Aus dem Leben eines Taugenichts - Joseph von Eichendorff - E-Book

Aus dem Leben eines Taugenichts E-Book

Joseph von Eichendorff

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Beschreibung

Die Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Joseph von Eichendorff fasziniert ihre Leser seit fast 200 Jahren. Ein junger Mann begibt sich auf die Suche nach seinem Platz im Leben. Er nimmt uns mit auf eine Reise, die ihn in rasantem Tempo über Wien nach Rom und wieder zurück führt. Auf seiner Reise gerät der Taugenichts in viele für ihn zunächst unerklärliche Situationen, wird mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert und muss so manches Hindernis überwinden. Gut, dass er über zwei wichtige Kraftquellen verfügt, die uns auch heute noch zur Verfügung stehen, die wir aber nicht mehr so selbstverständlich nutzen wie er. Es sind die Natur und die Musik. Die Menschen, denen er begegnet, und die Erfahrungen, die er mit ihnen macht, verändern ihn. Er wird reifer und verantwortungsbewusster. Seine Entwicklung hautnah und ganz aus seiner Perspektive zu verfolgen, ist nicht nur sehr unterhaltsam, die Fragen, die ihn dabei beschäftigen, sind zeitlos und universell. Es geht um nichts Geringeres als die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Neufassung soll den Zugang zu diesem großartigen Werk erleichtern und im besten Fall Lust auf die Lektüre des Originals machen.

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Joseph von Eichendorff

Aus dem Leben eines Taugenichts

In modernem Deutsch neu erzählt

Herausgegeben von Philip Gass

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Impressum

Meiner Frau Carolin

Vorwort

Die Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Joseph von Eichendorff fasziniert ihre Leser seit fast 200 Jahren. Ein junger Mann macht sich auf die Suche nach seinem Platz im Leben. Er nimmt uns mit auf eine Reise, die ihn in rasantem Tempo über Wien nach Rom und wieder zurück führt. Auf seiner Reise gerät der Taugenichts in viele für ihn zunächst unerklärliche Situationen, wird mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert und muss so manches Hindernis überwinden. Gut, dass er über zwei wichtige Kraftquellen verfügt, die uns auch heute noch zur Verfügung stehen, die wir aber nicht mehr so selbstverständlich nutzen wie er. Es sind die Natur und die Musik. Die Menschen, denen er begegnet, und die Erfahrungen, die er mit ihnen macht, verändern ihn. Er wird reifer und verantwortungsbewusster. Seine Entwicklung hautnah und ganz aus seiner Perspektive zu verfolgen, ist nicht nur sehr unterhaltsam, die Fragen, die ihn dabei beschäftigen, sind zeitlos und universell. Es geht um nichts Geringeres als die Suche nach dem Sinn des Lebens.

Eichendorffs Novelle gehört zu den bedeutendsten Werken der deutschen Literaturgeschichte. Sie vermittelt uns die Geisteshaltung der Romantiker und ist nicht zuletzt ein sprachliches Kleinod. Eichendorffs Sprache ist nicht nur poetisch, sondern auch unglaublich schön. Es ist daher verständlich, dass es vielen als Sakrileg erscheint, diese Sprache zu manipulieren und sie in modernes Deutsch zu übertragen, wie es die vorliegende Ausgabe versucht. Die Originalsprache der Novelle ist jedoch nicht mehr für jedermann leicht verständlich. Ziel dieser Übertragung ist es, den Inhalt dieser Novelle einem breiteren Leserkreis (wieder) zugänglich zu machen und im besten Fall Lust auf die Lektüre des Originals zu wecken. Der Herausgeber erhebt dabei keineswegs den Anspruch, ein Werk geschaffen zu haben, das in seiner literarischen Qualität dem Original auch nur annähernd gleichkommt.

München, den 15. Mai 2023

Philip Gass

Erstes Kapitel

Das Mühlrad meines Vaters drehte sich und rauschte wieder fröhlich vor sich hin. Der Schnee schmolz vom Dach und die Spatzen zwitscherten und hüpften zwischen den Tropfen herum. Ich saß auf der Türschwelle und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Ich fühlte mich richtig wohl im warmen Sonnenschein. Plötzlich kam mein Vater aus dem Haus. Er hatte seit dem Morgengrauen in der Mühle gearbeitet und seine Schlafmütze saß schief auf seinem Kopf.

„Du Taugenichts!“, schrie er. „Du sitzt hier in der Sonne und lässt mich die ganze Arbeit allein machen. Ich kann dich nicht länger durchfüttern. Der Frühling ist da. Und es ist an der Zeit, dass du in die Welt hinausgehst und dir dein Brot selbst verdienst!“

„Na gut“, dachte ich, „wenn er mich für einen Taugenichts hält, dann will ich eben in die Welt ziehen und dort mein Glück machen.“

In der letzten Zeit hatte ich schon oft darüber nachgedacht, dass ich auf Reisen gehen sollte. Im Herbst und Winter hatte ich vor unserem Fenster die Goldammer gehört, die traurig sang: „Bauer, miet mich, Bauer miet mich!“ Jetzt aber zwitscherte sie fröhlich vom Baum herunter: „Bauer, behalt deinen Dienst!“

Ich ging ins Haus und nahm meine Geige von der Wand, auf der ich sehr gut spielen konnte. Mein Vater steckte mir noch etwas Geld für die Reise zu.

