Prima Aussicht - Judith Poznan - E-Book + Hörbuch

Prima Aussicht Hörbuch

Judith Poznan

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Beschreibung

Als ihr Freund Judith eröffnet, kein zweites Kind zu wollen, ist das ein Schock. Müssen sie nicht zu viert sein, um eine »richtige« Familie abzugeben? Die Entscheidung ihres Freundes stürzt Judith in eine Lebenskrise. Doch Rettung naht: Eine Freundin erzählt ihr von einem Campingplatz in Brandenburg; ein ehemaliger Kiestagebau, der in der DDR als Feriendomizil von Bauarbeitern genutzt wurde und heute eine Idylle mit viel Grün drum herum und See in der Nähe ist. Was könnte besser sein, um ihren Sohn doch noch vor einer traumatischen Kindheit zu bewahren? Sie müssen spießig werden! Also kauft Judith kurzerhand einen Wohnwagen, und die Campinganlage bekommt drei neue Bewohner … Mit Sinn für Komik, voller Gefühl und auch Schmerz erzählt Judith Poznan von einem Sommer zwischen Beziehungsproblemen und Farbeimern. Sie reflektiert das Fragile und zugleich Fordernde, das Familie ausmacht. Ihre Sorgen und Ängste als junge Mutter sind dabei ebenso Thema wie ihr Wunsch, Schriftstellerin zu sein, und die Frage, was eigentlich ihre Herkunft aus dem Ostberlin der Vor- und Nachwendezeit mit ihrer oftmals zerrissenen Gegenwart zu tun hat.

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Zeit:5 Std. 17 min

Sprecher:Katja Körber

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Als ihr Freund Judith eröffnet, kein zweites Kind zu wollen, ist das ein Schock. Müssen sie nicht zu viert sein, um eine »richtige« Familie abzugeben? Die Entscheidung ihres Freundes stürzt Judith in eine Lebenskrise. Doch Rettung naht: Eine Freundin erzählt ihr von einem Campingplatz in Brandenburg; ein ehemaliger Kiestagebau, der in der DDR als Feriendomizil von Bauarbeitern genutzt wurde und heute eine Idylle mit viel Grün drum herum und See in der Nähe ist. Was könnte besser sein, um ihren Sohn doch noch vor einer traumatischen Kindheit zu bewahren? Sie müssen spießig werden! Also kauft Judith kurzerhand einen Wohnwagen, und die Campinganlage bekommt drei neue Bewohner …

Mit Sinn für Komik, voller Gefühl und auch Schmerz erzählt Judith Poznan von einem Sommer zwischen Beziehungsproblemen und Farbeimern. Sie reflektiert das Fragile und zugleich Fordernde, das Familie ausmacht. Ihre Sorgen und Ängste als junge Mutter sind dabei ebenso Thema wie ihr Wunsch, Schriftstellerin zu sein, und die Frage, was eigentlich ihre Herkunft aus dem Ostberlin der Vor- und Nachwendezeit mit ihrer oftmals zerrissenen Gegenwart zu tun hat.

© Scarlett Werth

Judith Poznan wurde 1986 in Berlin-Lichtenberg geboren. Nach ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin studierte sie an der Freien Universität Berlin Literaturwissenschaften und Publizistik. Sie schreibt regelmäßig für das Eltern-Magazin, die Berliner Zeitung und für den Spiegel. Mit ihrem Instagram-Account (@judith_poznan) erreicht sie täglich Tausende Follower. Judith Poznan lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Judith Poznan

PRIMA AUSSICHT

eBook 2021 © 2021 DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Umschlagabbildung: © plainpicture/neuebildanstalt/Jennifer Rumbach Satz: Angelika Kudella, Köln eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, LeckISBN eBook 978-3-8321-7118-6

www.dumont-buchverlag.de

Für Oma Karin und Opa Wolfgang

»Einmal im Leben, zur rechten Zeit, sollte man an Unmögliches geglaubt haben.«

Christa Wolf, Nachdenken über Christa T.

Nein, sorg dich nicht um mich. Du weißt, ich liebe das Leben. Und weine ich manchmal noch um dich. Das geht vorüber sicherlich. Was kann mir schon geschehen? Glaub mir, ich liebe das Leben. Das Karussell wird sich weiterdrehen. Auch wenn wir auseinandergehen.

Vicky Leandros

MAI

Es riecht verdächtig im Wohnwagen. Ein Mief, der einen sofort an ein kleines Kneipen-Kino erinnert, in dem heimlich geraucht wird und 20Leute ihre schwitzigen Hintern 90 Minuten lang in die Sessel drücken. Ich öffne Schränke und Schubladen und bin jedes Mal erleichtert, nichts Totes zu entdecken. Der Autohändler streckt seinen Kopf weit durch die Wohnwagentür.

