Aulaskimo - Arne Ulbricht - E-Book

Aulaskimo E-Book

Arne Ulbricht

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Beschreibung

Zwei Kinder, vier und sieben Jahre alt, springen allein in die S-Bahn und versprechen ihren Eltern, an der folgenden Station auszusteigen. Doch dort fehlt von ihnen jede Spur! Wo sind sie? Eine Station weitergefahren? Entführt worden? Haben sie im Chaos Panik bekommen, das Bahnhofsgebäude verlassen, sich verirrt? Wie verhalten sich Kinder in einer solchen Ausnahmesituation? Fragen, die sich die Eltern Klaas und Xenia immer wieder stellen. Während beide zunehmend von Angst und Panik ergriffen werden, merken sie zunächst nicht, wie das stabile Gebäude ihrer Beziehung ins Wanken gerät. Die Situation eskaliert. Es folgt eine Nacht, in der die Kinder sich an einem unbekannten Ort aufhalten und Klaas und Xenia sich jeweils allein auf eine verzweifelte Suche begeben. Doch die Suche nach den Kindern wird dabei zunehmend überlagert von der Suche nach sich selbst. Mit "Aulaskimo" liefert Arne Ulbricht einen beklemmend packenden Roman ab.

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Seitenzahl: 208

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Arne Ulbricht

Aulaskimo

Impressum

„Aulaskimo“

Arne Ulbricht

1. Auflage: Februar 2021, Arne UlbrichtAlle Rechte vorbehalten.

© Edition Outbird, Gera

Haeckelstraße 15, 07548 Gera

www.edition-outbird.de

Coverfotografie: Arne Ulbricht

Covergestaltung: Tristan Rosenkranz

Lektorat: Vanessa-Marie Starker, Tristan Rosenkranz

Buchsatz: Benjamin Schmidt

Herausgeber: Tristan Rosenkranz & Peter Peukert

ISBN: 978-3-948887-31-5

Preis: 6,99€

Für meine Frau und Kinder, ohne die ich nie auf die Idee gekommen wäre, diesen Roman zu schreiben. Und für Carsten, der seit 1999 meine Bücher liest.

Störung im Betriebsablauf

„Komm, lass die beiden mal alleine fahren.“

„Dürfen wir wirklich?“

„Au ja!“

„Sag mal … meinst du nicht, dass sie dafür noch zu jung sind?“

„Sind wir gar nicht!“

„Nein, sind wir nicht!“

„Ach was, die schaffen das schon. Außerdem sollen sie ja auch gleich bei der nächsten Station aussteigen und auf uns warten.“

„Das machen wir!“

„Genau!“

„Wie kommst du bloß auf so eine bescheuerte Idee?“

„Dazu stand neulich mal was in der Zeitung. So ein Artikel über Großstadtkinder, die ab einem gewissen Alter lernen müssen, sich allein im Verkehr zurechtzufinden. So wie Kinder auf dem Land lernen müssen, sich im Wald…“

„Schön, Linus ist sieben.“

„Ich werde in … fünf Monaten acht!“

„Aber du bist sieben, und Meret ist…“

„Vier bin ich!“

„Genau … und deshalb können die beiden doch nicht einfach mal so, weil du was gelesen hast, allein in die S-Bahn steigen.“

„Also ich bin in dem Alter auch schon allein Bus gefahren.“

„Mit … vier?“

„Nein, mit sieben.“

„So so. Du bist allerdings in Husum aufgewachsen. In ganz Husum ist nicht so viel los wie an der nächsten Station. Und an einem Samstag ist am Bahnhof Zoo nicht nur viel los, da ist die Hölle los.“

„Aber es ist ja nicht so, dass die Kinder noch nie am Bahnhof Zoo gewesen wären.“

In diesem Augenblick fuhr die S7 in Richtung Potsdam ein.

„Und … dürfen wir jetzt?“, fragte Linus, als sich die Türen der S7 öffneten.

„Nein“, sagte Xenia.

„Doch, springt ruhig rein. Wartet am Bahnhof Zoo genau dort, wo ihr aussteigt, wir nehmen die nächste S-Bahn“, sagte Klaas.

