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Aurora, ein junger quirliger Sonnenengel, der in den Lavaströmen des Kilauea Vulkans auf Hawaii zu Hause ist, taucht in diesem Abenteuer auf spannende und humorvolle Weise in das Reich der Wasserdrachen und Nixen ein. Viele Abenteuer hat die Drachenreiterin Aurora zu bestehen, bis sie dem Geheimnis des Vulkanwassers auf die Spur kommt. Wird es Aurora gelingen das Taunuswasser und den Bad Homburger Stadtwald zu retten? All Age Fantasyroman zum Thema Klimaerwärmung und Umweltschutz. Aurora und der Wächter des Wassers ist der zweite Teil einer All Age Fantasy Reihe, die an realen Schauplätzen in Deutschland spielt. Das Buch kann auch gelesen werden, ohne dass man den ersten Roman kennt. In dieser Geschichte geht es beim Thema Klimawandel besonders um die Trockenheit der Wälder in Deutschland und das Menschen verursachte Waldsterben. Der Roman regt durch die Verbindung zwischen Fantasy und Realität auf originelle Art zum Nachdenken und Klimaschutz an.
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Seitenzahl: 524
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Aurora, ein junger quirliger Sonnenengel, der in den Lavaströmen des Kilauea Vulkans auf Hawaii zu Hause ist, taucht in diesem Abenteuer auf spannende und humorvolle Weise in das Reich der Wasserdrachen und Nixen ein. Viele Abenteuer hat die Drachenreiterin Aurora zu bestehen, bis sie dem Geheimnis des Taunuswassers auf die Spur kommt.
Wird es Aurora gelingen das Taunuswasser zu retten?
Diana Dörr ist Heilpraktikerin mit eigener Praxis in Bad Homburg.
2011 veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Der Steg nach Tatarka" beim Paracelsus Verlag in Salzburg/ Österreich.
Die Autorin vereint durch ihre Bücher ihre Verbundenheit mit der Natur mit ihren beruflichen Interessen, der Heilung von Menschen und Mutter Erde.
Mehr über die Autorin erfahren Sie hier:
www.dianadoerr.de
Der Steg nach Tatarka
Aurora in geheimer Mission
Erdheilung kinderleicht gemacht
Auroras Heilquellenführer
Für die Wasser von Mutter Erde
Prolog
Geheimnisvolle Türen
Sprudelnde Welten
Dem Taunuswasser auf der Spur
Rätselhafte Brunnen
Das verwunschene Schloss
Die Zeichen mehren sich
Die Zwergenbar ›Zur Hohlen Eiche‹
Die geheimnisvolle Quelle
Platschi
Aurora taucht unter
Epilog
Das Schreien drang durch den Wald und ließ die Waldzwerge und Elfen erzittern. Da war er wieder, zorniger als je zuvor. Die Zwerge liefen aus allen Erdlöchern, Baumhäusern und Höhlen zusammen und versammelten sich auf einer bizarren Felsgruppe, welche die Menschen Elisabethenstein nannten. Unter diesem Namen konnten die Naturwesen sich nichts vorstellen. Für sie hieß der Platz Elfenstein, wegen der Wesen, die dort lebten. So hoch die Zwerge auch auf die Felsen kletterten, sie konnten nicht erkennen, von wo die Schreie kamen. Sie wussten jedoch, wer da schrie. Es war der mächtige Wasserdrache, der in seiner Höhle hinter dem alten Luthereichstollen lebte, dem Wasserstollen, der von den Menschen nach der alten Eiche benannt worden war, die in seiner Nähe wuchs und unter den Naturgeistern als ebenso mächtig galt wie der Wasserdrache. Doch die Zeiten, in denen sich alles im Gleichgewicht befand, waren leider vorbei. Der Eichengeist war müde und die Waldzwerge sorgten sich um ihn und um das, was hierdurch geschehen konnte. Denn der Wasserdrache hatte an Macht und Stärke gewonnen, und seine Wut auf die Menschen wurde von Jahr zu Jahr größer, so wie die Energie der Eiche immer schwächer wurde.
Beim letzten Vollmond hatten die Zwerge dort am Fuße der Eiche oberhalb des Stollens eine Versammlung abgehalten. Die Waldzwerge vom gesamten Taunus fanden sich bei der alten Eiche ein, folgten dem Ruf des weisen, alten Baumgeistes und erfuhren, wie erschöpft er war. Er sagte, dass die Zeit gekommen sei, von der seine Ahnen schon erzählt hatten: Die Zeit des Wassers sei gekommen, die Macht des Wasserdrachens kehre zurück. Der alte Baumgeist fuhr fort, dass er es lange nicht verstanden habe, da er damals zu jung gewesen sei, um die Bedeutung dieser Prophezeiung zu verstehen. Als er älter und sich der Tragweite der Worte bewusst geworden sei, habe er es nicht wahrhaben wollen. Doch nun könne er die Zeichen nicht mehr ignorieren. Die Zeit sei angebrochen, und es müsse etwas geschehen. Er sei zu alt und schwach und brauche ihre Hilfe.
Die Waldzwerge verstanden zunächst nicht, welche Bedeutung in seinen Worten lag. Sie fragten ihn aufgeregt, was geschehen war und was sie tun könnten. Sie hingen an seinen Lippen, und mit jedem Wort, das er an sie richtete, wurden sie stiller.
Ehrfurchtsvoll lauschten sie seiner Rede und begannen zu verstehen, was derzeit passierte und noch vor ihnen lag.
So erfuhren sie von dem alten Geist der Luthereiche, dass der Wasserdrache jahrtausendelang friedlich in seiner Höhle geruht hatte, so friedlich wie das Vulkanwasser, das durch den Taunus strömte. Doch nicht nur die Ruhe des Wassers wurde von den Menschen gestört, auch die des Wasserdrachens, der dadurch in seinem Stollen tobte und wütete. Die Zwerge vermuteten, dass der Wasserdrache nicht nur wegen des Lärms der Menschen außer sich war, sondern auch, da man ihm sein kostbares Wasser nahm. Sie konnten sich keinen anderen Grund für seinen Zorn vorstellen, der so gewaltig war wie der Drache selbst. Es hieß, dass der Wasserdrache eine Quellnymphe in seiner Gewalt habe, die es zu befreien galt. Er habe sie aus seiner Wut heraus in seine Höhle gebracht, um die Menschen zu strafen. Doch es sei ihm nicht bewusst, welche Kräfte er hierdurch in Bewegung gesetzt hatte, nicht nur in ihrer kleinen Welt am Fuße des Taunus.
Der Baumgeist flehte die um ihn versammelten Zwerge an, ihm zu helfen, die Nymphe aus den Fängen des Drachens zu retten. Wenn das zarte Quellwesen nicht befreit und die Wut des Drachens nicht gedämpft würden, stünde nicht nur die Zukunft dieses Waldes, sondern auch die der darin lebenden Naturgeister auf dem Spiel. Gleichfalls sei das Reich des Vulkanwassers bedroht.
An all diese Worte mussten die Waldzwerge nun denken, während sie auf dem Elisabethenstein den wütenden Schreien lauschten. War das der mächtige Wasserdrache? War er in ihrem Heimatwald unterwegs? Was war geschehen? Sie drängten sich dicht zusammen und lauschten den wütenden Schreien, die durch den Wald zogen, und fragten sich immer wieder: Was war passiert?
Was war das?
Der kleine gelbe Sonnenengel Aurora spähte aus einer Lavahöhle in den Himmel und versuchte zu erkennen, was sich über dem Vulkankrater bewegte.
Was kreiste da über dem Vulkan? Konnte es ein Kormoran sein?
Aurora glaubte, ein leises Flügelschlagen zu hören. Doch für einen Kormoran war das Wesen zu groß. Aurora fragte sich, warum der gewaltige Vogel hier seine Kreise zog und warum sie ihn nicht genauer wahrnehmen konnte.
Aurora stieg aus der Lavahöhle ins Freie, um besser sehen zu können. Aber es half nichts. Sie hörte das Schlagen der Flügel und sah den schwarzen Schatten, der immer näher kam, doch sie konnte noch immer nichts erkennen. Die große Sonne blendete sie zu sehr. So kletterte sie entschlossen am Kraterrand entlang und ließ dabei den Schatten, der immer näher kam, nicht aus den Augen.
Kikino? Konnte das Kikino sein? Ihr kleiner pinkfarbener Drachenfreund, der sie nach der Naturwesenkonferenz, wegen der sie in Deutschland gewesen war, nach Hawaii zurückgebracht hatte. Der Abschied von ihm war Aurora damals schwer gefallen, obwohl sie wusste, dass sie Kikino wiedersehen würde. Aber er konnte es nicht sein, dafür war das geflügelte Wesen zu klein.
Der Schatten hatte inzwischen den Kratersee erreicht, aus dem heiße Dämpfe aufstiegen und die Gestalt am Himmel noch mystischer erscheinen ließen. Er fliegt auf mich zu, dachte Aurora, während sie über eine Hochebene lief, die zu dem Krater führte. Ob er zu mir will?