»Und? Kaufen?«

Mein Bauchgefühl sagt mir, ich sollte jetzt besser unverfänglich mit den Schultern zucken. Ich gucke weiter kritisch in alle Richtungen; der Autohändler muss ja nicht wissen, wie wenig Ahnung ich von Wohnwagen habe. Ziemlich genau gar keine nämlich, aber wer hat schon Ahnung von Wohnwagen? Trotzdem stehe ich jetzt in einem drin, bereit, ihn zu kaufen, weil Bruno gesagt hat, er möchte erst mal kein zweites Kind haben. Eigentlich wollte ich heute keinen Wohnwagen kaufen, sondern nur Wohnwagenkaufen üben. So wie ich plante, mich auf das »erst mal« in Brunos Satz zu konzentrieren, aber das Schicksal möchte mich offenbar lieber komplett durchdrehen sehen.

In meiner Hosentasche steckt eine Checkliste aus dem Internet, auf der wichtige Dinge stehen, die mich vor einem Fehlkauf bewahren sollen. Fast beiläufig frage ich den Autohändler, ob denn hier alles trocken sei.

»Ja, alles trocken«, sagt der Autohändler, der, wie mir scheint, auch keine Ahnung von Wohnwagen hat. Hier auf dem Platz gibt es nämlich nur diesen einen Wohnwagen und ansonsten Pkws. Ich finde das aber gar nicht so schlecht, schließlich scheint die Sache hier zwischen mir und dem Autohändler fachlich recht ausgeglichen. Der steht jetzt draußen ein paar Meter weiter weg und raucht eine Zigarette.

Der Wohnwagen hat einen Sitz- und einen Schlafbereich, eine Küche, einen Schrank, und es hängen zweifelhafte Gardinen an den Fenstern. Außerdem ist da noch Müll. Leere Dosen, ein alter Reifen und schimmliges Toastbrot, von dem ich hoffe, es stammt nicht noch vom Erstbesitzer. Menschen mit Wohnwagen kannte ich bisher nur vom Hörensagen, sie waren um die 60 und hießen Ruth oder Horst. In dem Wohnwagen gibt es keine Toilette, aber immerhin einen großen Spiegel am Schrank. In den gucke ich jetzt, um herauszufinden, wie viel Ruth wohl in mir stecken könnte. Der Autohändler klopft vorsichtig an die Tür, als würde er mich bei etwas Wichtigem stören. Dann schießt es aus mir heraus: »Wie viel?«

»1400Euro«, sagt er, und ich versuche zu gucken, wie Ruth es vielleicht tun würde. Absolut entspannt, alles klar, 1400Euro also. Als Langzeitstudentin des Fachs »Kreatives Geldausgeben« habe ich natürlich keinen Schimmer, ob das ein fairer Preis für einen 41Jahre alten, wahrscheinlich trockenen Wohnwagen ist oder nicht. Der Autohändler spricht nur wenig Deutsch, was mir glücklicherweise weitere bescheuerte Fragen über die Technik erspart. Irgendwie schnappe ich auf, der Wohnwagen habe keinen TÜV mehr, was aber nicht weiter schlimm ist, weil ich erstens nicht genau weiß, was ein TÜV ist, und zweitens meine Vision für die Deko längst steht.

Ich rufe Bruno an und sage, er solle sich festhalten, der Wohnwagen sei der Knaller. Hier und da müsse natürlich noch was gemacht werden. Der hässliche Gummiboden muss raus, die Küche wahrscheinlich auch. Aber der Gesamteindruck stimmt, und der Autohändler schwört, der Wohnwagen sei trocken. Bruno antwortet »hmm« und schließlich »okay«, und ich lege auf, bevor er Fotos von innen verlangt.

Seit Bruno das mit dem zweiten Kind gesagt hat, nerve ich ihn unentwegt damit, wie wichtig eine stabile Familiendynamik zu dritt ist. Damit aus dem Jungen nicht aus Mangel an Geschwisterkindern ein Psychopath wird. Drei Jahre Altersabstand seien doch super, sagte ich dann. »Findest du nicht, das ist super?« Bruno hatte da keine eindeutige Antwort drauf. Er lief dabei ganz komisch auf und ab. Sein nervöser Anblick bohrte sich richtig tief in mich rein. Plötzlich war sie da. Die Krise. Wir müssen spießig werden, habe ich ihm nach unserem ersten Gespräch darüber beim Abendessen erklärt. Da hat er sich fast an den Nudeln verschluckt.

