Aufrappeln - Judith Poznan - E-Book
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Aufrappeln E-Book

Judith Poznan

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Beschreibung

Als Judith am Morgen des Karfreitags ihr Bad betritt, ereignet sich etwas Unerwartetes: Aus dem Klo heraus schaut ihr eine Ratte entgegen. Die nächsten Tage werden auch nicht besser, denn aus heiterem Himmel trennt ihr Freund sich von ihr. Jetzt also alleinstehend mit Kind. Die nächsten Monate werden nicht einfach. Die Welt geht unter, mehrmals. Und dann wieder doch nicht. Die Seelenlage gerät durcheinander. Niemand muss den anderen nach einer Trennung am nächsten Tag noch mal wiedersehen – es sei denn, man hat ein gemeinsames Kind. Als Paar scheitern, aber zusammen Eltern bleiben ist das erklärte Ziel. Ein neuer Lebensplan muss also her, für sie drei als Patchworkfamilie, aber auch für Judith als Mutter und Single-Frau. Wie all dies gelingen kann, erzählt Judith Poznan in ›Aufrappeln‹. Sie erzählt von traurigen und ernsten, aber auch von absurden und heiteren Momenten nach einer Zäsur im Leben – aufrichtig, warmherzig und unheimlich witzig.

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Seitenzahl: 182

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Als Judith am Morgen des Karfreitags ihr Bad betritt, ereignet sich etwas Unerwartetes: Aus dem Klo heraus schaut ihr eine Ratte entgegen. Die nächsten Tage werden auch nicht besser, denn aus heiterem Himmel trennt ihr Freund sich von ihr. Eben war noch alles gut und dann ist ganz plötzlich nichts mehr gut. Judith sitzt auf der Couch, als der Vater ihres Kindes mit einer Tasche die Wohnung verlässt und ganz leise die Tür hinter sich schließt. Jetzt also alleinstehend mit Kind.

Die nächsten Monate werden nicht einfach. Die Welt geht unter, mehrmals. Und dann wieder doch nicht. Die Seelenlage gerät durcheinander. Niemand muss den anderen nach einer Trennung am nächsten Tag noch mal wiedersehen – es sei denn, man hat ein gemeinsames Kind. Als Paar scheitern, aber zusammen Eltern bleiben ist das erklärte Ziel. Ein neuer Lebensplan muss also her, für sie drei als Patchwork-Familie, aber auch für Judith als Mutter und Single-Frau.

Wie all dies gelingen kann, erzählt Judith Poznan in ›Aufrappeln‹. Sie erzählt von traurigen und ernsten, aber auch von absurden und heiteren Momenten nach einer Zäsur im Leben – aufrichtig, warmherzig und unheimlich witzig.

© Maria Schöning

Judith Poznan wurde 1986 in Berlin-Lichtenberg geboren. Nach ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin studierte sie an der Freien Universität Berlin Literaturwissenschaften und Publizistik. Sie schreibt regelmäßig für ZEIT ONLINE, die BERLINER ZEITUNG und SPIEGEL ONLINE. Mit ihrem Instagram-Account (@judith_poznan) erreicht sie täglich Tausende Follower. Bei DuMont erschien 2021 ihr Debüt ›Prima Aussicht‹.

Judith Poznan

AUFRAPPELN

Von Judith Poznan ist bei DuMont außerdem erschienen:

Prima Aussicht

eBook 2023

© 2023 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © plainpicture/Christine Basler – Kollektion Rauschen

Satz: Angelika Kudella, Köln

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8287-8

www.dumont-buchverlag.de

Für meine Eltern

Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.

Thomas Brasch

Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden

Und eine Hand, die deine hält

Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden

Und dass dir nie die Hoffnung fehlt

Und dass dir deine Träume bleiben

Und wenn du suchst nach Zärtlichkeit

Wünsch ich dir Liebe ohne Leiden

Und Glück für alle Zeit

Udo Jürgens

I

Es begann alles mit dem Kopf einer Ratte in meinem Klo am Morgen des Karfreitags. Der faulige Kanalgeruch aus dem Abfluss war in den Wochen zuvor schon da gewesen. Und beunruhigende Kratzgeräusche hinter den Badezimmerfliesen. Im Hinterhaus wurden bereits Giftsäcke im zweistelligen Bereich ausgelegt. Einmal kam ein Handwerker, riss die Wand unterm Waschbecken auf, packte auch dort ein Säckchen hinein, und fortan hatten wir eine kleine Tür zu unserer Badezimmerwand, die besser nicht wie von Geisterhand plötzlich aufgehen sollte.