Hier auf dem Vulkan kannte sie sich aus, hier war ihr Zuhause. Aurora liebte den Vulkan Kilauea und war so glücklich, wieder hier zu sein. Was hatte sie der Familie alles zu erzählen! Was für Abenteuer hatte sie erlebt! Es war schön, sich von all dem zu erholen, was hinter ihr lag, doch manchmal dachte sie auch mit Wehmut an Deutschland zurück. Sie vermisste ihre Freunde im Steinbruch Michelnau. Naturwesen aus der ganzen Welt waren dort im vergangenen Jahr zu einer Konferenz für Mutter Erde zusammengekommen und hatten viel erlebt und gemeinsam erreicht. Dann war jeder Teilnehmer wieder in die Welt, aus der er kam, zurückgekehrt. In »seine Welt«. Doch was heißt überhaupt »deine, meine Welt«, sinnierte Aurora. Es gab doch nur eine Welt. Und ein Zuhause? Aurora war sich da nicht mehr so sicher. Mit Freude und Leichtigkeit und dem Gefühl der Dankbarkeit war sie nach Hawaii zurückgekehrt, zur Insel Big Island, auf der nur der kleinste Teil ihres Heimatvulkans für Menschen sichtbar war.
Doch wenn sie an den Waldzwerg Waldemar dachte oder an Zwerg Erasmus, dann wurde ihr Herz etwas schwer. Auch Sine und Delfinius vermisste sie, und sie fragte sich häufig, wie es diesen Wasserwesen ging. Ob sie auch wieder nach Hawaii zurückgekehrt waren? Oder waren sie in einer anderen Mission unterwegs? Aurora wusste es nicht.
Ein lautes Flügelschlagen holte sie in die Realität zurück. Aurora war sich sicher, dass der Vogel nicht mehr weit entfernt sein konnte, und spähte in den Himmel. Wo war er? Warum sah sie ihn noch immer nicht?
»Wen siehst du nicht?«, erklang eine Stimme ganz in ihrer Nähe. Aurora wirbelte herum und rief: »Kikino, Kikino!« Freudestrahlend lief sie ihrem Drachenfreund entgegen. Ihre Füße überschlugen sich und es schien, als flöge sie ihm regelrecht entgegen. Auroras Strahlenkranz begann zu leuchten und ihre Wangen glühten. »Kikino! Ich habe dich so vermisst. Kikino!« Aurora lief weiter, stolperte dabei mehrmals über schwarze Lavasteine und spürte, wie ihr Herz immer schneller zu schlagen begann.
»Dein Herz überholt dich ja fast beim Laufen, so schnell pocht es«, lachte Kikino. »Ach, Aurora! Ich habe dich auch so vermisst!« Aurora hatte den Drachen, der so dunkelpink leuchtete wie die Lava an manchen Stellen in ihrem Vulkan, endlich erreicht und fiel ihm um den Hals. »Kikino, du bist wieder da! Wie groß du geworden bist!«
»Und du siehst noch strahlender aus, als ich dich in Erinnerung hatte, Aurora. Ich dachte nicht, dass man noch mehr leuchten kann.«
»Ach, Kikino«, antwortete Aurora und umarmte ihren Freund, so gut es ihr mit ihren kurzen Sonnenengelärmchen möglich war.
»Was freue ich mich!«
Langsam löste sich Aurora von ihrem Drachenfreund und blickte in den Himmel. Es war jedoch nichts mehr zu sehen. Der Schatten war verschwunden.
»Suchst du etwas?«, fragte Kikino und schaute Aurora dabei schmunzelnd an. »Die große Sonne ist noch da. Sie leuchtet so gelb wie du und ist gewiss mit ebensolcher Energie geladen wie die, die aus deinen Augen funkelt.«
»Lass das doch, Kikino. Du machst mich ganz verlegen.« Dabei fing Auroras Strahlenkranz an, rot zu leuchten. »Hast du es denn nicht gehört? Das Schlagen von Flügeln, das sich dem Vulkan näherte? Ein Schatten begleitete das Geräusch, aber ansonsten war da nichts.« Aurora blickte ihren Freund fragend an und hoffte, er könne ihr erklären, was da gerade vorgefallen war. »Das war ein Vogel, aber keiner, den ich hier jemals gehört habe. Und warum konnte man nur den Schatten sehen?« Aurora zeigte aufgeregt in die Richtung, in der sich das mysteriöse Etwas bewegt hatte. »Und jetzt ist er weg.«
»›Wie in Luft aufgelöst‹, würden die Menschen vermutlich sagen«, antwortete Kikino. »Wie eine Fata Morgana?«
»Eine Vater was?«, fragte Aurora verwirrt.
»Ich sagte Fata Morgana. So nennen Menschen Luftspiegelungen, durch die man sich einbildet, Dinge zu sehen, die nicht da sind.
Dabei nehmen sie noch viel weniger die Dinge wahr, die da sind – so wie uns beide. Ich frage mich, wie sie das nennen?« Kikino schaute Aurora einen Moment nachdenklich an, bevor er fortfuhr: »Aber vergiss es. Das ist jetzt nicht wichtig. Sag lieber, was hast du beobachtet oder, besser gesagt, nicht gesehen? Bist du dir ganz sicher, dass da etwas war?«
»Aber wenn ich es dir doch sage! Kikino, du weißt doch, dass ich mir nichts einbilde und …«
»Ja. Ja. Ich weiß, es ist schon in Ordnung. Ich wollte nur sicher sein. Wie groß war denn der Schatten?«
»Etwa so groß wie ein Kormoran. Sagt dir das etwas? Ich kenne mich mit den Maßeinheiten der Menschen nicht aus. In Deutschland sprechen die Menschen von Meter, hier von Fuß.
Aber jeder Fuß ist doch anders. Warum sagen sie das so? Schau dir meinen Fuß an und dann denke an den Fuß von Troll Ogdurus aus Island –«
»Aurora, du hast dich wirklich nicht verändert. Wie du redest. Da könnte man Bücher drüber schreiben. Ich komme kaum mit. Aber nun sag doch, war das wirklich ein Vogel? Hast du nicht noch etwas beobachtet?«
»Nein, leider nicht. Vielleicht –«, Aurora verstummte und schaute in den Rauch, der aus dem Kratersee aufstieg und sich so rosa färbte wie das Gesicht ihres Freundes Erasmus.
»Aurora! Nun schweife doch mit deinen Gedanken nicht ständig ab. Nun sag schon.«
Wie hatte Aurora auch das Gedankenlesen ihrer Freunde vermisst.
»Ähm – Gedanken – ja, natürlich. Tut mir leid, Kikino, aber das ist alles so aufregend. Erst dieses Flügelwesen – und nun du.«
»Wie gut, dass du mich siehst«, lachte Kikino. »Aber nun sag schon. Was hatte das Wesen für eine Farbe? War es blau?«
»Blau?«, wiederholte Aurora. »Hm. Vielleicht. Der Himmel war dort so blau, wo es flog. Daher musste ich an Seen, Meere und Kormorane denken. Aber – das Wesen selbst? Ich weiß es nicht.«
»Komm mit, Aurora. Ich muss dir etwas zeigen. Vielleicht habe ich eine Erklärung für dich.«
Bei diesen Worten forderte Kikino seine Freundin auf, auf seinen Rücken zu steigen und mit ihm zu fliegen.
Aurora umklammerte Kikinos schuppigen Hals und genoss während ihres Fluges den Wind, der um ihre Locken wehte.
»Wohin geht es?«, rief Aurora, doch ihre Stimme wurde vom Wind verschluckt.
»Wie weit ist es denn noch?«, fragte Sine ihren Freund Delfinius, während sie neben ihm herschwamm. »Können wir nicht eine Pause machen?«
»Gleich. Lass uns nur noch um die nächste Flussbiegung schwimmen, dann sind wir schon da.«
Sine tauchte kurz unter und betrachtete die Unterwasserlandschaft. Dieser Fluss, den die Menschen Rhein nannten, unterschied sich sehr von den Flüssen auf Hawaii, in denen sie zu Hause waren. Hier war das Wasser undurchsichtiger und kam ihr so viel schwerer vor als auf Hawaii. Eine Nymphe hatte ihr erklärt, dass die Farbe mit dem Himmel zusammenhing.
Wenn das Wasser eine größere Verbindung zum Himmel hatte und diesen nicht nur für Menschen sichtbar widerspiegelte, dann war das Wasser bläulich, türkisfarben oder hellblau, so wie Sine selbst. Doch wenn das Wasser mit der Erde verbunden war, mehr an der Erde hing, wie es die Nymphe genannt hatte, dann war es sehr viel grünlicher, so wie hier im Rhein.
Hier schien das Wasser sehr erdig zu sein. Es musste mit Mutter Erde stark verbunden sein, so grün wie es war, dachte Sine, während sie weiter flussaufwärts schwamm.
Es war für Delfinius und sie schwer, die Orientierung zu behalten. Das Wasser wurde immer dunkler, an manchen Stellen war es richtig düster, sodass sie sich nur an der Flussrichtung orientieren konnten. Immer der Strömung nach, hatte der Wassermann gesagt, den sie vor fünf Flussmündungen auf einem Felsen am Ufer getroffen und nach dem Weg gefragt hatten.
»Aber es geht doch gegen den Strom, nicht mit der Strömung«, hatte Delfinius etwas verwirrt erwidert.