Linus schaute seine Mutter an, die die Achseln zuckte. Dann nahm er Meret an die Hand und wollte einsteigen.

„Meret … bleib du lieber hier“, sagte Xenia.

„Ach nö“, sagte Meret und sprang ihrem Bruder hinterher.

Als die Türen sich bereits schlossen, sahen Klaas und Xenia, wie sich ihre Kinder auf einen Vierer zu einem Mann setzten, den Klaas auf mindestens siebzig schätzte und der einen auffälligen, rosafarbenen Schal trug. Anstatt aus dem Fenster zu schauen und seinen Eltern zuzuwinken, fing Linus sofort zu erzählen an. Der Mann lachte, kramte in seiner Manteltasche und hielt plötzlich eine Tüte mit Gummibärchen in der Hand. Dann fuhr die S-Bahn los.

„Du, hast du das gesehen … der alte Mann hat … er hat…“

„Ja ja, habe ich gesehen, aber…“

„Aber was? Kannst du mir mal erzählen, was so einer mit Gummibärchen will? Der hat sie bestimmt nur dabei, weil er darauf wartet, dass irgendwelche Eltern so bekloppt sind wie wir.“

„Ach komm schon.“

„Und hast du den Schal gesehen?“

„Ja, habe ich.“

„Der Schal war rosa!“

„Ja ... ich weiß…“

„Ein Mann, der so einen Schal trägt, und das an einem solchen Tag, der muss ja wohl ein bisschen gestört sein.“

Klaas sagte nichts dazu. Dass es sich um einen Pädophilen auf Beutefang handelte, schloss er aus. Es wimmelte geradezu von Menschen, die ihn beobachten und später auch identifizieren könnten. Xenia schüttelte den Kopf. Ob aus Wut oder Verzweiflung, wusste Klaas nicht.

„Hoffentlich kommt die nächste S-Bahn bald“, sagte sie.

Sie hoffte allerdings vergeblich, denn in diesem Moment sagte eine weibliche, monotone Stimme: „Sehr geehrte Fahrgäste, in Richtung Spandau und Potsdam kommt es wegen einer Störung zu einer Verzögerung im Betriebsablauf. Wir bitten um Ihr Verständnis.“

Xenia sagte irgendwas, was wie „mein Gott“ klang, und Klaas guckte reflexartig in Richtung Anzeige. Dort lief ein Band, auf dem das stand, was die weibliche Stimme gesagt hatte und nun wiederholte: Dass es wegen einer Störung zu einer Verzögerung im Betriebsablauf komme. Dieses Mal präzisierte sie: Die nachfolgenden Züge verspäteten sich um zehn Minuten. Zehn Minuten klangen nach nichts. Aber an einer S-Bahnhaltestelle, wo alle drei bis vier Minuten eine S-Bahn einfuhr, bedeuteten zehn Minuten eine Ewigkeit. Vor allem dann, wenn man seine Kinder allein vorausgeschickt hatte.

„Lass uns ein Taxi nehmen“, sagte Klaas.

„Das bringt doch nichts. Das Taxi muss doch um den Tiergarten herumfahren, während die S-Bahn einfach rüberfährt. Und außerdem müssten wir es erst bestellen“, sagte Xenia.

Klaas schaute auf die Uhr. Es war bereits viertel vor eins. Klassische Mittagessen-Zeit. Auf die Currywurst, die sie immer aßen, wenn sie einen Ausflug in den Zoo machten, würden sie wohl noch warten müssen. Ob er einfach loslaufen sollte? Er bräuchte zehn Minuten bis zum Bahnhof Zoo. Aber wie viele Minuten waren schon vergangen seit der Durchsage? Zwei? Oder doch schon fünf?

„Hast recht. Versuch dir doch einfach keine Sorgen zu machen. Linus weiß sich immer zu helfen“, sagte Klaas.