»Da liegt ooch überall Kot«, hatte der Handwerker gesagt.

»Manchmal höre ich so Gefiepe«, sagte ich.

»Ja, dit is deren Nest.«

Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich eine von denen zeigen würde. So wie die hier. Die guckte mich an und ich sie. Ihr Kopf war ganz schmal, die Nase spitz, und ihr Fellhaar schwamm im Klowasser. Da war eine Ratte in meinem Klo. Und noch bevor ich irgendwie hysterisch reagieren konnte, zog sich ihr Kopf wieder zurück. War das jetzt wirklich passiert? Manchmal gibt es in einer überraschenden Situation so einen Moment der Irritation. Noch mal hämmerte es in meinem Kopf: War das jetzt wirklich passiert? Irgendwas zieht ganz schnell an einem vorbei. Eben wollte man aufs Klo gehen, dann sieht man aber einen Rattenkopf, in der nächsten Sekunde wieder keinen, man vergisst, warum man überhaupt aufs Klo wollte, ja richtig, man wollte morgenpullern, die Blase fällt einem wieder ein, der Schalter vom Wasserkocher klappt hoch – klack, war das jetzt wirklich passiert?

Ich nahm mein Handy und recherchierte im Internet »Ratten im Klo was tun«. Ich öffnete die Schublade mit dem Werkzeug, den Kabeln, dem Klebeband in der Überzeugung, Gaffa würde mich beschützen. Ich zog einen langen Streifen von der Rolle, das Geräusch machte Spaß. Was für eine großartige Erfindung Gaffa-Band doch war. Sofort wollte ich noch mehr Sachen gaffern, aber ich konzentrierte mich auf meine Mission. Ich verbarrikadierte das Klo. Fünf silberne Streifen verschlossen das Tor zur Hölle, das ich gerade zu dem Tor der Hölle erklärt hatte. Und ich packte einen hohen Stapel alter Bildbände und Graphic Novels darauf. Ratten, las ich, sind stark. Sie konnten ohne Weiteres das Dreifache ihres Körpergewichts stemmen und sich nahezu überall hindurchquetschen. Die hier würde aber keine Chance haben, rauszukommen.

Ich rief meinen Freund an und sagte: »Ich habe gerade eine Ratte in unserem Klo gesehen.« Was für eine sensationelle Nachricht. Mein Freund sagte nichts. Ich wiederholte: »Ratte! In unserem Klo! Ein dicker, fetter Rattenkopf.«

Bruno sagte: »Bist du dir ganz sicher?«

Ich wusste genau, wie Bruno jetzt dabei guckte. Bruno war kein Augenaufreißer, wenn er etwas Sensationelles hörte. Die Augen wurden eher etwas kleiner, und während er »Bist du dir ganz sicher?« sagte, schob er mit dem Zeigefinger seine Brille nach oben. Sein Bist-du-ganz-sicher-Blick war ruhig und sachlich. Der Zweifel an meiner Sensationsnachricht traf mich allerdings hart. Warum sollte ich mir verdammt noch mal nicht sicher sein? Ich hörte, wie die Stimme vom Sohn am anderen Ende der Leitung lauter wurde.

»Mausi, die Mama hat eine Ratte gesehen!«

»Boah!«, hörte ich und dachte, das ist die Reaktion, die ich erwartet hatte. »Ist die tot?«

»Lebt noch!«, sagte ich.