»Ach, entschuldigt. Das war nur so eine Redensart. Natürlich gegen die Strömung, den Fluss entlang, meinte ich.«
»Okay, danke«, beeilte sich Sine zu sagen, die verhindern wollte, dass ihr Freund sich auf ein längeres Gespräch mit dem Wasserwesen einließ. »Ich bin sicher, wir finden den Weg.«
Der Wassermann war sehr gesellig und redelustig und machte den Eindruck, als sei ihm die Gesellschaft von Menschen sehr vertraut. Seine Sprache ließ darauf schließen. Doch das konnten sie jetzt nicht gebrauchen, und durften seine Neugier nicht wecken. Sie hatten versprochen, niemandem von ihrem Reiseziel zu erzählen. Keinem Wesen zu verraten, woher sie kamen und was sie in diesem Land wollten. Doch die Neugierde war dem Wassermann genauso ins Gesicht geschrieben wie die Umrisse der kleinen Muscheln auf seiner Haut. Das struppige Haar hing wirr um seinen Kopf und spiegelte in diesem Moment seine eigene Verwirrtheit wider.
»Hab ich was Falsches gesagt? Ihr wolltet doch Hilfe. Warum habt ihr es nun so eilig, von mir wegzukommen?«
»Es ist alles in Ordnung«, beteuerte Delfinius. »Meine Freundin kennt doch den Weg. Ich sollte öfters auf sie hören.« Dabei drehte er sich zu Sine um und gab ihr mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung ein Zeichen loszuschwimmen. Eilig bedankte er sich und ließ sich wieder ins Wasser gleiten.
Der auf einem algenbewachsenen Stein sitzende Wassermann schaute den beiden fremden Wasserwesen erstaunt nach und rief ihnen »Soll ich nicht besser mitkommen?« hinterher. Doch da waren die beiden zarten Reisenden schon untergetaucht und für den Wassermann nicht mehr zu sehen.
Sine beendete ihre Erinnerung an diese Begegnung mit dem Gedanken, dass es auch etwas Gutes hatte, dass das Wasser hier so grün war und man nicht weit schauen konnte.
»Mir wäre es jedoch lieber, wenn das Flusswasser nicht so mit der Erde verbunden wäre«, murmelte Delfinius. »Mir fehlen die Leichtigkeit und die Helligkeit. Aber – wir werden die Quelle finden.« Dabei schwamm Delfinius entschlossen weiter und lächelte Sine aufmunternd zu. »Es ist nicht mehr weit. Da vorne ist ein mit Moos bewachsener Holzstamm, auf dem wir eine Rast einlegen können. Dort sind wir sicher und ungestört. Pass aber auf, da kommen wieder so große Bugwellen eines riesigen Schiffes auf uns zu.«
Sine folgte ihm vorsichtig, mit dem Gleichgewicht kämpfend. Sie versuchte, ihre Gedanken zu beruhigen, sie im Jetzt zu verankern, doch es wollte ihr nicht dauerhaft gelingen. Ihre Gedanken wanderten immer wieder flussaufwärts und zu dem, was sie dort erwartete.
»Vorsicht, Kikino!«, schrie Aurora. »Siehst du nicht den Vulkankrater?«
»Natürlich sehe ich ihn. Was hast du denn?«, fragte Kikino. »Da ist genügend Platz für einen kleinen Rundflug. Außerdem raucht der Vulkan heute kaum, sodass wir ihn uns mal etwas genauer von oben anschauen können.« Kikino flog noch näher an die Krateröffnung heran. »Schau, Aurora. Dort steigt seit kurzem Magma hoch und erreicht bald den Kraterrand. Siehst du es? Vielleicht wohnt dort sogar jemand, den du kennst?«
»Kann gut sein. Es sieht fantastisch aus, aber deswegen musst du nicht gleich mit mir oder für mich in den Vulkanschlund stürzen, Kikino«, kicherte Aurora. »Oder willst du meine Verwandten erschrecken, wie die Menschen das gegenseitig bei Halloween tun?«
»Nein, das wollte ich nicht. Was du wieder für Ideen hast, Aurora! Was meinst du denn mit Halloween?«
»Weißt du nicht mehr, die orangefarbenen Kürbisköpfe, denen wir auf der Rückkehr nach Hawaii begegnet sind? Diese Gesichter mit spitzen Zähnen, die im Dunkeln leuchteten? Das war schon eigenartig und hat mich lange beschäftigt.«
»Natürlich erinnere ich mich daran. Ich habe es auch nicht verstanden. Aber ich werde aus den Menschen sowieso nicht schlau. Halt dich gut fest«, rief Kikino und drehte dabei noch eine Runde über dem Vulkan, der nur auf den ersten Blick schlief. Hier pulsierte nicht nur tief im Inneren das Leben.
»Meine Lehrerin Kristalllicht sagte, die Menschen nennen das Halloween«, erklärte Aurora. »Sie höhlen einmal im Jahr Kürbisse aus, stellen Kerzen hinein und platzieren sie dann vor ihren Haustüren. Sie wollen damit böse Geister vertreiben, meinte Kristalllicht.«
»Geister vertreiben?«, wiederholte Kikino erstaunt. »Ich dachte, Menschen glauben nicht an Geister.«
»Ja, das dachte ich auch. Aber du weißt doch, die Menschen … sie sind sogar sich selbst ein Rätsel«, fügte Aurora seufzend hinzu.
»Das stimmt«, lachte Kikino, »als ob sich ein Geist vor so etwas fürchten würde.«
»Bestimmt nicht. Sie erschrecken sich nur gegenseitig oder bringen sich eben selbst zum Gruseln. Sie sind schon sonderbar, die Menschen.«
»Wie recht du hast«, stimmte Kikino seiner Freundin fröhlich zu. »Vielleicht würden sie sich sogar vor uns fürchten, wenn sie uns sehen könnten. Aber das tun sie zum Glück nicht. Sonst würde ich hier sicher nicht mehr frei herumfliegen können.«
»Ja«, murmelte Aurora. »Vielleicht ist es doch ein Glück, dass sie ihre Augen vor uns verschließen. Dennoch es ist auch traurig.
Aber …« Aurora machte eine kurze Pause, in der sie noch einmal angespannt in den dunklen Krater spähte, als würde sie etwas suchen, und fuhr fort: »Aber warum sehen sie uns denn nicht?
Das habe ich auch noch nicht verstanden. Warum können sie uns nicht sehen?«
»Weißt du Aurora, sie könnten es«, entgegnete Kikino, der zu Auroras Erleichterung inzwischen bei seinen kreisenden Flügen um den Kraterrand etwas höher in die Luft stieg und so etwas mehr Abstand zum Krater hielt. »Ich frage mich das selbst so oft.
Sie können vielleicht nur das sehen, was sie sehen wollen? Aber das kann es auch nicht sein. Dann dürfte auch einiges in ihrer Welt vor ihren Augen verschlossen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so manches, was sich auf der Welt abspielt, wirklich wahrnehmen wollen. Es muss etwas anderes dahinter stecken. Ein Geheimnis, das es für dich vielleicht auch noch zu lüften gilt?«
»Ein Geheimnis?«, wiederholte Aurora und spürte selbst, wie ihr Strahlenkranz vor Aufregung zu leuchten begann. »Ich liebe Geheimnisse. Das mit dem kormoranartigen Wesen müssen wir auch noch erforschen. Sind wir nicht deswegen unterwegs?«, warf Aurora ein. »Dieses Wesen konnte selbst ich nicht sehen, aber ich weiß, dass es da war. Ich frage mich, warum ich nur diesen Flügelschlag hörte und den Schatten sah, der übers Land zog? Ich bin mir sicher, da war noch mehr, was sich meinen Augen verschloss.«
»Ja, genau deswegen sind wir ja nun hier«, bestätigte Kikino. »Mal schauen, ob ich dieses Rätsel für dich lösen kann. Doch dafür müssen wir in diese Höhle fliegen. Da ist etwas, was ich dir zeigen muss.«
»In welche Höhle?« Aurora schaute sich erstaunt um.
»Die Höhle, die in unser Drachenreich führt. Dort hinten. Am Rande des Vulkankraters siehst du sie. Dort, das große Loch.«
Aurora spähte angestrengt in die Richtung, in die Kikino mit seinem Flügel wies, und hätte fast das Gleichgewicht verloren, da Kikino für Sekunden ins Taumeln geriet. »Vorsicht, Kikino!«
Nachdem sich Kikino wieder gefangen hatte, fragte er: »Siehst du sie?«
»Ja«, entfuhr es Aurora. »Da ist etwas. Ist das ein Eingang in die Drachenwelt?«
»Oh ja. Das wirst du gleich sehen. Halt dich fest. Es könnte etwas eng werden.«
Dabei schoss Kikino im Sturzflug nach unten und im direkten Flug auf die Höhle zu. Aurora nahm den starken Schwefelgeruch wahr und spürte die Hitze, die ihnen entgegenschlug. Ihr Herz klopfte, und sie konnte es gar nicht erwarten, zu sehen, was sich dort in dieser Höhlenwelt verbarg.
»Yeah«, schrie sie und dachte an ihren ersten Flug zurück, an den Tag, als sie am »Wilder Stein Vulkan« in Büdingen Drachenreiterin geworden war. Wie wundervoll, dass sie nun mit ihrem Freund in ein neues Abenteuer starten würde. Denn dass es ein solches werden würde, dessen war sie sich sicher. Sie spürte es und ihr Herz fing schon wieder an zu rasen. Doch diesmal aus Freude und nicht aus Angst.
»Ich hoffe, du hast inzwischen den Kurs ›sanftes Landen‹ belegt«, rief ihm Aurora lachend zu.
