Aufschlag Caravaggio - Álvaro Enrigue - E-Book

Aufschlag Caravaggio E-Book

Álvaro Enrigue

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Beschreibung

Einzigartig, originell, unbekümmert um alle Konventionen

Francisco de Quevedo, genialer Poet und berüchtigter Rauf- und Trunkenbold, befindet sich auf der Flucht vor der spanischen Justiz, als er in Rom auf den italienischen Maler Caravaggio trifft. Eine gemeinsam durchzechte Nacht endet im Streit, und um seine Ehre wiederherzustellen, fordert Quevedo den Künstler heraus – doch nicht zu einem Duell mit Waffen, sondern zu einer Tennispartie, die zur Metapher wird für den Wettstreit der beiden Supermächte der Spätrenaissance: Italien und Spanien. Ein furioser Zweikampf mit weitreichenden Folgen.

Frei von jeder Bildungshuberei entführt uns Álvaro Enrigue mit diesem Roman hinein in die Welt der Geschichte, der Kunst und der stürmischen Entwicklungen, die uns in die Moderne schleudern sollten. Ein kurzweiliges und überraschendes Lesevergnügen in der Tradition von Umberto Eco und Italo Calvino.

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Seitenzahl: 341

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Francisco de Quevedo, genialer Poet und berüchtigter Rauf- und Trunkenbold, befindet sich auf der Flucht vor der spanischen Justiz, als er in Rom auf den italienischen Maler Caravaggio trifft. Eine gemeinsam durchzechte Nacht endet im Streit und um seine Ehre wiederherzustellen fordert Quevedo den Künstler heraus – doch nicht zu einem Duell mit Waffen, sondern zu einer Tennispartie, die zur Metapher wird für den Wettstreit der beiden Supermächte der Spätrenaissance, Italien und Spanien, und für den Beginn eines neuen Zeitalters.

Ein kurzweiliges und berauschendes Lesevergnügen, das uns spielerisch die Renaissance näherbringt, von der Enthauptung Anne Boleyns, über die Eroberung des Aztekenreichs bis hin zu den Ränkespielen der Päpste im Rom des 16. Jahrhunderts. Frei von jeder Bildungshuberei entführt uns Álvaro Enrigue mit diesem Schelmenstück hinein in die Welt der Geschichte, der Kunst und der stürmischen Entwicklungen, die uns in die Moderne schleudern sollten.

Álvaro Enrigue, geboren 1969 in Guadalajara, studierte in Mexico City Kommunikationswissenschaften, lehrte anschließend Literatur des 20. Jahrhunderts und promovierte an der University of Maryland. Seit seinem 1996 erschienen Debüt La muerte de un instalador gehört er zu den wichtigsten iberoamerikanischen Gegenwartsautoren, seine Werke sind preisgekrönt und wurden in viele Sprachen übersetzt. Aufschlag Caravaggio ist der erste Roman Enrigues, der auf Deutsch erscheint. Enrigue lebt mit seiner Familie in New York.

Álvaro Enrigue

Aufschlag Caravaggio

Roman

Aus dem Spanischen

von Peter Kultzen

Blessing

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der Originalausgabe: Muerte súbita Originalverlag: Anagrama, Barcelona
Die Übersetzung des Quevedo-Zitats stammt von H.C. Artmann, in: Francisco de Quevedo, Der abenteuerliche Buscón, Frankfurt am Main, 1963. Die Übersetzung des Cervantes-Zitats stammt von Ludwig Braunfels, in: Miguel de Cervantes, Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, Zürich, 1972. Die Übersetzung des ersten und zweiten Morus-Zitates stammt von Gerhard Ritter, in: Thomas Morus, Utopia, Stuttgart, 2003.
Copyright © 2013 by Álvaro Enrigue Copyright © 2015 by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Geviert, Christian Otto, unter Verwendung eines Motivs von © Private Collections/Bridgeman Images Satz: Leingärtner, Nabburg ISBN: 978-3-641-16444-7V002
www.blessing-verlag.de

Für die kleine Luiselli.

Für die drei Garcías: Maia, Miqui, Dy.

Für Hernán Sánchez de Pinillos,

der mir das Lesen beigebracht hat.

Als der Begriff, den wir in Mexiko und anderen lateiname rikanischen Ländern verwenden, wenn wir von Turnschuhen sprechen – tenis –, zum ersten Mal schriftlich erwähnt wurde, bezeichnete er nicht die Fußbekleidung, die diese Sportart erfordert, sondern, wie in vielen anderen Sprachen auch noch heute, die Sportart selbst. Allerdings war Tennis – neben dem Fechten, seinem Cousin – in der Tat die erste Sportart, für die man besondere Schuhe benötigte.

Im Jahr 1451 äußerte Edmund Lacey, der Bischof der englischen Stadt Exeter, sich mit der gleichen dumpfen Wut über das Tennisspiel wie meine Mutter über die tenis der Marke Converse, die ich als Jugendlicher trug und die immer so aussahen, als würden sie sich jeden Moment in ihre Einzelteile auflösen: Ad ludum pile vulgariter nuncupatum tenys. In Laceys Edikt folgt dem – der Volkssprache entnommenen – Wort tenyseine Reihe von Sätzen, die den säuerlichen Geruch einer amtlichen Untersuchung verströmen Prophanis colloquiis et iuramentis et vanis et sepissime periuriis illicitis insistere, atque exinde sepius rixas movere.

Mehrere Novizen hatten den Hof des Kreuzgangs der Kollegienkirche St. Mary in Exeter dazu benutzt, gegen ein paar Jungs aus dem Ort ein paar Partien Tennis auszutragen. Damals ging es beim Tennisspielen wesentlich gewalttätiger und lauter zu als heutzutage: Es war ein wildes Hin und Her von Angriffen und Gegenangriffen ohne Netz oder irgendwelche Markierungslinien, bei dem man mit Zähnen und Klauen versuchte, jeden Punktverlust abzuwehren, stets darum bemüht, den Ball in eine kreisrunde Öffnung zu befördern, die im Spanischen als buchaca bezeichnet wurde. Da sich diese Sportart Mönche aus dem Mittelmeerraum ausgedacht hatten, ging es dabei unterschwellig stets auch um das Seelenheil: Die Engel starteten Angriffe auf die Teufel, die sich ihnen wiederum nach Kräften widersetzten. Wie die Sache ausging, war über den Tod hinaus von Bedeutung. Der Ball verkörperte den Geist, dem sich Luzifers Boten in den Weg stellen, während er auf seiner Suche nach einem Schlupfloch in den Himmel zwischen den Polen von Gut und Böse hin und her fliegt, ein Sinnbild der Seele in ihrer Zerrissenheit, mit dem es meine tenis beziehungsweise Turnschuhe ohne Weiteres aufnehmen konnten.