Xenia nickte, nahm seine Hand und drückte sie derart fest, als ließen sich die Kinder dadurch herbeizaubern. Hand in Hand warteten sie. Klaas traute sich nicht, auf die Anzeige zu gucken, weil er befürchtete, dass aus den angekündigten zehn Minuten eine halbe Stunde geworden war. Stattdessen schaute er in einer Tour auf seine Uhr und hatte den Eindruck, der Sekundenzeiger würde sich bei seinen Runden besonders viel Zeit lassen. Dieser Eindruck verschärfte sich, als sich die Lausprecherstimme dafür entschuldigte, dass aus den zehn Minuten fünfzehn werden würden.

Als die S-Bahn endlich kam, stiegen Klaas und Xenia genau an der Stelle ein, an der auch Linus und Meret eingestiegen waren. Sie setzten sich nicht hin, sondern blieben im Türbereich stehen. Während Xenia auf den Boden starrte, schaute Klaas auf einen Vierer, auf dem vier Hertha-Fans mit Bierflaschen in der Hand saßen. Stimmt, dachte Klaas, Hertha hat ein Heimspiel. Er fragte sich, ob er die Kinder allein hätte S-Bahn fahren lassen, hätte er daran gedacht. Nein, wohl nicht. Zwar schlugen auch die aggressivsten Fußballfans nicht auf einen siebenjährigen Jungen und dessen vierjährige Schwester ein, aber das Gedränge in den einzelnen Bahnhöfen war ungleich höher an einem Heimspieltag.

Kaum war die S-Bahn im Bahnhof Zoo zum Stehen gekommen, schoben sich Klaas und Xenia durch die sich hineindrängelnden Hertha-Fans raus, und wenige Sekunden später schaute Xenia Klaas mit versteinerter, ängstlich wirkender Miene an: Die Kinder waren nicht auf dem Bahnsteig. Jedenfalls nicht an der Stelle, an der sie sie erwartet hätten. Während Xenia die Stellung hielt, lief Klaas den sich wieder mit Fans füllenden Bahnsteig auf und ab und rief im Zweisekundenrhythmus abwechselnd nach den Kindern. Sie hätten … einer von ihnen hätte vorfahren müssen, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Warum hatte er nicht wenigstens daran gedacht?

Dann stand Klaas wieder neben Xenia. Sie war längst weiß im Gesicht geworden und starrte mit unbeweglicher Miene auf die leeren Gleise. Wenn Klaas nicht gewusst hätte, was sie bedrückt, hätte er sie für eine Selbstmordkandidatin gehalten. Er nahm ihren Kopf, schaute sie an und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.

„Die Kinder … sie … sie sind nicht hier“, sagte er.

***

Bis dahin war es ein eher unspektakulärer Samstagvormittag gewesen. Unmittelbar nach dem Frühstück hatte Klaas noch kurz im Büchereck vorbeigeschaut, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Aber Ceyhan, die für die Gastronomie zuständig war und wie fünfundzwanzig aussah, obwohl sie schon vierzig war, und sein mittlerweile fünfunddreißigjähriger Buchhändler Hannes, der als Abiturient durchgegangen wäre, hatten wie immer alles unter Kontrolle und ihn mit den Worten „Jetzt geh‘ endlich mit Xenia und den Kindern in den Zoo“ weggeschickt. Dann hatte allerdings eine Stammkundin den Laden betreten, und Klaas hatte gar nicht anders gekonnt, als sie erstens persönlich zu beraten und zweitens über das April-Wetter zu rätseln. (Tagsüber war es warm, nachts frostig, und für den Nachmittag war ein heftiges Gewitter angekündigt.)

„Wir hätten nie direkt über den Laden ziehen sollen“, sagte Xenia, als er wieder die Wohnung betrat.