»Aurora, ich glaube, du warst zu lange im Menschenreich unterwegs«, antwortete Kikino und fiel in ihr Lachen ein.
»Meinst du, wir müssen hier abbiegen?«, fragte Sine Delfinius, als sie sich einer großen Flussmündung auf der linken Seite näherten.
»Ist das der Main?«
»Ja, ich vermute schon«, erklärte Delfinius. »Das ist der größte Fluss seit der Begegnung mit dem Wassermann und würde zu der Beschreibung des Wales passen, der uns bei der Planung der Reise zur Seite gestanden hat.«
Delfinius war zunächst etwas verwirrt, als ihnen der Wal seine Hilfe angeboten hatte. Er lebte in der Straße von Gibraltar und konnte sich in den deutschen Flüssen, in die sich kein Wal verirrte, eigentlich nicht auskennen. Wie sollte gerade er ihnen dabei helfen können, den Weg zu der besonderen Quelle und den Wesen, die dort leben, zu finden?
Doch Delfinius lernte schnell, dass der Wal sich nicht nur mit den Energiefeldern der Meere auskannte, sondern auch mit den vielen Fischarten, die weit durch Europa zogen und spannende Geschichten zu erzählen hatten. Der Wal hatte solch ein großes Wissen, und Delfinius dachte noch heute voller Bewunderung an ihn. So hatten sie erfahren, dass es vor langer Zeit eine Menge Fischschwärme gegeben hatte, die über die großen Flüsse gezogen waren, durch die Delfinius’ und Sines Reise gehen sollte. Von diesen Fischen hatte der Wal viel gelernt und erzählte gerne davon.
Doch das war lange her. Die Flüsse wurden nun von riesigen Schiffen befahren, die Container und Menschen trugen, sodass für die beiden zarten Wasserwesen die Reise gefährlicher war, als sie erwartet hatten. Die Flüsse waren verschmutzt und besaßen keine Lebensenergie mehr. Auch dadurch starben viele Fischarten aus. So waren es keine aktuellen Informationen, die sie von dem Wal bekommen hatten. Er hatte schon lange keinen Kontakt mehr mit Fischen aus diesem Gebiet gehabt und begegnete kaum noch Meeresbewohnern, die Geschichten aus den weit entfernten Strömen mitbrachten. Während der Wal ihnen davon erzählte, hatten Sine und Delfinius gespürt, wie sehr er das alles vermisste – das Plaudern mit den Fischen, ihre Geschichten – und wie traurig er darüber war.
»Ich glaube, das ist der Fluss, in den wir abbiegen müssen«, verkündete Delfinius und hoffte, dass sich zumindest die Wege der großen Ströme, durch die sie reisen mussten, nicht verändert hatten. Denn so alt, wie das Wissen des Wals war, so alt waren auch diese Flussläufe. Delfinius wusste, dass die Menschen zu gerne Flüsse begradigten und sie dadurch in ihrem natürlichen Flusslauf einschränkten. Sie veränderten ihre Bahn und ahnten nicht, was sie dadurch alles aus dem Gleichgewicht brachten.
Nicht nur das an vielen Orten vermehrt auftretende Hochwasser war ein Problem. Die Menschen zerstörten durch den Bau ihrer Betonstädte die Auen und damit die Heimat vieler Naturwesen, die in den Auen Jahrtausende gelebt hatten und für die Harmonie in den Naturreichen sorgten. Da die Menschen die Naturgeister nicht sahen, war ihnen nicht bewusst, was aus ihrem Leben unwiderruflich verschwand. Das wusste Delfinius schon lange, das hatte er schon oft gehört und auch selbst gesehen.
Delfinius nahm an, dass die gewaltigen Ströme von den Menschen nicht in ihrem Lauf behindert oder verändert wurden, dass diese Flüsse dafür zu mächtig waren und die Menschen zumindest diesen Naturgewalten ihren natürlichen, harmonischen Lauf lassen mussten. Während ihn diese Gedanken weiter begleiteten, gab Delfinius seiner Freundin ein Zeichen, in den großen Fluss einzubiegen, den die Menschen Main nannten. Er hoffte, dass auch der weitere Weg so leicht zu finden sein würde wie die Wasserwege, die bereits hinter ihnen lagen. Delfinius wusste nicht, dass die Menschen zu weit mehr fähig waren, als er zu erahnen vermochte.
»Das ist ja wirklich eng hier, Kikino«, motzte Aurora.
»Hoffentlich wird meine Blumenkette von dem Ruß an den Wänden nicht geschwärzt.« Auroras Worte klangen dumpf und sie wusste nicht, ob Kikino sie gehört hatte. Er flog stumm weiter und Aurora wunderte sich, wie gut er sich in diesem Tunnelsystem auskannte. Sie war selbst in einem Vulkan zu Hause, doch solch ein Labyrinth an Gängen hatte sie noch nie gesehen. »Wohin fliegen wir denn? So groß sah der Vulkan von oben gar nicht aus!«
»Lass dich überraschen, Aurora. Wir sind gleich da«, antwortete Kikino. Dabei flog er im Sturzflug eine etwas breitere Lavaröhre steil nach unten.
Wohin führt dieser Weg nur, dachte Aurora. Und warum war ich noch nie hier? Ihre bunte Blumenkette wirbelte wild um ihren Hals und die Blüte im Haar war verrutscht, doch das war im Moment ihre geringste Sorge. Kikino wurde immer schneller und sie hoffte, dass diese Landung etwas sanfter werden würde, als sie es von Kikino gewohnt war.
»Vorsicht, Kikino! Nicht so schnell«, schrie sie. Doch ihr Freund reagierte nicht darauf und raste unbeirrt weiter nach unten. Etwas Helles blitzte ihnen aus der Tiefe entgegen und Aurora hoffte, dass ihr Flug bald beendet sein würde. »Kikino, langsam, da kommt schon der Boden auf uns zu. Wir haben doch keinen Airbag.«
»Aurora, du bist köstlich«, kicherte Kikino. Seine Stimme kam kaum gegen den Wind an, der Aurora entgegen blies. Was war das? Das war nicht nur der Flugwind, dachte sie, doch Kikinos Kichern lenkte sie von dem gerade Bemerkten ab. »Du warst wirklich zu lange in der Menschenwelt. Wieso brauchen Drachen Airbags? Wir haben doch nicht solche überfüllten Flugbahnen wie die Menschen und bauen keine Unfälle.«
»Ähm, bist du sicher, Kikino? Mir wird ganz schlecht, so schnell wie du fliegst und –«
Das Ruckeln, mit dem Kikino landete, unterbrach Aurora und brachte sie aus ihrem Konzept. Staub wirbelte auf und hüllte die beiden Freunde ein. »… und landest«, beendete Aurora ihren Satz und räusperte sich. Dann schüttelte sie sich den Staub von ihrem gelben Hosenanzug und inspizierte ihren Blumenschmuck, der sichtlich gelitten hatte. »War das nötig, Kikino?«
Dieser klopfte sich nur etwas die Schwärze von seinen pinkfarbenen Schuppen und lachte Aurora mit vor Freude glänzenden Augen an. »War das nicht toll? Ich weiß doch, dass du das auch vermisst hast. Es war bestimmt langweilig ohne mich.«
Aurora ignorierte seine Worte und betrachtete noch einmal ihre Kleidung. Da ist erst einmal nichts zu machen, dachte sie. Ihre zitronengelbe Filzjacke und die ebenso gelbe Hose leuchteten kaum noch unter der Staubschicht hervor. Nur kurz war sie hierüber betrübt, denn schon regte sich die Neugier wieder in ihr.
»Das war ein doller Auftritt, Kikino. Wirklich! Aber nun sag mir wenigstens, was wollen wir hier?«
Kikino wies in die Richtung, in welcher der Lavatunnel weiterging und wo Aurora wieder ein helles Blitzen bemerkte. »Dort müssen wir hin. Wenn du magst auch gerne zu Fuß«, ulkte Kikino. »Es ist nicht mehr weit.«
»Okay«, seufzte Aurora. »Aber dann erkläre mir doch endlich, was wir hier wollen und was es mit dem sonderbaren Vogel zu tun hat.«
Aurora folgte ihrem Drachenfreund und hatte das Gefühl, der Tunnel nehme kein Ende. Immer weiter liefen sie durch den dunklen Gang, dem hellen Licht hinterher. Auf dem Boden lagen unzählige, grün funkelnde Olivinsteine. An den Wänden sah man die Spuren der Lava, die hier vor langer Zeit hindurchgeflossen war und dabei den Tunnel gebildet hatte. Aurora fühlte sich in solchen Lavagängen unbeschreiblich wohl. Sie liebte die unterirdischen Vulkangänge, in denen sie schon als Kind herumgetollt und gespielt hatte. Sie atmete die starke Energie ein, die aus den Wänden und dem Boden strahlte, und ließ sie durch ihre Füße und Hände fließen. Auch jetzt spürte sie das Wohlbefinden, das sich hierdurch in ihrem Körper breit machte und das Zittern ihrer Hände und Füße beruhigte.
Endlich kamen sie dem hellen Funkeln näher und das Ende der Lavaröhre war zu sehen. Aurora folgte Kikino aus dem Lavatunnel in eine große Höhle, in der es ungewöhnlich hell war.
