Von Königreichen hast du geträumt - Álvaro Enrigue - E-Book

Von Königreichen hast du geträumt E-Book

Álvaro Enrigue

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Beschreibung

Als der spanische Eroberer Hernán Cortés am 08. November 1519 mit seinem Gefolge in der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlan eintrifft, hat er schon das halbe heutige Mexiko unterworfen. Doch nun soll es zum alles entscheidenden Moment kommen, dem Zusammentreffen zwischen Cortés und dem Azteken-Herrscher Moctezuma.

Während die Azteken noch nie Pferde gesehen haben – die wichtigste Waffe der Konquistadoren –, probieren die Spanier zum ersten Mal Schokolade. Es ist das Zusammentreffen von zwei Welten, zwei Imperien, zwei Sprachen, voller diplomatischer Fallstricke. Beide Herrscher sind der Überzeugung, dass der andere komplett unzivilisiert sei, und es entfaltet sich eine mögliche Version dieser historischen Begegnung, die die Geschichte komplett verändert hätte.

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ZUMBUCH

Als der spanische Eroberer Hernán Cortés am 08. November 1519 mit seinem Gefolge in der aztekischen Hauptstadt Tenoxtitlan eintrifft, hat seine Armee schon das halbe heutige Mexiko unterworfen. Doch nun soll es zum alles entscheidenden Moment kommen, dem Zusammentreffen zwischen Cortés und dem Azteken-Herrscher Moctezuma, welcher der Welt bereits völlig entrückt ist, den ganzen Tag halluzinogene Pflanzen konsumiert und die Spanier nicht fürchtet.

Während die Azteken noch nie Pferde gesehen haben – die wichtigste Waffe der Konquistadoren –, probieren die Spanier zum ersten Mal Schokolade. Es ist das Zusammentreffen von zwei Welten, zwei Imperien, zwei Sprachen, voller diplomatischer Fallstricke. Beide Herrscher sind der Überzeugung, dass der andere komplett unzivilisiert sei, und es entfaltet sich eine mögliche Version dieser historischen Begegnung, die die Geschichte komplett verändert hätte.

ZUMAUTOR

Álvaro Enrigue, geboren 1969 in Guadalajara, studierte in Mexico City Kommunikationswissenschaften, lehrte anschließend Literatur des 20. Jahrhunderts und promovierte an der University of Maryland. Seit seinem 1996 erschienenen Debüt »La muerte de un instalador« gehört er zu den wichtigsten iberoamerikanischen Gegenwartsautoren und gilt als der bedeutendste mexikanische Autor seiner Generation. Seine Werke sind preisgekrönt und wurden in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien im Blessing Verlag »Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles« (2021). Álvaro Enrigue lebt in New York.

ÁLVARO ENRIGUE

VON KÖNIGREICHEN HAST DU GETRÄUMT

ROMAN

Aus dem Spanischen von Carsten Regling

BLESSING

Die Originalausgabe TUSUEÑOIMPERIOSHANSIDO erschien erstmals 2022 bei Anagrama, Barcelona.

Der Übersetzer bedankt sich für die Förderung dieser Arbeit beim Deutschen Übersetzerfonds.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Álvaro Enrigue

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Julian Brimmers

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Umschlagabbildung: The Print Collector/Alamy Stock Photo

Vorsatz: Karte von Tenochtitlan, Hernán Cortés zugeschrieben,

Nürnberg, 1524, Newberry Library

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-30720-2V001

www.blessing-verlag.de

Liebe Teresa,

so viele Jahre, so viele Bücher. Anbei schicke ich Dir das neue, wie ich es Silvia vor dem 15. versprochen habe. Ich glaube, ich schicke es Dir ein bisschen besorgter als die anderen Male. Mit dem Alter kommt die Unsicherheit, und das Überarbeiten nimmt mehr Zeit in Anspruch als das Schreiben.

Ich habe die Schreibweise der Nahua-Namen so gut es geht vereinheitlicht, aber bestimmt gibt es Überschneidungen und ungeschickte Lösungen. Das tut mir leid. Wir werden sehen, aber die hier dominierende Schreibweise ist die korrekte: Atotoxtli, Tlilpotonqui, Malinalli etc. Für mich, der in Mexiko-Stadt aufwuchs, sind diese Namen ebenso exzentrisch wie für Dich.

Zum Beispiel wird Tenochtitlán im Roman mit X geschrieben: Tenoxtitlan. Das entspricht mehr oder weniger dem Klang, den der Name auf Nahua und nicht auf Spanisch hat: Tenoschtitlan. Es ist keine Frage der sprachlichen Reinheit – wenn es etwas gibt, was mir herzlich egal ist, dann Reinheit. Mir gefällt der Klang einfach besser. Betont man das I und spricht das X wie »sch« aus, hat er die Anmut der Sprache der früheren Mexikaner. Dasselbe gilt für alles andere: Der Name Atotoxtli ist ein Zungenbrecher, wenn man das X wie »ks« ausspricht, und haarsträubend, wenn man unser ehrwürdiges J nimmt, es also wie »ch« ausspricht. Dagegen klingt Atotoschtli wunderschön und lässt sich leicht aussprechen. Mit caxtiltecas, Kaxtilteken, wie die Nahua die Spanier nannten, verhält es sich genauso: caschtiltecas. Und Caxtitlan, also Kastilien, wird Caschtitlan ausgesprochen, mit Betonung auf dem I.

