Lesen ist cool! - Arne Ulbricht - E-Book

Lesen ist cool! E-Book

Arne Ulbricht

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Beschreibung

Lesen bildet. Das weiß jeder. Aber wie fördere ich das Lesen bei Kindern? Indem ich ihnen vorlese. Arne Ulbricht gibt in seinem Buch Anregungen, was und wie Eltern am besten vorlesen. Insbesondere die Vater-Kind-Beziehung profitiert beim Lesen und Vorlesen. Arne Ulbricht gibt viele konkrete Buchempfehlungen und schildert sehr persönlich, mit welchen Tricks und Techniken man Kindern das Lesen schmackhaft macht. Nicht zuletzt zeigt er aber, welch große Befriedigung Erwachsene aus dem Vorlesen und dem Lesen mit Kindern ziehen können. Unterstützung erhält der Autor durch Meinungen von Experten: Namhafte Kinderbuchautoren wie Martin Baltscheit oder Andreas Steinhöfel und erfahrene BuchhändlerInnen beantworteten seine Fragebogenaktion und unterstützen seine Thesen.

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Arne Ulbricht

Lesen ist cool!

Vom Vorlesen zum Selbstlesen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99738-4

Umschlagabbildung: © Jenko Ataman – Fotolia

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Produced in Germany.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Prolog

Ein Buch über das Vorlesen?

Vorlesen ist … ja, was denn nun?

Zahlen und Fakten

Ein guter Vorleser – was ist das eigentlich?

Die wichtigsten Vorleser

Mütter und Väter

Väter, lest vor!

Was passieren kann, wenn Väter vorlesen

Vorleseorte für alle!

U-Bahn geht auch

Kindertagesstätten

Grundschulen

Weiterführende Schulen

Literatur erleben und zur Ruhe kommen

Vorleseorte für viele!

Öffentliche Bibliotheken

Buchhandlungen

Umzingelt von Viertklässlern

Der Vorlesetag

Buchmessen und andere Spektakel

Weiter so!

Kinder als Vorleser

Orientierungshilfen im Bücherlabyrinth

Nachfragen lohnt sich!

Wenn man niemanden fragen kann…

Kinder- und Jugendbuchpreise

Der Leipziger Lesekompass

Aus dem Leben eines Jurymitglieds

Konkrete Empfehlungen

Astrid Lindgren

Otfried Preußler

Michael Ende

Paul Maar

Joanne K. Rowling

Karl May

Mein persönlicher Vorlesekanon

Pixibücher – eine Hommage

Bobo und andere Bücher für die ganz Kleinen

Vorlesefutter für Kinder ab fünf

Übergangsbücher – zum Vorlesen und Selbstlesen

Die Bücher der befragten Autoren

Empfehlungen der Experten

Epilog: Leseerinnerungen

Die Empfehlungen aus diesem Buch – Zusammenfassung

FürLasse und Lotta

Damit das Buch spannender, interessanter und lebendiger wird, habe ich fünf Buchhändlerinnen und zwei Buchhändler, eine Kinderbuchautorin1 und fünf Kinderbuchautoren sowie zwei Expertinnen und einen Experten um Rat gefragt.

Danke an …

… Martin Baltscheit, Meike Dannenberg, Erhard Dietl, Christine Kranz, Ursula Lange, Andreas Mahr, Daniel Napp, Alice Pantermüller, Kathrin von Papp-Riethmüller, Martina Riegert & Martin Vögele, Heinrich Riethmüller, Oliver Scherz, Birgit Sieben-Weuthen, Andreas Steinhöfel und Ingrid Voigt!

__________________

1Weitere Kinderbuchautorinnen haben abgesagt. Natürlich habe ich nicht nur eine Autorin um ihre Meinung gebeten.

Prolog

Hamburg, 2001

Ein nasskalter Februarmorgen. Im Dunkeln schwinge ich mich in Hamburg-Lokstedt auf das Fahrrad und radele los. Mein Ziel: Altona, die Wohnung von Hannelore2. Hannelore ist 51 Jahre alt und schwer an Multipler Sklerose erkrankt. Meine Aufgabe: Ich soll nach einer einwöchigen Einarbeitung in die ambulante Krankenpflege den Morgendienst zum ersten Mal allein übernehmen, und das heißt: Wenn alles gut läuft, muss ich ihr die etwas feuchte Windel wechseln, ihr das Nachthemd ausziehen, sie anziehen, sie vom Bett in den Rollstuhl hieven, ihr Essen zubereiten und ihr beim Essen helfen, während sie fernsieht.