„Ist doch super, wir müssen nur die Treppe runtergehen und...“

„Genau das ist das Problem. Du bist montags bis freitags von acht bis acht im Laden, weil du meinst, dich auch ums Café kümmern zu müssen, obwohl Ceyhan das besser kann.“

„Ja, aber…“

„Nichts aber. Die Abmachung war, dass du zumindest an einem Tag in der Woche nicht im Laden bist.“

„Ich habe doch nur vorbeigeschaut.“

„Genau. Und die Nachmittagsschicht hast du zur Familienschicht erklärt.“

„Ja, denn samstags ist am meisten los. Und deshalb ist es fair, dass wir eine Schicht übernehmen. Dass wir mit den Kindern ausgerechnet samstags in den Zoo gehen, das hast übrigens du durchgesetzt, weil…“

„…da die Geschäfte aufhaben und...“

„…vor allem Linus auch gern mit seinem Papa in den Legoladen geht, ich weiß. Hast du schon hundertmal erklärt.“

„Leider hast du es hundertmal nicht begriffen.“

„Ach, komm schon.“

Klaas winkte ab und sagte nichts mehr. Wie oft hatten sie diese Diskussion schon geführt? Vielleicht nicht hundertmal, aber zwanzigmal bestimmt.

„Was soll’s, bringt ja eh nichts“, sagte Xenia mehr zu sich selbst als zu Klaas.

Sie ging ins Spielzimmer und erzählte den Kindern, dass sie wieder in den Zoo gehen wollten. Daraufhin stürzten sie jauchzend in ihr Schlafzimmer, in dem nur ein Hochbett und ein Kleiderschrank standen, und zogen sich an. Linus entschied sich für einen dünnen dunkelblauen Pullover und eine Jeans, Meret suchte sich einen roten Pullover mit silberner Glitzerprinzessin und eine lila Leggins mit rosa Blumen aus. Anschließend rannten sie ins Spielzimmer, in dem eine angefangene Legoritterburg darauf wartete, weitergebaut zu werden, und Plastikgeschirr und Ausmal- und Stickerhefte auf dem Boden verteilt waren. Hier suchten sie Sachen für den Ausflug zusammen, wobei Xenia ihnen half, während Klaas das Chaos Zeitung lesend aus den Augenwinkeln beobachtete. Wie jeden Samstag wunderte er sich darüber, dass sich die Kinder verhielten, als gingen sie zum ersten Mal in den Zoo. Als sie zum Aufbruch bereit im Flur standen, zeigte Meret ihrem großen Bruder, was sie alles in den Rucksack gepackt hatte:

ein Dutzend Pixibücher (davon acht Conni-Geschichten, die sie liebte)

ihre mit Wasser gefüllte Pipi Langstrumpf-Trinkflasche

eine kleine Puppe im Schlafanzug mit Schnuller im Mund, die Meret immer nur „mein Baby“ nannte

einen Apfel (den Xenia ihr gegen ihren Willen in die Hand gedrückt hatte)

Linus zeigte ihr daraufhin, was er eingepackt hatte:

den

Feuerkelch

(Die ersten drei Harry-Potter-Bände hatte Xenia ihm vorgelesen, den vierten Band las Linus inzwischen allein, obwohl er nach Xenias und Klaas‘ Ansicht dafür viel zu jung war.)

eine mit Wasser gefüllte Peter Pan-Flasche

einen Apfel (den er freiwillig eingesteckt hatte)

einen Noteuro

eine kleine Stablampe, die sich auf den Boden stellen und wie eine Nachttischlampe benutzen ließ

Die Taschenlampe nahm er überallhin mit. Er fragte, ob er nicht auch ein Taschenmesser und Streichhölzer einstecken dürfe, und natürlich begründete er seine Bitte mit einer Fülle von Argumenten, von denen das Argument, dass er sich im Zoo verlaufen könnte und gezwungen wäre, dort zu übernachten, sich ein Feuer zu machen und sich gegen freilaufende Tiere zu verteidigen, das originellste war. Es nützte aber nichts.

„Wollen wir nicht lieber alles in einen großen Rucksack stecken?“, fragte Klaas.

„Ich trag meine Sachen allein“, sagte Linus. „Ich bin ja kein Baby mehr.“

„Und ich bin auch kein Baby mehr“, sagte Meret.

„Denkt an eure Jacken!“, sagte Xenia, woraufhin Linus und Meret ihre Regenjacken in ihre Rucksäcke stopften.