Der Laut »tl« existiert im Spanischen und bereitet uns keinerlei Schwierigkeiten: z. B. in Atlántico. Befindet er sich jedoch am Ende eines Wortes, ist er schwieriger auszusprechen. Im Nahua ist es gang und gäbe, dass Namen auf »tl« enden. Du kennst garantiert irgendeine Mexikanerin, die wie Moctezumas Nichte in meinem Roman Xochitl (Blume) heißt. Wir sprechen es anders aus. Wir sagen Sóchil, so wie wir die Sprache, in der dieser Name geschrieben ist, Nahua und nicht Nahuatl nennen. Der Name Xochitl taucht nur ein paarmal im Roman auf, während der des Herrschers Axayácatl ziemlich oft vorkommt. Nicht, dass dieser Name sehr geläufig wäre – ich kenne niemanden, der so heißt –, aber ich würde ihn entsprechend Aschayácal aussprechen. Ein einfacher, klarer und tiefer Klang.

Dir ist garantiert ein Widerspruch aufgefallen: Ich habe den Namen Moctezuma nicht verändert und Moteucsoma geschrieben, denn mir gefällt er auf Spanisch besser. Mein Buch ist ein Roman, und in Romanen – Cervantes sei Dank – dient alles der Erzählung, selbst die Orthografie. Die Verbindung der Buchstaben C und T ist explosiv, genau wie die Figur, die in meiner Geschichte diesen Namen trägt.

Stör Dich nicht daran, wenn Du auf hispanisierte Wörter aus dem Nahua stößt. Ein mexikanischer Leser weiß auch nicht auf den ersten Blick, was ein macegual oder ein pipil ist. Lass die Leser die Bedeutung dieser Wörter selbst herausfinden – das Gehirn lernt gerne Neues, und wir sind in der Lage, neue Wörter in unseren Wortschatz aufzunehmen. Außerdem ist ein calpulli nicht dasselbe wie ein Stadtteil oder eine Militärakademie dasselbe wie ein calmecac, auch wenn die Begriffe etwas Ähnliches bedeuten. Im Laufe der Lektüre wirst Du verstehen, was ich meine.

Es geht hier nicht darum, irgendwem Nahua-Unterricht zu geben – eine Sprache, die ich weder spreche noch lese –, nur darum, an einigen Stellen den Klang dieser Sprache in Erinnerung zu rufen. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun, mich leiten keine ideologischen Motive. Alle Schreibweisen und Begriffe auf Nahua können offen diskutiert werden. Ich verstehe, dass es keinen Grund gibt, Tenoxtitlan statt Tenochtitlán zu sagen, wenn ich Londres statt London sage, aber ich bin Schriftsteller, die Wörter sind mir wichtig. Ich glaube, sie bedeuten und bezeichnen nicht nur etwas, sie beschwören es auch herauf.

Du machst das schon. Sei herzlich gegrüßt,

Á.

PS: Anbei ein Verzeichnis der Personen mit der korrekten Schreibweise, dem Namen, Spitznamen und ihrer Rolle.

Die Caxtilteken

Hauptmänner:

Hernán Cortés (Hernando, Malinche, Huei Caxtitlan): Oberbefehlshaber der caxtiltekischen ExpeditionPedro de Alvarado: Cousin von Cortés, Zweiter in der Befehlskette der caxtiltekischen ExpeditionJazmín Caldera: wichtigster Geldgeber und Dritter in der Befehlskette der caxtiltekischen ExpeditionLuengas, Vidal, Ordaz, Oviedo, Lugo, Olid: weitere Hauptmänner

Übersetzer:

Gerónimo de Aguilar: andalusischer Priester, Schiffbrüchiger und Sklave eines Maya-Priesters in Acumal, Übersetzer aus dem Maya ins SpanischeMalintzin (Malinalli, Marina, Tenepal): Nahua-Prinzessin aus Oluta, Kurtisane des Maya-Königs Tabascoob, Übersetzerin aus dem Maya ins Nahua bei der caxtiltekischen Expedition

Die Tenochca

Colhua:

Axayácatl: Herrscher (Huei Tlatoani), Vater von Moctezuma, verstorbenTizoc und Ahuizotl: Herrscher (Huei Tlatoque), jüngere Brüder von Axayácatl, verstorbenMoctezuma: Sohn von Axayácatl, Herrscher (Huei Tlatoani) und Oberbefehlshaber der Truppen des Aztekischen Dreibunds, einem Bündnis der Stadtstaaten Tenoxtitlan, Texcoco und TacubaAtotoxtli: Prinzessin, Herrscherin, Tochter von Axayácatl, Schwester und Ehefrau von MoctezumaCuitláhuac: jüngerer Bruder von Moctezuma, Fürst von Iztapalapa, General des Mexica-Heeres und Erster in der ThronfolgeCuauhtémoc: Schwiegersohn von Moctezuma, General des Mexica-Heeres und Zweiter in der Thronfolge

Mexica:

Tlilpotonqui: Cihuacóatl (Bürgermeister) von Tenoxtitlan und Oberbefehlshaber des Mexica-HeeresTlacaelel: Erbe des Rangs des Cihuacóatl

Für Aimé, natürlich.

Und für Miquel, Dylan, Maia und Emilio G.