Es läuft aber nicht alles gut. Erstens regne ich vollkommen ein und komme klatschnass und frierend in Altona an. Zweitens weht mir, kaum habe ich die Wohnungstür aufgeschlossen, ein geradezu apokalyptischer Gestank in die Nase. Mir wird schwindelig, bevor ich meine Patientin wenigstens begrüßen kann. Ich ziehe meine Jacke aus, wanke zu ihrem Bett, werde mit einem Lächeln begrüßt – Hannelore riecht nichts mehr – und mache mich an die Arbeit. Zunächst lasse ich in eine Schüssel lauwarmes Wasser einlaufen, ziehe mir Handschuhe über und nachdem ich auch zwei saubere Waschlappen, ein Handtuch und Seife gefunden habe, lege ich los. Ich versuche Hannelore das Nachthemd auszuziehen, das jedoch am Rücken »festklebt«. Erst in diesem Moment wird mir das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst. Ich schließe einen Augenblick die Augen, halte die Luft an und vermeide es auf diese Weise einatmen zu müssen. Hätte ich es getan, hätte ich mich vermutlich an Ort und Stelle übergeben müssen. Die Windel hat den »Stuhl« leider nicht vollständig aufgesogen, so dass sich ein Teil des Stuhls, also der – Verzeihung – Scheiße auf dem Rücken verteilt hat. Ich brauche lange, um Hannelore zu reinigen. Anschließend wringe ich die Lappen aus, werfe das Nachthemd und die Waschlappen in einen Wäschesack, entsorge sowohl das ehemals klare, nun aber braune Wasser als auch meine Handschuhe und ziehe Hannelore anschließend mit nun frischen Handschuhen eine neue Windel an. Geschafft! Hannelore ist zufrieden und ich bin sogar ein bisschen stolz.

Der Fernseher läuft bei Hannelore immer. Sie kann die Beine gar nicht mehr und die Arme kaum noch bewegen. Wenn sie redet, versteht man sie nicht. Aber sie versteht alles und lacht derart schallend, dass man gar nicht anders kann, als mitzulachen. Manchmal ist sie bockig wie ein pubertierendes Mädchen. Und wenn man sie in einer solchen Situation ausschimpft, wird sie ganz still. Sie hat früher viel gelesen. Vor allem hat sie anspruchsvolle Bücher gelesen: Böll, Hesse, Brecht und Grass stehen in ihrem Bücherregal. Sie muss eine intellektuelle Frau gewesen sein, bevor sie knapp zehn Jahre vor meinem ersten Einsatz an Multipler Sklerose erkrankte. Eine Krankheit, die bei leichtem Verlauf hin und wieder für kurzfristige Lähmungen sorgt, was schlimm genug ist. Bei schwerem Verlauf endet ein Patient jedoch wie Hannelore. An den Rollstuhl gefesselt vor dem Fernseher. Es laufen Soaps, dämliche Shows, Frühstücksfernsehen. Der Abenddienst macht lediglich den Ton aus. Mehr nicht. All das will Hannelore so. Mich nervt das Programm tierisch. Während Hannelore versucht zu essen, schaue ich mir ihre Bücher noch mal an.

Plötzlich habe ich eine Idee. Ich sage zu Hannelore: »Hannelore, wollen wir den Fernseher nicht einfach mal ausschalten? Ich habe noch ein bisschen Zeit. Ich könnte dir ja vorlesen.«

Hannelore schaut mich an. Ein Mensch, der nicht mehr reden kann. Der auch die Kontrolle über die Gesichtsmuskulatur zum Teil verloren hat, schaut mich an … und strahlt.

Ich mache einige Vorschläge. Welche, weiß ich nicht mehr. Aber daran, dass wir uns für Der kleine Prinz entscheiden, erinnere ich mich, als wäre es erst gestern gewesen. Nachdem ich den Tisch abgeräumt und den Fernseher ausgeschaltet habe, setze ich mich und beginne vorzulesen. Hannelore schaut mich die ganze Zeit an.