Dann verschwanden sie im Treppenhaus und man hörte sie die Treppen herunterrennen, als hätten sie Angst, dass es sich ihre Eltern noch anders überlegen könnten. Klaas, der davon ausging, irgendwann beide Rucksäcke tragen zu müssen, nahm nichts mit.

„Na komm“, sagte Xenia, die ihre Handtasche umhängte und ihm einen Kuss auf die Wange gab.

„Ich will einmal schaukeln“, sagte Meret, als sie auf halbem Weg an einem Spielplatz vorbeikamen.

Während Linus und Meret schaukelten, schaute Klaas Xenia an, die sich zu Klaas‘ Erstaunen nicht neben die Schaukel stellte, um auf Meret aufzupassen. (Was sie eigentlich immer tat, obwohl Meret noch nie von der Schaukel gefallen war.) Während er in seiner Bluejeans, seinem schwarzen Kapuzenpulli, seinen ausgetretenen Sambaturnschuhen und seinen zotteligen Haaren aussah wie ein Mann, um den sich die Frauen nicht mehr unbedingt rissen, so gehörte Xenia in ihrer eng anliegenden schwarzen Jeans, ihrem dünnen lila Pullover, der ihre weibliche Figur zur Geltung brachte, ohne dass es aufdringlich wirkte, den schwarzen Sommerschuhen und den auf die Schulter herabfallenden, schwarz glänzenden Haaren zu den Frauen, denen vermutlich selbst Studenten hinterherguckten und Männer ab dreißig sowieso.

Schließlich gingen sie, ohne dass sie darüber gesprochen hätten und ohne konkreten Anlass, weiter zur S-Bahn-Station Tiergarten, obwohl sie meistens zu Fuß zum Zoo gingen. Wie der Tag verlaufen könnte, wusste Klaas in jenem Moment nicht. Aber die Möglichkeit, dass er zum Albtraum werden würde, hätte er gewiss ausgeschlossen.

Die Suche beginnt

Xenia atmete langsam ein und aus. So, als hätte sie Angst, das Atmen andernfalls zu vergessen. Sie gingen zu einem glatzköpfigen, älteren Mann, der in seiner Uniform wie ein klassischer Schaffner aussah.. Nachdem Xenia mit immer wieder stockender Stimme erzählt hatte, was geschehen war, winkte er ab und sagte, dass das immer wieder vorkomme. Er ließ die Kinder ausrufen. Wenige Minuten später ließ er sie erneut ausrufen. Der Bahnsteig, auf dem Klaas und Xenia warteten, wurde klar und deutlich genannt. Alles an dem Ausruf war klar und deutlich, und Linus hätte gewiss keine Probleme gehabt, das richtige Gleis zu finden. Vorausgesetzt … er hörte den Ausruf. Klaas ließ Xenia, die inzwischen nicht mehr langsam, sondern stoßweise atmete, beim Schaffner stehen und fuhr mit der Rolltreppe hinab in die Bahnhofshalle. Es war nicht ausgeschlossen, dass Linus Meret überredet hatte, mit ihm in den Zeitschriftenladen zu gehen, um in irgendwelchen Comics zu blättern. Aber auch hier waren sie nicht, und der Verkäufer erinnerte sich nicht daran, sie gesehen zu haben. Klaas wischte sich über die Stirn. Er hatte nicht gemerkt, dass er begonnen hatte zu schwitzen. Inzwischen rann der Schweiß seine Stirn herunter und brannte in seinen Augen. Xenia schüttelte den Kopf, als er endlich wieder neben ihr stand.

„Die Kinder sind weg … was … was machen wir jetzt bloß?“, sagte sie mit einer Stimme, die nicht mehr als ein Krächzen war.

„Sie könnten die Polizei rufen“, sagte der Schaffner, der noch immer neben ihnen stand.

„Noch nicht“, sagte Klaas.

Dann schaute er Xenia an.

„Oder was meinst du?“

Xenia zuckte die Achseln, während der Schaffner von Touristen auf irgendeiner Sprache angesprochen und in ein Gespräch verwickelt wurde. Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht.