Erneut sagten sie: »Was die Götter wohl essen? Alle suchen schon nach Nahrung.« Da ging die Ameise Mais vom Hügel der Kornfelder holen. Quetzalcóhuatl entdeckte die Ameise und sprach: »Sag mir, wo du ihn herhast.« Viele Male fragte er sie, aber sie wollte es nicht sagen. Dann sagte sie, er sei von dort.

Legende der Sonnen, 1558

I. Vor der Siesta

Hauptmann Jazmín Caldera, geboren im Städtchen Zarzales in der Extremadura, konnte den Puteneintopf vor ihm einfach nicht herunterkriegen, obwohl er halb verhungert war und das Gericht köstlich aussah. Man hatte ihm den Platz zwischen dem Priester aus Xipe und dem aus Tezcatlipoca zugewiesen. Ersterer trug einen Umhang aus der faulig-schwarzen Haut eines Kriegers, der vor wer weiß wie langer Zeit geopfert wurde. Der Zweite hatte eine wilde Mähne, die er weder gewaschen noch geschnitten hatte, seit er seinem Beruf im Tempel nachging, und die von glänzenden Blutspritzern gesprenkelt war – täglich wurde eine Taube, manchmal eine Schildkröte oder ein Kojote, bei einem der großen, alle zwanzig Tage stattfindenden Feste aber auch ein, am liebsten tlaxcatekischer, Krieger geopfert.

Caldera streckte die Hand aus, um die Schale aus glasiertem Ton mit der in Wasser aufgelösten und mit Honig, Chili und Vanille gewürzten Schokolade zu nehmen, die ihm eine Frau serviert hatte. Gierig sog er den Duft ein. Er richtete den Blick auf seinen Teller und versuchte, den wölfischen Gestank zu ignorieren, den seine Tischnachbarn verströmten. Er blickte auf und sah zum Kopfende des Tisches. Der Generalkapitän der Expedition schaute ihn streng an und bedeutete ihm mit seinen eisigen Augen, den Mund zu halten und endlich seine Suppe zu essen.

Caldera wandte den Blick nach links. Der Priester aus Xipe war von Kopf bis Fuß mit schwarzen und blauen Streifen bemalt. Unter seinem Umhang aus Menschenhaut trug er ein makelloses Gewand, verziert mit Federn, die an die Triebe von Maispflanzen erinnerten. An seinen Ohren baumelten zwei riesige Scheiben aus Jade, an deren Rändern Schlangen aus Gold und Silber angebracht waren. Sie mussten unglaublich schwer sein, bestimmt schmerzten sie. In seiner Unterlippe steckte ein goldenes Schmuckstück: ein kleiner Hundekopf, der jedes Mal, wenn er einen Schluck Suppe oder Schokolade nahm, zwischen seinen Kinnfalten verschwand und wieder auftauchte, als würde er in einer Hundehütte aus Haut herumtollen.

Der Priester aus Tezcatlipoca war weniger prunkvoll gekleidet. Er trug ein schlichtes rotes Gewand ohne jegliche Verzierung. Sein Körper oder das, was davon zu sehen war, war bis auf den Bereich des Gesichts zwischen Nase und Kinn, der ebenfalls rot war, vollständig schwarz angemalt. Das Band, das die übel riechende wuchernde Matte auf seinem Kopf zusammenhielt, hätte den grazilen Hals der Tochter eines spanischen Granden schmücken können: Flussperlen, kleine Köpfe aus Jade, Tierchen aus Korallen, die sich auf einem silbernen Faden verfolgten. Seine Zähne waren spitz zugefeilt, sodass sie aussahen wie von einer Katze.

Caldera betrachtete erneut seinen Teller, die Tasse mit der Schokolade, den Hauptmann, der am Kopfende des Tisches saß, direkt neben Prinzessin Atotoxtli, und ihn weiter vorwurfsvoll ansah. Jetzt zog er die Augenbrauen hoch, um die Dringlichkeit seines Befehls zu betonen: Iss! Caldera nahm die Tasse und trank einen kräftigen Schluck Schokolade. Obwohl das Getränk von all dem Neuen und vielen und Außergewöhnlichen, das sie seit der Landung gekostet hatten, vielleicht das war, was ihm am besten schmeckte, musste er sich beinahe übergeben. Er konnte den Geschmack einfach nicht von dem Geruch nach geronnenem Blut seiner Tischnachbarn trennen.

Trotzdem glaubte er wegen der anregenden Wirkung der Schokolade, an die sich die Neuankömmlinge noch nicht gewöhnt hatten – ein Kribbeln im Nacken, ein Stechen in der Wirbelsäule, die Lust, auf der Stelle alles Mögliche zu unternehmen –, sich trotz des Gestanks aufraffen und die Suppe probieren zu können. Er nahm den Teller in beide Hände, doch während er ihn zum Mund führte, verspürte er erneut einen Brechreiz. Er ließ es bleiben. Jetzt starrte auch die Prinzessin ihn neugierig an.