Ein halbes Jahr habe ich in Hamburg als ambulanter Krankenpfleger gearbeitet, bevor ich an einer Schule in Schleswig-Holstein mit dem Referendariat begonnen habe. Bei Hannelore war ich fast jeden Tag. Manchmal morgens und mittags, manchmal mittags und abends, während der Wochenendschichten zum Teil dreimal täglich. Oft kam ihre Mutter, eine damals fünfundsiebzigjährige Frau, dazu. Mindestens einmal am Tag habe ich Hannelore vorgelesen. Später – ich war inzwischen glückloser Referendar – lud sie mich zu ihrem Geburtstag ein. Ich sollte an ihrem Geburtstag vorlesen. Neben den Besuchen ihrer Mutter gehörte das Vorlesen offensichtlich zu den Höhepunkten ihres Lebens.

Ich bin übrigens keineswegs esoterisch veranlagt. Aber ich glaube auch heute noch, dass ihr das Vorlesen Kraft gegeben hat. Einerseits, weil sich jemand, der ihr eigentlich nur die Windeln wechseln und das Essen zubereiten sollte, diese Zeit genommen hat. Andererseits weil sie ihrer Alltagstristesse für einen Augenblick entfliehen durfte, um mit dem kleinen Prinzen auf ferne Planeten zu reisen. Hannelore ist der erste Mensch gewesen, dem ich regelmäßig vorgelesen habe.

Wuppertal, zehn Jahre später

»Papa!«, dröhnt es aus dem Nachbarzimmer.

5:43 Uhr. Vielleicht schläft Lotta, seit vier Jahren meine Tochter, ja einfach weiter. »Papa … PAPA … ich habe eingepullert!«

Na klasse. Meine Frau schläft so tief wie Lasse (7) und wundert sich eine Stunde später darüber, dass Lotta, die zu ihr ins Bett gekrochen ist, einen neuen Schlafanzug anhat. Während ich Kaffee koche, kommt Lasse in die Küche gewankt. Seine Augen brennen, und seine Nase ist verstopft. Er putzt sie … sieht Blut … und beginnt zu heulen. Na wunderbar. Er beruhigt sich erst, als er anfängt zu essen. Dann kommt Lotta reingewankt. Kaum sitzt auch sie, schüttet sie sich selbst Müsli ein. Die Schüssel läuft fast über. Trotzdem möchte sie sich auch selbst Milch einschenken. Das klappt gar nicht, was nicht weiter schlimm ist, denn sie hat sowieso keinen Hunger mehr auf Müsli, und dass die Milch nun alle ist, ist ihr egal. Dann kommt meine Frau in die Küche gewankt. Warum ich am Tag zuvor keine frische Milch gekauft habe, möchte sie wissen. Nach dem Frühstück bringe ich die Kinder in den Kindergarten beziehungsweise in die Schule und als ich zurückkomme, ist es geradezu gespenstisch still, weil auch meine Frau inzwischen zur Arbeit gefahren ist. Herrlich.

Aber das Chaos macht nur eine Pause. Als ich Lotta abhole … schläft sie erstens noch und hat zweitens, nachdem sie geweckt worden ist, keine Lust mitzukommen, und drittens schon wieder eingepullert und viertens ihr Brot nicht aufgegessen, weshalb sie fünftens beim Bäcker leer ausgeht und daher sechstens einen Wutanfall bekommt. Ich selbst überlege, ob ich sie nicht doch mal kräftig am Arm ziehen soll. Oder … nein, natürlich denke ich nicht daran, ihr eine Ohrfeige zu geben. Inzwischen haben wir gemeinsam meinen Sohn beziehungsweise den großen Bruder abgeholt. Während der Schlacht um den einzigen Fensterplatz in der Schwebebahn tue ich so, als ob die Kinder nicht zu mir gehören. Selbst als sie mich rufen, reagiere ich nicht. Lotta hat Turnen und schimpft, weil ich ihr die falschen Socken eingepackt habe. Anschließend hat Lasse Tae-Kwon-Do und schimpft, weil ich vergessen habe, sein Getränk aufzufüllen.

Nach dem Sport müssen wir noch einkaufen gehen. Die Kinder streiten sich, wer die Ware auf das Band legen darf. Ich schnauze sie an, woraufhin ein älterer Herr einer älteren Dame – beide stehen hinter mir in der Schlange – erklärt, dass so etwas früher nicht passiert wäre, denn früher hätte man Kinder noch richtig erzogen. Abends kommt meine Frau nach Hause. Sie ist erschöpft, setzt sich an den gedeckten Tisch und fragt, wie es sein könne, dass ich schon wieder vergessen habe, Milch einzukaufen.

