Papa, hör auf! - Arne Ulbricht - E-Book

Papa, hör auf! E-Book

Arne Ulbricht

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Beschreibung

Der dreizehnjährige Max, der mit Begeisterung Taekwondo trainiert, lebt allein mit seinem Vater. Kann das gut gehen? Na klar! Aber nicht, wenn der Vater einen mysteriösen Nachtjob hat, von dem er eines Tages nicht zurückkehrt. Als Max seinen Vater schließlich findet, verwandelt sich sein Leben in eine Katastrophe. Aber zum Glück gibt es ja auch noch seine Klassenkameradin Anessa, ein stilles und zugleich starkes Mädchen, das ihm hilft ... Papa, hör auf! ist eine aufwühlende Vater-Sohn-Geschichte. Ein packender Roman über einen gemeinsamen Kampf. Und eine lebhafte Schilderung des Schulalltags eines Dreizehnjährigen, der wirklich alles ist: nur nicht alltäglich!

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Die Geschichte ist frei erfunden. Aber natürlich hat mich meine Zeit als Lehrer an einer Wuppertaler Gesamtschule inspiriert. Deshalb widme ich diesen Roman …

… dem Kollegium der Pina-Bausch-Gesamtschule und vor allem der Klasse, die ich im Jahr 2018 als 5.2.a übernommen habe.

Dank an – in alphabetischer Reihenfolge – Marina, Nicole, Uschi und Vera, die Papa, hör auf! in verschiedenen Phasen des Entstehungsprozesses gelesen und mich auf kleine und manchmal auch grobe Fehler mit der nötigen Strenge und zugleich liebevoller Sanftheit hingewiesen haben. Und an Patricia fürs wunderschöne Cover!

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Der Unfall

Fünf Jahre und drei Monate später

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Herzlich willkommen: Eintritt ab 18

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Epilog

Über den Autor

Prolog

Der Unfall

Taekwondo-Prüfung!!! Ich war so aufgeregt wie noch nie zuvor! Neben den zehn Prüflingen waren gleich zwei Trainer – einer davon war mein Vater – und eine Trainerin in der Halle und von jedem Kind ein ganzer Fanclub.

Mein Fanclub war nicht besonders groß: Er bestand nur aus meiner großen Schwester Lena, die einen Platz neben sich für Mama freihielt. Hoffentlich schaffte sie es noch rechtzeitig. Das war alles andere als selbstverständlich, denn sie kam immer spät von der Arbeit.

Wir waren mit dem Bus zur Turnhalle gefahren, weil Lena nicht so gern Fahrrad fuhr wie Papa und ich. Und das Auto hatten wir nicht nehmen können, weil Mama es genommen hatte, um nach ihrer letzten Konferenz schneller bei der Turnhalle sein zu können. So würden wir alle gemeinsam nach der Prüfung zurückfahren. Darauf freute ich mich, weil wir eigentlich nur zu viert im Auto saßen, wenn wir in den Urlaub fuhren.

Ich schaute Lena an, und Lena zeigte auf ihr Handy und streckte dann den Daumen in die Höhe. Ich nickte und lächelte. Natürlich wusste ich, was sie mir sagen wollte: Dass Mama auf dem Weg war!

Eigentlich war Lena eine tolle große Schwester. Wenn allerdings ihre bekloppten Freundinnen da waren, mit denen sie meistens ganze Lego-Friends-Landschaften in ihrem Zimmer aufbaute, war sie ziemlich doof. Dann fauchte sie mich schon an, wenn ich es wagte, die Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen. Inzwischen war sie elf, und noch immer sammelte sie wie eine Verrückte Lego-Friends. (Ich selbst war eher Star-Wars-Lego-Fan. Und zu meinem achten Geburtstag hatten mir meine Eltern endlich das coolste Raumschiff geschenkt: Han Solos Falken!)

Kurz vor Beginn der Prüfung öffnete sich die Hallentür. Mama! Sie schaute sich um, sah Lena, und kaum hatte auch Mama sich gesetzt, winkte sie mir zu. Sie war meistens ziemlich müde nach der Arbeit, aber heute wirkte sie so wach, wie Papa immer war. Aber er arbeitete ja auch nicht wie Mama von morgens bis abends in einer Firma, sondern als Taekwondo-Trainer, und das war wahrscheinlich entspannter. Früher war er ein erfolgreicher Kämpfer und dreimal deutscher Meister gewesen. Im Schwergewicht übrigens. Aber er musste nicht im Schwergewicht kämpfen, weil er so dick, sondern weil er so riesig war. Neben Taekwondo waren es vor allem Bücher, für die er sich begeistern konnte. Irgendwann hatte er dann selbst ein Buch geschrieben. Ein Kinderbuch, und vorn im Kinderbuch stand drin:

Für Lena und Max!