Ich schaute zum zugegafferten Klo und rekonstruierte den Moment, als ich den Kopf gesehen hatte. Ich war immer noch erstarrt, deswegen war es gar nicht einfach, noch mal zehn Minuten in der Zeit zurückzugehen. Also, ich stand da, klappte den Klodeckel hoch, der Kopf guckte mich an, eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, und der Kopf tauchte wieder ab. Nicht hastig, nicht wie man es von einem wild lebenden Tier aus einem Rohr erwarten würde, das nur ungern auf Menschen traf. Die Ratte, meinte ich, war vielleicht genauso überrascht, mich zu sehen, wie ich sie. Jetzt mal besser keine schnelle Bewegung machen, ganz entspannt den Rückzug einleiten, die merkt gar nicht, dass ich hier in ihrem Bad bin. Warum ich mich jetzt in die Ratte hineinversetzte, wusste ich nicht.

Bruno sagte, ich solle den Hausmeister anrufen. »Es ist Feiertag«, erwiderte ich. Und fragte mich aber dabei, ob der Kopf einer Ratte in einem Klo ein Notfall wäre. Ist nicht so, dass ich jetzt kein Klo mehr hatte. Es gab schließlich noch das Gästeklo. Das eigentlich nur zum Rauchen von E-Zigaretten von mir genutzt wurde. Den Gedanken, dass die Ratte da auch hochkommen könnte, schob ich schnell beiseite. Bruno sagte außerdem, ich solle das Klo mit Gaffa zubinden. Fast stolz, weil mir dieser Einfall schon längst gekommen war, sagte ich, das Klo sei bereits zugegaffert.

Bruno und ich sind beide sehr überzeugte Gaffa-Menschen, was keine Gemeinsamkeit ist, die man bei einer ersten Verabredung entdeckt und über die man sich freut. Wo einer dann laut aufkreischt, sich ans Herz fasst und sagt: »Oh mein Gott, ich liebe auch Gaffa!« Unsere gemeinsame Liebe zu Gaffa-Band kam erst im zweiten oder dritten Jahr unserer Beziehung zum Vorschein. In einer Schublade liegen zehn Rollen Gaffa in den unterschiedlichsten Farben. Ich habe Bruno mal einen Artikel vorgelesen, in dem stand, für manche Leute sei es ein Ding, auf Gaffa zu kauen. Nur wer Gaffa-Band liebt, liest so etwas vor, und nur wer die Liebe zu Gaffa-Band erwidert, hört sich das interessiert an. Ich legte auf und schaute auf mein Gaffa-Bücherstapel-Ratten-Abwehrsystem.

Zwei Tage waren es noch, bis Bruno mit dem Sohn wieder aus Westdeutschland von seiner Mutter zurückkäme. Zwei Tage, in denen ich allein damit klarkommen musste, dass ich eine Ratte in meinem Klo gesehen hatte oder vielleicht nicht. Zwei Tage, in denen ich mein Buch zu Ende schreiben und an meine Lektorin schicken musste. Und es war fünf Tage bevor Bruno sich neben mich auf die Couch setzte und mir sagte, dass unsere Beziehung zu Ende sei.

*

Der Anruf kam überraschend. Die Redakteurin, für die ich eine Reihe von Kolumnen und Reportagen schrieb, manchmal auch Interviews führte, kam schnell zum Punkt: ob ich mir vorstellen könne, als feste Redakteurin bei ihnen einzusteigen. Die Familienseite, die wöchentlich erscheine, könne einen neuen Anstrich gebrauchen. Ich bat die Redakteurin, ihr Angebot noch einmal zu wiederholen – wurde mir hier tatsächlich eine feste Stelle angeboten? Ich bedankte mich für das Vertrauen, stotterte, ich könne das nun wirklich nicht glauben. Stotterte weiter, ich würde gerne darüber nachdenken. Ich lief aufgekratzt im Zimmer umher, strich mit der freien Hand das Bettlaken glatt, lief zum Spiegel und wieder zum Bett zurück. »Wie lange habe ich Zeit, darüber nachzudenken?«, fragte ich. Zwei Tage. Okay, zwei Tage für eine berufliche Monsterentscheidung. Die Freiberuflichkeit aufgeben und fortan in Bluse an einen Schreibtisch marschieren oder weiterhin zu Hause in Jogginghose als Texterin hauptsächlich mein Geld verdienen. Die Jogginghose war überhaupt nicht zu unterschätzen; ich bekam als Texterin schließlich gutes Geld und hatte gute Arbeitszeiten. Alles, Texterin, Schriftstellerin und Redakteurin, das war mir sofort klar, würde ich nicht sein können. Vor ein paar Jahren noch war ich nichts von alledem gewesen, eben nur eine arbeitslose Schriftstellerin, die aus Versehen schwanger wurde und dann ausschließlich arbeitslos war. Bruno war derjenige, der das Geld verdiente, während ich mich um unseren Sohn kümmerte und in kleinen Schritten, zwischen Milchstau und durchgemachten Nächten, versuchte, in der Arbeitswelt einen neuen Platz für mich zu finden. Dieses Angebot an Arbeit überforderte mich. Meine Eltern hatten im selben Alter nicht an so einem Punkt gestanden. Die Weichen waren mit Ende 20 gestellt worden, und auf diesem Weg fuhren sie immer weiter.