Der streitsüchtige Barockmaler Michelangelo Merisi da Caravaggio, der ein leidenschaftlicher Tennisspieler war, musste seine letzten Lebensjahre im Exil zubringen, weil er einen seiner Gegner auf dem Spielfeld mit dem Schwert durchbohrt hatte. In Erinnerung an den Vorfall heißt die Straße, in der sich das Verbrechen zugetragen hat, bis heute Via della pallacorda, »Ball- und Schnurstraße«. Caravaggio wurde in Rom zum Tod durch Enthaupten verurteilt, floh und trieb sich daraufhin mehrere Jahre lang, von einem Unterschlupf zum nächsten wechselnd, zwischen Neapel, Sizilien und Malta herum. Neben seinen Auftragswerken malte er furchterregende Bilder, auf denen er selbst als das Opfer von Enthauptungen zu sehen war. In der Hoffnung, durch diese symbolische Unterwerfung seine Begnadigung zu erwirken, schickte er die Bilder dem Papst oder dessen Vertretern. Im Alter von neununddreißig Jahren starb er selbst durch einen Dolch, den ihm ein bezahlter Mörder im Auftrag der Malteser am Strand von Porto Ercole in der Toskana in die Brust stieß. Obwohl er mit Schwert und Dolch ebenso meisterhaft umgehen konnte wie mit Pinsel und Tennisschläger, war er wegen seiner durch die Syphilis bedingten Halluzinationen und die Folgen einer Bleivergiftung außerstande, sich zur Wehr zu setzen. Sepius rixas movere. Zu diesem Zeitpunkt hatte man ihn bereits begnadigt, weshalb er sich endlich auf der Rückreise nach Rom befand.

Vor ein paar Jahren nahm ich an einer der ungefähr dreihunderttausend Buchmessen teil, die Woche für Woche in der spanischsprachigen Welt stattfinden. Ein örtlicher Literaturkritiker fand mich so unerträglich, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, eine erbitterte Brandrede auf mich zu halten. Da er nicht die Zeit oder die nötige Energie aufbrachte, um eins meiner Bücher zu lesen und zu verreißen, schrieb er in seinem Blog: »Und der Kerl bildet sich ein, er könne sich uns einfach in völlig ausgelatschten tenis präsentieren!« Vanis et sepissime periuriis illicitis insistere!

Dass Menschen, sobald sie das Gefühl haben, anderen gegenüber eine gewisse Autorität geltend machen zu können, sich über deren »unmögliche Turnschuhe« auslassen – über unsere heißgeliebten tenis –, ist nichts Besonderes. Ich selbst kann mich gar nicht oft genug über die Adidas meines heranwachsenden Sohns echauffieren. Dabei trennen wir uns alle doch noch nicht einmal dann von unseren Turnschuhen, wenn sie sich an Regentagen unweigerlich in Folterinstrumente verwandeln. Genau deshalb hassen Leute, die der Meinung sind, andere herumkommandieren zu können, tenis beziehungsweise Turnschuhe: Sie erweisen sich immer wieder als resistent gegen deren Übergriffe.

In der Eröffnungsszene der englischen Renaissancekomödie Eastward Ho betritt ein Diener mit Namen Quicksilver in Cape und Hausschuhen die Bühne. Die Schuhe haben eine dicke Wollsohle und sind gewissermaßen die frühesten Vorläufer unserer heutigen tenis. Quicksilvers Herr sieht das besorgt als Zeichen dafür, dass der junge Mann kurz davor steht, in die unheilvolle Welt der Gauner, Spieler und Mörder einzutauchen, weshalb er das Cape anhebt – um festzustellen, dass der andere tatsächlich ein Schwert und einen Tennisschläger am Gürtel trägt. Einmal mehr haben wir es hier mit einem Vertreter der Obrigkeit zu tun, der am sportlichen Schuhwerk seines Gegenübers dessen Neigung zum Bösen zu erkennen glaubt – wie Mütter, Kritiker, Bischöfe und Dienstherren sich doch gleichen.

Wenn unsere Lederschuhe eines Tages unansehnlich werden, bringen wir sie zum Schuster, damit er sie, nicht viel anders als ein Schönheitschirurg, wieder aufpoliert, so gut es eben geht. Tenis sind in dieser Hinsicht einzigartig: Sie lassen sich nicht reparieren, je mehr Narben sie durch unsere diversen Fehltritte davontragen, desto wertvoller werden sie. Meine ersten Converse-tenis starben eines plötzlichen Todes: Als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, hatte meine Mutter sie einfach entsorgt.

Ich glaube, es ist kein Zufall, dass man in Mexiko beim Tod eines Menschen sagt, er habe »die tenis an den Nagel gehängt« beziehungsweise man habe ihn »mit den tenis voraus aus dem Haus getragen«. Wir sind, wie wir sind – einem ständigen Zerfallsprozess ausgesetzt, von vornherein im Arsch. Und wir laufen in tenis durch die Welt. Immer hin und her, zwischen Gut und Böse, Unbeschwertheit und Verpflichtungen, Eifersucht und Sex. Die Seele bald in dieser, bald in jener Spielfeldhälfte. Das hier ist der Aufschlag.

Erster Satz, erstes Spiel

Er spürte die Lederhaut des Balls an Daumen, Zeige- und Mittelfinger der linken Hand. Er ließ ihn einmal, zweimal, dreimal auf dem Pflaster aufspringen und drehte dabei den Schläger, den er mit der Rechten umklammert hielt, hin und her. Er nahm sich Zeit, um ein Gefühl für die Größe des Spielfelds zu bekommen. In der glühenden Mittagshitze war der Kater vom Vorabend kaum auszuhalten. Er holte tief Luft. Bei dem bevorstehenden Spiel ging es um Leben und Tod.

Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und ließ erneut den Ball zwischen den Fingern der linken Hand kreisen. Ein seltsames Exemplar, stark abgenutzt und rundum fest vernäht, etwas kleiner als gewöhnlich und, so kompakt wie es war, zweifellos französischen Ursprungs. Im Vergleich zu den hohlen Bällen, die er aus Spanien gewohnt war, sprang dieser geradezu hysterisch in die Höhe, wenn man ihn auf dem Boden aufprallen ließ. Er besah sich den Boden und kratzte mit der Fußspitze ein kleines Stück des Kalkstreifens weg, der das Ende seiner Spielhälfte markierte. Mit dem kürzeren Bein musste er knapp davor auftreten: ein Überraschungseffekt, der ihn beim Kampf mit dem Schwert unbesiegbar machte – warum sollte das nicht auch für den Kampf mit dem Schläger gelten?