Eine Stunde später: Die Kinder haben einen Schlafanzug an. Lasse liest der Mutter vor. Ich lese Lotta vor. Die Steinsuppe. Zum gefühlt achtzigsten Mal. Aber es bringt immer wieder Spaß. Den Wolf, der die Steinsuppe kochen will, lese ich mit ganz tiefer Stimme und gucke Lotta dabei so an, wie ich glaube, dass ein Wolf gucken könnte. Manchmal erfinde ich auch was. Mache zum Beispiel aus der Henne eine Taube. Lotta merkt es immer und protestiert und sagt: Lies das noch mal, und jetzt richtig! Es ist … einfach schön, wie meine Tochter da neben mir sitzt und mir zuhört und sich manchmal an mich klammert. Haben wir uns wirklich den ganzen Tag gezankt? Eigentlich unmöglich.

Die eigentliche Party beginnt aber erst, als mein Sohn kommt. Er klettert aufs obere Bett und guckt zu mir rüber. Ich sitze inzwischen nicht mehr auf Lottas Bett, sondern auf einem Stuhl. Ich greife zum Buch, das wir momentan lesen. Es ist fast schon ein feierlicher Moment. Mein Sohn strahlt mich an. Und ich strahle zurück. Wir wissen, dass wir uns nun eine halbe Stunde lang nicht streiten werden. Denn ich werde ihm vorlesen. Nichts anderes werde ich tun. Und er wird zuhören und mich lediglich manchmal unterbrechen. Mit einem Ausruf der Begeisterung. Oder mit einer wilden Theorie, wie es weitergehen könnte. Oder mit einer Frage nach einem Wort, das er nicht verstanden hat. Momentan lesen wir Harry Potter. Band V. (Zu Harry Potter später mehr.) Der Text ist spannend. Das Vorlesen selbst bringt Spaß. Und man ist seinem Kind so nah wie in keiner anderen Stunde am Tag. Den einzigen Streit gibt es, wenn ich aufhöre zu lesen. Dann heißt es:

»Bitte, noch zwei Seiten.«

»Nein«, sage ich.

»Dann noch eine Seite!«

»Nein, sage ich, ich habe schon eine halbe Stunde gelesen!«

Und einen trockenen Mund habe ich auch.

»Bitte, bitte, wenigstens noch einen Absatz.«

»Na gut«, sage ich. Und lese noch zwei Seiten.

Anschließend sagt Lasse, dass er sich wünscht, dass ich ihm mal einen ganzen Tag von morgens bis abends vorlese. Und … kommen mir in diesem Moment etwa fast die Tränen? Nein … Blödsinn. Oder doch?

Ich habe mal ausgerechnet, dass ich meinem Sohn in den zurückliegenden Jahren knapp sechs Wochen beziehungsweise über tausend Stunden am Stück vorgelesen habe. (Sieben Jahre lang, mindestens 300 Tage im Jahr, in der Regel eine halbe Stunde.) Nach den Sommerferien 2014, er war zehn Jahre alt, hörte ich auf, ihm vorzulesen. Es war ein seltsamer, trauriger Moment. Lasse sagte einfach, dass ich ihm nun nicht mehr vorlesen müsse. Mehr sagte er nicht. Letztendlich ist es ein wenig wie mit einer langen Reise: Man kann nicht ein Leben lang ständig reisen. Aber von vielen Reisen zehrt man ein Leben lang. Das Vorlesen war nicht nur eine Reise, sondern es war eine Weltreise, auf der wir unglaublichste Abenteuer erlebt und unzählige Länder entdeckt haben.

Lasse ist übrigens ein ganz normaler Junge geworden, der wie fast alle Jungs eine Schwäche für Clash of Clans und für Minecraft hat und sich manchmal mit seinen Freunden die Zeit vertreibt, indem er YouTube-Videos glotzt. (Und oft streiten wir darüber.) Aber im Gegensatz zu vielen anderen Jungs liest er. Viel. Unglaublich viel.

Meine Tochter ist inzwischen acht. Ihr darf ich noch vorlesen. Aber wenn auch sie irgendwann diesen einen, fürchterlichen, aber allzu verständlichen Satz zu mir sagen wird, werde ich in ein Loch fallen. Denn das Vorlesen ist mir längst ebenso wichtig wie den Kindern geworden.

__________________

2Name geändert.

Ein Buch über das Vorlesen?