Caldera schaute auf und blickte in alle Richtungen außer der der Priester und der des Generalkapitäns. Er sah über die Köpfe von Aguilar und Malinalli hinweg, die ihm gegenübersaßen und es gewohnt waren, selbst Menschenfleisch zu essen. Er betrachtete die Wand und dachte an die steinerne Stadt, die sich dahinter erstreckte. Er sah ihre Tempel vor sich, ihre Kanäle und schwimmenden Viertel, die von gewaltigen, rechteckigen Flößen umgeben waren, jedes einzelne in Form und Größe identisch, auf denen sich die Blumen- und Gemüsegärten der Mexica befanden. Er erinnerte sich an die spirituellen Übungen in der Jesuitenschule in Trujillo und ließ in Gedanken weiter die Bilder aufleben, die sich im Laufe des Tages in seinem Kopf angesammelt hatten. Der See, der die Stadt einrahmte und ihre Flucht verhindern würde, wenn der Herrscher den Befehl gäbe, die Adlerkrieger loszulassen. Er konzentrierte sich auf die mächtigen Vulkane, die das Tal versperrten und die sie nur mit größter Mühe hatten überqueren können, um ins Anáhuac-Tal mit seinen weißen, mit Türmen und Tempeln befestigten Städten zu gelangen. Er sah wieder Amecameca vor sich, wo die Dammstraße von Iztapalapa begann, auf der sie den See überquert hatten, den blumengeschmückten Torbogen, den feierlichen Aufzug des sagenumwobenen Moctezuma und den Moment, in dem der Generalkapitän beim Versuch, diesen zu umarmen, um ein Haar alles vermasselt hätte. Sie hatten die Stadt betreten, der Bürgermeister hatte sie im – ebenso nüchternen wie wunderschönen – Palast von Axayácatl untergebracht, und dort, im Speisesaal der einstigen Herrscher, saßen sie jetzt mit dem Gefolge der Prinzessin am Tisch. Sie waren im Herzen der großen und unbesiegten Stadt Mehxicoh-Tenoxtitlan angekommen, und das fast vollzählig.

Alles war ein bisschen trübe, verworren. Eine Ehre, die sie vielleicht nicht verdienten. Unter größten Mühen und mit fanatischem Willen waren sie bis hierher gelangt, hatten sich als gute Soldaten erwiesen, hatten nicht aufgegeben, als kein anderer weitergemacht hätte, immer mit dem Schlimmsten rechnend. Das verdiente Anerkennung. Doch das war der Weg gewesen, das Spektakel, ein Spiel auf Leben und Tod, aber letztendlich nur ein Spiel. Jetzt, im Palast und in Gegenwart der Prinzessin, kam es ihm vor, als könnte die Sache jederzeit aus dem Ruder laufen. Zwischen so vielen großen Dingen und so vielen bedeutenden Menschen spürte er, dass der Generalkapitän wieder der war, der er auf Kuba gewesen war: ein mürrischer Mann ohne Manieren aus der Extremadura. Er spürte, dass sie kleine, provinzielle Tölpel waren. Dass jede Unachtsamkeit enthüllen könnte, dass sie in Wirklichkeit nur ein Haufen mieser Betrüger waren, die behaupteten, im Namen eines Herrschers zu kommen, den sie nie gesehen hatten, und dass sie im Grunde nicht einmal den königlichen Statthalter auf Kuba repräsentierten, den sie so lange beschwatzt hatten, bis sie tun konnten, was sie taten.

Er holte Luft und richtete den Blick wieder auf den Teller, vermochte ihn aber nicht zu nehmen. Mit sanfter, fast freundlicher Stimme, als spräche er über die milde Sonne von Anáhuac, bat er um Verzeihung und erklärte, so könne er nicht essen.

Der Generalkapitän neigte den Kopf leicht zur Seite und deutete ein Lächeln an. Dabei bewegte er ein paarmal den Kiefer vor und zurück. Jedes Mal, wenn er das Kinn nach vorne schob, verengten seine Augen sich zu Schlitzen. Es sah schrecklich aus. Caldera nickte unauffällig, als bäte er um Geduld, doch er tat es eher, damit sein Vorgesetzter diese albtraumhafte Geste unterließ. Er nahm erneut den Teller mit der Suppe in beide Hände. Er holte tief Luft, um ihren Duft einzufangen, doch der Geruch nach geronnenem Blut und verfaulter Haut überdeckte alles. Er stellte den Teller wieder ab, legte die Hände auf die leinene Tischdecke und schloss die Augen. Er vergaß seine guten Manieren nicht. Während er den Brechreiz unterdrückte, bewegte er die Augen von links nach rechts, um auf die Priester zu deuten, und sagte mit so normaler Stimme wie möglich: Sehen die das? Und er lächelte dem Generalkapitän zu, damit er Erbarmen mit ihm hatte.

Der Caudillo nahm einen großen Schluck von seiner Suppe und drückte mit einem Brummen aus, dass sie ihm schmeckte. Lächelnd sah er die neben ihm sitzende Prinzessin an. Mit freundlicher Miene, aber mit geballten Fäusten auf dem Tischtuch – die Knöchel weiß vor Wut wegen Calderas Aufsässigkeit –, sagte er mit fast singender Stimme zu ihm: Schweig und iss, Mistkerl, die Herrscherin bewirtet uns. Caldera lächelte. Ich kann nicht, Hernán, erwiderte er, wenn du wüsstest, wonach die riechen; der Kerl neben mir hat garantiert ein paar Kinder zum Frühstück verspeist. Der Hauptmann lächelte zurück und erwiderte in einem Ton, als wollte er bemerken, wie köstlich die Schokolade sei: Du duftest auch nicht gerade nach Rosen; schweig und iss, und danach kannst du so viel kotzen, wie du willst. Malinalli, die Nahua-Übersetzerin, sah von ihrem Teller auf und fragte Aguilar, den spanischen Übersetzer, auf Maya, ob sie für die Prinzessin, die Adligen und die Priester am Tisch wiederholen sollten, was Caldera und Cortés sagten. Er flüsterte ihr, ebenfalls auf Maya, ins Ohr, dass sie das besser nicht tun sollten, das sei bloß Konquistadoren-Geschwätz.