Von der anderen Seite der Schnur, wo sein Gegner den Aufschlag erwartete, war Gelächter zu hören. Einer der Zuhältertypen, die den Gegner begleiteten, hatte diesem auf Italienisch etwas zugeraunt. Mindestens einer der Kerle kam ihm bekannt vor, ein Mann mit weit vorspringender Nase, rotem Bart und traurigen Augen. Er hatte für die Figur des heiligen Zöllners auf dem Gemälde mit der Darstellung der Berufung des Apostels Matthäus Modell gestanden, das die Kirche San Luigi dei Francesi stolz als ihre neueste Erwerbung präsentierte. Beim Ruf »Tenez!« warf er den Ball in die Höhe. Er konnte förmlich spüren, wie der ausgestopfte Katzenmagen erbebte, als er mit aller Kraft darauf einschlug.

Der Blick seines Gegenspielers folgte dem Ball, wie er auf das Dach der Galerie zuflog. An einer Ecke prallte er ab. Der Spanier lächelte: ganz schön rabiat, sein erster Aufschlag, um nicht zu sagen unerreichbar. Der Mann aus der Lombardei war zu selbstsicher gewesen, er hatte sich darauf verlassen, dass jemand, der ein Bein nachzog, sich ohnehin nicht mit ihm würde messen können. Mit der schnellen und scharfen Intonation der Kastilier, die gleichermaßen mühelos Wände wie Nerven durchbohrt, verkündete der Dichter: »Besser ein Hinkefuß als eine stinkende Schwuchtel.« Mit seinem Witz erntete er auf der Gegenseite nicht den kleinsten Lacher. Dafür warf ihm der Herzog von seinem Platz auf der überdachten Galerie aus das diskrete Lächeln eines unverbesserlichen Tunichtguts zu.

Später sollte der Kampfrichter des Dichters, wie es seinem Titel entsprach, in den Rang eines spanischen Granden aufsteigen, zum damaligen Zeitpunkt jedoch, im Herbst des Jahres 1599, tat er noch alles dafür, seinen Körper zugrunde zu richten, seinen guten Ruf in den Schmutz zu ziehen, seine Frau zur Verzweiflung und die Günstlinge des Königs schier um den Verstand zu bringen. Er war ein so kleinwüchsiger wie draufgängerischer Mensch mit kreisrundem Gesicht, einer ein wenig lächerlich wirkenden Stupsnase, pampelmusenkernförmigen Augen, die stets ironisch dreinzublicken schienen, auch wenn er es einmal vollkommen ehrlich meinte, kurzen Locken und einem wenig überzeugenden Bart, der ihn dümmer erscheinen ließ, als er war. Unter der hölzernen Bogenreihe sitzend, von deren Dach der Ball abprallen musste, damit ein Aufschlag gültig war, folgte er der Partie so herablassend und verschlagen wie immer.

In Erwartung des nächsten Balls postierte der Mann aus der Lombardei sich in der Mitte seiner Spielhälfte. Diesmal schwieg die Ansammlung von Tagedieben, die ihn begleiteten, ehrfürchtig. Mit dem nächsten Aufschlag gewann der Dichter auch gleich den nächsten Punkt. Diesmal hatte er mit dem Ball nur knapp auf die gegnerische Seite des Galeriedachs gezielt, sodass dieser nach dem Aufprall für den Gegner nahezu unerreichbar zu Boden fiel. Der Herzog brüllte den Spielstand: »30 : Love.« Obwohl er genau genommen »lof« sagte, verstanden die Italiener ohne Weiteres, was gemeint war.

Mit gestärktem Selbstbewusstsein wischte der Spanier sich die rechte Hand an der Hose ab. In der linken drehte er den Ball hin und her. So, wie er schwitzte, war es nicht nötig, dass er auf das Leder spuckte, um das Flugverhalten zu beeinflussen. Das Schwitzen verdankte sich jedoch nicht der himmlischen Sonnenglut, sondern den höchst irdischen Fieberwallungen, mit denen die, die nicht die Möglichkeit hatten, sich von einem Trinkgelage zu erholen, die Folgen desselben buchstäblich ausbaden müssen. Er ließ den Kopf kreisen, schloss die Augen, fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund. Drückte den Ball in seiner Hand. Er war anders als die Bälle, die er kannte, irgendetwas war seltsam daran, als handelte es sich um einen Talisman oder dergleichen. Daran musste es auch liegen, dass seine Aufschläge so unhaltbar gerieten, sagte er sich – bestimmt konnte er sich auf etwas gefasst machen, wenn erst sein Besitzer, der den Ball viel besser kannte als er, mit dem Aufschlagen an der Reihe war.

Er umklammerte den Schläger und warf den Ball in die Luft. »Tenez!« Er drosch mit solcher Wucht darauf ein, dass er, als sein kürzeres Bein wieder auf dem Boden aufkam, das Gefühl hatte, die Erde in ihrem ewigen Kreisen für den Bruchteil einer Sekunde überholt zu haben. Der Ball prallte vom Dach der Galerie ab und vollführte eine überaus eigenwillige Drehung. Der Mann aus der Lombardei machte sich lang und fing ihn geschickt ab. Der Spanier versuchte daraufhin, ihm auf halber Strecke den Weg abzuschneiden, was ihm jedoch nicht gelang. Der Ball flog weiter, stieß, zu seinem Glück, gegen einen Pfosten, woraufhin er ihn sich zurückholen und ins hintere Ende des gegnerischen Feldes befördern konnte. Eine gute Lösung, allerdings ziemlich vorhersehbar und zeitaufwendig, während schon jetzt klar war, dass er die größere Erfahrenheit seines Gegenspielers nur durch überraschende Einfälle würde wettmachen können. Dem Mailänder gelang es auch so mühelos, zurückzulaufen und mit einem trockenen Drive zu antworten, dem der Dichter nichts entgegenzusetzen hatte.

»30 : 15«, rief der Herzog. Die einzige anständig aussehende Gestalt unter den Begleitern des Mannes aus der Lombardei war dessen Kampfrichter, ein schweigsamer und vorzeitig gealterter Mathematikprofessor. Dieser betrat das Spielfeld, um die Stelle, wo der Ball zuletzt aufgeschlagen war, durch ein Kreuz zu markieren. Bevor er die Kreide ansetzte, blickte er kurz zu dem Gönner des Spaniers. Der Herzog zog betont gleichgültig die Schultern hoch, um zu erkennen zu geben, dass er mit der Platzierung einverstanden war.