Noch mit dem Handy in der Hand lief ich aufgeregt zu Bruno, in der Überzeugung, der würde gleich seinen Ohren nicht trauen. Bruno saß an seinem Schreibtisch, der Rücken leicht gekrümmt, die Beine überkreuzt. Der Schreibtisch ist ordentlich, nur Dinge, die gebraucht werden, liegen auf der Tischfläche. Ein Block für Notizen mit einem Stift darauf, eine Lampe, eine Kaffeetasse, ein Bild von mir und dem Jungen.

»Bruno, ich soll als Redakteurin arbeiten! So richtig feste. Mit Bluse!«

Bruno schaute von seinem Laptop hoch, sagte sofort »herzlichen Glückwunsch«, beugte sich zurück zum Laptop und fragte tippend, ob ich den Job machen wolle.

Ich sagte: »Wollen wir das nicht zusammen entscheiden?« Ich setzte mich. »Es wäre schon eine Veränderung für uns alle. Eine, die auch dich betrifft. Wir würden nicht mehr zusammen vormittags zu Hause arbeiten, es gäbe zwar mehr Geld, aber mit der Flexibilität wäre es vorbei.« Bruno tippte weiter. »Andererseits ist es vielleicht mal ganz schön für mich, wieder in einem Team zu arbeiten. Ich habe zwar keine Erfahrung mit Redaktionsalltag, aber vielleicht kann ich mir das schnell beibringen? Oh Gott, was, wenn das gar nicht so schnell geht? Das ist bestimmt ein Job, der vermutlich nicht um 15Uhr Feierabend bedeutet. Also jetzt sag doch mal was dazu!«

»Ich kann dir diese Entscheidung nicht abnehmen. Ich stimme zu, was auch immer du möchtest.«

»Kannst du mal aufhören mit dem Tippen?«, sagte ich.

Bruno drehte sich zu mir. »Ich bin mit allem einverstanden.«

Darüber schlafen war dann eine Idee von Bruno. Auf so was komme ich nicht von allein.

Am nächsten Morgen sah ich wieder eine Ratte. Dieses Mal im Gästeklo. Das Hinterteil war deutlich zu erkennen. Der Schwanz schwang hin und her wie der Taktstock eines Dirigenten. Ich hörte auf zu atmen, ging vorsichtig zwei Schritte zurück. Jetzt erst fiel mir auf, dass Bruno wieder auf der Couch geschlafen hatte. Vom Bad zur Couch sind es sechs Schritte. Bruno schlief noch fest, also rüttelte ich an ihm und flüsterte: »Ratte im Gästeklo!« Bruno schrak auf, ich presste meine Hand auf seinen Mund und sagte, wir müssten leise sein, damit die Ratte nicht gleich wieder abtauchte. Auf Zehenspitzen liefen wir zum Klo. Das Hinterteil war noch zu sehen, der Schwanz wedelte weiter im Wasser. Jetzt sah Bruno die Ratte also auch. Er betätigte die Spülung, ich fing an zu weinen. Bruno streichelte mir den Arm, ich müsse doch jetzt nicht weinen. »Doch«, sagte ich. »Ich war noch nicht pullern.« Ich spülte noch mal, Bruno guckte, ob der Sohn noch schläft. Ich zog die Hose runter, konnte mich kaum beruhigen. Es dauerte lange, bis der Strahl endlich rauskam. Spülen und noch mal spülen, weinen und spülen. Bruno schaute mich mitleidig an, einer von uns beiden kriegte die Krise wegen der Ratte und einer nicht. »Wir haben keine Klos mehr!« Bruno stellte in der Küche den Wasserkocher an. »Soll ich jetzt Redakteurin sein oder nicht?«, rief ich vom Klo aus. »Vielleicht können wir uns dann endlich zusammen eine schöne Wohnung leisten. Maisonette, zwei Balkone, so verschnörkelte Geländer wie bei den Italienern, keine Ratten.« Bruno antwortete nicht.