Noch einmal ziehe ich mich allein in den Wohnwagen zurück. Ich bin überrascht, wie groß er plötzlich von innen auf mich wirkt, drehe noch eine Runde, setze mich hin, stehe wieder auf und hüpfe sogar einmal. Der Sommer spielt sich vor meinen Augen ab: wir auf unserem Campingplatz, im Wohnwagen aufwachend, draußen wartet schon der Tag auf uns.

Ich steige, eingehüllt in Optimismus, aus dem Wohnwagen und erkläre dem Autohändler, dass ich dieses Prachtexemplar gerne kaufen möchte. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie sieht er überrascht aus. Dann fangen wir an, uns zu besprechen, ich glaube, es heißt Verhandlung. Er sagt jedenfalls: »Mit Lieferung, 1700Euro.« Ich schreie: Das ist zu teuer, o mein Gott, o mein Gott, gehen nicht 1500, bitte, bitte. Er sagt: »Na gut.« Wenn das Verhandeln ist, dann bin ich, glaube ich, sehr gut darin.

Ich fahre nach Hause und bin völlig außer mir – und werde es wohl für den Rest meines Lebens bleiben. Was nur verständlich ist. Immerhin bin ich ab sofort Besitzerin eines Wohnwagens.

* * *

Eine gepflasterte Landstraße führt zu unserem Campingplatz. Rechts liegt der See und auf der anderen Seite ein weites, kurz gemähtes Feld. Von der Straße aus kann man dahinter die Parzellen mit den Wohnwagen gut sehen. Die gesamte Anlage ist nicht sehr groß, man erreicht nach Sichtung des ersten Wohnwagens in nur wenigen Sekunden das Eingangstor. Ein Verkehrsschild warnt vor spielenden Kindern, ringsherum ragen hohe Bäume in den Himmel, als würden sie wetteifern, wer von ihnen es am höchsten schafft. Ich weiß noch, wie überrascht ich bei unserem ersten Besuch war, dass es so etwas Idyllisches in Brandenburg zu finden gibt. Glamourös ist hier aber nichts. Das Versprechen von der perfekten Erholung ist schon ein wenig in die Jahre gekommen, aber weil alles einen so herrlichen Eindruck nach nichts müssen und nichts können macht, der Campingplatz wahrscheinlich nach genau diesem Motto die DDR überlebt hat, kann man einfach nicht meckern. Das Auto, mit dem wir an den Wochenenden zum Campingplatz fahren, habe ich schließlich von meiner Mutter. Sie hatte es mir schon früher mehrmals angeboten, weil der Chef ihrer ambulanten Pflegestation ihr einen Firmenwagen in Aussicht gestellt hatte, ich aber bisher keinen Grund für ein Auto in der Stadt sah.

Am Samstag wird der Wohnwagen geliefert. Die letzten zwei Wochenenden haben wir gezeltet. Kaum zu glauben, wie nun wirklich der Wohnwagen langsam den Kiesweg runter zu unserer Parzelle rollt. Vorneweg im Auto mit Anhängerkupplung der Händler, der mich sofort zu erkennen scheint. Er winkt. Pfeilschnell strömen von allen Seiten Nachbarn dazu und begutachten die neue Dose vom Platz. »Jutet Ding!«, legt sich Günther von gegenüber nach einigen Minuten fest und läuft los, um sein Messgerät zu holen. »Kieken, ob dit och Saft hat.« Günther erinnert mich an Opa Wolfgang, der auch keine T-Shirts besaß und, wie ich als Kind vermutete, sich zu Weihnachten immer eins lieh. Es ist genau diese Mentalität ostdeutscher Männer, mit der ich gut kann. Obenrum frei, bisschen mürrisch, aber das Herz an der richtigen Stelle. Immer Werkzeug am Start, natürlich.