Lena fand das Buch „peinlich“, weil Papa darin eigentlich nur von unserer Familie erzählte. Also von einem Papa, der Taekwondo-Trainer war, und einer Mama, die viel arbeitete. Aber immer, wenn Lena von „Papas peinlichem Buch“ erzählte, mussten wir lachen, und Lena lachte auch.

„Stellt euch auf!“, rief mein Vater, während ich in meine Gedanken vertieft war.

Wir stellten uns in eine Reihe und verbeugten uns nicht nur vor ihm, sondern auch vor unserem Cheftrainer Martin, der Papas erster Trainer gewesen war, und vor Zeynep, die beide hinter einem Tisch saßen. Zeynep half Papa manchmal beim Kindertraining, und wir alle liebten sie. Sie war kaum größer als wir und hatte ihr langes schwarzes Haar meistens zu einem Zopf geflochten. Hätte ich im Kunstunterricht das Gegenteil von Zeynep malen sollen, dann hätte ich Papa gemalt, weil er so groß war, oder Martin, weil er gar keine Haare mehr hatte.

Nachdem wir uns verbeugt hatten, lachte Papa sein Papa-Lachen, das man auch aus hundert Metern Entfernung hörte, wie Mama oft sagte.

„Und, seid ihr alle aufgeregt?“, fragte er mit seiner dröhnenden Trainer-Stimme und sagte, ohne eine Antwort abzuwarten: „Mit dem rechten Fuß einen Schritt nach vorn und gleichzeitig Fauststoß zum Bauch.“

Und was machte ich? Ich setzte den linken Fuß nach vorn! Und das bei der ersten Übung. Papa sah das natürlich sofort und rief:

„Welches ist dein rechter Fuß?“

Er sah nicht böse aus, aber dennoch hätte ich heulen können. Anschließend konzentrierte ich mich und zeigte bei den Fußtechniken, dass ich jemanden, der genauso groß war wie ich, am Kopf treffen könnte. Und auch sonst lief alles rund. Aber das änderte nichts daran, dass ich gleich zu Beginn einen so idiotischen Fehler gemacht hatte.

Während die Trainer nach der Prüfung über uns sprachen, saß ich zwischen Lena und Mama.

„Ich glaube, ich bin durchgefallen“, sagte ich.

„So ein Quatsch“, sagte Mama und tätschelte mir den Kopf.

Sie fragte uns wie jeden Abend, wie es in der Schule gewesen war, und nacheinander erzählten wir. Dann wurden wir wieder aufgerufen.

„Das war toll! Ihr habt alle gezeigt, dass ihr fleißig wart!“, sagte Martin und rief einen nach dem anderen auf.

Zeynep überreichte die Urkunde und Papa den neuen Gürtel – nach weiß kam weiß-gelb. Ich wurde als Letzter aufgerufen, und auch ich hatte bestanden! Nachdem ich den Gürtel und die Urkunde entgegengenommen hatte, ging ich mit Papa zu Mama und Lena. Papa beugte sich herunter, um Mama einen Kuss zu geben. Das sah immer lustig aus, weil Mama fast einen halben Meter kleiner als Papa war. Dann machte Zeynep mit Papas Handy ein Foto von uns.

Im Restaurant, das sich oberhalb der Halle befand, feierten wir meine Prüfung. Wir aßen – ich Currywurst mit Pommes – und redeten und lachten und freuten uns auf den Urlaub auf Föhr, wo wir jeden Sommer hinfuhren, und so verging die Zeit. Als wir das Restaurant verließen, begann es bereits zu dämmern, aber das störte uns nicht. Und auch die dunkle Wolkenfront, die sich in unsere Richtung schob, änderte nichts daran, dass wir vier so aufgedreht waren, als hätte nicht nur ich, sondern als hätten alle eine Prüfung bestanden.

„Kannst du nicht fahren? Wir Männer erholen uns dann auf der Rückbank von der Prüfung.“

„Super Idee“, sagte Lena und stieg sofort vorn ein.