Ein Buch zu schreiben, in dem es um verschiedenste Aspekte des Vorlesens geht, ist jahrelang ein Herzenswunsch von mir gewesen. Schon in meinen ersten Büchern, in denen es um das Schulsystem geht, habe ich das Thema zumindest gestreift. In Lehrer: Traumberuf oder Horrorjob (2013) schildere ich unter anderem meine unvergesslichsten Unterrichtsstunden, und zu meinen unvergesslichsten Stunden gehörten an allen Schulen, an denen ich unterrichtet habe, die Vorlesestunden. Selbst volljährigen Schülern habe ich regelmäßig vor den Sommerferien und vor Weihnachten vorgelesen.

Und auch in Schule ohne Lehrer (2015) widme ich mich an einer Stelle dem Thema ›Vorlesen‹. Der fiktive Kai, 15, dessen Alltag im Jahr 2014 vom durchgehenden Handykonsum geprägt ist und der vor, während und nach dem Unterricht ständig damit beschäftigt ist, WhatsApp-Nachrichten zu tippen oder zu lesen oder sich zu vergewissern, dass er auf Facebook nichts verpasst hat, liest abends seiner kleinen Schwester vor. Es ist der einzige Moment am Tag, an dem er sein Handy nicht in Reichweite hat. Und zwar aus einem ganz banalen Grund: Einmal hat es geklingelt, während er seiner Schwester gerade Pippi Langstrumpf vorgelesen hat. Das fand vor allem Kai selbst blöd, denn während er vorliest, entflieht er seinen virtuellen Welten und kommt endlich mal zur Ruhe.

Und es ist ja wirklich so: Die Zeit, in der man nicht hektisch Kurznachrichten liest oder beantwortet oder diesen oder jenen Link anklickt oder was auch immer fotografiert, wird knapper. Das geht längst auch den meisten Erwachsenen so. Während man Sport macht, befreit man sich in der Regel von jeglichen digitalen Zwängen. Im Theater auch. Aber im Kino schon nicht mehr. Gemeinsames Essen, ohne dass jemand auf irgendeinem Gerät herumtippt oder etwas nachschaut? Wird immer seltener. Vorlesen … das geht nur ohne digitale Ablenkung.

Vorlesen bietet eine der angenehmsten Möglichkeiten, sich aus der Hektik des Alltags, die durch die permanente Erreichbarkeit und das permanente Mitteilungsbedürfnis beängstigende Ausmaße erreicht hat, auszuklinken. Und das Tolle: Wenn man aus dem Vorlesen ein abendliches Ritual macht, klinkt man sich jeden Tag aus. Man nimmt sich also jeden Tag mindestens eine Auszeit. Denn wenn man vorliest, kann man parallel weder telefonieren noch ein YouTube-Video angucken, noch auf dem Handy Nachrichten lesen. Für das Kind oder alle anderen, denen man vorliest, gilt dasselbe. Sonst bekommt man ja nichts mit.

Vorlesen ist für die schulische Entwicklung eines Kindes wichtig: Denn natürlich fördert das Vorlesen unglaublich viele Fähigkeiten. Auch darum soll und muss es in diesem Buch gehen.

Das Vorlesen ist aber auch deshalb wichtig, weil es eine jahrelange Einladung an die Kinder ist, später selbst zu Büchern zu greifen. Und sollte ein Kind nicht so lesesüchtig werden, dass es nächtelang durchliest und deshalb schon mit elf Jahren Energydrinks braucht, um den Tag zu überstehen, sehe ich darin nur Vorteile. Denn ein Kind, das gern selbst liest, langweilt sich in der Regel selten und ist meistens auch nicht von einem Akku oder von einer Steckdose abhängig. Ein Kind, das gern liest, entscheidet selbst, wie ein Ork oder ein Dementor aussieht. Ein Kind, das gern liest, kommt zwar auf tausend bunte und spannende, aber selten auf dumme Gedanken. Ein Kind, das gern liest, verfügt über unglaublich viel und täglich neuen Gesprächsstoff und kann mit Freundinnen und Freunden über die Helden verschiedenster Bücher reden.

Das Vorlesen sollte auf keinen Fall nur Aufgabe der Eltern sein (und erst recht nicht nur Aufgabe der Mütter), sondern es sollte an unglaublich vielen Orten von ganz verschiedenen Vorlesern vorgelesen werden, so dass möglichst alle Kinder die Chance bekommen, in den Genuss ganzer Vorleseeinheiten zu kommen. Und es gibt Orte, die sich dafür anbieten und an denen auch mehr oder weniger regelmäßig vorgelesen wird. Vor allem in Kindertagesstätten wird zum Glück viel vorgelesen. Kindertagesstätten sind der Ort, an dem einigen Kindern überhaupt zum ersten Mal vorgelesen wird. Deshalb sind die Kitas in Hinblick auf die Lesesozialisation vieler Kinder von geradezu herausragender Bedeutung. Auch an Grundschulen wird vorgelesen, und meiner Meinung nach sollte man damit an weiterführenden Schulen nicht aufhören. Weitere Vorleseorte sind Bibliotheken und Buchhandlungen, die hin und wieder Lesungen anbieten.