Der Dichter kehrte nicht sogleich an seinen Ausgangspunkt zurück. Da der Mathematikprofessor ziemlich lange brauchte, um die Markierung durchzuführen, nutzte er die Gelegenheit und trat an die Galerie. »Ein hervorragender Spieler«, sagte der Herzog, als der Dichter vor ihm stand. »So schnurgerade bekommst du den Ball an deinen besten Tagen nicht geschlagen.« Der Dichter blies die Wangen auf und stieß die Luft anschließend mit einem Pfeifen wieder aus. »Verlieren geht nicht«, sagte er. »Verlieren geht nicht«, bestätigte sein Gönner.

Der nächste Punkt war lange und hart umkämpft. Der Spanier berührte mit dem Rücken fast die Wand und erwehrte sich der heranfliegenden Bälle, als hätte er es mit einem ganzen Heer von Angreifern zu tun. »Weg von der Wand«, rief der Herzog ihm mehrfach zu, aber kaum hatte er ein paar Fußbreit Boden gutgemacht, zwang die ungeheure Kraft seines Gegners ihn jedes Mal zum neuerlichen Rückzug. Einmal musste er diesem sogar den Rücken zukehren, um noch an einen Drive zu gelangen, was zwar beeindruckend aussah, die Sache jedoch nicht gerade einfacher machte. Der Mann aus der Lombardei fing den so zurückgeschlagenen Ball kurz hinter dem Netz ab und drosch ihn in Richtung Galerie. Um Haaresbreite wäre er in der buchaca eingeschlagen – in diesem Fall wäre dem Künstler das Spiel automatisch zugefallen. »30 beide«, rief der Herzog. »Paritá!«, bestätigte der Professor. Der nächste Aufschlag des Dichters traf genau an die Kante des Galeriedachs und schlug anschließend unerreichbar für den anderen im gegnerischen Feld ein. »45 : 30, Vorteil«, verkündete der spanische Adlige. Der Mathematiker nickte gelassen.

Beim nächsten Punkt gab weniger die Kraft, als die Intelligenz den Ausschlag. Diesmal ließ der Dichter sich nicht an die Wand drängen. Dafür gelang es ihm, den Künstler in eine Ecke zu zwingen. Mit der ersten kurzen Rückgabe hatte er die Sache für sich entschieden. »Spiel«, rief der Herzog. »Cacce per Spagna«, der Professor.

Regeln

Das Raqueta-Spiel: dem Pelota-Spiele vergleichbar. Der eine verteidigt, der andere greift an, alsdann werden die Rollen getauscht. Geht keine Seite als Sieger hervor, entscheidet ein kurzer Wettlauf darüber, wem im dritten Satz, welcher auch »der plötzliche Tod« genannt, die Rolle des Verteidigers und wem die Angreiferrolle zufalle. Nach dem Aufschlag hat der Ball zuerst auf einem Vordache zu einer Seite des Feldes zu landen, von welchem er alsdann auf dieses herabfällt und weitergeschlagen wird. Raqueta lautet desgleichen die Bezeichnung für den Schläger, welcher bei diesem Spiele Verwendung findet. Dieser ist ringsum aus Holz gemacht und hat in der Mitte ein feines Flechtwerk von kräftigem Kalbsleder. Man nimmt ihn am Griff und schlägt mit ihm gegen den Ball, was mit großer Kraft und Gewalt geschieht. Beim Raqueta-Spiel sammelt man Punkte, wer aber den Ball in die buchaca einlocht, hat ein Spiel gewonnen, und wer drei aufeinanderfolgende Spiele oder vier einzelne gewinnt, gewinnt den Satz.

Diccionario de Autoridades, Madrid, 1726

Enthauptung I

Am 19. Mai 1536 hatte Jean Rombaud eine denkbar haarige Angelegenheit zu erledigen: Er sollte mit einem Hieb den Kopf Anne Boleyns – Marquise von Penbroke und Königin von England, deren Schönheit schuld daran war, dass sich die Straße von Calais zu einer nahezu unüberwindlichen Passage von ozeanischen Ausmaßen verbreitert hatte – vom Rumpf trennen. Einzig zu diesem Zweck hatte der niederträchtige Minister Thomas Cromwell Rombaud aus Frankreich holen lassen. In einem knappen Begleitschreiben hatte er ihn aufgefordert, sein Toledaner Schwert – mit wundersam feiner Klinge – mitzubringen, weil ein außergewöhnlich zarter Hals zu durchtrennen sei.

Nicht, dass Rombaud besonders beliebt oder der einzig denkbare Kandidat für diese Aufgabe gewesen wäre – geschmeidig und gewissenlos bewegte er sich mit kühl-spöttischer Miene innerhalb eines kleinen Kreises aus auf ganz besondere Aufgaben spezialisierten Männern, die an den europäischen Renaissancehöfen Karriere machten, während Botschafter, Minister, Sekretäre und königliche Kammerherren den Blick geflissentlich anderen Dingen zuwandten. Seine Zurückhaltung, Skrupellosigkeit und sein gefälliges Äußeres ließen ihn als die natürliche Wahl erscheinen, wenn es um die Durchführung gewisser Vorhaben ging, über die alle Welt Bescheid wusste, ohne freilich auch nur ein Wort darüber zu verlieren, dunkle Geschäfte, ohne die die Politik noch nie ausgekommen ist. Für jemanden, der dem Beruf eines Racheengels nachging, kleidete Rombaud sich überraschend geschmackvoll: Elegant geschnittene Hosen aus sündhaft teurem Brokat, königsblaue Samthemden, dazu kostbare Ringe an den Fingern – nichts davon passte zu seinem Stand eines Hurensohns, im buchstäblichen wie übertragenen Sinne. In sein kastanienbraunes, von hellen Strähnen durchzogenes Haar flocht er mit dörflerischer Anmut billige Schmuckstücke, die er den Frauen abluchste, welche er sich mithilfe unterschiedlicher Waffen gefügig machte, in deren Beherrschung er es mit Gottes Hilfe zur Meisterschaft gebracht hatte. Ob er aus Klugheit oder aus Dummheit so schweigsam war, hätte niemand zu sagen gewusst. Seine dunkelblauen, leicht schräg stehenden Augen ließen niemals auch nur das geringste Mitleid, allerdings auch keinerlei Boshaftigkeit erkennen. Zu alldem kam die Tatsache, dass Rombaud Franzose war. Eine englische Königin zu töten war für ihn folglich weniger ein Vergehen oder eine Heldentat als schlichtweg eine Pflicht. Cromwell ließ ihn nach London kommen, weil er der Ansicht war, gerade aufgrund der letztgenannten Eigenschaft werde dieser Mann besonders saubere Arbeit leisten.