Die Übersetzerin sprach Nahua und Maya, aber kein Spanisch. Und Aguilar sprach Maya und Spanisch, aber kein Nahua. Die Gespräche zwischen den Colhua und denen, die Malinalli und die anderen Mexica Caxtilteken nannten, mussten durch den Filter der beiden gehen. In diesem Moment bemerkte Malinalli den stechenden Blick von Prinzessin Atotoxtli – die nicht nur die Schwester des Herrschers, sondern auch seine Ehefrau war. Die Prinzessin wartete, dass Malinalli übersetzte, was die anderen sagten. Diese schaute auf, lächelte und sagte auf Nahua: Sie sagen, alles ist köstlich. Die Prinzessin bewegte den Mund von einer Seite zur anderen, eine Geste, die bedeutete, dass sie ihr nicht glaubte. Die Übersetzerin zuckte mit den Schultern und sagte, um Geduld bittend: Sie wissen ja, das sind Wilde, sie glauben, dieser Saft aus gegorenen Früchten, den sie aus ihrer Heimat mitbringen, würde schmecken, deshalb können sie nicht glauben, dass es so etwas wie Schokolade überhaupt gibt.

Der Priester aus Xipe, der seine Suppe gierig hinuntergeschlungen hatte, rülpste mit der Unbekümmertheit eines Heiligen und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund – die Farbe in seinem Gesicht verwischte dabei leicht. Als führte er ein Selbstgespräch, sagte er auf Nahua: Das sind Hinterwäldler, sie stinken nach Hund und Exkrementen, wir sollten sie opfern, bevor wir uns an sie gewöhnen. Die Prinzessin warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Wir tun, was mein Bruder sagt, herrschte sie ihn an. Aguilar räusperte sich, um Malinalli auf sich aufmerksam zu machen, und fragte sie auf Maya, was die anderen sagten. Sie antwortete: Der Priester hat die Prinzessin gefragt, ob Hernando ihr gefällt; sie hat geantwortet, sie findet ihn hübsch, aber das sei kein Gesprächsthema für eine Königin. Aguilar hob seine Tasse mit der Schokolade und sagte mit einem Blick zu seinen Gefährten: Es läuft gut, auf Spanien! Er sah Caldera an, mit dem ihn ein spezielles Verhältnis verband, und sagte: Und du iss deine Suppe, wir werden nichts anderes bekommen, bis du nicht aufgegessen hast, und alle haben Hunger. Caldera dachte an die Schlachten, die sie hatten schlagen müssen, um zu sein, wo sie waren, und setzte die Dinge ins rechte Verhältnis. Er stürzte die Suppe in einem Zug hinunter. Wohl bekomm’s, sagte der Generalkapitän und hob seine Tasse.

Badillo war seit dem Ende der Lehrzeit Cortés’ Diener und seit der Eroberung Kubas sein Stallbursche. Er war blond, hatte rosige Haut und einen schwabbeligen Körper. Er sprach wenig und schlecht, war gegen alles Mögliche allergisch und konnte Stunden damit zubringen, einen Baum zu betrachten. Seine Beschränktheit, die ihn in einer militärischen Laufbahn hätte straucheln lassen, ehe sie überhaupt begonnen hätte, kam ihm auf außergewöhnliche Weise beim Umgang mit Tieren zugute. Hauptmann Alvarado, Besitzer eines pechschwarzen Rappens namens Tenebra, meinte, Badillo stammle nur mit Mühe Spanisch, weil er in Wahrheit Pferdisch spreche. Sogar Tenebra, boshaft und störrisch wie sein Herr, parierte wie ein Hund, wenn Badillo etwas von ihm verlangte.

Der Einmarsch in die Stadt war pompös und geordnet verlaufen, doch was danach folgte, war eher chaotisch gewesen. Der legendäre Moctezuma war erschienen, um den Hauptmann zu begrüßen, aber er kam zu spät, wechselte lediglich ein paar belanglose Worte mit Cortés und verschwand wieder in seinem Palast. Das wahrhaft riesige Heer aus Tenoxtitlan feindlich gesinnten Kriegern, die sich den Konquistadoren unterwegs angeschlossen hatten, war wieder umgekehrt. Sie hatten die Stadt nicht betreten, und keiner der Spanier verstand den Grund dafür – ohne sie waren sie kaum mehr als eine Handvoll verirrter Soldaten. Der Bürgermeister – oder der, den die Truppe dafür hielt – hatte sie hastig in die Festung geführt, wo man sie unterbrachte. Es war ein einziges Durcheinander aus Adligen und Soldaten, Weihrauch, rätselhaften Förmlichkeiten. Keiner begriff auch nur das Geringste.