Obwohl es sogar einen offiziellen Vorlesetag im Jahr gibt, könnte meiner Meinung nach noch viel mehr getan werden, um für eine der schönsten Sachen der Welt zu werben und um Kinder, die oft schon mit zehn Jahren ans Internet3 verloren gegangen sind, für das Lesen und damit auch für Bücher zu begeistern. Das Problem ist, dass das Vorlesen und das Selbstlesen unter Jugendlichen einen bescheidenen Ruf genießt. Der Coolnessfaktor des Hobbys »Lesen« ist eher gering.

Mein Sohn ist neulich als »hobbylos« und als »schwul« bezeichnet worden, weil er zugegeben hat, dass er gern liest. Ich habe ihm gesagt, er soll das nächste Mal einfach erzählen, worum es in seinem Buch geht. Zufällig war es nämlich ein äußerst brutales Buch, und jeder, dem er einige Szenen einfach nacherzählt hätte, hätte gestaunt und anschließend vermutlich Lesen nicht mehr als Hobby für Loser abgetan. Lesen ist – meiner Ansicht nach – sogar ziemlich cool.

Aber wie liest man vor, damit es einem selbst und auch dem Zuhörer Spaß bringt? Was ist das überhaupt, ein guter Vorleser? Welche Bücher eignen sich für welches Alter? Und wie orientiert man sich in diesem Bücherlabyrinth mit seinen vielen Klassikern und jährlichen Neuerscheinungen? Auf all diese Fragen habe ich nach Antworten gesucht, und das war durchaus eine Herausforderung, weil es oft mehrere Antworten gibt.

Dieses Buch ist übrigens ein Stöberbuch. Wer sich zunächst nur einige Tipps für den eigenen Vorleseabend abholen möchte, der kann zuerst das entsprechende Kapitel lesen.

Sollte eine Mutter sich darüber ärgern, dass immer sie vorlesen soll, dann kann sie ihrem Mann noch heute Abend den Aufruf an alle Väter vorlesen.

Wer sich engagieren möchte oder nach Inspiration für Veranstaltungen sucht, findet den einen oder anderen Anstoß in dem Teil, in dem ich Vorleseorte vorstelle. Vielleicht ist ja eine Idee dabei, auf die sich der Buchhändler oder die Bibliothek vor Ort sogar einlassen.

Und vielleicht stolpert der eine oder andere Buchhändler oder die eine oder andere Bibliothekarin während der Lektüre der entsprechenden Kapitel über eine Veranstaltung, die ich erwähne und die man selbst auch mal organisieren könnte.

Erzieherinnen, aber auch Grundschullehrerinnen4 sind diejenigen, die dafür sorgen, dass in Deutschland garantiert jedem Kind zumindest hin und wieder vorgelesen wird. Sie könnten das ganze Buch als eine Art Dankeschön und Bestätigung für ihre tolle Arbeit lesen. Darüber hinaus lasse ich einen männlichen (!) Erzieher ausführlich zu Wort kommen. Und ich gehe davon aus, dass Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen ganz besonders die Tipps der Kinderbuchautoren, aus deren Büchern sie vielleicht sogar selbst schon vorgelesen haben, interessieren könnten. Außerdem finden sie viele Argumente für Elterngespräche, um Eltern davon zu überzeugen, dass sie ihren eigenen Kindern dringend regelmäßig vorlesen sollten.

Lehrern an weiterführenden Schulen empfehle ich die Lektüre des entsprechenden Kapitels inklusive meines Vorschlags, Vorleseunterricht beziehungsweise eine wöchentliche Vorlesestunde einzuführen.

Aber da es in jedem Kapitel um unsere Kinder geht, deren Leben wir Erwachsenen bereichern sollten, ist es wahrscheinlich am sinnvollsten, wenn man einfach das ganze Buch liest.

