Vater vor sich, wie er argwöhnisch auf den Klang ihrer Stimme lauscht, und sie erzählt nur Gutes und Erfreuliches. Wenn ihre Mutter am Telefon ist, lässt sich Bettina gehen, denn die Mutter bleibt gelassen. Die Mutter antwortet zwar verständnisvoll, aber doch mit einer gewissen Bestimmtheit: „So was macht jeder mal durch, Betti, das gibt sich.“ Und dann lenkt sie ab, dann sagt sie zum Beispiel: „Neulich hat mich Viviane nach dir gefragt ...“

Ach ja, Vivi! Jahrelang ist Bettina mit Vivi zur Schule gegangen. Sie haben zusammen Tennis gespielt, das konnte Vivi besser als Bettina, und im Winter flitzte Vivi mit Schlittschuhen übers Eis und zog Bettina an der Hand mit. Wenn Bettinas Tanzgruppe einen öffentlichen Auftritt hatte, klatschte Vivi Beifall und bewunderte die Freundin, denn nichts bewundert man so wie das, was man selber überhaupt nicht kann. Grazie geht Vivi ab, sie ist ein sportlicher Typ, furchtlos und klug, sie besucht die Schule weiter bis zum Abitur, und danach will sie Chemie studieren. Aber was Bettina macht, worauf die sich vorbereitet, das findet Vivi viel schöner. Für Vivi schwebt die Ballettschule irgendwo über den Wolken, selbst die alltägliche Schinderei, von der Bettina ihr berichtet, erscheint Vivi als nicht ganz von dieser Welt. Sie wäre enttäuscht, wenn sie Bettina jetzt sehen könnte, verzagt auf dem Bert liegend. Es ist eigentlich merkwürdig und ein bisschen traurig und doch wohl unabänderlich, denkt Bettina, dass Vivi ihr in den wenigen Wochen schon so ferngerückt ist. Nathalie dagegen ist ihr nähergekommen.

Bettina setzt sich auf. Sie nimmt sich vor, Nathalie morgen von diesem Heimwehkrankheitsanfall zu erzählen, jedes Mal, wenn Bettina zu Hause anruft, erkundigt sich Nathalie hinterher, was sie gesagt hätte und was die Eltern gesagt hätten und wer am Telefon gewesen sei. Zu Bettinas Verwunderung hat sich herausgestellt, dass Nathalie bereits bei der Eignungsprüfung Bettina und ihren Vater aufmerksam in Augenschein genommen hat. Sie hat den Blick gesehen, mit dem der Vater seiner Tochter nachschaute, als sie in den Prüfungsraum ging, und die Bewegung, mit der er sie an sich zog, als sie wieder herauskam. Obwohl Nathalie auf dem langen Flur ein Stück entfernt stand, allein übrigens, und nicht hören konnte, was zwischen den beiden gesprochen wurde, hat sie doch von Bettinas Gesicht die Freude über das Ergebnis abgelesen und vom Gesicht des Vaters, dass er diese Freude nicht teilte.

Bettina stellt ihren Rekorder an und lässt das Band laufen, bis sie den Walzer findet, den sie kürzlich mal mitgeschnitten hat. Sie kreuzt die Beine im Schneidersitz und tanzt mit dem Oberkörper, mit Kopf und Armen. Die Musik bringt sie ins Träumen. Sie hat Spitzenschuhe an, sie wirbelt über die Bühne, Touren beherrschend, deren Schwierigkeit sie natürlich nie bezwingen wird. So können nur die ganz Großen tanzen, die international bekannten Ballerinen, denen man Blumen auf die Bühne wirft und Liebesbriefe schreibt. Sie, Bettina Stoll, hat noch nie einen Liebesbrief bekommen, sie hat sogar noch nie einen Freund gehabt und ist schon sechzehn!

Julia kommt herein. Sie hat auf dem Flur den Walzer gehört, und als sie Bettina in Pose auf dem Bett sitzen sieht, geht sie ebenfalls in Pose. Für Schritte ist kein Platz im Zimmer. Und dann erscheint Claudia von gegenüber. Sie hat einen Schnellhefter in der Hand, vielleicht will sie irgendwas bereden wegen der Lernkonferenz. Geltungsbedürftig, wie sie ist, kümmert sie sich gern um solche Sachen, als Ausgleich gewissermaßen, denn ansonsten hat sie schwer zu kämpfen. Alle anderen verfügen über eine größere Beweglichkeit als sie, zumal in den Hüftgelenken, und soviel sie auch übt und ihre Beine zu spreizen versucht, sie macht keine wesentlichen Fortschritte.