»Was ist das, Kikino?«, fragte Aurora und blieb an seiner Seite stehen. »Ich habe noch keine Vulkanhöhle gesehen, die so wunderschön strahlt, und habe auch noch nichts darüber von meiner Familie gehört. Selbst Kristalllicht erwähnte sie nicht. Ich dachte, ich kenne die Vulkanlandschaft von Hawaii, aber nein, das übertrifft alles!«
»Gefällt es dir?« Kikino strahlte Aurora bei dieser Frage an, als wolle er dem Licht in der Höhle Konkurrenz machen. »Ist das nicht schön?«
»Warum sind wir nicht weiter über die Leylinien gereist?«, seufzte Sine, während sie die hohe Wehrmauer betrachtete. Hier ging es nicht so einfach weiter.
»Du weißt doch, die Linien sind in Europa sehr verstopft. Da wären wir auch nicht so einfach durchgekommen«, erwiderte Delfinius. »Ich dachte mir, dass wir so auch etwas über das Wasser in diesem Land erfahren und sehen, woran es fehlt, aber auch, was noch vorhanden und im Gleichgewicht ist.«
»Ja, das ist wichtig«, bestätigte Sine. »Aber was jetzt? Da kommen wir nicht durch. Ich fürchte, wir müssen zu Fuß weiter.«
Delfinius schwieg und betrachtete das Bauwerk. Die graue Stahlmauer ragte aus der Tiefe und reichte so weit über die Wasseroberfläche, dass es den beiden Wasserwesen unmöglich war, hinüberzugelangen. Über dieser mächtigen Wand befand sich eine gelbe Metallbrücke, über die die Menschen vom Ufer aus trockenen Fußes zu einer künstlichen Insel im Fluss laufen konnten. Auch diese mächtige Konstruktion schüchterte Sine und Delfinius ein. Alles sah so unnatürlich aus. Und was für eine Bedeutung hatten die hohen Laternen, die in den Fluss zeigten, und das rote Warnlicht?
Delfinius überlegte weiter, wie sie ihren Weg flussaufwärts fortsetzen konnten. Als sie in den Main eingebogen waren, waren sie zunächst von der wunderschönen Auenlandschaft begeistert gewesen. Das Ufer war mit Weiden bewachsen gewesen und Pappeln hatten ihren Weg gesäumt. Fischreiher hatten über ihnen ihre Kreise gezogen, während kleine Wichtel, die auf Brombeerhecken saßen, ihnen zugewinkt hatten. Sie wären zu gerne auf die hohe eiserne Aussichtsplattform am Ufer geklettert, die nicht nur von Menschen genutzt wurde. Sine und Delfinius hatten mehrere Trollfamilien gesehen, die mit Picknickkörben auf dieses Gebilde gestiegen waren, und hätten zu gerne gewusst, was der Ausblick preisgab. Doch dafür war keine Zeit. Sie mussten weiter.
So waren sie immer weiter geschwommen und hatten nur unter einem Maulbeerbaum eine kurze Rast gemacht und einen einsamen Storch beobachtet, der auf Beutefang war.
Auf ihrem Weg in den Main hatten die beiden Wasserwesen an drei Maininseln vorbeischwimmen müssen, das hatte ihren Zeitplan sehr belastet, da die Strömung dort sehr stark gewesen war. Auch war ihnen immer wieder sperriges Treibgut entgegengekommen, dem sie hatten ausweichen müssen. Als sie die darauf folgende hohe Betonbrücke passiert hatten, hatten sie gehofft, dass die Reise nun bald etwas leichter werden würde. Der Wal hatte ihnen gesagt, dass der Main ein wenig schmaler sei als der Rhein und die Strömung etwas abnehmen würde. Nachdem sie allerdings die durchaus ebenso beeindruckende Größe dieses Flusses erfahren hatten, hatten sie geahnt, dass es vermutlich nicht weniger anstrengend werden würde als gehofft. Doch das, was ihnen hier begegnet war, hatten sie nicht erwartet. Davon hatte ihnen der Wal nichts gesagt.
»Da kommen wir so einfach nicht weiter«, sprach Delfinius seine Gedanken nun laut aus. »Wenn ich wirklich ein Delfin und nicht nur nach ihnen benannt wäre, könnte ich vielleicht darüberspringen und schauen, ob man von der anderen Seite einen Weg findet. Aber so, nein. Das sieht nicht gut aus.«
Delfinius betrachtete weiter die Stahlwand, die sich vor ihnen auftürmte und jegliche Sicht versperrte.
»Was meinst du denn, was das ist?«, fragte Sine. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Ich weiß es auch nicht und frage mich, warum die Menschen nun schon in Flüssen Mauern bauen.«
Die stählerne Mauer erhob sich bedrohlich vor ihnen in die Höhe und ließ keinen Einblick zu, wie der Fluss und damit ihre Reise weiterging. Sie befanden sich in einem von rostigen Stahlwänden umgebenen Kanal, in den der Fluss plötzlich eingefasst war und mit der Stahlwand endete. Doch nicht nur das machte die beiden zarten Wasserwesen nervös, sondern auch der zunehmende Schiffsverkehr und der dadurch stärker werdende Wellengang.
Sine und Delfinius beobachteten wachsam das rege Treiben auf dem Fluss und die Schiffe, die durch die Mauer ebenso an ihrer Weiterreise gehindert wurden. Wie groß sie sind, dachte Delfinius und gab Sine mit Handzeichen zu verstehen, dass sie noch etwas weiter zum Rand des Kanals schwimmen sollten. Dort waren sie vor den monströsen Schiffen, in die Dutzende Wale gepasst hätten, etwas sicherer.
Im Schutz des Ufers überlegten sie, ob sie zu Fuß weiterreisen sollten. Doch auch das Ufer schien zu hoch und damit unerreichbar. Selbst die längliche Insel im Fluss war mit den verrosteten Stahlwänden umgeben. Die dort angebrachten Leitern sahen auch nicht sehr einladend aus. Außerdem wussten die beiden zierlichen Wasserwesen nicht, was sich auf der Insel und hinter dem hohen Deich verbarg, der sich auf dem Ufer auftürmte. All dies schüchterte sie ein, und sie sehnten sich zurück zu den Auenlandschaften an der Mündung des Mains in den Rhein. Wie schön und friedlich es dort gewesen war. Sie dachten zurück an die kleine Bucht, an der Dutzende Schwäne und Enten friedlich neben kleinen Wichteln und Elfen gerastet hatten. Wie hübsch und friedlich waren die vorbeiziehenden Elfenboote gewesen, die überdachten Seerosenblättern geähnelt hatten. Es waren mit Weiden bewachsene Auen gefolgt, in deren Schutz sie übernachtet und sich von der anstrengenden Reise erholt hatten. Delfinius und Sine waren dort von bunt bekleideten Heinzelmännchen mit köstlich kühlem Wein und süßen Beeren verköstigt worden. Elfen hatten fröhlich zu ihrer Unterhaltung getanzt. Und nun das. Eine Mauer mitten im Fluss, die sie an ihrer Reise hinderte. Doch sie mussten unbedingt weiter flussaufwärts.
Delfinius fragte sich, auf was sie sich eingelassen hatten.
»Wir haben schon ganz andere Gefahren überstanden«, vernahm er plötzlich Sines Stimme. »Nicht nur in Japan oder im Golf von Mexiko, sondern auch im Vogelsberg. Da werden wir dieses Hindernis doch auch noch überwinden.«
»Du hast recht, Sine, natürlich«, erwiderte Delfinius. »Wir schaffen das. Du bist so mutig, und ich bin froh, dass du mich auf dieser Reise begleitest.« Dabei lächelte er sie glücklich an.
»Und nun lass uns überlegen, was wir tun sollen.«
»Wir sollten uns die Mauer etwas genauer anschauen«, antwortete Sine und tauchte in die Tiefe ab. Delfinius folgte ihr und ließ sich in die Dunkelheit hinabgleiten.
Aurora hatte sich inzwischen an das helle Licht gewöhnt und fragte sich noch immer, was es damit auf sich hatte. Das weißgoldene Licht war nicht nur außergewöhnlich hell, es war auch mit einer wundervollen Wärme verbunden und erfüllte die gesamte Höhle. Aurora konnte keinen Punkt ausmachen, von dem das Licht ausging. Es war überall. Aurora kannte viele Wärme- und Hitzequellen. Sie stammte aus dem Feuerreich und die Lavaströme waren ihr Zuhause. Doch das, was sie hier spürte, war anders.
»Du warst also wirklich noch nie in dieser Höhle?«, erklang Kikinos Stimme. Er stand hinter Aurora und beobachtete sie.
»Ich dachte, dass wir vielleicht hier das Wesen finden könnten, dass du über deinem Vulkan gesehen hast.«
»Das Wesen? Hier?«, fragte Aurora. »Warum gerade hier? Warst du denn schon einmal an diesem Ort? Sag doch, was ist das für ein magischer Platz und warum meinst du, dass das Vogelwesen an diesem Ort sein könnte?« Auroras Worte überschlugen sich und ihr Gesicht fing vor Aufregung so stark zu glühen an, dass die Röte durch die Rußschicht, die ihr Gesicht bedeckte, hindurch leuchtete.
»Langsam Aurora. Beruhige dich doch. Ich war auch noch nie hier, doch ich versuche dir zu erklären, was dies zu bedeuten hat und warum ich dich hierher gebracht habe.« Bei diesen Worten gab Kikino Aurora zu verstehen, ihm zu folgen. Er steuerte auf eine kleine Lavasteingruppe zu und ließ sich auf einem der Steine nieder.