In der Kleingartenanlage meiner Großeltern, in der ich als Kind mit dem Fahrrad den Akazienweg runtergedüst bin, reihte sich eine Parzelle an die nächste. Die Zäune standen fest, trennten, was Erde verband, und an jedem Eingangstor prangte ein Schild, auf dem das Wort »Lebensgefahr« stand. Meistens handelte es sich bei der Lebensgefahr um kleine, kläffende Malteser, die leidenschaftlich versuchten, ein Leckerli zu ergattern. So einen hatten meine Großeltern auch. Für uns Kinder waren die Wochenenden in der Kleingartenanlage das absolute Paradies, in dem man sich beim Buddeln Füße und Hände ausdrücklich schmutzig machen durfte. Ein richtiges Bad gab es in dem kleinen Häuschen nicht, keine Dusche oder Wanne, nicht mal eine richtige Toilette. Gewaschen haben wir uns mit Lappen, was Oma Karin Katzenwäsche nannte, in großen Plastikschüsseln draußen auf dem Rasen, von denen mein Bruder und ich je eine eigene hatten, was uns zum Wetteifern aufforderte, welches Wasser schwärzer war. Ich hatte auch einen eigenen Apfelbaum und eine Gartenschere, auf der mein Name stand. Nie wieder brachte ich für etwas so viel Leidenschaft auf wie für das Schneiden der Rasenkante an unserer Einfahrt. Das Geräusch der Gartenschere, der Anblick des grün gefüllten Eimers und schließlich die lobenden Worte von Oma Karin. Selbst der sonst so grimmig schauende Nachbar nickte, in seinen Gartenstuhl gelehnt, beim Anblick des kleinen Mädchens, das die komplexen Reglementierungen in Sachen Rasenhöhe verstand. Abends lagen wir alle zusammen im Bett, im Fernsehen lief Die 100.000Mark Show, unvergessender heiße Draht, der uns Kinder vor Spannung aufspringen ließ. Anschließend sahen wir 7Tage, 7Köpfe mit Rudi Carrell und Jochen Busse, gingen irgendwann rüber und schliefen schließlich auf unseren Klappliegen ein.

Der Wohnwagen hat sogar eine Solaranlage auf dem Dach, wie sich herausstellt, als Jochen, der Nachbar hinter uns – ebenfalls im halben Adamskostüm –, plötzlich auf unserem Wohnwagen draufsteht. Angeblich kann man einen Kleinwagen auf das Dach eines Wohnwagens stellen, erfahre ich. »Die halten wat aus!«, ruft Jochen von oben runter, als er mein verunsichertes Gesicht sieht. Und auch wenn ich Angst habe, dass der Wohnwagen jeden Moment zusammenbricht und mit ihm mein neuer, halb nackter Nachbar, bin ich ziemlich stolz darauf, wie der Wohnwagen da so steht und schick aussieht. Offiziell und feierlich wie eine Zusage von ganz oben.

»Und?«, sage ich zu Bruno. »Das ist doch wirklich richtig gut gelaufen, oder?« Bruno nickt. Er gibt mir einen Kuss. Günther hält mittlerweile ein Messgerät in der Hand und ein gerahmtes Foto von seiner Dose vor der Renovierung vor zehn Jahren. An Messen ist erst mal nicht zu denken, weil Günther anfängt, von damals zu erzählen.

Mit ein paar kräftigen Armen lässt sich der Wohnwagen an die richtige Stelle schieben. In meinem Kopf steht der da mindestens für die nächsten zehn Jahre. Überhaupt verliebe ich mich erst jetzt so richtig in den Wohnwagen. Mit den hohen Bäumen ringsum, Bruno, der versucht, den Sohn davon abzuhalten, ebenfalls auf das Dach zu klettern, und meinen schnatternden Nachbarn davor fühle ich das ganz große Glück. Ganz still stehe ich da und bewege mich nicht. Ich möchte, dass alles von diesem Moment in mich hineinspült.

Und so stört es mich fast gar nicht, dass Jochen beim Abstieg zwei faustgroße Löcher in der Außenwand entdeckt. Nicht schlimm bei Regen, sagt er. Aber ganz schlecht wegen der Mäuse.

In den nächsten Wochen werde ich also alles daransetzen, das Ding wieder herzurichten. Und auch die Parzelle ein bisschen zum Blühen zu bringen. Opa Wolfgang erklärte mir mal, es gäbe viele Arten, seinen Rasen falsch wachsen zu lassen. Aha, dachte ich damals und kapierte überhaupt nicht, was er meinte. Aber heute verstehe ich es zum ersten Mal. Man muss eben herausfinden, wie etwas richtig ist.