„Keine Ahnung.“

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:

„Ich habe einfach Angst.“

Anschließend standen sie eine Weile schweigend auf dem Bahnsteig und schauten sich um, als handelte es sich bei ihnen um Dorfbewohner, die keine Ahnung haben, wie man sich auf einem Bahnhof mit mehr als einem Gleis verhält. Die Zeit verstrich quälend langsam. Wären sie zu viert geblieben, wären sie zu den Rolltreppen gegangen und hinunter in die Halle gefahren, und wenn irgendjemand zu ihnen gesagt hätte, dass das Chaos auf den Bahnsteigen fürchterlich sei, hätten sie gefragt: Welches Chaos? Aber sie waren nicht zu viert. Deshalb beobachteten sie mit stillem Entsetzen, wie eine Handvoll Polizisten am Ende des Bahnsteigs mit einem Dutzend Fans um eine Fahne kämpfte, die die Fans zuvor offensichtlich irgendwo nicht ganz legal befestigt hatten.

„Ich … ich finde, dass wir die Polizei einschalten sollten. Und zwar jetzt“, sagte Xenia.

„Das ist zu früh. Die sind bestimmt irgendwo hier in der Nähe. Und Linus passt ja auf Meret auf. Bei Kindern … da leiten sie doch bestimmt gleich einen Großeinsatz ein.“

„Ja, und wenn?“

Wieder kam eine Horde Fans die Treppen hoch und schwappte wie die ersten Ausläufer einer Flut über den Bahnsteig. Die Männer hatten Bierflaschen in der Hand und grölten ihren bekloppten Lieblingsschlachtruf Ha Ho He – Hertha BSC. Mit einem Gefühl der Beklemmung verfolgte Klaas, wie sich die Massen aus der S-Bahn herausschoben, während sich Fans, Touristen und ein paar Berliner in die S-Bahn hineinschoben, als ließe sich auf diese Weise Zeit gewinnen. Es entstand ein hässliches Gedrängel, das jeden Großstadt-Skeptiker endgültig davon überzeugt hätte, dass das Leben auf dem Land dem Leben in einer Stadt wie Berlin vorzuziehen sei.

„Ich will noch raus“, schrie irgendjemand.

„Kein Problem, kein Problem, nächste Station kannste raus“, lallte ein Fan.

Und dann gingen die Türen zu und das Chaos fand sein vorläufiges Ende. Die S-Bahn, in die die Kinder eingestiegen waren, war nicht derart überfüllt gewesen. Aber angenommen, beim Bahnhof Zoo hätte sich ebenfalls eine solche Menschenmenge ohne Rücksicht auf Verluste in die S-Bahn gequetscht? Wie wären Linus und Meret mit einer solchen Situation umgegangen? Linus konnte sich durchaus durchsetzen. Er rief, wenn er feststeckte, mit kindlich kreischender Stimme: Lasst uns raus! Oder: Mach Platz! Oder: Weg da! Und Meret … schob sich einfach zwischen den Beinen durch und schien auch im unübersichtlichsten Chaos eher die sportliche Seite zu sehen. So verhielten sich die Kinder jedenfalls, wenn Xenia und Klaas Rückendeckung gaben und helfen konnten, wenn gar nichts mehr ging. Klaas hatte noch nie Anlass gehabt sich zu überlegen, wie sie sich ohne Eltern in einem solchen Fall verhielten.

„Was ist jetzt?“, fragte Xenia.

Klaas sagte nichts, weil ihm nichts einfiel. Xenia zupfte ihm daraufhin am Pullover, als sei er eingeschlafen und müsste geweckt werden.

„Hey, ich warte auf eine bessere Idee. Ich bleibe hier jedenfalls nicht stehen und drehe Däumchen“, sagte sie.

Dabei sah sie ihn an, als würde sie sich innerlich auf einen Streit oder mehr vorbereiten.