Aurora folgte ihm, setzte sich auf einen schwarzen Basaltstein und versuchte vergeblich, mit ihren Füßen den Boden zu erreichen. Was für ein doller Stein, dachte sie. Ob es solche Steine auch im Vulkan Kilauea gab? Vielleicht hatte sie diese bisher nur noch nicht entdeckt? Möglicherweise gab es auch dort Gänge und Höhlen, die ihr noch nicht aufgefallen waren. Aurora nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit ihren Heimatvulkan noch etwas genauer zu erforschen.
Kikino räusperte sich und schaute Aurora ungeduldig an. »Ich höre ja zu«, antwortete diese hastig. »Doch es wird Zeit, dass du mir nun endlich verrätst, was das alles zu bedeuten hat, Kikino.
Nun sag schon.«
»Okay. Also, meine Familie nennt dies ein Dimensionentor.«
»Ein Dimensionentor?«, unterbrach ihn Aurora aufgeregt. »Was ist denn ein Dimensionentor?«
»Das ist eine Tür in eine andere Welt«, erklärte Kikino. »Nicht in ein anderes Land, in einen anderen Vulkan oder in ein anderes Elementarreich. Nein, das Tor geht in eine andere Welt.«
»Das ist aber spannend«, sprudelte es aus Aurora heraus und sie fing an, aufgeregt mit den Füßchen zu zappeln. »In was für eine Welt? Können wir da hin?«
»In manche Welten könnten wir durchaus reisen«, antwortete Kikino. »Und ich traue dir zu, dass wir das auch noch machen werden. Aber ich warne dich, nicht durch alle Dimensionentore solltest du gehen. Schon gar nicht alleine, nicht ohne mich.
Außerdem solltest du wissen, dass manche Dimensionen auch für uns verschlossen sind, wir sie nicht betreten können, selbst wenn wir wollten«, fügte Kikino hinzu. »Doch das hat seinen Grund.«
»Und durch welche Türen darf man gehen?«, erkundigte sich Aurora.
Kikino beobachtete, wie seine Sonnenengelfreundin immer unruhiger wurde und wusste, dass sie es kaum erwarten konnte, mit ihm eine solche Reise zu unternehmen. Er fragte sich, ob er das Richtige tat. Doch er wusste, dass er nur so das Geheimnis des Schattens lösen konnte, den Aurora wahrgenommen hatte. Er hoffte, dass der Schatten sich Aurora nicht grundlos gezeigt hatte und dass sie ihn auf diesem Weg finden würden.
»Vielleicht sollte ich es wirklich mit dir durch dieses Tor wagen.
Ich hatte gehofft, das Flügelwesen hier zu finden, aber es ist wohl schon weitergereist, sodass unsere Reise länger werden könnte, als ich vermutet habe. Bist du bereit?«
»Ja!«, schrie Aurora und ihr Strahlenkranz leuchtete, als wolle er es mit dem hellen Glanz in dieser Höhle aufnehmen.
»Also gut. Aber versprich mir, dass du an meiner Seite bleibst.«
Plötzlich strömte unter einem ohrenbetäubenden Rauschen Wasser aus dem Stahlgebilde und Delfinius hatte Mühe, das Gleichgewicht nicht zu verlieren und sicher an die Oberfläche zu gelangen.
Hustend tauchte er auf und blickte sich um. Wo war Sine? Das Wasser strömte unaufhörlich aus der Mauer und trieb ihn immer weiter von dem Stahlgebilde weg. Was war das? Wo kam das Wasser so plötzlich her? Eine Welle erwischte ihn am Kopf und er verlor erneut das Gleichgewicht und tauchte unter. Delfinius verschluckte sich an dem unangenehm riechenden Wasser und strampelte hilflos mit seinen kleinen Füßchen. Was war passiert?
Warum war das Wasser plötzlich so wild geworden und warum schoss es aus der Mauer? Delfinius war gerade noch mit Sine nach unten getaucht und hatte sich die Stahlmauer unter Wasser angesehen. Doch auch da war alles dicht und es gab keine Möglichkeit, weiter den Fluss hinauf zu schwimmen. Die Stahlwand machte jegliches Hindurchkommen unmöglich. Sie waren an der gesamten Wand entlang getaucht und hatten sie untersucht. Sie hatten bemerkt, dass die Wand in der Mitte geteilt war. Es musste eine Tür sein. Doch diese war fest verschlossen und nicht zu öffnen. Der kurzzeitige Hoffnungsschimmer war schnell verblasst gewesen.
Sine und Delfinius hatten sich per Handzeichen darauf verständigt, wieder an die Oberfläche zu schwimmen. Es hatte keinen Sinn gehabt. Kaum war Delfinius aufgetaucht, war eine riesige Wasserwelle aus Richtung des Tores auf ihn zugerast und er hatte nicht gewusst, wie ihm geschah. Die Welle hatte ihn erneut unter Wasser gespült. Delfinius hatte sich mehrmals überschlagen und befürchtet, gegen die Schiffe gespült zu werden. Doch er hatte Glück. Endlich hatte er sich wieder gefangen und tauchte atemlos auf. Hustend und Wasser spuckend schaute er sich um. Sine, wo war Sine? Seine Angst wurde immer größer, weil er sie nicht sehen konnte. »Sine!«, schrie er, »Sine! Wo bist du?«
Dieser Tunnel war nichts im Vergleich zu den Lavaröhren, die Aurora kannte. Sie hatte sich wieder auf den Rücken von Kikino geschwungen und war gespannt, was sie erwarten würde. Kikino schritt durch die hell erleuchtete Höhle auf einen Stein zu, der in diesem Moment noch stärker zu leuchten begann. Es war, als würden unzählige Lichtfunken aus dem Inneren herausfließen und den Stein zum Erstrahlen bringen. »Das ist das Tor«, hörte sie Kikino sagen. »Hab keine Angst, wir laufen dort hindurch. Es ist leichter, als du glaubst.«
»Durch den Stein?«, rief Aurora. »Kikino, du machst wohl Witze.«
»Nein. Wieso sollte ich Witze machen? Das ist das Dimensionentor, durch das ich mit dir reisen möchte.«
»Ein Stein?«
»Es ist nicht immer alles so, wie es erscheint«, erklärte Kikino und lief unbeirrt weiter. »Halt dich fest!«
Der Stein wurde immer heller und heller, das Licht blendete so sehr, dass Aurora Mühe hatte hinzusehen. Doch sie wollte nichts verpassen, sie wollte unbedingt sehen, was es mit dem Stein auf sich hatte. So hielt sie ihre Hand vor die Augen und blinzelte zwischen den Fingern hindurch. Doch das Licht wurde noch heller und nahm ihr alle Sicht. Was ging da vor? Auroras Aufregung nahm immer weiter zu und sie konnte gar nicht erwarten zu erfahren, wohin dieses Tor, das doch eigentlich ein Stein war, führte.
»Brauchst du eine Sonnenbrille?«, lachte Kikino. »Ich hätte nie gedacht, dass Sonnenengel Sonnenbrillen brauchen könnten!«
»Du bist unmöglich, Kikino. Blendet es dich denn nicht?«
Kikino antwortete nicht und lief immer schneller. Aurora klammerte sich an seinem Hals fest und kämpfte mit dem Gleichgewicht. Plötzlich umschloss sie die Helligkeit und sie spürte am ganzen Körper ein Bitzeln, während Kikino unbeirrt weiterlief.
»War doch gar nicht so schlimm«, rief er ihr zu und erhob sich mit einem kräftigen Flügelschlag in die Luft. »Halt dich weiter gut fest.«
»Das war alles?«, rief Aurora. »Aber wo sind wir denn jetzt? Hier ist es so weit und wunderschön.«
Fasziniert blickte Aurora unter sich. Sie flogen über eine weite Landschaft, die aussah wie Hawaii. Aurora mochte dies gar nicht denken und ebenso nicht daran glauben, aber dies hier war schöner als ihre Heimat. Türkisblaue Wasserfälle funkelten in der Sonne, Palmen zierten endlose weiße Strände mit Korallenbänken und farbenprächtigen Vögeln, Delfine sprangen im Wasser umher, einige Wale zogen bedächtig am Ufer entlang und ein doppelter Regenbogen breitete sich über den gesamten Horizont aus. Auf weiten grünen Wiesen wuchsen die wunderschönsten Blumen, die Aurora je erblickt hatte. Aurora schaute kurz auf ihre Blumenkette und seufzte. Sie war noch immer rußgeschwärzt und ihre Schönheit war dahin. »Ähm, Kikino …«, fragte Aurora leise. »Haben wir Zeit, kurz anzuhalten?«
»Anhalten? Ist dir schlecht?«
»Nein, nein. Es ist nur so«, murmelte Aurora, »könnten wir nicht da unten ein paar Blumen pflücken? Für einen neuen Blumenkranz? Schau mich doch mal an. So geht man nicht auf Reisen.«
Kikino lachte. »Du bist einmalig, Aurora. Es tut mir leid wegen deiner Blumenkette und dem Haarschmuck, der auch etwas gelitten hat. Aber wir haben leider keine Zeit, wir müssen weiter!« »Wenn es sein muss«, seufzte Aurora. Sie blickte betrübt in die wundervolle Landschaft, während Kikino den Flug fortsetzte.