Über Mamas Gesicht huschte ein Lächeln, und sie murmelte etwas, was wie „na gut“ klang.

„Boah … ist das gemütlich hier“, sagte Papa, als auch wir uns hingesetzt hatten.

Kann gut sein, dass es das erste Mal war, dass Papa hinten saß. Und ja, er hatte wirklich viel Platz auf der Rückbank. (Vor allem, weil Mama so klein und unser Volvo-Kombi zwar sehr alt, aber sehr groß war.)

„Fahr doch über die Autobahn“, schlug Papa vor, obwohl Mama nicht gern Autobahn fuhr und deshalb mit Sicherheit lieber den Weg durch die Stadt genommen hätte.

Aber auch Mama wusste, warum er sie darum bat: wegen mir! Denn ich liebte es, auf der Autobahn aus dem Fenster zu schauen und spannende Überholmanöver zu beobachten. Und Mama brauchte keine Angst zu haben. Denn wir würden ja nur wenige Minuten auf der Autobahn fahren, dann kam schon die Ausfahrt, in deren Nähe wir wohnten.

„Bitte!“, sagte ich.

„Okay“, sagte Mama und seufzte.

In dem Moment, in dem sie den Zündschlüssel drehte, landeten einzelne dicke Tropfen auf der Windschutzscheibe. Doch wenige Minuten später regnete es bereits in Strömen. Der Regen war derart dicht, dass man von den Autos nur noch das Licht der Scheinwerfer sehen konnte. Während Mama konzentriert nach vorn blickte und die Scheibenwischer gegen die Regenflut ankämpften, sagte Papa zu Lena:

„Bis jetzt war ja heute eher so ein Max-Tag. Aber dafür lesen wir nachher das Buch zu Ende, okay?“

Lena drehte sich zu ihm um.

„Aber das sind doch noch dreißig Seiten.“

„Es ist aber der letzte Band, und wir wollen doch heute wissen, wie Harry Potter ausgeht, oder? Liest du dann Max vor?“, fragte Papa Mama.

„Mist!“, schrie sie, anstatt zu antworten.

Der LKW vor uns hatte gebremst, und als auch Mama bremste, schlitterten wir einfach weiter. Lena schrie ebenfalls und presste ihre Handflächen aufs Gesicht. Papa wiederum legte seine kräftigen Arme nicht etwa um seinen, sondern um meinen Kopf. Bevor ich begriff, wie gefährlich die Situation war, kamen wir zum Stehen. Neben uns begann die Ausfahrt, die uns nach Hause führte.

„Das war knapp …“, sagte Mama, die atmete, als wäre sie nach einem Lauf gerade ins Ziel gekommen.

„Zum Glück bist du gefahren, ich hätte bestimmt nicht genug Abstand …“

In diesem Augenblick schrie Mama, die in den Rückspiegel schaute, erneut auf. Dieser Schrei war jedoch anders. Er klang wie der Schrei eines Menschen, der in die Tiefe stürzt und weiß, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Im selben Moment hörte ich ein Geräusch, das ich so noch nie zuvor in meinem Leben gehört hatte. Eine Mischung aus einem Quietschen, einem Zischen und unseren Schreien.

Dann krachte es.

Und alles wurde schwarz.

***

Wer war schuld am Unfall? Diese Frage treibt mich in den Wahnsinn. Oder bin ich schon wahnsinnig?

Wann hat man eigentlich Schuld an etwas? Wie ist es zum Beispiel, wenn man einen Ball beim Fußball in ein Fenster schießt, obwohl man ganz woandershin gezielt hat? Hat man dann Schuld? Oder bloß Pech?

Umgekehrt ist die Sache natürlich einfacher: Wenn man den Ball absichtlich ins Fenster schießt, weil man die Nachbarn so bescheuert findet, dann hat man Schuld. Ja … bei Schuld geht es immer auch um Absicht, oder?

Wenn das so ist, dann waren Papa und ich nicht schuld, obwohl wir es waren, die Autobahn fahren wollten. (Papas Absicht war es ja bloß gewesen, mir eine Freude zu bereiten, und ich wollte die Fahrt einfach nur genießen.)

Aber egal, wie man es dreht und wendet, fest steht: Wenn Papa und ich nicht die Autobahn hätten nehmen wollen, wäre es nicht zum Unfall gekommen. Und dieser Gedanke macht mich fertig. Und Papa auch. Da kann die Psychotante noch so oft sagen, dass wir uns keine Vorwürfe machen dürfen.