Es war keine Laune Heinrichs VIII., dass seine Frau durch ein Toledaner Schwert und nicht durch einen schäbigen Axthieb getötet werden sollte – so wie ihr Bruder, den man wegen Beischlafs mit der Königin angeklagt hatte, ein Verbrechen, das ihm die Rekordsumme einer gleich dreifachen Todesstrafe einbrachte: wegen Majestätsbeleidigung, Ehebruchs und abgrundtiefer Verderbtheit. Im Gegenteil, nicht einmal der niederträchtige Thomas Cromwell konnte die Vorstellung ertragen, einen so zarten Hals von der unzuverlässigen Schneide eines Henkerbeils durchschlagen zu lassen.

Am Morgen des 19. Mai 1536 besuchte Anne Boleyn die Messe und legte die Beichte ab. Anschließend ließ sie sich von ihren Hofdamen – und von niemandem sonst, darauf hatte sie bestanden – die üppigen roten Zöpfe abschneiden und das übrige Haar stoppelkurz scheren, bevor man sie dem Constable des Tower Green übergab, wo ihr Körper zweigeteilt werden sollte. Die meisten Bilder, die von ihr erhalten sind, darunter auch die einzige Kopie des einzigen Porträts, das nachweislich zu Lebzeiten entstand – es befindet sich in der Tudor-Sammlung von Hever Castle –, zeigen sie im Besitz eines eindrucksvoll kräftigen Haarschopfs.

Offensichtlich verscheuchte der königliche Alkoven die Lust König Heinrichs an der Begattung, die er, wenn es um außereheliche Abenteuer ging, stets so entschlossen an den Tag legte, wie er sich ansonsten der Fortpflanzungspflicht entzog, die die Würde des königlichen Amts ihm auferlegte. Wenn jemand darüber Bescheid wusste, dann die Marquise von Penbroke, die nur ein einziges Mal von ihm schwanger geworden war, und das während einer Landpartie, zu einem Zeitpunkt, als Heinrich noch mit der früheren Königin verheiratet war. Das hierauf zur Welt gekommene Mädchen war ebenso schön wie sie selbst, weshalb der König ihr auch die lautstarken Liebesbezeugungen eines ans Töten gewohnten Mannes zukommen ließ. Was wiederum bewirkte, dass Anne Boleyn in dem Bewusstsein aufs Schafott zuging, dass schon allein statistisch gesehen die Möglichkeit bestand, dass ihre Tochter Elizabeth eines Tages den Thron besteigen würde, wie es dann schließlich ja auch geschehen sollte. Aus eben diesem Grund nahm sie ihr Martyrium mit berechnender Heiterkeit auf sich. Und die letzten Worte, die die Zeugen ihres Todes zu hören bekamen, lauteten: »Möge Gott seine schützende Hand über den König halten und ihn noch lange Jahre über England herrschen lassen, hat es doch bis zum Tage noch keinen edleren und frommeren Fürsten je gegeben.«

Wie kommt es wohl, dass uns Nacktheit, die, wenigstens theoretisch, immer und überall die gleiche ist, so verrückt macht? Eigentlich sollten nur Ungeheuer unser Aufsehen erregen, wenn sie unbekleidet vor uns erscheinen, und doch ist es gerade die Gleichförmigkeit der Nacktheit, die uns so aufwühlt. Die Damen, die Anne Boleyn zur Hinrichtungsstätte begleiteten, hatten ihr zuvor den Kragen ihres Kleides abgenommen. Wie sie sie außerdem von allen Halsketten befreit hatten. Doch dass man ihr Schleier und Kopfschmuck genommen hatte, erschien ihnen nicht im Geringsten als Anschlag auf ihre Schönheit – kahl geschoren war sie um nichts weniger herrlich anzusehen wie mit voller Haarpracht.

Der bläuliche Schimmer ihres Halses, der zitternd den Hieb erwartete, blieb selbst auf die Gefühlswelt eines Jean Rombaud nicht ohne Wirkung. Wie ein Zeuge der Hinrichtung berichtete, war Anne Boleyns bezahlter Mörder doch tatsächlich so freundlich, der Dame, die sich ihm von den Schulterblättern bis zum Scheitel nackt darbot, eine kleine Überraschung zu bereiten. Das todbringende Eisen hoch erhoben und bereit, seine Wut am Hals der Königin auszulassen, fragte er scheinbar zerstreut: »Hat jemand mein Schwert gesehen?« Womöglich hoffend, eine unerwartete Fügung könne sie retten, zuckte die Dame mit den Schultern und schloss die Augen. Das Geräusch, mit dem ihre Wirbel, Knorpel, das schwammige Gewebe der Luftröhre und ihr Kehlkopf gespalten wurden, klang wie das elegante Ploppen, mit dem der Korken sich von einer Weinflasche verabschiedet.

Den Beutel mit Silbermünzen, den Thomas Cromwell ihm nach getaner Arbeit überreichen wollte, wies Jean Rombaud zurück. Dem Mann in die Augen blickend, der so lange intrigiert hatte, bis es ihm gelungen war, die Königin vom Thron zu stoßen, und sich gleichwohl an die Ohren aller Anwesenden wendend, erklärte er, was er getan habe, habe er getan, weil er es einer vornehmen Dame habe ersparen wollen, durch die schwielige Hand eines gewöhnlichen Scharfrichters getötet zu werden. Mit einer schiefen Verbeugung in Richtung der anwesenden Minister und Seelenhirten verabschiedete er sich vom Publikum der Hinrichtung und galoppierte nur wenig später in rasendem Tempo in Richtung Dover davon. Der Constable hatte rechtzeitig dafür gesorgt, dass die prallen Zöpfe der englischen Königin wohlverwahrt in den Satteltaschen von Rombauds Pferd lagen.

Rombaud war begeisterter Tennisspieler, und dieser Lohn erschien ihm mehr als hinreichend. Das Haar auf dem Schafott aus dem Leben Geschiedener zeichnete sich durch besondere Eigenschaften aus, die ihm bei den Pariser Ballherstellern Summen in astronomischer Höhe einbringen würden. Umso mehr, wenn es sich um Frauenhaar handelte, und erst recht, wenn dieses rot war – ganz zu schweigen, wenn es von einer Königin in Amt und Würden stammte.