Die beiden Freunde hatten nun eine kleine Waldlichtung erreicht, auf der Elfen tanzten und sangen. »Wie schön«, rief Aurora. »Wie wunder-, wunderschön. Aber sag doch endlich, wo sind wir hier?« »Die Menschen nennen es Anderswelt«, antwortete Kikino. »Ich nenne es Traumwelt. Hier gelange ich immer in meinen Träumen hin. Aber nun sollten wir es Auroras Sonnenparadies nennen. Ich finde, das ist ein schöner Name.«
»Sonnenparadies?«, wiederholte Aurora.
»Na, wie sollte man es denn sonst nennen? Du bist doch durch eine etwas andere Sonne dorthin gelangt«, konterte Kikino. »Doch genug davon. Namen sind nicht so wichtig, sie sind Schall und Rauch, sagen die Menschen, wenn ich auch noch nicht verstanden habe, was sie damit meinen.«
Aurora kicherte und ließ sich glücklich den Wind um die Nase wehen.
»Doch nun halt dich gut fest, Aurora«, rief Kikino. »Wir landen gleich.«
»Bitte fahren sie die Lehnen nach vorne und schnallen sie sich an«, lachte Aurora. »Und – Vorsicht wir kooooooommen.« Die letzten Worte wurden vom Flugwind verschluckt. Kikino schoss steil nach unten und raste mit hoher Geschwindigkeit auf die Erde zu.
Aurora klammerte sich noch fester an den Hals ihres Drachenfreundes und freute sich auf das, was es in dieser fremden Welt nun zu erforschen gab.
»Sine«, schrie Delfinius unbeirrt weiter und merkte, dass seine Stimme langsam heiser wurde. »Sine, meine liebste Sine, wo bist du?« Tränen liefen ihm über das Gesicht und er schluchzte leise vor sich hin. »Sine, wo bist du nur? Sine!«
Doch von seiner Freundin war nichts zu sehen.
Betrübt schwamm Delfinius zu einer Treppe, die an dem künstlichen Ufer emporführte, und hielt sich an einer Treppenstufe fest, um zu Atem zu kommen. Warum hatte er auch nur eine solche Idee gehabt? Warum hatte er Sine da hineingezogen, in diese ganze Geschichte? Er wusste, dass diese Reise wichtig war, dass er sie machen musste, dass sie auch gerade für das Wasser so unsagbar nötig war. Aber das hatte er nicht gewollt. Seine Sine konnte unmöglich Opfer des Wassers geworden sein? Es ging doch um Rettung, um Heilung. Wie konnte er deswegen das Leben seiner Freundin so in Gefahr bringen? Er hatte das nicht gewollt. Doch nun war es zu spät.
Delfinius weinte und wischte sich die Tränen aus seinem hellblauen Bart. Sine, seine Sine. Wo war sie nur?
Und was jetzt? Was sollte er jetzt tun? Er musste weiter, aber er konnte nicht. Er wollte nicht mehr weiter. Sein Herz war so schwer und er wusste nicht, wie er sich das je verzeihen könnte.
Aber er hatte doch nicht ahnen können, was sie hier erwarten würde. Er wusste nichts von solch riesigen Mauern. In seinen heimatlichen Flüssen auf Hawaii hatte er noch nie welche gesehen. Es gab dort viele große Schiffe, die Menschen nannten sie Kreuzfahrtschiffe, aber sie kamen nicht so nah an Land und waren damit für ihn nie eine Gefahr gewesen. Die monströsen Schiffe hier schüchterten ihn ein, sie waren ihm unheimlich und es schien, als nehme die Reise kein Ende. Die Mauer sah nicht gefährlich aus, aber dann war das Wasser gekommen, ganz plötzlich, und hatte so viel Leid in sein Herz gespült. Sine, ach Sine. Wo bist du nur?
Delfinius sah sich um und erstarrte. Was war das? Das Tor war gar nicht offen. Delfinius dachte, dass sich diese Stahltür geöffnet hätte und dadurch die starken Wassersprudel und Geysire entstanden waren. Das war jedoch nicht der Grund, das Wasser kam woanders her und sprudelte immer weiter. Doch nicht nur das. Auf der anderen Seite des Kanals, in der Richtung, aus der er gekommen war, war nun auch solch eine verschlossene Wand. Er war eingesperrt. Diese Tore hielten ihn in diesem Kanal gefangen.
Das Wasser stieg immer höher und höher.
Delfinius nahm einen tiefen Atemzug, sprang ins Wasser zurück und hatte nur noch den einen Gedanken: Ich werde Sine finden, ich muss sie finden.
Das Wasser war sehr erdig, extrem grün und undurchsichtig. Endlich konnte er etwas entfernt eine Mauer erkennen. Delfinius hielt etwas Abstand von diesem Ungetüm und schwamm weiter.
Er tauchte bis tief zum Flussboden hinunter und suchte ihn verzweifelt ab. Doch seine Sine war auch hier nicht zu sehen. Ein großer Lastkahn versperrte ihm den Weg und Delfinius wusste, er musste irgendwie an ihm vorbei. Er sagte sich, dass es nicht gefährlicher sein konnte als das gerade Erlebte. So schwamm Delfinius an der Bugseite des Kahns vorbei und merkte erst jetzt, wie rostig dieser war. Wie gut, dass er auch unter Wasser atmen konnte. Er schwamm weiter um den Lastkahn herum, ohne zum Luftholen an die Oberfläche zu müssen.
Delfinius ließ sich weiter durchs Wasser gleiten und suchte nach seiner Freundin. Den rostigen Kahn und die Mauer ließ er dabei nicht aus den Augen. Die Mauer? Delfinius Blick hatte sie gerade gestreift, oder besser gesagt den Ort, wo sie gerade noch gewesen war. Aber da war keine Mauer mehr, das Tor war offen und er erkannte schemenhaft, dass der Weg nun frei war. Doch er konnte trotzdem nicht weiter. Nicht ohne seine Sine.
Er wendete den Blick wieder zu dem Lastkahn, um sicherzugehen, dass dieser nicht plötzlich losfahren würde. Doch was war das? An dessen Anker bewegte sich etwas. Delfinius wusste, was ein Anker war und wofür Menschen ihn benutzten. Er hatte sich in seiner Heimat auf Hawaii schon einige Male fast an einem solchen Anker verletzt. Sein Blick fixierte den rostigen Anker, der so viel größer war als er selbst, und bemerkte noch einmal ein Zappeln. Da bewegte sich doch etwas. Delfinius’ Herz klopfte während er zu dem Anker schwamm, der von Algen und Plastiktreibgut umgeben war. Ob das Sine war?
Er war nur noch wenige Schwimmzüge von der Stelle entfernt, als er sie sah. Sie winkte. Ja, es war Sine. Sie lebte und machte auf sich aufmerksam.
Delfinius hatte sie fast erreicht, als ein Rucken durch das Schiff ging. Oh nein, schrie es innerlich in ihm. Bitte nicht! Bitte nur das nicht! Der Frachter wird doch nicht weiterfahren. So schnell Delfinius konnte, schwamm er zu seiner Freundin. Deren Gesicht spiegelte seine Angst wider. Mutig ergriff Delfinius das Seil, an dem der Anker befestigt war. Delfinius lächelte Sine an und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Sie hatte sich in dem Ankerseil und den Algen, die um den Anker hingen, verfangen. Keine Angst, dachte er und hoffte, seine Freundin würde seine Gedanken lesen können. Er konnte doch unter Wasser nicht sprechen. Ich hole dich hier raus. Sine versuchte, sich selbst aus ihrer Notlage zu befreien – ohne Erfolg.
Das Schiff schaukelte noch einmal und Delfinius wusste, sie mussten sich beeilen. Er zerrte an den Seilen, doch sie waren zu fest verknotet. Tränen wollten Delfinius in die Augen steigen, doch er unterdrückte sie. Er musste jetzt stark sein.
»Brauchst du Hilfe?«, hörte er plötzlich neben sich eine warme Stimme. Eine wunderschöne Nixe mit langen blonden Haaren, in die bunte Blüten geflochten waren, war wie aus dem Nichts neben dem Anker erschienen und lächelte ihn mit strahlenden Augen an. »Es sieht aus, als würdest du Hilfe benötigen?«
Diese Landung übertraf alles bisher Dagewesene. Kikino schoss wie ein Feuerwerkskörper hervor, der zu früh explodierte, und versprühte dabei eine gewaltige Ladung Wasser. Aurora war pitschnass und fassungslos.
»Kikino«, schimpfte sie. »Was war denn das? Igitt! Was dir auch immer einfällt«, redete sie auf ihren Drachenfreund ein, der sich sichtlich amüsierte. Kikino schüttelte sich wie ein in den Regen geratener Pudel und antwortete: »Nun ist wenigstens der Ruß weg.«
Aurora sah an sich hinunter und musste Kikino recht geben. Der schwarze Vulkanstaub aus der Lavaröhre war abgewaschen und die Blumen hatten ihre alte Farbe wieder, wenn sie auch nicht mehr so frisch aussahen wie vor dem Beginn ihrer Reise. Doch das war auch kein Wunder. Sie waren seit Stunden unterwegs und das nicht gerade in bedächtiger Weise. Doch das hätte Aurora auch gar nicht gewollt.