„Ihr hört Weber“, stellt Claudia fest. „Webers ‚Aufforderung zum Tanz‘. Kennt ihr den pas de deux, der danach getanzt wird?“

Bettina und Julia kennen ihn nicht. Claudia lächelt überlegen, aber was nützt es ihr schon, dass sie die beiden Unwissenden belehren kann, dieser pas de deux sei in der ganzen Welt bekannt unter dem Titel „Geist der Rose“ und gehöre zum Repertoire der berühmtesten Tänzer. Was nützt das angesichts der spielerischen Leichtigkeit, mit der Bettina ihre Fußsohlen aneinander und die Knie links und rechts auf die Bettdecke legt?

Claudia sagt: „Julia ist wohl der Rosengeist, und du, Betti, stellst das Mädchen dar? Besser, ihr würdet Vokabeln lernen.“

Bettina antwortet nicht, aber Julia wirft den Kopf zurück. „Und wer bist du? Du bist der Geist, der einen ewig nervt.“

„Keine Bange“, sagt Claudia, „ich verzieh mich schon. Ich verzichte drauf, dich zu fragen, wo du den ganzen Abend wieder gewesen bist.“

Sie geht.

„Das bringt sie bei der Lernkonferenz vor, sollst sehen“, sagt Julia. „Wer verplempert seine Zeit, wer dallert abends rum, anstatt zu lernen oder auszuruhen? Julia!“ Sie lässt sich mit einem Seufzer auf ihr Bett fallen. „Die da unten“, sie deutet auf den Fußboden, „die haben Beat an. Was anderes als Beat ist mir früher nie in die Beine gefahren. Jetzt also Weber! Das hätt ich mir nicht träumen lassen.“

Sie hat sich vieles nicht träumen lassen. Ohne einen blassen Schimmer zu haben, was Ballett bedeutet, ist Julia auf eine Zeitungsanzeige hin zur Eignungsprüfung gefahren. Sie wurde angenommen, weil ihre körperlichen Voraussetzungen gut sind. Seitdem erlebt sie täglich von Neuem die Überraschung, dass sie all ihre Gewohnheiten umstellen muss.

„Wärst du hergekommen, wenn’s dir vorher einer gesagt hätte?“, fragt Bettina.

„Nie im Leben!“

Bettina lacht. Ihr gefällt, dass Julia so ehrlich ist. Keins der anderen Mädchen, auch sie selber nicht, würde zugeben, sozusagen aus Versehen hier gelandet zu sein.

„Oder doch“, fügt Julia hinzu, „weil ich’s nämlich nicht geglaubt hätte. Ich hab gedacht, ich lern hier tanzen. Das ahnt doch kein Mensch, dass man hier gehen und stehen und hören und sehen lernt.“

„Sehen auch?“

„Und ob! Denkst du, ich habe mir früher jemals die Haare hochgesteckt? Angeblich sieht das schön aus. Und immer ordentlich angezogen sein, sonst heißt es gleich, man ist schlampig. Neulich sagte Frau Reichert zu mir: ‚Dieser Pullover, meine liebe Julia, ist ja ein grausiges Kleidungsstück, verblichen und ausgeleiert. Siehst du gar nicht, wie dich das verunstaltet?' Und ein andermal hat sie gesagt: ,Du hast ein Loch im Trikot, meine liebe Julia, das möchte ich morgen gestopft sehen.‘ Blablabla. Weißt du, Bettina, dies ist keine Berufsausbildung, dies ist eine Anstalt, wo man von Kopf bis Fuß umgekrempelt wird.“

„Ja“, sagt Bettina nachdenklich. „Die Kleinen werden gleich so hingedrillt. Wir haben’s schwerer, bei uns gibt’s schon allerhand umzukrempeln. Würdest du deshalb wegwollen, zurück nach Hause?“

„Jetzt nicht mehr. Zuerst ja, da hab ich gedacht, was die hier von mir wollen, schaff ich nie, besonders in Klassisch. Jazz hat mir von Anfang an Spaß gemacht, der Rhythmus geht mehr ein. Weber!“, sagt sie verächtlich. Sie stützt sich auf, lässt den Kopf in den Nacken sinken und schüttelt ihr lang herabhängendes Haar. „Aufforderung zum Tanz? Zum Einschlafen, würd ich euer denken.“ Dann sieht sie Bettina auf einmal ganz ernsthaft an. „Meinst du, sie werden mich wegschicken, weil meine Ohren taub bleiben für Weber und Tschaikowski und all diese Leute, die Ballettmusik geschrieben haben?“