„Ich zähle bis drei. Wenn du bis dahin keinen Vorschlag gemacht hast, rufe ich die Polizei. Also: eins … zwei…“

„Die … die Kinder sind doch vielleicht einfach schon losgegangen. Ich finde es zu früh für die Polizei. Linus bekommt bestimmt ein schlechtes Gewissen, wenn wir wegen ihm die Polizei gerufen haben.“

„Also bleiben wir hier wirklich stehen, warten und…“

Klaas unterbrach sie sofort und sagte:

„Was hältst du davon, wenn einer von uns einfach beim Zoo vorbeischaut und guckt, ob sie da irgendwo sind?“

Xenia sah ihn an und schien über seinen Vorschlag nachzudenken. Dann nickte sie.

„Ja, vielleicht hast du recht.“

Während sie auf dem Bahnsteig wartete, lief Klaas los und drängelte sich eine Minute später an den Schlangen vor den Kartenhäuschen vorbei. Bei der Drehtür blieb er stehen und fragte einen schnurrbärtigen Zooangestellten nach Linus und Meret.

„Ich habe tausend Kinder gesehen“, sagte der Mann.

„Ja, aber es geht um diese Kinder“, sagte Klaas und zeigte ein Handyfoto.

„Standen die beiden hier und sahen aus, als würden sie auf ihre Eltern warten?“

Der Mann warf einen flüchtigen Blick aufs Display.

„Nee, glaube ich nicht. Aber kann natürlich sein. Sie sehen doch, was hier los ist.“

Jetzt rief Klaas nach Linus und Meret und schaute in alle Richtungen. Einige Eltern nahmen ihre eigenen Kinder daraufhin an die Hand, als müssten sie vor so einem Irren beschützt werden, was Klaas egal war. Als er sie nicht sah und niemand auf seine Rufe reagierte, rannte er zurück. Selten zuvor hatte er das Gefühl gehabt, es derart eilig zu haben. Xenia stand noch an derselben Stelle. Es schien fast so, als handelte es sich bei ihr um eine Wachsfigur. Als Klaas sie ansprach, drehte sie wie in Zeitlupe ihren Kopf in seine Richtung.

Bevor sie etwas fragte, sagte er: „Die Kinder waren nicht da. Was hältst du davon, wenn ich erst mal eine Station weiterfahre und dort suche? Und du wartest hier, falls die Kinder doch noch kommen. Kann doch gut sein, dass sie es nicht rausgeschafft haben oder einfach nicht rechtzeitig aufgestanden sind.“

Xenia sah ihn mehrere Sekunden lang vollkommen ausdruckslos an. So, als hätte er sie in einer unbekannten Sprache angesprochen. Dann sagte sie:

„So verlieren wir doch bloß Zeit. Wenn etwas passiert ist, dann…“

„Es ist nichts passiert. Jedenfalls nichts Schlimmes. Linus und Meret sind doch nicht an einem Samstag am helllichten Tag mitten in Berlin gekidnappt worden.“

Und während er das sagte, glaubte er es wirklich. In diesem Moment fuhr die nächste S-Bahn Richtung Spandau ein. Klaas schaute Xenia an. Xenia, die seinen fragenden Blick stumm erwiderte, wirkte ratlos. Dann nahm sie Klaas’ Kopf in beide Hände und drückte ihre salzig schmeckenden Lippen derart fest gegen seine Lippen, als wüsste sie nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen würde.

„Na mach schon“, sagte sie, als sie sich voneinander gelöst hatten.

Sie schob ihn geradezu in die S-Bahn, in der es schwierig war, zwischen den Fans wenigstens einen Stehplatz zu bekommen.

„Viel Glück…“, rief sie, bevor sich die Türen schlossen.