*

Zwei Tage später bringe ich den Sohn ins Bett. Draußen regnet es, im Zimmer ist es kalt. Im Gegensatz zu dem Jungen, der immer warm ist, friere ich schnell. Ich stelle die Heizung hoch und lese noch ein Buch vor. Seinerzeit hatte ich Ewigkeiten damit verbracht, das Bett im Schlafzimmer an die richtige Stelle zu schieben. Das Schlafzimmer ist klein, nur ein Nachttisch, eine Kommode und ein Schrank haben darin Platz. Erst schob ich das Bett an die Wand mit der Tür zur linken Seite, sodass man von beiden Seiten ins Bett gelangte. Dann schob ich das Bett auf die gegenüberliegende Seite, direkt unters Fenster an der Heizung. Das Beistellbett sollte damals nicht so viel Platz in der Mitte des Raumes einnehmen, weshalb mir die zweite Ausrichtung sinnvoller erschien. Nachdem der Junge eingeschlafen ist, knipse ich die Lampe auf dem Nachttisch aus. Drüben gieße ich mir ein Glas Wein ein und drücke mir eine E-Zigarette an. »Puh«, stöhne ich, weil ich, wenn ich von der Einschlafbegleitung zurück ins Wohnzimmer komme, mich so heldinnenhaft fühle, »heute hat es ganz schön lange gedauert, aber es ist geschafft, er ist fein zufrieden eingeschlummert.«

Das Wohnzimmer hat kleine Leuchtinseln; in beinahe jeder Ecke steht eine Lampe, die macht, dass es gemütlich ist. Bruno steht am Fenster, dreht sich um und setzt sich neben mich auf die Couch.

»Judith?«

Ich sage: »Ja?« Irgendwas stimmt nicht. Nicht an dem Tag, nicht an Brunos Gesicht, nicht an seiner Stimme, mit der er meinen Namen ausspricht.

Er sagt: »Ich kann nicht mit dir in eine neue Wohnung ziehen.«

Sofort weiß ich, was er damit meint.

»Seit drei Jahren ist die Kammer dein Kleiderschrank. Wir haben keinen größeren Schrank gekauft. Wir haben einfach keinen Schrank für uns beide gekauft.«

Ob er sich diese Sätze vorher zurechtgelegt hat? So ein Beispiel kommt doch nicht nur so. Der fehlende Kleiderschrank steht für vieles. Alles, was wir nicht in der Wohnung verändert haben, weil irgendwann doch vielleicht ein Umzug käme oder die Trennung. Die Wohnung, in der Bruno schon gelebt hat, bevor er mich überhaupt kannte, die Wohnung, in die ich nur eingezogen bin. Das Gemecker über die Kammer mit meinen Klamotten auf diesem wackligen Regalgerüst als Ausdruck meiner Unzufriedenheit über dieses Etwas, das mir gefehlt hat, war seit meinem Einzug vor vier Jahren ein Dauerthema. Jetzt schaue ich nach unten. Ich kneife Bruno in den Oberschenkel – etwas Besseres fällt mir nicht ein.