Die Zöpfe der Anne Boleyn reichten für insgesamt vier Tennisbälle, die mit Abstand die kostbarsten Sportgeräte der ganzen Renaissance sein sollten.

Über den edlen Charakter des Raqueta-Spieles

Vor allem anderen ist zu bemerken, dass das Raqueta-Spiel zu einem ausgezeichneten und vernünftigen Zwecke erdacht worden, wie es bei aller würdigen und wertvollen Kunst sein soll, welche die Natur nachahmt, die nichts ohne die größte Meisterschaft hervorbringt. Man bedenke nur, um ein Beispiel zu geben, wie die alten und weisen Erfinder dieses Spieles es eingerichtet haben, dass es, obwohl das Raqueta-Spiel selbst die blassesten und schwächlichsten jungen Männer zu hitzigen Ausbrüchen hinreißt, ausgeschlossen sei, dass dem Gegner Schaden könne zugefügt werden. Wie im Späteren noch gezeigt werden soll, darf so der Ball niemals im freien Fluge geschlagen werden, sondern erst, wenn er einmal auf der Erde aufgekommen, was unmöglich macht, dass derjenige, der diesen zu empfangen hat, von diesem verletzt werde. Und ebenso muss der Spieler, wenn er den Ball zurückschlagen will, diesen zunächst auf der Erde aufkommen lassen, damit der Punkt, den er erreichen möchte, gültig sei. Wie er auch seinem Gegenspieler, so er den Sieg davontragen möchte, unbedingt mit Anstand zu begegnen und ihm ein jedes Mal Zeit zu gewähren hat, dass er sich neu sammle.

Antonio Scaino, Trattato del giuoco della palla, 1555

Erster Satz, zweites Spiel

Bevor die nächste Runde begann, ging der Spanier erneut zu seinem Kampfrichter. »Der Kerl hat Kraft, und er kennt das Spielfeld genau«, sagte der Adlige, »den ersten Punkt hast du gewonnen, weil er dir nichts zugetraut hat.« – »Ich bin jünger als er«, erwiderte der Dichter, »was die Kraft angeht, kann ich mithalten.« – »Aber eines deiner Beine ist kürzer als das andere.« – »Damit kann ich ihn überraschen.« – »Doppelt anstrengen musst du dich trotzdem.« – »Soll ich weiter vorn spielen?« – »Mit seinen langen Linienbällen macht er dich fertig.« – »Die geb ich ihm volley zurück.« – »Das ist zu riskant, besser, du spielst auf Zeit, dass er nicht viel Energie hat, merkt man ihm an. Immer Punkt für Punkt: hinten, vorn, dann in die Ecken.« Der Dichter schnaubte, wischte sich den Schweiß von der Stirn, stemmte die Arme in die Hüften und sah zu Boden, als wartete er auf genauere Anweisungen. Hätte er nicht einen solchen Kater gehabt, hätte er womöglich größere Hoffnungen in den erfolgreichen Ausgang der Partie gesetzt. »Eng wird es auf jeden Fall«, sagte er dann. »Du kannst auch zurückziehen«, erwiderte der Adlige, »das mit dem Duell war deine Idee.« Der Dichter sah weiterhin zu Boden. »Oder wir machen mit dem Schwert weiter, dann ist die Sache schnell erledigt.« Der Herzog schüttelte den Kopf. »Nicht schon wieder Ärger. Außerdem ist der Kerl mit dem Schwert ein alter Hase.« Der Dichter knurrte: »Bisher habe ich noch nie verloren.« – »Eben darum.« – »Na gut, Punkt für Punkt also.« Bevor er aufs Feld zurückkehrte, sagte er noch: »Hast du gemerkt, dass die überhaupt nicht miteinander sprechen?« – »Wer?« – »Er und sein Gönner.« Der Herzog schien dem keine Bedeutung beizumessen. »Na und? Gestern Abend haben sie sich auch nicht unterhalten, ich glaub, die sind nicht mal befreundet, sieh sie dir doch an.« Der Gegner des Dichters war noch kein einziges Mal an die Galerie getreten. Und der Mathematiker schien ganz und gar in die Betrachtung der vor ihm durch die Luft schwebenden Staubteilchen versunken.

Der Spanier und sein Kampfrichter wandten den Blick wieder dem Mann aus der Lombardei zu. Dass der so ernst dreinblickte, verhieß nichts Gutes. Er wirkte nicht mehr so selbstsicher wie zu Beginn, aber genau das spornte offensichtlich seinen Ehrgeiz an. Es ging nicht mehr um Leben oder Tod, sondern um Sieg oder Niederlage, die Angelegenheit war also wesentlich schwerwiegender und komplizierter, schließlich braucht, wer im Duell mit dem Schwert unterliegt, sich danach keine Gedanken mehr zu machen.

Der Dichter nahm seinen Widersacher genauer in Augenschein. Er war leichenblass und sein pechschwarzes Haar völlig zerzaust. Er hatte buschige Brauen und einen üppigen, ungepflegten Vollbart rings um einen dunkelroten Mund, der an eine weibliche Scham erinnerte. Der Dichter kniff die Augen zusammen, um den anderen noch besser in den Blick zu bekommen. Er war stark und von kräftiger Statur, wie ein Soldat, so sehr er ansonsten den Anschein eines von allen möglichen körperlichen Übeln geplagten Menschen machte. Ein Gefallener aus den Reihen eines neapolitanischen Infanterieregiments, der auf die Erde zurückgekehrt war, um eine letzte Partie Tennis zu spielen und den Lebenden dabei was auch immer zu beweisen. »Ob der immer so fertig aussieht, oder liegt es am Kater?«, fragte der Dichter den Herzog. »Wer?« – »Der Künstler.« – »Ich weiß nicht, mich interessiert eher sein Kampfrichter, sieh dir den doch mal genauer an.« Der Mathematiker saß abseits von den anderen auf der Galerie und ließ den beunruhigend starren Blick jetzt übers Spielfeld gleiten. Dabei bewegte er leicht die Lippen. »Was ist denn an dem so besonders?« – »Er ist ein berühmter Professor.« – »Und?« – »Und er ist kein bisschen dumm – der Arsch stellt irgendwelche Berechnungen an, als hätte er einen Billardtisch vor sich.« Der Dichter räusperte sich und zuckte die Schultern. Dann spuckte er geräuschvoll aus. »Weiter geht’s.«