Im Palast angekommen, führte der Bürgermeister die Hauptmänner zu ihren Zimmern. Der Anführer der Armbrustschützen teilte die Truppe nach ihrer Funktion in einzelne Trupps auf, und ein paar Dienerinnen mit von den Knöcheln abwärts weiß bemalten Füßen geleiteten die verschiedenen spanischen Einheiten zu ihren jeweiligen Zimmern. Alle benahmen sich, als gäbe es Badillo und die Pferde überhaupt nicht, weshalb der Stallbursche sich plötzlich mit seinen Tieren allein gelassen sah auf dem, was der Exerzierplatz gewesen wäre, wenn die Dinge in Tenoxtitlan das wären, was sie in Spanien waren. Badillo war für insgesamt siebenundzwanzig Pferde verantwortlich: das des Generalkapitäns, die der neun Hauptmänner und die der siebzehn berittenen Soldaten. Er würde die Pferde niemals allein lassen. Also nahm er sie mit in den Palast, um so etwas wie einen Stall zu suchen. Die Mexica mochten die größte, am dichtesten besiedelte, am besten schwimmende und schönste Stadt der Welt haben, doch praktisch veranlagt waren sie nicht: Sie besaßen weder Räder noch Pferdeställe – Badillo kam nicht in den Sinn, dass der einzige Grund dafür war, dass es keine Pferde gab.

Die Festung war groß, und der Stallbursche hatte das Gefühl, sich unmöglich darin zurechtfinden zu können, weshalb er Cordobés, dem Pferd des Generalkapitäns, ins Ohr flüsterte, es solle sie zu einer Wiese führen. Geleitet von der Nase des ranghöchsten Rosses, durchquerten die Tiere in Reih und Glied mehrere Säle, Flure, Höfe und sogar ein paar kleinere begrünte Patios, bis sie in den Tiefen des Palasts auf einen großen Garten mit Obstbäumen und Blumen stießen. Nur Tenebra kackte unterwegs in einen Gang, und als Badillo zurückkehrte, um die Pferdeäpfel aufzusammeln, hatte jemand sie bereits beseitigt und den Boden gewischt.

Nach dem Vorfall mit Caldera und der Suppe hatte das Essen mit der Prinzessin einen guten Ausgang genommen. Sie kommunizierten miteinander, und weder die Priester noch die Hauptmänner – die Risikofaktoren, da beide Gruppen ein vielleicht zu dürftiges, vielleicht zu komplexes Verhältnis zur Realität hatten – begingen irgendeine Ungeschicklichkeit. Die Adligen – die von den Mexica Pipiles genannt wurden –, die Anführer der Viertel, die Mitglieder des Rates und der Bürgermeister beteiligten sich nur wenig an den Gesprächen. Die Übersetzer hielten die Konversation so gut es ging am Laufen, und falls es etwas zu beklagen gab, dann höchstens die Kürze des Treffens.

Sie waren schon beim neunten Gang – nur fünf entfernt von den Nachspeisen, dem Tabak und dem diplomatischen Erfolg –, als Cortés plötzlich mit der ihn unterstützenden Armee aus Tlaxcalteken, Huexotzinca und Otomí protzte. Die Prinzessin, die gerade genüsslich an ihrem Teller mit einem Romerito-Brötchen mit Tomatensoße roch, sagte mithilfe der Übersetzer zu dem Caudillo, dass er das Unmögliche erreicht und diese Menschen, die nie etwas zustande gebracht hätten, weil sie sich seit Jahrhunderten um dasselbe Tal stritten, vereint habe und dass es bestimmt traurig sei mitanzusehen, wie sie sich zerstreuten, damit Moctezuma ihnen, den Caxtilteken, den Zutritt nach Tenoxtitlan gewährte. Cortés antwortete mithilfe der Übersetzer, sie hätten sich nicht zerstreut, sie würden am anderen Ende der Dammstraße von Iztapalapa warten, der Herrscher habe ihnen erlaubt, sich vorläufig dort niederzulassen.

Die Prinzessin, die immer gereizter wirkte, wechselte ein paar Sätze mit dem Bürgermeister. Malinalli übersetzte nicht länger und vergrub den Kopf zwischen den Schultern. Bis auf die Priester hörten alle auf zu essen. Die Herrscherin rückte mit dem Stuhl zurück und betrachtete die Gäste, dann fragte sie den Bürgermeister wieder etwas. Er versuchte, sie zu beruhigen. Sie reckte den Hals wie ein Drache, wie die Mutter aller Jaguare, wie die Herrscherin der unbesiegten Stadt, die sie war, wenn sie nicht gerade diplomatische Pflichten erfüllte, zeigte auf Caldera und sagte etwas, das sogar die Priester aufblicken ließ. Malinalli flüsterte Aguilar auf Maya zu, was die Prinzessin gesagt hatte, und der sah Caldera an und wiederholte es auf Spanisch. Sie sagt, dass sie dir am meisten von uns vertraut, dass du als Einziger so klug bist, nicht mit den Priestern an einem Tisch sitzen zu wollen, weil sie bestialisch stinken, aber dass du den Willen eines Adlers besitzt und schließlich doch gegessen hast. Sie fragt dich, wo die Tlaxcalteken sind, und will, dass du ihr ehrlich antwortest.