»Was war das denn?«

Ich zucke mit den Schultern. Dass Bruno intensiv über mich nachgedacht hat, ist schon irgendwie eigenartig. Ständig denke ich über Bruno nach, aber die Vorstellung, dass Bruno mein Gesicht in seinem Kopf gesehen und Überlegungen dazu angestellt hat, ist absurd. Ich habe Bruno wie ein Profiler aus einer dieser amerikanischen Krimisendungen, die spätabends im Fernsehen laufen, studiert, deswegen bin ich in der Lage, in seinem Verhalten Muster zu erkennen. Die Vorzeichen waren da gewesen. Weniger Zeit, die wir zu zweit miteinander verbrachten, selbst dann nicht, wenn der Junge bei meiner Mutter schlief; flüchtige Küsse zur Verabschiedung; ein Schnurrbart, so ganz plötzlich über seiner Lippe. Ich habe es ignoriert. Seit Wochen schlief Bruno auf der Couch. Auch das habe ich ignoriert.

»Machst du gerade Schluss mit mir?«

Es ist eindeutig, aber ich muss es hören. Ich muss hören, wie er es sagt, damit ich begreife, dass wir niemals einen gemeinsamen Kleiderschrank haben werden. Stille.

»Wenn du das Angebot annimmst oder ablehnst, dann solltest du das allein für dich entscheiden. Es ist nicht fair, wenn ich es dir nicht jetzt sage, sondern weiter warte, bis ich den Mut dazu aufbringe.« Bruno sieht aus, als könnte er noch ewig so auf den Boden starren. »Judith, du hast einen gemeinsamen Kleiderschrank verdient.« Bruno atmet tief durch und sieht dabei entschlossen aus. »Du hast sogar mehr als einen gemeinsamen Kleiderschrank verdient. Viel mehr als das.«

Gerne würde ich jetzt schreien, bedauerlicherweise bin ich es aber nicht gewohnt zu schreien. Plötzlich aufstehen und meine Stimme durch das ganze Wohnzimmer jagen, bis raus auf die Straße, das wär’s. Schreien, dass sich die Nachbarn wundern, was da los ist, mein Gesicht knallerot angelaufen, die Hände zu Fäusten geballt, es wäre ein Schrei mit dem ganzen Körper, der in die Geschichte des Schreis eingehen könnte.

Aber stattdessen nur Sitzen, Schweigen, nichts weiter.

Wir machen Schluss und können morgen nicht mehr zusammen irgendwohin fahren. Diese erste Erkenntnis, sie schmerzt.

Als ich später zum Jungen ins Bett steige, der ruhig atmet, die Decke halb über seinem Körper, eine Hand an seinem Kopf, kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Schöne Wörter: Einfaltspinsel, Ratzefummel, Freudentaumel, Erbsenzähler.

Das war’s. Das ist das Ende von uns dreien. Wenn ich morgen aufwache, ist die Zukunft eine andere. Noch mehr schöne Wörter: Kummerspeck, Tausendschön, Frauenzimmer, Kohldampf.

*

Mein Handy steht nicht mehr still. Es ist der nächste Morgen. Ich bekomme eine Mitteilung nach der anderen. Prinz Philip ist gestorben. Meine Freundin Linda schreibt mir und fragt, wie es mir gehe, jetzt, wo einer von meinen Lieblingen der britischen Königsfamilie das Zeitliche gesegnet habe. Ich fühle mich schrecklich, antworte ich, kratze dabei mit dem Fingernagel am Tisch rum und meine eigentlich etwas ganz anderes. Bruno hat gestern mit mir Schluss gemacht. Vorerst soll aber niemand davon wissen.

Nachts bin ich noch mal aufgestanden, habe an Bruno gerüttelt und gesagt, er dürfe noch nicht sofort ausziehen. Unausgesprochen war immer klar: Entweder wir ziehen gemeinsam aus oder nur ich. Deshalb fragte ich ihn, ob wir nicht erst mal für den Jungen zusammen wohnen bleiben könnten, bis ich was Neues gefunden hätte. Bruno, noch ganz benommen vom Schlaf, fand, es sei eine gute Idee. Es ist nicht so, dass er einen Schlussmachplan gehabt hat. Zumindest glaube ich, die Ratten und das Jobangebot könnten ein Beschleuniger für das Unabwendbare gewesen sein.