Fünf Jahre und drei Monate später

1

Mein Handywecker klingelte wie jeden Schulmorgen um sieben Uhr. Ich sprang aus dem Bett, schaute in den mannshohen Spiegel, den Papa mir noch vor meiner ersten Prüfung zum Verfeinern meiner Technik ins Zimmer gestellt hatte, und machte einige Fauststöße. Dann las ich einem Morgenritual folgend Papas Sprüche, die ich mir irgendwann mit einem dicken Edding auf postergroßes Papier geschrieben und dann mit Tesafilm an die Wand geklebt hatte. Zu jedem Spruch machte ich eine Übung.

Wenn du dich ungerecht behandelt fühlst, dann sag das direkt!

Dreißig Situps.

Wenn jemand anderes ungerecht behandelt wird, dann schau nicht weg!

Dreißig Liegestütze.

Tu nie etwas, nur weil es alle anderen machen!

Dreißig Kniebeugen.

Jeder Mensch ist anders. Wenn man das akzeptiert, dann akzeptieren sich alle Menschen!

So viele Situps, bis es wehtut. (84)

Wenn du etwas wirklich willst, dann kämpfe dafür!

So viele Liegestütze wie möglich. (73)

Ein Schwarzgurt ist ein Weißgurt, der nie aufgehört hat.

So viele Kniebeugen, bis meine Oberschenkel zu zittern beginnen. (137)

Zwölf Minuten nach sieben. Ich legte mich wieder kurz ins Bett, um mich von meinem Morgen-Wachwerd-Programm zu erholen, und überflog die Nachrichten in der Klassengruppe.

„Mist, heute schreiben wir ja eine Mathearbeit, und das gleich in der ersten Stunde“, sagte ich zu mir selbst und fragte mich wie so oft, wann genau ich begonnen hatte, Selbstgespräche zu führen.

Ich hatte keine Ahnung. Aber wahrscheinlich war es gewesen, als Papa aufgehört hatte, sich länger als fünf Minuten am Stück mit mir zu unterhalten. Ich ging in die Küche und deckte den Frühstückstisch für mich. Seit Papa vor zwei oder drei Jahren diesen Job als Nachtwächter angenommen hatte, immer erst gegen sechs Uhr morgens von der Arbeit kam und nur eine Scheibe Toast oder gar nichts aß, blieb er meistens bis zum Nachmittag im Bett. Ich war es längst gewohnt, allein zu frühstücken. Und ich fand es auch gar nicht so übel. Denn ich ließ meinen Toast immer fast schwarz werden und schmierte anschließend eine kleiner-Finger-dicke Schicht Butter und eine daumendicke Schicht Nutella auf die Scheibe, und sobald die Butter zu zerlaufen begann, rührte ich mit einem Teelöffel den entstandenen Butter-Nutella-Brei einmal schön durch. Erst dann aß ich, und jedes Mal dachte ich: Es gibt einfach nichts Leckereres!

Weil die Geschirrspülmaschine nicht funktionierte, spülte ich anschließend alles mit der Hand ab. Manchmal kam ich mir vor wie ein Hausmann: Ich wusste, wie man eine Waschmaschine bediente und Wäsche so aufhängte, dass sie auch trocknete. Ich putzte, wenn auch nicht oft. Und da Papa tagsüber schlief und ständig Kopfschmerzen hatte, wenn er aufwachte, hatte ich sogar das Einkaufen übernommen. Wahrscheinlich wirkte ich durch diesen ganzen Haushaltskram viel älter als ich war. (Eine Frau, der ich einen Getränkekasten zum Auto geschleppt hatte, hatte mich vor Kurzem jedenfalls auf fünfzehn geschätzt.)

Leider schaffte ich es deswegen – und natürlich auch wegen der Schule – nur einmal pro Woche zum Training, was schade war. Inzwischen hatte ich den roten Gurt, und das war schon ganz schön hoch. Denn nach rot kam nur noch rot-schwarz vor ganz schwarz. Und die Schwarzgurte waren dann auch noch mal unterteilt: Zeynep hatte zum Beispiel den zweiten, Martin den sechsten und Papa den vierten. Allerdings würde er den fünften wohl nicht mehr machen. Papa hatte nämlich mit Taekwondo aufgehört. Wegen der Kopfschmerzen. Und wegen des Schwindelgefühls, das ihn manchmal durch die Wohnung taumeln ließ und das er nicht etwa mit einem Medikament, sondern mit Pfefferminzbonbons bekämpfte, die er tagein tagaus lutschte.