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3Ich bin kein Internethasser. Ich habe mehrere Mailadressen und eine Homepage (www.arneulbricht.de) und kaufe meine Bahnkarten online. Aber wenn ich im Bus sitze und Schüler sehe, wie sie auf ihre Handys starren, dann mache ich mir immer häufiger Sorgen, dass schon diese Kinder immer gestresster werden und denke: Vielen von ihnen täte es gut, einfach mal eine halbe Stunde in einem Buch zu versinken.

4Natürlich meine ich auch die Grundschullehrer und Erzieher. Im Großen und Ganzen verfahre ich in diesem Buch so, dass ich die männliche Form bei allgemeinen Formulierungen benutze, aber in diesem Fall handelt es sich zum Beispiel nicht um eine allgemeine Formulierung, denn der Prozentsatz an männlichen Erziehern und Grundschullehrern ist besorgniserregend gering. Wenn es gerade passt, benutze ich auch die männliche und weibliche Form.

Vorlesen ist … ja, was denn nun?

Die in der Danksagung erwähnten Buchhändler, Kinderbuchautoren und Vorleseexperten sollten unter anderem den Satz »Vorlesen ist …, weil …« ergänzen. Im Großen und Ganzen sind wir uns alle einig: Vorlesen ist etwas Großartiges, Tolles, Schönes, Atemberaubendes, Spannendes usw. usf. Dennoch sind die Meinungen in Nuancen unterschiedlich. Aspekte werden hervorgehoben, die derart einleuchtend und so naheliegend sind, dass ich selbst sie in diesem Buch nicht berücksichtigt hätte. Wer wen auch immer davon überzeugen möchte, dass wem auch immer wo auch immer vorgelesen werden sollte, findet hier Argumente von Menschen, die ihr ganzes Leben Büchern widmen. Entweder, weil sie selbst welche schreiben. Oder weil sie täglich von Büchern umgeben sind und es ihr Beruf ist, Bücher anzupreisen. Oder weil sie aus anderen Gründen begeisterte Vorleser sind und sich für das Vorlesen engagieren. Um den Eindruck zu vermeiden, ich hielte die Aussage von Frau Hinz für wichtiger als die von Herrn Kunz, greife ich auf das einfallsloseste, aber definitiv effektivste Mittel zurück: Ich zitiere nach dem Alphabet. Mit dem Kinderbuchautor Martin Baltscheit beginne ich demnach, und mit der Buchhändlerin Ingrid Voigt schließe ich ab. Also:

Vorlesen ist …

… lebenswichtig, weil es für das Leben wichtig ist.

Martin Baltscheit, Autor von Der Löwe, der nicht schreiben konnte und vielen anderen Büchern/Sprecher

… unerlässlich, weil es die Imaginationsfähigkeit schult, die meiner Meinung nach eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen überhaupt ist; ohne sie gibt es keine Innovationen und keine Kreativität. Und Vorlesen schult nicht nur ungemein die Vorstellungskraft, es legt auch den Grundstein für vielfältige Interessen, Konzentrationsfähigkeit, kreative Eigenleistungen und Sprachgefühl. Wenn man einem Kind das Vorlesen vorenthält und stattdessen ausschließlich auf Fernsehen zurückgreift, vernachlässigt man seinen Kopf ebenso, wie man seinen Körper vernachlässigen würde, wenn man es nur mit Junkfood füttert.

Meike Dannenberg, Redaktionsleiterin Magazin Kinder-BÜCHER/Ressortleiterin BÜCHER-Magazin/Autorin bei btb/Randomhouse

… wichtig. Wenn ich meiner kleinen Tochter vorlese, sind das immer schöne und intensive Momente. Das Eintauchen in eine Geschichte erzeugt innere Bilder, und die Vorstellungskraft und die Phantasie wird angeregt.

Erhard Dietl, Autor und Illustrator von Die Olchis und vielen anderen Büchern

… eine ganz wesentliche Grundlage späterer Lesefreude und auch des Leseerfolgs in der Schule, weil damit spielerisch und ohne jeden Leistungsdruck bzw. ohne Erwartungshaltung seitens der Erwachsenen der Weg zum eigenständigen Lesen geebnet und der Spaß an Büchern und Geschichten nachhaltig geweckt wird.

Christine Kranz, Referentin für Leseförderung

… magisch, weil es die Wirklichkeit für die Zuhörenden durch den Einsatz von Stimme und Mimik nicht nur beschreiben, sondern auch erweitern und neu erfinden kann.

Ursula Lange, Buchhändlerin in der Aachener Buchhandlung SchmetzJunior und langjährige Expertin für Kinder- und Jugendliteratur

… toll, weil es ein ganz anderes Lesen erfordert, als wenn ich ein Buch für mich selber lese.