Ich sitze am Esstisch und lese die Nachrichten über Prinz Philips Tod. Der Sohn schläft noch. Irgendwas in der Ecke raschelt. »Da raschelt doch was!«, sage ich zu Bruno, der nach vorne gebeugt an seinem Schreibtisch sitzt. Ich ziehe den Holzspielkasten unterm Fenster vor. Die Ratte ist draußen, ich bin mir ganz sicher, das ist die Ratte. Panik steigt in mir auf, Bruno steht vor mir und sagt, da ist bestimmt keine Ratte. Tränen brechen aus, ich schiebe alles im Wohnzimmer, was es zu schieben gibt.

»Judith, du zitterst ja!« Er legt seine Hände auf meine Schulter. Ich atme schnell.

»Die Ratten sind überall, sie sind ganz sicher draußen.«

»Atmen, ganz ruhig. Ich schaue auch mal.«

Jetzt geht Bruno auf die Knie, klopft mit der flachen Hand auf den Boden. Keine Ratte zeigt sich, die Ratte ist in meinem Kopf. Beruhigen kann ich mich nur schwer. Zurück am Laptop, schaue ich alle paar Sekunden hoch, weil ich meine, dass ich wieder was gehört habe. Bruno ruft noch mal den Hausmeister an. Ich höre, wie er »Dienstag« sagt. Dienstag kommt einer und baut Rattenklappen ein. Prinz Philip ist tot, dieser Tag, der erste Tag nach unserer Trennung, ist ein schrecklicher Tag.

An allen folgenden Tagen in dieser Woche bin ich gefasster. Bruno und ich reden normal, fast schon zu normal miteinander, solange der Junge um uns herumschwirrt. Sobald er in der Kita ist, vergräbt sich jeder hinter seinem Laptop. Abends essen, anschließend sagen wir Gute Nacht. Bruno schläft weiterhin auf der Couch, ich mit dem Jungen im Schlafzimmer.

Die Beerdigung von Prinz Philip läuft im Fernsehen. Dafür, dass April ist, ist es ein strahlender Sonnentag. Von einem Kommentator erfahre ich, dass der verstorbene Prinzgemahl sich eine schlichte Trauerfeier gewünscht hatte. Den vierköpfigen Chor in der St.George’s Chapel hat er sich selbst ausgesucht. Am 9.Juli 1947 wurde die Verlobung von Queen Elizabeth II. und Prinz Philip bekannt gegeben. Eine Anekdote, die ich sehr rührend finde, ist die, dass Elizabeth ihren Verlobten bat, mit dem Rauchen noch vor der Ehe aufzuhören. Ihr Vater, König George VI., der ein starker Raucher war, litt schwer unter den Folgen, und so scheint die Bitte der damals jungen Prinzessin mehr als verständlich. Aus Liebe zu seiner zukünftigen Frau willigte Philip ein. Er verzichtete allerdings auf ein Entwöhnungsprogramm und verringerte nicht etwa seine Nikotin-Dosis, wie es viele entschlossene Raucher machen. Nein, er rauchte am Morgen seiner Hochzeit seine letzte Zigarette. Von einer Sekunde auf die nächste hörte er einfach auf. Ich glaube, das sagt einiges darüber aus, wie willensstark Prinz Philip in der Liebe zu seiner Frau war.

Die Queen und ich sind jetzt beide alleinstehend. Ich beobachte die Queen im Fernsehen, wie sie in einer leeren Sitzreihe nichts weiter macht, als geradeaus zu schauen. Sie sieht gefasst aus. Die Zeremonie neigt sich dem Ende zu. Ich denke darüber nach, ob ich vielleicht zurück nach Moabit ziehen sollte. Am Schluss sagt der Kommentator: »Er war mehr als 70Jahre an ihrer Seite. Wir sehen gerade den schwierigsten Augenblick im Leben von Königin Elizabeth II.« Ich weine nicht. Ich habe einfach das Gefühl, dass die Queen dort für mich mit sitzt.

*

Als wir Anfang der 90er-Jahre nach Moabit zogen, gab es dort das Moabiter Gefängnis und Hertie. Moabit rühmte sich schon damals der kürzesten Allee Berlins. Die Thusnelda-Allee, mickrige 50