Caldera sah Cortés an, der zu ihm sagte: Sag die Wahrheit. Aguilar und Malinalli übersetzten. Sie sind in Iztapalapa, sagte Caldera. Atotoxtli war die Erhabenheit in Person, als sie sich vom Tisch erhob. Habe ich was falsch gemacht?, wandte sich Caldera an Cortés. Nein, nein, antwortete der Generalkapitän, du hast Eier gezeigt und getan, was getan werden musste. Und mit einem Blick zu den anderen: Es läuft bestens, auf Spanien.

Atotoxtli glich einem Wirbelsturm, als sie den königlichen Speisesaal betrat, in dem Moctezuma – ihr Bruder und Ehemann – allein zu Mittag aß. Seit Wochen, aber vor allem nach der Niederlage von Cholula und dem Aufstand in Texcoco, war der Herrscher immer unzugänglicher geworden und hatte an allem das Interesse verloren.

Er verließ kaum noch seine Gemächer, empfing niemanden mehr im Thronsaal, verbrachte den ganzen Tag im Nachthemd, rauchte und – so munkelte man im Palast – nahm jeden Tag mehr magische Pilze zu sich. Die Gespräche der Pipilen, die ihm früher beim Essen Gesellschaft geleistet hatten – weit von ihm entfernt sitzend, die Köpfe von dickem Stoff bedeckt – und denen er immer viel Beachtung schenkte, da ein Colhua-Herrscher in der Stadt der Mexica immer eine etwas heikle Sache war, kamen ihm jetzt belanglos und unerträglich vor.

Atotoxtli trug noch immer den Kopfschmuck. Ihn wieder aufzusetzen, war der einzige feierliche Akt gewesen, bevor sie den Palast von Axayácatl verlassen hatte. Ihre Adlerwache, die in der Küche bewirtet wurde, musste sich sputen, um ihr zu folgen, genau wie das Gefolge aus Pipilen, Beratern, Anführern und Priestern, die mit ihr am Tisch gesessen hatten.

Sie verließ die Alten Häuser – so nannten die Colhua den Palast der früheren Herrscher. Mit ihrem Gefolge durchquerte sie die Tempelzitadelle und betrat aufgebracht das neue Gebäude, von wo aus ihr Ehemann – und Bruder – regierte. Den Bittstellern – Adlige, Händler und Diplomaten –, die vergeblich darauf warteten, vom Herrscher empfangen zu werden, blieb kaum Zeit, den Kopf zu senken und den Blick zu Boden zu richten, als Atotoxtli wie ein Komet an ihnen vorbeischoss, bevor sie in dem Labyrinth aus Gängen, Patios und Zimmern verschwand, das Moctezuma fern aller Blicke, außer denen der nahen Verwandten, bewohnte. Ohne stehen zu bleiben, streifte sie sich die Sandalen ab, die erste irgendwo in einem Flur, die andere im nächsten.

Der Herrscher steckte sich gerade einen Heuschrecken-Taco mit Guacamole in den Mund – den kaiserlichen Ring- und den ebensolchen kleinen Finger abgespreizt als Zeichen seiner adeligen Herkunft –, als die Prinzessin den Saal betrat und am anderen Ende des langen Tisches stehen blieb, an dem außer ihrem Bruder nie jemand gespeist hatte. Theatralisch riss sie sich den Kopfschmuck ab und schleuderte ihn auf den Boden.

Der Tlatoani saß mit gesenktem Kopf da, den Taco vor dem Mund. Die Dienerin, die sich um alle seine Wünsche kümmerte, eine Halbnichte der beiden namens Xochitl, stand mit gesenktem Kopf in einer Ecke des Raums. Der Herrscher biss von seinem Taco ab, ohne seine Schwester aus den Augen zu lassen. Er kaute den ersten Biss, den zweiten und aß den Taco auf. Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Bis dahin hatte er den Kopf nicht gehoben, auch wenn er Atotoxtli die ganze Zeit über von schräg unten angeblickt hatte, jetzt mit dem Kinn zwischen den Schlüsselbeinen, denn er sah nicht mehr so gut wie früher. Dafür könnte ich dich hängen lassen, sagte er. Gelassen fuhr er fort: Was werden die Leute sagen, die dich auf dem Weg zu mir gesehen haben? Dass ich weinend zu dir gekommen bin, antwortete sie, weil du diese Horde von Bettlern aus Caxtitlan in meinen Gemächern in Vaters Palast untergebracht hast.

Der Herrscher pulte mit dem kleinen Finger ein Stück Heuschrecke zwischen seinen Zähnen heraus. Vater starb vor zwanzig Jahren, sagte er, Onkel Tizoc hat fünf Jahre in den Alten Häusern regiert und Ahuizotl weitere fünfzehn, du hast nichts gesagt, als er dich nach Malinalco schickte und in deine Gemächer zog; du bist die Herrscherin, und deine Zimmer sind in meinem Palast.