Nachdem sich ihr erster Schreck gelegt hatte, schaute sie sich um. Sie standen mitten in einem mit lauwarmem Wasser gefüllten runden Brunnenbecken, aus dem in der Mitte Wasser geysirartig in die Luft sprudelte. Die Tropfen, die sich auf Auroras Lippen verteilt hatten, schmeckten leicht salzig und nach Schwefel.
Aurora fragte sich, wo sie waren – das Wasser schmeckte nach zu Hause.
»Das Wasser sieht rostig aus«, riss Kikino Aurora aus ihren Gedanken.
»Das könnte am Eisen liegen«, antwortete Aurora.
»Eisen?«, fragte Kikino verwirrt. »Was für Eisen? Der Brunnen ist doch aus Sandstein gefertigt, wenn ich mich nicht irre.«
»Vielleicht ist es auch Muschelkalk«, erwiderte Aurora. »Doch das meine ich nicht. Ich habe in meiner Vulkanschule gelernt, was es alles für Substanzen im Wasser geben kann. Eine der Substanzen ist Eisen, das in vulkanreichen Gegenden im Wasser vorkommen kann.«
»Was du alles weißt«, wunderte sich Kikino. »Ich dachte, Wasser ist Wasser.«
»Du wirst doch wissen, dass Meerwasser viel salziger ist als Flusswasser?«
»Nö. Ich trinke beides nicht«, entgegnete Kikino. »Ich bevorzuge Quellwasser. Aber ich muss zugeben, ich habe mir darüber auch noch nie Gedanken gemacht.«
»Ich habe von meiner Lehrerin Kristalllicht gelernt, dass es viele verschiedene Substanzen im Wasser geben kann. Damit meine ich nicht die, die von den Menschen bewusst oder unbewusst hineingegeben werden.«
»Ja«, seufzte Kikino. »Die von den Menschen ins Meer geworfenen Dinge kenne ich. Wenn ich nur an das ganze Plastik im Meer denke, das von vielen Meeresbewohnern gefressen wird. Wie viele Delfine und Wale sind dadurch schon gestorben. Meinst du, es gibt in den Regionen, in denen Menschen leben, noch reines, natürliches Wasser?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Aurora. »Aber ich hoffe es. Vielleicht ist dieses Wasser ja noch unverschmutzt und rein.«
»Auch wenn es so rostig aussieht?«, fragte Kikino verwirrt.
»Aber sicher doch«, beharrte Aurora. »Eisen ist ein ganz natürlicher Bestandteil von leckerem Vulkanwasser.«
»Lecker? Also, ich möchte dieses Wasser nicht trinken. Lass uns lieber schauen, wo wir hier sind. Was es sonst noch so zu entdecken gibt außer rostigem Wasser.« Bei diesen Worten sprang Kikino aus dem Becken auf die angrenzende Empore und schaute sich neugierig um. Das Sprudelbecken stand auf einem weiträumigen Platz, der von hohen Gebäuden mit Arkadengängen und bunten Blumenbeeten umgeben war.
Aurora folgte Kikino auf die Empore und rief begeistert: »Schau mal, da ist ja noch so ein rundes Wasserbecken. Da sprudelt es sogar noch höher heraus.«
Kikino beachtete weder die Worte seiner Freundin, noch die hohe Fontäne, sondern steuerte auf die Treppe zu, um über diese auf den unter ihnen gelegenen rechteckigen Platz zu gelangen. Er wollte nur weg von diesem Wasser und herausfinden, wo sie waren. Aurora folgte ihrem Drachenfreund zur Steintreppe und betrachtete dabei die Gebäude mit den Rundbogengängen. Sie erinnerte sich daran, dass man in ihrer Vulkanschule derartige Bauten Jugendstilgebäude nannte. Aurora hatte sich unter diesem von Menschen erschaffenen Wort nie etwas vorstellen können und hätte auch nicht erwartet, dass sie solch ein Wissen einmal brauchen könnte. Auch jetzt sagte ihr das gar nichts. Dennoch war sie ein wenig stolz auf sich, dass sie die Häuser als solche erkannte. Kristalllicht würde staunen. Und vielleicht würde ihr dieses Wissen sogar noch bei ihrem Abenteuer helfen. Wenn Aurora sich auch nicht vorstellen konnte, weshalb das so sein sollte.
Aurora war in ihren Gedanken gefangen und bemerkte nicht, dass Kikino plötzlich am Ende der Treppe stehenblieb. Sie prallte gegen seinen breiten Drachenrücken und rief: »He, Kikino.
Warum bleibst du ohne Vorwarnung stehen? Was ist denn los?«
»Was haben die denn für Früchtekörbe auf dem Kopf?«, fragte Kikino. Er verharrte am Treppenaufgang und starrte auf eine Figur, welche eine Mischung aus Mensch, Fisch und Pferd darstellte.
»Das sieht ja aus wie ein Zentaur«, bemerkte Aurora aufgeregt.
»So ein Wesen war doch auch auf unserer Konferenz zur Heilung von Mutter Erde.«
»Stimmt«, gab Kikino zu. »Aber ich dachte, die Menschen könnten diese Wesen nicht sehen, so wie sie uns nicht wahrnehmen können?«
»Hm … sonderbar«, antwortete Aurora. »Das verstehe ich auch nicht. Schau mal, Kikino. Da ist noch eine solche Figur. Ein weiblicher und ein männlicher Zentaur. Sie sehen aus, als bewachten sie den Treppenaufgang oder das Sprudelwasser.«
»Das Wasser? Bewachen? Warum denn das?«, fragte Kikino.
»Wer stiehlt denn verrostetes Wasser?«
»Ich weiß auch nicht«, antwortete Aurora. »Lass uns weitergehen.«
Die beiden Freunde liefen um das Sprudelbecken herum und bewunderten die Figuren, mit denen die Säulen verziert waren. Es waren nicht nur Figuren mit menschlichen Zügen, sondern auch zahlreiche Wasserwesen, die Aurora und Kikino noch nie gesehen hatten. Aurora fragte sich, ob sie der Fantasie der Menschen entsprungen waren oder ob es solche Wesen tatsächlich gab.
»Was ist denn das für eine Schale?« Kikino zeigte auf ein rundes Becken, das von steinernen Seehunden getragen wurde.
»Das sieht dollo aus!«, rief Aurora. »Auch wenn es nicht sprudelt.
Und schau mal, Kikino, die überdachten Gänge – wie hübsch!«
Dabei zeigte Aurora auf die Arkaden, welche die Häuser miteinander verbanden. »Wie wunderwunderschön.«
»Ja, du hast recht«, bestätigte Kikino. »Da wird man, wenn es regnet, wenigstens nicht nass.«
Aurora schaute ihn an und musste lachen. »Regen? Wie gut, dass es nicht regnet und wir nicht nass werden.«
Kikino musterte seine durchnässte Freundin und fiel in ihr Lachen ein. »Ja, Aurora, hihi, nicht dass man hier nass wird.«
»Aber nun mal ernsthaft, Kikino«, sprach Aurora weiter und versuchte, ihr eigenes Kichern zu unterdrücken, was zu einem kurzen Hustenanfall führte. »Wo sind wir denn hier überhaupt?«, brachte sie schließlich mühsam hervor, während sie prustend weiter über den ausladenden Platz lief und die vielfältigen Verzierungen an den Wänden und Giebeln bewunderte. »In welcher Stadt sind wir gelandet?«
»Ich weiß es auch nicht«, antwortete Kikino. »Ich dachte, wir kämen in Island raus. Dort soll es solche sonderbaren Vögel geben. Aber ...«, er machte eine kurze Pause und blickte sich um, »aber das sieht hier irgendwie anders aus.«
Aurora blieb vor einer der Bänke stehen und schaute ihren Freund entsetzt an: »Wie, du weiß nicht, wo wir sind? Du wolltest gar nicht in diese Stadt?«
»Ähm nein«, antwortete Kikino. »Tut mir leid.« Dabei schaute er verlegen auf den Boden und tat so, als ob er dort die Antwort auf alle Fragen finden würde.
»Egal«, verkündete Aurora entschlossen. »Machen wir das Beste daraus und schauen uns diese Stadt mal genauer an. Hier gefällt es mir. Die Sprudelbecken sehen dollo aus. Ich habe solche Geysire bisher nur in der freien Natur gesehen, doch die Menschen mauern ja alles ein.« Bei diesen Worten setzte Aurora ihren Weg durch den Sprudelhof fort und war erleichtert, dass die Menschen, die auf den Bänken saßen und ihre Gesichter der großen Sonne entgegenstreckten, sie nicht sehen konnten. So nass und zerzaust wie sie aussah. Normalerweise war sie betrübt darüber, dass die meisten Menschen durch sie hindurchsahen, aber heute störte sie das nicht. Sie vertrieb diese Gedanken aus ihrem Kopf und freute sich nun auf das, was sie hier erwarten würde. Sie liebte solche Abenteuer, und nun hatte sie ihren Drachenfreund an der Seite. Vielleicht würden sie ja auch in Erfahrung bringen, was das für ein Wasser war, das so stark und angenehm nach zu Hause schmeckte.
»Ich weiß nicht, wie ich dir danken kann«, sagte Delfinius und strahlte die Nixe an. »Ohne dich hätte ich Sine nicht mehr rechtzeitig befreien können. Ich bin so froh, dass alles noch einmal gut gegangen ist. Was würde ich ohne meine Sine machen?« Dabei lief ihm eine einsame Träne über die Wange.