„Wenn du weiter so viele Pfefferminzbonbons lutschst, dann verwandelst du dich bald selbst in einen Pfefferminzbonbon“, hatte ich irgendwann zu ihm gesagt, und er hatte gelacht, und es war schön gewesen, sein Lachen zu hören.

Ich war dabei gewesen, als er Martin und Zeynep gesagt hatte, dass er nicht mehr trainieren könne. Er hatte seinen Abschied vom Taekwondo allerdings weder mit den Kopfschmerzen noch mit den wiederkehrenden Schwindelanfällen begründet, sondern damit, dass er immer Mama und Lena in der Halle sehen würde. Zeynep hatte daraufhin weinen müssen, und Martin hatte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt:

„Du weißt, dass du immer willkommen bist bei uns. Und wann immer du Hilfe brauchst, meldest du dich!“

Dabei hatte er ihn seltsam angeschaut. So, als wäre er der Einzige, der mit Papa irgendein Geheimnis teilte. Aber das hatte ich mir mit Sicherheit nur eingebildet, denn niemand kannte Papa so gut wie ich, und das hieß auch: Niemand wusste so viel über Papa wie ich!

Nachdem ich abgespült hatte, las ich die letzten Nachrichten. Es ging um die Mathearbeit. Gleich sieben Fragen waren in der Gruppe gelandet. Auch Anessa, die Kleinste und, wie ich fand (was natürlich niemand wusste), die Niedlichste in der Klasse, die immer so verträumt an die Decke guckte und gerade eine feste Spange bekommen hatte, hatte ein Problem mit Mathe.

Sie hatte mal erzählt, dass man bei ihrem Namen das V vergessen hatte. Aber ich fand den Namen auch ohne V schön. Adrian und Aala hatten wie immer eine Frage nach der anderen beantwortet, was lustig war, denn unterschiedlicher als Adrian und Aala hätte man nicht sein können. Adrian war dünn, fast schon dürr, sah mit seinen kurzen blonden Haaren und seiner Brille und seinem Hemd, das er immer trug, aus wie so ein Streber aus einer Fernsehserie. Er war der Einzige aus der Klasse, der jeden Tag mit einem dicken Auto zur Schule gefahren wurde. So ein richtig fettes Teil mit Allradantrieb. Eigentlich hatte ich immer gedacht, Kinder von reichen Eltern müssen irgendwie doof sein. Aber das stimmte nicht. Denn Adrian war echt in Ordnung und protzte nie mit seinem Reichtum rum. Selbst sein nagelneues Handy schien ihm eher peinlich zu sein. Allerdings war er manchmal schrecklich albern und benahm sich wie ein Elfjähriger. Dann machte er Pupsgeräusche oder zerschnitt ein Radiergummi und warf mit den Krümeln irgendwelche Mädchen ab. Ich mochte ihn trotz seiner Albernheiten, aber natürlich konnte ich mich mit ihm nicht anfreunden. Er lebte in einer ganz normalen Familie mit drei Geschwistern, und seine Großeltern lebten nebenan. Alle vier! Meine Familie war im Vergleich zu seiner eher nicht so normal. Erstens war ich seit dem Unfall mit Papa allein. Zweitens waren die Eltern meines Papas längst tot. Und Mamas Eltern … für die waren Papa und ich damals gleich mitgestorben.

Aala wiederum war wie ich, nur umgekehrt. Sie lebte allein mit ihrer Mutter, weil ihr Vater und ihr Bruder im Krieg in Syrien erschossen worden waren. Sie sah im Gegensatz zu Adrian nicht wie elf, sondern wie sechzehn aus und stand in der Pause immer mit älteren syrischen Schülern auf dem Hof rum. Sie sprach ziemlich gut Deutsch, musste aber manchmal überlegen, bevor sie etwas sagte. Vielleicht war unser Klassenlehrer Herr Saß ja wegen Aala auf die Idee gekommen, dass alle Kinder mit, wie er gesagt hatte, „ausländischen Wurzeln“ den anderen beibringen sollten, was in ihrer Sprache „Hallo“ hieß. Am lustigsten war, als Aala auf Arabisch von rechts nach links an die Tafel geschrieben hatte. Die Schriftzeichen hatten ausgesehen, als würde sie das Wort zeichnen. (Am Ende hatte „Hallo“ auf neun Sprachen an der Tafel gestanden.)