Klaas nickte und versuchte zu lächeln. Ob es ihm gelungen war, wusste er nicht. Vielleicht warteten die Kinder tatsächlich am Savignyplatz. Sollten sie es jedoch nicht tun und sollte er mit leeren Händen zurückkommen und auch Xenia die Kinder nicht gefunden haben, war nicht ausgeschlossen, dass sie – Xenia und er selbst – die Nerven verlieren würden und die Situation endgültig aus dem Ruder liefe. Wie es dann weitergehen würde, wusste Klaas nicht. Vielleicht käme Xenia auf die Idee, ihn daran zu erinnern, dass sie Linus längst ein GPS-Handy hatte kaufen wollen und er dagegen gewesen war. („Ein Kind will auch mal alleine sein und das Gefühl haben, nicht immer kontrolliert zu werden!“) Und wenn sie ihm so käme, was sollte er dann sagen? Die Wahrheit war: Er war tief in seinem Inneren noch immer der Meinung, dass ein siebenjähriger Junge kein Handy brauchte. Und erst recht kein GPS-Handy. In der Vergangenheit waren solche Gespräche immer harmlos verlaufen. So wie ihre Samstagmorgen-Diskussionen war es eher wie ein Spiel gewesen, bei dem jeder seine einstudierte Rolle gespielt hatte und wahrscheinlich enttäuscht gewesen wäre, hätte der eine dem anderen plötzlich Recht gegeben. Und da Xenia sich immer durchsetzte, wenn sie sich wirklich durchsetzen wollte, war Klaas stets davon ausgegangen, dass selbst Xenia die Ausstattung ihres siebenjährigen Sohnes mit einem Sicherheitshandy für übertrieben gehalten hatte. Aber nun waren die Kinder weg.

Klaas schaute auf seine Uhr. Es war zwanzig vor zwei. Er rechnete und spürte einen Stich in seiner Magengegend.Fast eine Stunde waren die Kinder allein. Vermutlich waren sie inzwischen hungrig. Klaas selbst hätte eigentlich auch Hunger haben müssen. Aber die Leere, die er in sich spürte, hatte nichts mit Hunger zu tun. Hätte er doch bloß geschwiegen... Der Tag hatte so entspannt begonnen, und vielleicht würde der Tag noch entspannt enden. Ja, vielleicht würden sie in einer halben Stunde schon über das Chaos, das die Kinder und vor allem Klaas angerichtet hatten, lachen können. Denn die Kinder saßen wahrscheinlich wirklich auf dem S-Bahnhof Savignyplatz, weil sie zu weit gefahren waren, und Meret fragte gerade nach Mama und Papa und Linus erfand irgendeine verrückte Geschichte. Vielleicht waren sie aber auch in der S-Bahn sitzen geblieben, weil der Mann mit dem rosa Schal so eifrig Gummibärchen verteilt hatte. Bei diesem Gedanken lächelte Klaas nicht mehr. Hätte er diesen Mann bloß nicht gesehen. Er wollte nicht an ihn denken. Er sagte es sich immer wieder, doch es nützte nichts. Wie ein böser Geist, der gar nicht daran dachte, sich vertreiben zu lassen, blitzte das Gesicht des Mannes fortwährend auf. Vielleicht waren sie tatsächlich mitgegangen… Dann saßen sie gerade beim Mann in seiner Zweizimmerwohnung und aßen Nudeln. Und zum Nachtisch Götterspeise, die er für solche Fälle immer im Kühlschrank aufbewahrte. Nicht auszudenken, wenn dem so wäre.

Die Türen schnellten auf. Er stieg aus, schaute sich um und sah einige Fußballfans, die auf ihn wirkten wie Zombies aus einem B-Movie, und einen Obdachlosen. Aber seine Kinder, die sah er nicht. Er gab sich einen Ruck und ging auf den Obdachlosen zu. Er saß auf einer Bank, von der aus er einen guten Überblick über den gesamten Bahnsteig hatte, und hielt einen Tetra Pak Rotwein in der Hand.

„Sagen Sie, haben Sie zufällig zwei Kinder gesehen?“, fragte Klaas.

„Was?“, krächzte er mit der Stimme eines Menschen, der selten Gelegenheit hatte, mit irgendjemandem zu sprechen.

„Haben - Sie - zwei - Kinder - gesehen?“

„Kinder?“

„Ja, zwei Kinder“, sagte Klaas und zeigte dem Obdachlosen auf dem Handy ein Foto seiner Kinder.

Er schaute sich das Foto lange an. Dann nahm er einen Schluck Wein aus dem Tetra Pak.

„Nö, hab ich nicht gesehen“, sagte er.