* * *

Bisher hangelten wir uns als Familie so durch. Bruno und ich waren gerade mal sechs Monate zusammen, als ich von meiner Schwangerschaft erfuhr. Kennengelernt hatten wir uns in einem Büro in Kreuzberg, wo wir beide als Autoren und Texter arbeiteten, davor waren wir uns zwar einmal auf einer Party begegnet, ich hatte ein schwarzes Kleid an und er einen lustigen Hut auf, aber ich rechne das beim Erzählen unserer Liebesgeschichte noch nicht mit ein. Eigentlich wollten Bruno und ich uns ja wieder trennen, sind dann aber stattdessen für ein Wochenende nach Weimar gefahren. Richtig gut kannten wir uns nicht, aber das stört zum Glück nicht, wenn man verliebt ist. Ich wusste, Bruno war nicht ganz richtig im Kopf, weil er gesagt hatte, er sei nicht ganz richtig im Kopf. Bei der Rückreise kaufte ich mir am Hauptbahnhof einen Schwangerschaftstest und fuhr mit zu Bruno nach Hause. Ich hatte seit Tagen ein komisches Ziehen im Unterleib, als würde jeden Moment meine Regel losgehen. Am nächsten Morgen pullerte ich auf das Plastikteil, in der Hoffnung, ich hätte vielleicht nur was Schlechtes gegessen. Die zwei Striche klärten mich dann aber schnell auf. Zwei Striche. Wahnsinn, wie sich das Leben mit nur einmal Pullern verändern kann. Und dann noch zwei Striche, die wirklich besonders schnell da waren. Jahrelang guckt man Filme, in denen die Heldin noch ein paar Minuten Zeit hat, wenigstens ihre Hände einmal nervös vors Gesicht zu schlagen. Oder ein bisschen unruhig umherzulaufen, sich auszumalen, wie das Leben mit einem Baby sein könnte. Ich: sitze, puller, und zack, das Ergebnis. Ich musste superschwanger sein oder so was. Wahrscheinlich Zwillinge. Wie eigenartig, in diesem Moment allein zu sein. Wie kann es nur irgendeine Frau auf der Welt aushalten, mit solchen Neuigkeiten allein zu sein?

Ich verließ sofort das Badezimmer, weil ich es keine Sekunde länger mit mir aushielt. Der Weg zum Schlafzimmer kam mir wie eine Fernreise vor. Ich als Abenteuertouristin in der Wohnung meines Freundes. Durch den Flur, der kein Flur mehr war, sondern ein Dschungel. Die Schlafzimmertür hatte etwas von einem Höhleneingang, durch den ich mich vorsichtig durchschob. Um im Thema zu bleiben, ging ich auf alle viere wie ein Tier. Bruno, der eigentlich noch schlief, öffnete seine Augen einen kleinen Spalt und fragte: »Was machst du da?«

Ich: »Kriechen.«

Und so kroch ich schließlich zu Bruno unter die Decke und atmete ganz ruhig.

»Willst du eigentlich mal Kinder haben?«

Boah, konnte der die Augen aufreißen.

»Du hast nen Knall.«

Und da waren wir. Im Erlebnispark Familie. Seitdem versuchen wir, darin irgendwie die Aussicht zu genießen. Als Eltern, als Paar, als eigenständige Individuen. Mittlerweile ist unser Sohn zwei Jahre alt. Er kann laufen, sprechen und spektakulär im Liegen sauer sein. So schlecht finde ich uns eigentlich gar nicht. Also klar, regelmäßig befallen mich Ängste, wir seien nicht gut genug für unseren Sohn. Wir sind schuld, wenn er eines Tages in einer Therapiesitzung erzählt, er könne sich nicht entscheiden, wer von uns beiden es mehr versaut habe. Manchmal habe ich Angst, Bruno muss vielleicht wieder in die Klapse zurück und ich zum Jobcenter. Aber wir haben Potenzial.

Dann rief Katja an, Katja, die wir vor zwei Jahren zusammen mit ihrem Mann Walter über ein paar andere Freunde kennengelernt haben, als plötzlich alle Fortpflanzung für sich entdeckten. Sie erzählte, sie hätten bei einem Badeausflug zufällig einen Campingplatz in Brandenburg entdeckt, der, wie sie auf ihre Nachfrage erfahren habe, noch Parzellen frei habe, woraufhin ich sofort nach meinen Schuhen griff. Bruno hat mich erst einmal beruhigt und gesagt, wir könnten uns das ja mal überlegen. Meine Reaktion darauf halte ich heute noch für sehr angemessen. Ich heulte. Ich hatte gerade entschieden, spießig zu werden. Wollte mich einreihen in die Riege der Normalen, der Zufriedenen, der Alleshabenden. Mann, Kinder, Job, Wohnung, Auto und Garten. Ich war zwar nach wie vor überzeugt, wir müssten noch ein zweites Kind bekommen, aber das stand im Moment nicht zur Auswahl. Also was laberte der da von Überlegen?

»Der Junge ist Einzelkind und wird seine gesamte Kindheit einsam in unserem Hinterhaus verleben. Und dann wird er Drogen nehmen. Oder Kunstgeschichte studieren.«

Ich wusste nicht, was es war, das da aus mir herausschoss, aber Bruno reagierte mit der Ruhe eines Bombenentschärfers und nahm mich in den Arm, wie er es immer tat, wenn ich gerade einen emotionalen Moment hatte. Oder wie Bruno es nannte: Gefühlsdurchfall.

»Weißt du noch, die Liste, die du mir neulich vorgelesen hast? Die, die dir Hoffnung schenkt? Komm, zähl noch mal auf«, sagte er. Ich wischte mir tapfer die Tränen ab. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.