Ich überflog die Fragen und die Antworten und dachte wie so oft: Wenn Adrian und Aala die Aufgaben erklärten, klang alles so verdammt einfach. Als wäre Mathe ein Kinderspiel. Aber wenn Frau Schneider einem die Zettel mit den Aufgaben austeilte, dann war jede Mathearbeit wieder schwer. Ich schlug mich meistens trotzdem ganz ordentlich und war irgendwo im Dreierbereich. Wie fast überall, nur in Deutsch war ich besser, was vielleicht daran lag, dass die Psychotante, zu der mein Papa und ich nach dem Unfall gegangen waren, mir einen Notizblock für meine Gedanken geschenkt hatte.

„Schreib da alles rein, was dich bewegt“, hatte sie gesagt, und ich hatte gedacht: nie im Leben!

Inzwischen sind allerdings vierzig solcher Notizbücher vollgeschrieben, denn ich schrieb jeden Abend etwas, und es half, alles um mich herum zu vergessen. Anfangs malte ich mehr, als ich schrieb. Dann schrieb ich mehr, als ich malte. Dann schrieb ich nur noch. Manchmal kurze Texte. Manchmal Notizen. Manchmal ging es darum, was ich am selben Tag erlebt hatte. Manchmal darum, wie ich mich fühlte. Und manchmal notierte ich, was mir gerade in den Sinn kam. So sind neben Texten auch Rankings, Geschichten und sogar einige Gedichte entstanden. (Die Suche nach Wörtern, die sich reimen, bringt übrigens megaviel Spaß.)

Ein weiterer Grund, weshalb mir Deutsch lag, war Papa selbst. Der hatte uns früher wahnsinnig viel vorgelesen, und nach dem Unfall hatte er mir weitervorgelesen. Auch Harry Potter – die Bände standen inzwischen nicht mehr in Lenas Zimmer, sondern bei mir. Doch dann waren wir im siebten Band angekommen, und Papa sagte irgendwann:

„Bis hierhin habe ich Lena vorgelesen.“

Daraufhin hatte er das Buch zugeklappt, zu weinen begonnen und mich mit seinen starken Armen fest an sich gedrückt. Sein ganzer Körper hatte gebebt, und ich hatte Angst bekommen, denn ich war bis zu jenem Abend derjenige gewesen, der hatte getröstet werden müssen. Papa hatte sehr lange geweint, und dann war er einfach aufgestanden und hatte mir anschließend nie wieder vorgelesen. Ich selbst hatte die Harry-Potter-Saga nicht allein weiterlesen wollen, aber dafür las ich nach Papas letzter Vorleseeinheit ungefähr tausend andere Bücher, weil Lesen zu meinem abendlichen Ritual gehörte wie das Zähneputzen und Zocken, was auch alle anderen taten. Und wahrscheinlich war ich wegen meiner Lesesucht gut in Deutsch. (Und in Sport war ich natürlich nicht nur gut, sondern gehörte zu den Besten.)

Ich schaute wieder aufs Handy.

„Scheiße, ich muss dringend los, sonst komme ich zu spät zur Mathearbeit“, murmelte ich.

Wie immer warf ich noch einen Blick in Papas Arbeitszimmer. Dort schlief er auf einer Matratze, weil er seit dem Unfall nie wieder im Ehebett hatte schlafen wollen. Ich öffnete vorsichtig die Tür, um Papa nicht zu wecken. Dort lag er aber nicht! Ich lächelte, denn anscheinend hatte er es geschafft, endlich wieder im Schlafzimmer zu schlafen. Aber dort lag er genauso wenig wie auf dem Sofa im Wohnzimmer, das wir schon lange nicht mehr nutzten. In einem Regal stand das letzte Familienfoto, das Zeynep gemacht hatte. Er hatte damals immerhin die Kraft gehabt, es auszudrucken und sogar einzurahmen. Aber die Kraft, es sich anzuschauen, die hatte er nie aufbringen können. Deshalb hatte Papa ein Tuch übers Bild gehängt. Oft hatte ich mich gefragt, warum er es nicht in irgendeiner Schublade hatte verschwinden lassen. Vielleicht hatte er ja Angst, es dann irgendwann nicht wiederzufinden. Ich machte die Tür zum Wohnzimmer zu und fragte mich erneut: Wo ist Papa?