Andreas Mahr, Kinderbuchabteilung der Buchhandlung Christiansen

… ein irreführendes Wort, weil damit eigentlich Erzählen gemeint ist. Man erzählt nur nicht seine eigenen Gedanken, sondern die, die man gerade liest. Die Kunst ist es dann, so zu sprechen, als würde man nicht ablesen. Eine gute Vorlese-Technik erfordert, dass man blitzschnell einen Satz im Voraus liest, den Sinn erfasst und dann laut spricht.5 Und zwar so, wie man es auch im richtigen Leben von sich geben würde. Vielleicht nur etwas langsamer und deutlicher als gewohnt.

Daniel Napp, Autor und Illustrator von Dr.Brumm und Achtung, hier kommt Lotta und vielen anderen Büchern

… enorm wichtig für die emotionale und geistige Entwicklung von Kindern. Die Nähe zur vorlesenden Person sowie die Kommunikation mit dieser Person über das Gelesene eröffnet Kindern eine immer differenzierter werdende Welt und legt den Grundstein für ein Leben mit Geschichten und anderen Texten. Wenn schon im frühen Alter das Interesse an Büchern, an Geschichten, auch an Sachtexten geweckt wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich der kleine Mensch auch in späteren Jahren die Welt lesend aneignet. Wenn Vorlesen selbstverständlich ist, wird das Selbstlesen (in der Regel) später ebenso selbstverständlich sein und dem Leser Orientierung und ein Sich-zu-Hause-Fühlen in einer reichen und bunten Welt ermöglichen.

Alice Pantermüller, Autorin der Lottaleben-Reihe

… ein Heidenspaß, weil man als Vorlesender die Möglichkeit hat, der Geschichte einen ganz eigenen Charakter zu verleihen.

Kathrin von Papp-Riethmüller, Bereichsleitung Kinder- und Jugendbuch bei der Osianderschen Buchhandlung

… wichtig, weil Kindern durch das Vorlesen das (eigene) Lesen als etwas Erstrebenswertes/Spannendes/Lustiges/Cooles/Begehrenswertes/Nachahmenswertes/… erlebbar gemacht wird.

Martina Riegert & Martin Vögele, Inhaber der Buchhandlung Riemann

… toll, weil es bei Kindern Interesse an Literatur weckt, die Phantasie beflügelt und das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern fördert.

Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des deutschen Buchhandels

… wichtig, weil es Kindern Worte fürs eigene Denken mit auf den Weg gibt und weil Geschichten dabei helfen können, Grenzen zu überwinden. Und wenn Kinder noch nicht selbst lesen können, sind sie auf einen Vorleser angewiesen. Außerdem verbindet das Vorlesen und regt zum Träumen an.

Oliver Scherz, Kinderbuchautor von Ben, Wir müssen kurz nach Afrika und anderen Büchern/Schauspieler

… lebensentscheidend, weil dadurch das erste Bild von der Welt in Sprache gegossen wird und die spätere Freude am Selberlesen geweckt wird. Es gibt uns die Fähigkeit, die Welt zu ordnen, zu entschlüsseln und aus der sicheren Warte der Kuschelecke heraus die Dinge spielerisch auszuprobieren und abzuwägen. Es verhindert, dass wir ›sprachlos‹ aufwachsen.

Birgit Sieben-Weuthen, Filialleiterin der Mayerschen Buchhandlung Wuppertal

… ein Angebot ans hoffentlich zuhörende Kind, weil es a) das Konzentrationsvermögen schult sowie b) den Beginn einer wunderbaren Freundschaft – nämlich der zum Buch – markieren könnte.

Andreas Steinhöfel, Autor der Rico-Bände und vieler anderer Bücher/Übersetzer

… ein Erlebnis, weil

–die Kinder sich in Kuschelhaltung zurechtsetzen/-legen, um konzentriert zuhören zu können und

–es keine aufmerksameren Zuhörer als Kinder gibt, die genau verfolgen, was gelesen wird, und sofort merken, sobald man eine Abkürzung vornimmt, manchmal sogar auch nur ein falsches Wort vorträgt.

Ingrid Voigt, Buchhändlerin und als solche Expertin für Kinderbücher

__________________

5Zum Thema »Wie liest man vor« äußere ich mich ausführlich im Kapitel Ein guter Vorleser – und auch dort lasse ich die Experten zu Wort kommen.

Zahlen und Fakten