Als Moctezuma angeordnet hatte, dass in seiner Verwaltung niemand ohne königliches Blut arbeiten durfte, verlangte er auch, dass seine Schwester seine Gemahlin wurde. Dahinter steckte die Idee, auf diese Weise ein für alle Mal das ständige Gezanke der anderen Ehefrauen um sein Erbe zu beenden. Die Ehe mit Atotoxtli war wie viele andere innerhalb des Adels von Tenoxtitlan rein symbolischer Natur: Sie stellte sicher, dass Moctezuma die Gesetze der Erbfolge nicht reformieren würde und der Thronfolger keiner seiner Söhne, sondern, wie es immer gewesen war, ein unbesiegter Offizier wäre, der in direkter Linie von der Colhua-Königin abstammte, mit der Acamapichtli, der erste Herrscher, verheiratet gewesen war. Ein reifer, disziplinierter Colhua, der das Calmecac mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Das heißt: Cuitláhuac, sein jüngerer Bruder. Nach Cuitláhuacs Tod würde mit ihm die Linie der Colhua für seine Generation zu Ende gehen und ein Nachkomme der tenochkischen Geliebten und Sklavin des Herrschers Acamapichtli den Thron besteigen. Ein unbesiegter, disziplinierter Mexica-Offizier, der das Calmecac mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Das heißt: Cuauhtémoc, sein blutsverwandter Neffe und Schwiegersohn, da er mit seiner ältesten Tochter verheiratet war. Sie waren alle dasselbe, denn seit zweihundert Jahren heirateten sie untereinander, und in seiner Familie gab es mittlerweile mehr Mexica-Blut als eine klare Abstammung von den Colhua. Dieses System verhinderte Bürgerkriege und funktionierte reibungslos. Für die Bewohner der Küste, denen solche genealogischen Feinheiten fremd waren, waren sie alle Colhua – das hatte man den Caxtilteken auf ihrem Weg gesagt: dass sie in die Hauptstadt der Colhua gingen. Für die Menschen in den umliegenden Städten waren sie Mexica: die, die auf Mehxicoh lebten, der Insel, die das Zentrum des Sees war. Sie selbst nannten sich Tenochca, die Nachkommen von Tenoch. Und die englischen Historiker des neunzehnten Jahrhunderts, die rein gar nichts begriffen, nannten sie Azteken, um das Problem aus der Welt zu schaffen, und der Name blieb.

Atotoxtli, die bis zur Hochzeit mit ihrem Bruder die wohlhabendste und freiste Frau des Reiches war – sie wollte nie heiraten, ihr Status einer Colhua-Tochter des Herrschers erlaubte das –, musste aus ihrem Palast ausziehen, ihre Liebhaber aufgeben, war gezwungen worden, die grässlichen Bräuche der Priester anzunehmen, musste lernen, sich an die Feste mit ihren unzüchtigen Blutbädern und kannibalischen Essen zu gewöhnen. Um sich zu rächen, hatte sie das Gerücht in die Welt gesetzt, Moctezuma zwinge sie, mit ihm zu schlafen, um ein Kind nach seinem Ebenbild zu zeugen. Als er das hörte, war Moctezuma entsetzt, doch er erkannte schnell den Nutzen, den er daraus ziehen konnte: Die Konkubinen – allesamt Königinnen, einige wohlhabend und Titel führend, auch wenn diese nicht allzu bedeutend waren – stritten nur noch darüber, ob das Paar fruchtbar war, und nicht mehr, welcher der unendlich vielen kleinen Moctezumas eines Tages den Thron besteigen könnte.

Aber warum ausgerechnet in meinen Gemächern?, fragte die Herrscherin ihn, in den Alten Häusern stehen so viele Zimmer leer, du hättest sie woanders unterbringen können. Weil deine Gemächer immer hergerichtet sind für den Fall, dass ich dich zurückschicke, weil du mir auf die Nerven gehst, antwortete er und läutete ein silbernes Glöckchen.

Die Prinzessin wollte etwas entgegnen, hielt sich aber zurück, teils weil der Herrscher ihr klargemacht hatte, wie privilegiert sie war – normalerweise kehrte jemand, der einfach so den Palast verließ, nicht nach Hause zurück, sondern endete am Grund des Sees –, teils weil die Dienerin im Begriff war, den Teller ihres Bruders abzuräumen.

Xochitl, die ihre gesamte Arbeit verrichtete, ohne ein einziges Mal den Kopf zu heben oder dem Tlatoani den Rücken zukehren, nahm das Geschirr, auf dem der Heuschrecken-Taco gelegen hatte. Der Herrscher wartete, bis sie den Speisesaal verlassen hatte, dann blickte er seiner Schwester in die Augen und fragte, was sie ihm wirklich sagen wollte. Die Unterbringung der Caxtilteken konnte sie nicht so erzürnt haben, das wusste er. Sie betrachtete ihre Fußnägel und überlegte, wie sie es am besten sagen sollte, ohne ihn noch wütender zu machen – er war seit Wochen äußerst launisch. Der Huei Caxtitlan hat während des Essens damit geprahlt, du hättest den Tlaxcalteken erlaubt, sich in Iztapalapa niederzulassen, sagte sie schließlich. Moctezuma hob den Kopf und starrte sie mit einem langen, bohrenden Blick an. Seit wann gehen dich die feindlichen Armeen etwas an?, fragte er. Sie beugte den Rücken noch etwas mehr. Und?, sagte der Tlatoani, ich habe dich etwas gefragt. Atotoxtli begann zu stammeln. Es geht mich ja nichts an, sagte sie, aber es macht mich rasend, dass Tlilpotonqui es leugnet, er meinte, er sei der Cihuacóatl, er sei es, der in der Stadt das Sagen hat, und dass das auf keinen Fall stimmt; dass er bei dir gewesen ist, als die Caxtilteken kamen, und du befohlen hättest, dass ihr Heer sich zerstreut; ich habe einen der Caxtilteken gefragt, und er hat mir versichert, dass der Cihuacóatl mich belogen hat.