»Leonardo DiCaprio, Natalie Portman, Adele, Al Pacino, Daniel Radcliffe.«

»Und was sind die alle?«

»Einzelkinder.«

»Und was noch?«

»Erfolgreich.«

»Na also. Ich denke, es ist besser, wenn wir uns jetzt erst einmal alle beruhigen. Wir machen einen Tag mit Katja aus, um uns den Campingplatz anzuschauen.«

»Versprichst du mir, wir fahren dahin?«

»Versprochen.«

»Blöd nur.«

»Was?«

»Wir haben gar kein Auto.«

»Ich weiß.«

* * *

Es war März 2018, ein paar Monate nach dem Morgen in Brunos Bad. Ich lag mit Blähbauch in einem Krankenhausbett. Aufgefallen war es mir nur, weil die Decke sich nach oben gewölbt hatte, was nicht nur merkwürdig aussah, sondern gleichzeitig die Stelle meines Schmerzes war. Die komplette Schwangerschaft, alle Obstsorten durch, die Geburt, und der Bauch war immer noch kugelrund. Wie ein Luftballon fühlte er sich an, als ich vorsichtig mit dem Finger dagegentippte. Was war da los? Und wann käme jemand, um mir zu sagen, was da los war? Ich klingelte nach der Pflegerin, die eine halbe Stunde später kam.

»Hallo, mein Bauch ist ein Ballon und schmerzt. Was ist da los?«

Die Pflegerin, eine neue, nicht mehr die schrecklich grobe von letzter Nacht, hob die Decke und sagte, dass bei einem Kaiserschnitt manchmal Luft in den Bauchraum gerate, die erst mit der Zeit entweiche. Also wirklich ein Luftballon. Ich war schockiert und fragte, wie die Luft denn entweichen könne, wenn der Bauch doch dann jetzt zugenäht sei. Ich war wegen einer Geburt gekommen, und es fiel mir schwer, mich als Patientin anzupassen. Sie betastete noch einmal meinen Bauch, knetete ihn wie einen Brotteig, ihre Hände waren arschkalt, was ich ihr sagte, wofür sie sich entschuldigte, sie habe immer kalte Hände.

»Sie müssen auf Toilette«, sagte die Pflegerin mit den arschkalten Händen. Ich fand die dann jetzt doch eine unmögliche Person. Eigentlich alles an dieser Situation war unmöglich. Der Bauch, das Krankenzimmer, die Matratze, der Kaiserschnitt, das Wetter draußen. Bruno war mit dem Baby auf dem Gang spazieren, ich lag mit Luftballon als Bauch in einem Bett, und vor mir stand Kalthand, wie ich sie jetzt nur noch nennen würde, und schaute sorgenvoll in mein Gesicht. Wobei es mich extrem nervte, dass sie nicht sorgenvoller schaute.

»Ich kann nicht auf Toilette«, sagte ich.

»Seit wann nicht?«

Und das Gespräch wurde unangenehm in drei, zwei, eins: »Seit drei Tagen.«

»Wir können einen Einlauf gegen die Verstopfung machen.«

Die Worte Einlauf und Verstopfung belasteten mich sofort. Unfassbar grässliche Worte, ich wollte sofort in der Wand hinter mir verschwinden. Eitelkeit – eine ganz schlechte Kombination mit Krankenhaus.

»Sobald die Verstopfung weg ist, wird auch der Bauch nicht mehr schmerzen.«

Sie sollte um Gottes willen nicht mehr Verstopfung sagen. Bruno kam rein, das Baby am Schreien.

»Okay.«

»Was?«, fragte Bruno.

»Ich bekomme einen Einlauf«, sagte ich und schlug die Hände vor mein Gesicht. Kalthand verließ den Raum. Das Baby wurde ruhiger, weil ein Vater draußen im Gang Bruno den Fliegergriff gezeigt hatte, den er mir jetzt ganz stolz vorführte, was mein Herz verkrampfen ließ, weil ich dachte, das Baby fliegt vor allem gleich auf den Boden. Ich versuchte, ohne Brunos Hilfe aufzustehen; es war schrecklich, nicht aus dem Kreißsaal als die starke Frau herausgekommen zu sein, die ein Kind zur Welt gebracht hatte, sondern als jammernde, aufgeblähte, nach vorn gerichtete Patientin. Auf dem Stationsflur konnte man genau sehen, wer eine natürliche Geburt gehabt hatte und wer eine Sectio. Die Aufrechten: natürliche Geburt. Die Gekrümmten: Sectio.