Er hob den Ball auf und rief: »Tenez?« Das Ungeheuer sah ihn an, als stünde es am anderen Ufer des Totenflusses, nickte, ohne zu lächeln, und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Stirn des Künstlers glänzte, nicht von Schweiß, sondern von Fett. Als der Spanier an der Aufschlaglinie Position bezogen hatte, stellte er fest, dass sein Gegenspieler und dessen Kampfrichter sich sehr wohl miteinander austauschten. In rascher Folge deutete der Professor mit einem oder mehreren Fingern bald nach oben, bald nach unten, bald auf sich selbst. Der Dichter wies seinen eigenen Kampfrichter darauf hin, indem er mit dem Schläger in Richtung der beiden zeigte. Der Herzog presste unruhig die Zähne zusammen. Der Spanier ließ den Ball einmal auf der Linie aufspringen, warf ihn in die Höhe und schrie: »Tenez!«

Der Aufschlag fiel ziemlich mittelmäßig aus, doch umso ungestümer erfolgte der Rückschlag. Der Künstler drosch den Ball mit animalischer Kraft dem Dichter volley mitten ins Gesicht, der den Einschlag vergeblich abzuwehren versuchte und knapp unterhalb der Wange am Hals getroffen wurde. »Quindici-Amore«, rief der Professor ungerührt. Seine Stimme war durchdringend wie die eines Marktschreiers, aber ohne jeden Anflug von Spott.

Der Dichter senkte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. Dann sah er vorsichtig wieder auf, bemüht, sich nicht von dem Schwindel, der ihn erfasst hatte, überwältigen zu lassen. Während er sich über die getroffene Halspartie strich, blickte er, nach einer Erklärung suchend, seinen Gegner an. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Der Künstler legte die Hände um den Griff seines Schlägers, es sah aus, als würde er beten. Dazu machte er eine bedauernde Miene und gab zu verstehen, dass ihm bewusst war, dass er den Punkt verloren hatte, weil er sich nicht an die Anstandsregel gehalten hatte. Der Herzog zog an der Stelle, wo sich bei allen anderen Menschen die Augenbrauen befinden, die nackte Haut hoch. Der Dichter umklammerte mit Daumen und Mittelfinger seine Stirn, hob dann den Ball auf und kehrte, ohne seine Wunde noch einmal zu befühlen, zur Aufschlaglinie zurück. Wie verwirrt er war, merkte sein Gönner an dem Ernst, mit dem er sich für die nächste Angabe bereit machte – er holte tief Luft. Auffällig war auch, wie wenig Mühe er sich gab, zu verbergen, dass er auf den Ball spuckte, obwohl es gerade in diesem Spiel vielleicht mehr denn je auf Diskretion angekommen wäre. Niemand beschwerte sich.

»Tenez!« Er setzte den Ball genau an die Kante des Vordachs, ganz in der Nähe der Schnur. Der Speichel sorgte dafür, dass er auf äußerst seltsame Weise davon abprallte. Der Mann aus der Lombardei machte sich gar nicht erst die Mühe zu versuchen, ihn zu erreichen, obwohl das ganz offensichtlich möglich gewesen wäre. Stattdessen ließ er den Ball ausrollen, hob ihn auf und rieb ihn an seiner Hose trocken, um ihn anschließend dem Spanier zurückzugeben, dessen Betrug nun aufgedeckt worden war, ohne dass er ein einziges Wort hatte verlieren müssen. Was sich als umso wirksamere Bestrafung erwies: Ein echter Kerl konnte, wenn die Leidenschaft mit ihm durchging, schon einmal die Regeln des guten Benehmens aus dem Blick verlieren, etwas ganz anderes war es jedoch, weibisch hintenrum zu tricksen wie eine Nonne. Der Dichter sah sich aufs Unangenehmste bloßgestellt. Und der Herzog zählte den Punkt nicht, sondern rief: »Neuer Versuch!«

Der Dichter ließ den Ball einmal aufspringen, warf ihn dann in die Höhe. »Tenez!« Der Künstler wartete, bis er vom Dach abprallte, drehte sich einmal rasend schnell im Kreis und schlug mit dem so gewonnenen Schwung auf den Ball ein, als gelte es, einen Nagel durch Christi Handgelenk zu treiben. Wieder flog das Geschoss genau auf das Gesicht des Dichters zu, der sich gerade noch rechtzeitig bücken konnte, sodass er bloß am Scheitel getroffen wurde. »Trenta – Amore!«, rief der Professor.

Mit Tränen in den Augen richtete der Spanier sich auf und rieb sich den Kopf. Als er nach dem Ball griff, erfasste ihn erneut heftiger Schwindel. Er ging in die Hocke und strich sich übers Genick. Hinüber auf die andere Spielfeldhälfte blickte er lieber nicht – beim ersten Lächeln im Gesicht egal welcher der viehischen Gestalten, die seinem Widersacher Gesellschaft leisteten, wäre er aufgesprungen und zu seinem Schwert gelaufen. »Was soll das?«, fragte er den Herzog mit dumpfer Stimme. »Du bist dabei, zu gewinnen, Alter, mach weiter.« – »Und was soll ich machen?« – »Nichts, einfach weiter aufschlagen, und deine Rache wird der Sieg sein.«

»Tenez!« Diesmal wurde der Ball dem Künstler wie auf dem Silbertablett serviert: Er sprang zweimal auf dem Galeriedach auf und senkte sich dann auf die Mitte seiner Feldhälfte nieder, sachte hinabschwebend wie eine Feder. Der Dichter merkte erst, dass der Ball wieder auf seiner Seite eingetroffen war, als er wie ein Stein in das Nest seiner Eier einschlug. Er hatte ihn nicht einmal kommen sehen und knallte augenblicklich der Länge nach hin wie eine Felsplatte. Wie durch eine Staubwolke – mehr war von der Welt für ihn nicht übrig – hörte er von ferne die Stimme des Professors: »Amore, amore, amore, amore. Vittoria rabiosa per il spagnolo.«

Selbst der Herzog hielt sich den Bauch vor Lachen, als der Dichter den Kopf hob. Ganz zu schweigen von seinem Gegner, dem Apostel Matthäus, dem Mathematiker und den übrigen Tagedieben, die sich auf die Schenkel klopften und Freudentränen vergossen.

Seele

Der französische Enzyklopädist François M. de Garsault, Verfasser mehrerer Handbücher über die Herstellung von Luxusartikeln wie Perücken, Unterwäsche oder Sportgeräten – Produkten »trivialer Künste«, wie Garsault selbst sich in der zweiten Ausgabe seiner Kunst der Ball- und Raquettenmacher ausdrückt –, unterschied noch im Jahr 1767 zwei Arten von Tennisbällen: die pelotes, »die ganz aus Haar und Bindfaden bestehen und mit weißem Tuche überzogen sind«, und die éteufs,die auf Spanisch bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein pellas genannt wurden und aus kleinen Fettklumpen, Mehl und ebenfalls Haar gefertigt waren.