Kalthand kam nach einer endlos langen Stunde wieder, da drehte ich gerade meine dritte Runde auf dem Flur. In einer Pappschale in ihrer Hand lagen ein Beutel mit Flüssigkeit und ein roter Schlauch. Dicker als ein Strohhalm, aber dünner als ein Duschschlauch. Ich folgte ihr in Zeitlupe zurück in mein Zimmer. Bruno musste auf jeden Fall raus, sobald ich diese Prozedur über mich ergehen ließ, von der ich hoffte, sie zählte wenigstens ein bisschen als medizinische Notwendigkeit. Ich drehte mich zur Seite, zuckte, und Kalthand führte den Schlauch in meinen Darm ein. Der Druck war nicht angenehm, aber auch nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Bilder von Marilyn Monroe schossen mir durch den Kopf, weil ich mal gelesen hatte, ihre Assistentin habe ihr jeden Abend einen Einlauf verpasst. Die weltschönste Ikone hatte auch so angewinkelt in ihrem Bett gelegen mit einem Schlauch im Darm, solche Gedanken halfen.

»Können Sie bitte Ihren Schließmuskel anspannen.« Ich spannte. »Noch mehr.« Ich spannte. »Bisschen mehr noch, Sie können das.« Ich spannte um mein Leben, dachte ans Pressen und wie viel schöner es alles hätte sein können. Innerlich hoffte ich, es würde endlich vorbei sein. Dann war Kalthand fertig, so wie ich, aber mein Darm hatte es gut weggesteckt, glaubte ich. Kalthand lachte nicht. »Jetzt warten Sie ein bisschen, und dann müsste es klappen.«

Bruno kam wieder mit dem Baby rein, das jetzt schlief, und ich sagte, wenn es losgehe, müsse er sofort wieder mit dem Baby raus. Unruhig, aber immer noch in Zeitlupe, als wäre ich 80Jahre alt mit künstlicher Hüfte, lief ich im Zimmer umher, absurderweise vorfreudig gespannt, dabei wartete ich nur darauf, aufs Klo zu gehen. Nach 30Minuten spürte ich den besagten Druck. Ich schrie: »Du musst weg!« Bruno grinste. Warum grinste er und ging nicht? Ich schrie wie am Spieß »Weeeg!«, dann hielt mich nichts mehr, ich konnte aber nicht rennen, also humpelte ich in den Toilettenraum meines Zimmers und dachte, wir werden nie wieder Sex haben. Schiebetür zu. Auf die Klobrille. Es schoss aus mir raus. Ich hörte, wie Bruno sagte, er finde das ein bisschen witzig. Ich schrie »Ich hasse dich!« und guckte zwischen meine Beine ins Klo. Nur die Spülung kam raus. Mein Bauch schmerzte tierisch, ich hörte, wie Bruno die Zimmertür schloss. Bestimmt saß ich 20Minuten lang einfach zusammengesackt auf dem Klo. Schließlich hörte ich, wie die Zimmertür wieder aufging. Ich schleppte mich enttäuscht aus dem Toilettenraum; wieder eine andere, eine noch nie vorher gesehene Pflegerin stand vor mir. Erst kommen sie nicht, und dann sind sie plötzlich da. »Mir wird schwindlig«, sagte ich. Die Pflegerin nahm meinen Arm, sie trug kein Namensetikett, und auf die Schnelle fiel mir kein geeigneter Name für sie ein. Dann spürte ich wieder Druck und flüsterte, ich müsse auf die Toilette. In letzter Sekunde hievte mich die Pflegerin auf die Klobrille, und die drei Tage anhaltende Verstopfung löste sich in der Konsistenz eines Eintopfs. Es passierte gerade wirklich. Ich schiss vor einer mir völlig fremden Person. Die Geräusche waren epischsten Ausmaßes. Ich fühlte mich von Kalthand verraten, weil jetzt die andere hier war und nicht sie. Scheinwerfer an, die Kamera schwingt in die Totale. Wäre das jetzt ein Film, liefe als Hintergrundmusik sicherlich etwas Dramatisches von Hans Zimmer.

Die Pflegerin war etwas irritiert, hätte ich ihren Zustand anhand ihres Gesichtsausdrucks erraten müssen. Sie wollte der Patientin schließlich nur das Essen bringen, jetzt schiss die Patientin einfach drauf los. Ein bisschen war ich erleichtert, dass jetzt endlich alles rauskam. Und ich musste mich säubern. Abwischen. Noch so ein Wort, warum gab es für solche Vorgänge Wörter? Wie nur sollte ich es anstellen? Ich konnte mich wegen der Kaiserschnittnarbe, die angefangen hatte zu pochen, nicht drehen. Der erste Versuch einer würdevollen Drehung tat höllisch weh. Können Sie mir bitte den Hintern abwischen, ging mir nicht über die Lippen. Die Pflegerin wäre mir allerdings immer noch lieber als Bruno, verhandelte ich mit mir.

Zusammenreißen, denken, machen. Egal. Nicht egal. Egal. Ich drehte mich, nicht wie Marilyn Monroe es vermutlich getan hätte, aber ich schaffte es, mit dem Papier an meinen Hintern zu kommen. Ich stöhnte, und ich weinte. Die Pflegerin drehte sich andächtig weg. Im nächsten Moment guckte ich hoch zu ihr. Dabei fiel mir auf, sie trug überhaupt kein weißes T-Shirt wie die anderen. Mein Blick wanderte nach unten. Die Frau trug Straßenschuhe. Wie nach einem verlorenen Wettkampf schlurfte ich an ihrem Arm hängend zurück zum Bett und sank in die Matratze. Die Frau nahm das Tablett mit dem Essen wieder in die Hände. »Ich wollte eigentlich zu meiner Schwiegertochter, ihr das Mittagessen bringen«, sagte sie. »Ich bin wohl im falschen Zimmer gelandet.«

Wir schwiegen beide. Es war mein dritter Tag als Mutter.

* * *

Es ist ein Schrotthaufen. Der Wohnwagen ist ein Schrotthaufen, wahrscheinlich hätte ich die 1500Euro genauso gut irgendwem in die Hand drücken können, es würde keinen Unterschied machen. Je öfter ich den Wohnwagen sehe, desto mehr Stellen fallen mir auf, die ohne Zweifel darauf hinweisen, dass es sich um einen Schrotthaufen handelt. Innen konnte ich ihn retten, da war ich mir sicher, aber außen ist mehr nicht in Ordnung als in Ordnung, und andere Fachkenntnisse habe ich nicht. Die Gummiabdichtungen sehen nicht in Ordnung aus, die Leisten sehen nicht in Ordnung aus, die Tür sieht definitiv nicht in Ordnung aus. Vielleicht schimmelte das ganze Ding schon vor sich hin, bevor wir auch nur einmal drin geschlafen hatten. Bei der Besichtigung klebte ein Stück Pappe an der Wand, auf dem man seinen Namen und seine Telefonnummer hinterlassen konnte, was mir jetzt erst wieder einfällt. Ungefähr zehn Namen standen vor meinem Namen. Zehn Namen! Zehn Menschen hatten sich den Wohnwagen angeschaut und ihn nicht gekauft. Diese Liste war wie die Reihe Ex-Freundinnen, die mich warnte, auf keinen Fall mit dem Gitarristen auszugehen.

Der Wohnwagen ist definitiv ein Schrotthaufen, was ich aber erst einmal nicht laut ausspreche. Ein besseres Mantra hat niemals zu mir gepasst. Ich stehe also davor, zweifle und habe mal wieder einen Christy-Brown-Moment in meinem Leben.

Es gibt nur eine Handvoll Bücher, die ich zum exakt richtigen Zeitpunkt gelesen habe. Mir ist vollkommen klar, Mein linker Fuß von Christy Brown ist so ein Buch. Ich war nie gut in der Schule. Und ich hatte nie Ambitionen, dies zu ändern. In der Grundschule musste ich nachmittags in die Förderstunde. So hieß das. Man saß dann da mit einer Lehrerin und drei anderen Schülern, von denen man hoffte, sie seien wenigstens noch dümmer als man selbst. Als ich Oma Karin erzählte, ich müsse in die Förderstunde, hatte sie gerade ihren Streuselkuchen gebacken. Den mit den Kirschen; sie konnte ihn so gut, sie musste dafür nichts mehr messen oder abwiegen, einfach alles rein nach Gefühl, er schmeckte immer gleich. Die Kirschen habe ich stets aus dem Streuselkuchen gepult, weil ich wusste, in den Kirschen sind Maden. Was Oma Karin vehement abstritt, woraufhin ich einmal zum Beweis eine Kirsche öffnete und sich sogleich eine gefräßige Made zeigte, die sich durch das Fruchtfleisch schlängelte, was Oma Karin als reinen Zufall bezeichnete. Die Kirschen seien gut. Eine weitere durfte ich nicht öffnen. Bis heute esse ich keine selbst gepflückten Kirschen, von keinem Baum, egal wie hartnäckig vom Pflücker behauptet wird, es seien keine Maden drin. Wirklich, es sind immer Maden in Kirschen. Unter dem Kirschbaum im Garten meiner Großeltern saß ich oft. Mein Lieblingsplatz im Garten. In der Förderstunde säßen die dummen Kinder, sagte ich zu Oma Karin, und Oma Karin erklärte, dumme Kinder gebe es nicht, nur faule.