Die pellas, die mit Flicken aus Schafbockleder umkleidet waren, ähnelten wegen ihrer sichtbaren Nähte unseren heutigen Basebällen. Während die mit Tuch überzogenen pelotes nur in überdachten Ballhäusern, wo auf Parkett- oder Fliesenboden gespielt wurde, Verwendung fanden und für gewöhnlich schon nach drei oder vier Partien wieder auseinanderfielen, hielten die pellas jahrelang, ohne ihre Elastizität und Sprungkraft einzubüßen. Nichts eignete sich besser für die Steinfliesen und Dächer von Kreuzgängen und die öffentlichen Plätze, wo auf unebenen Lehmböden schon damals häufig um Geld Tennis gespielt wurde.

In den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts entdeckte ein Restauratorenteam, dem man die Instandsetzung der Überdachung des Großen Saales im Westminster-Palast anvertraut hatte, zwischen den Tragbalken zwei pellas, die offensichtlich aus dem sechzehnten Jahrhundert stammten. Sie waren perfekt erhalten. Eine wie auch immer geartete Verbindung des darin befindlichen Haars zur Familie Boleyn ließ sich allerdings auch durch Genanalysen nicht bestätigen. Was niemanden zu wundern braucht, kann man Heinrich VIII. doch alle möglichen schlimmen Dinge zur Last legen, keinesfalls aber Geschmacklosigkeit. Weshalb auch klar ist, dass er niemals auch nur eine der pellas, zu denen er, wenn man so will, im Verhältnis eines Witwers stand, kaufte oder sich schenken ließ.

Was in dem aufklärerischen Handbuch von Monsieur Garsault nicht vorkommt, sind Anweisungen für die Herstellung von Bällen aus Menschenhaar. Womöglich war nicht einmal ihm bekannt, dass der Einsatz dieses Materials in der Renaissance wie auch im Barock auf den Freiluftplätzen, wo beträchtliche Summen auf die Künste der »Raquettenspieler« verwettet wurden, gang und gäbe war. Ein leidenschaftlicher Leser scheint Garsault, dieser allem Praktischen zugeneigte Mensch mit ehrlichen erzieherischen Absichten, ebenso wenig gewesen zu sein. Andernfalls hätte er gewusst, dass etwa Benedikt, dem unverbesserlichen Junggesellen aus Shakespeares Viel Lärm um nichts, dermaßen das Haar sprießt, dass sich allein mit dem, was sein Bart hergibt, mehrere Tennisbälle hatten füllen lassen.

Die Untersuchung der im Westminster-Palast gefundenen Bälle wie auch gewisse Hinweise, die man entdecken kann, wenn man Antonio Scainos streckenweise recht geschwätzigen Trattato del giuoco della palla von 1555 ein wenig gegen den Strich liest, zeigen jedenfalls, dass pellas und pelotes buchstäblich im Kern identisch waren, handelte es sich bei diesem Kern doch um eine mit Kleister zusammengehaltene Haarkugel, die mit mehreren Schichten Leinwand und Tuch umhüllt und abschließend sanft mit einem Spatel rundgeklopft wurde. Die so in Form gebrachte Kugel umwickelte man, vom oberen Pol ausgehend, so mit einem Bindfaden, dass sie in neun Sektionen unterteilt wurde. Anschließend kippte man die Kugel längs der Achse um fünfundvierzig Grad und unterteilte sie, vom nächsten oberen Pol ausgehend, abermals in neun Sektionen. So verfuhr man, bis die Kugel irgendwann über neun Polpaare mit jeweils dazugehörigem Äquator verfügte – jede Kugel eine Welt für sich, ein Planet mit einundachtzig Fadenrosetten. Abschließend wurde der kleine Wandelstern, der für die Alten die menschliche Seele verkörpert hatte, mit Tuch umwickelt und mit Kalk gefärbt.

Im Unterschied zu den pelotes wurden die pellas jedoch oft im Geheimen und unter nicht immer ganz einwandfreien Umständen hergestellt, empfanden viele die Verwendung von Menschenhaar doch als anstößig, zumal der dabei entstehende Gegenstand seine Lebendigkeit ausgerechnet dem Einzigen verdankte, was nach dem Tod nicht der Verwesung anheimfällt. Außerdem wurde der Kern einer pella statt mit Leinwandstreifen zumeist mit Zöpfen umwickelt, die zuvor mit Fett und Mehl geschmeidig gemacht worden waren. Im Ergebnis hatte man leichtere, elastischere Bälle, die sprangen wie der Teufel.

Wahrscheinlich war auch die Vorstellung, dass die Seele dieser pellas aus menschlichem Material bestand, der Grund dafür, dass man sie während Renaissance und Barock im katholischen Europa wie auch in den neu eroberten Teilen Amerikas mit satanischen Praktiken in Verbindung brachte.

Die pellas der Anne Boleyn

Kaum war Jean Rombaud in Franciscopolis an Land gegangen – so lächerlich es klingt, aber das war bis zum Tod des französischen Königs Franz I. der Name der Hafenstadt Le Havre –, kaum dort eingetroffen also, brachte er das Gerücht in Umlauf, er sei im Besitz der Locken, die fast bis zu ihrem Ende das Haupt Anne Boleyns geziert hatten, und wolle daraus mehrere Tennisbälle anfertigen lassen. Mit deren Hilfe wollte Rombaud sich endlich Zugang zu den Ballhäusern verschaffen, wo die Adligen ein Hemd pro Spiel, fünf pro Satz und fünfzehn pro Partie durchzuschwitzen pflegten. Hatte er sich wegen seiner Mähne, die an einen frisch dem Bade entstiegenen Löwen erinnerte, doch immer schon bevollmächtigt gefühlt, auf Parkett- oder Fliesenboden zu spielen. Und zwar zum Vergnügen und nicht des Geldes wegen.

Als ihm der Ballmacher schließlich die vier pellas aushändigte, denen künftig die größte Zauberkraft aller jemals in Europa zum Einsatz gekommenen Tennisbälle zugeschrieben werden sollte, war bereits eine Vielzahl von Kaufwilligen an Rombaud herangetreten, um ihm Angebote zu unterbreiten, denen einzig ihre völlige Unangemessenheit gemein war: einhundert Kühe, ein Landhaus in der Provence, zwei Afrikaner, sechs Pferde. Rombaud ließ sich mit keinem auf Verhandlungen ein, außer mit Philippe Chabot, Minister des Königs von Frankreich.