Auf der Straße freute ich mich sehr, als ich sah, wie meine Bekannten und Kameraden rechts und links wie gestern und vorgestern und überhaupt für immer und ewig zur Arbeit gingen. Ich dagegen zog in die große, weite Welt hinaus. Stolz und zufrieden rief ich nach allen Seiten den Leuten Lebewohl zu. Aber das schien sie nicht sonderlich zu kümmern. Ich hatte das Gefühl, als würde für mich ein ewiger Sonntag anbrechen.

Als ich endlich auf das freie Feld kam, nahm ich meine Geige, begann zu spielen und sang dazu, während ich auf der Landstraße wanderte:

Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt, dem will er seine Wunder weisen in Berg und Wald und Strom und Feld.

Die Trägen, die zu Hause liegen, erquicket nicht das Morgenrot, sie wissen nur vom Kinderwiegen, von Sorgen, Last und Not um Brot.

Die Bächlein von den Bergen springen, die Lerchen schwirren hoch vor Lust, was sollt' ich nicht mit ihnen singen aus voller Kehl' und frischer Brust?

Den lieben Gott lass ich nur walten; der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld und Erd' und Himmel will erhalten, hat auch mein' Sach' aufs Best' bestellt!

Als ich mich umdrehte, bemerkte ich eine schöne Kutsche, die langsam hinter mir herfuhr. Sie musste mir schon eine Weile gefolgt sein. Ich hatte es wahrscheinlich nicht bemerkt, weil ich so in meinen Gesang vertieft war. Zwei vornehme Damen hatten ihre Köpfe aus der Kutsche gestreckt, um mir zuzuhören. Die eine war besonders hübsch und jünger als die andere, aber eigentlich gefielen mir beide sehr gut. Als ich aufhörte zu singen, ließ die ältere Dame den Wagen anhalten und sprach mich freundlich an. „Du singst ja wunderbare Lieder, mein lieber Mann.“

Ich antwortete: „Euer Gnaden, ich könnte noch viel schöner singen.“

Dann fragte sie mich, wohin ich so früh am Morgen wolle. Ich wurde verlegen, denn ich wusste es ja selbst nicht. Deshalb antwortete ich schnell: „Nach Wien!“

Die beiden Damen unterhielten sich in einer fremden Sprache, die ich nicht verstand. Die jüngere Dame schüttelte mehrmals den Kopf, während die ältere immer wieder lachte.

Schließlich rief sie mir zu: „Steig hinten auf den Wagen und fahre mit uns nach Wien.“

Das freute mich sehr. Ich verbeugte mich tief und sprang auf den Wagen. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und wir flogen so schnell über die glänzende Straße, dass mir der Wind um den Hut pfiff.

Dörfer, Gärten und Kirchtürme verschwanden hinter mir, neue Dörfer, Schlösser und Berge tauchten vor mir auf. Unter mir sah ich bunte Felder, Büsche und Wiesen vorbeiziehen, während unzählige Lerchen in der klaren blauen Luft sangen. Ich wagte es nicht, laut zu jubeln, aber innerlich freute ich mich so sehr, dass ich auf dem Wagen herumstampfte und tanzte. Dabei verlor ich fast meine Geige, die ich mir unter den Arm geklemmt hatte. Die Sonne stieg höher und höher und schwere weiße Mittagswolken tauchten am Horizont auf. Da wurde alles um mich herum leer, stickig und still über den Kornfeldern, die sich in sanften Kurven über das Land wölbten. Plötzlich musste ich an mein Dorf denken, an meinen Vater und unsere Mühle, wo es am schattigen Teich so angenehm kühl war. Alles war so weit weg. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass ich wieder umkehren sollte. Ich steckte meine Geige zwischen Jacke und Weste, ließ mich gedankenverloren auf dem Kutschbock nieder und schlief bald ein.

Als ich wieder erwachte, bemerkte ich, dass der Wagen unter hohen Lindenbäumen abgestellt worden war. Zwischen den Bäumen konnte ich ein prachtvolles Schloss erkennen, zu dem zwischen Säulen eine breite Treppe hinaufführte. In der Ferne sah ich die Türme von Wien. Die Damen waren längst ausgestiegen und die Pferde hatten man ausgespannt. Ich saß allein auf der Kutsche und bekam es mit der Angst zu tun. Schnell sprang ich hinunter und eilte ins Schloss, als ich plötzlich jemanden lachen hörte.

Im Schloss erlebte ich seltsame Dinge. Zuerst tippte mir ein hochgewachsener Herr mit einem silbernen Stab auf die Schulter. Er war in ein Prunkgewand gekleidet und hatte eine lange Hakennase im Gesicht. Ich war völlig überrascht und brachte vor Schreck und Verwunderung kein Wort heraus. Dann erschienen mehrere Diener, die die Treppen herauf- und herabliefen und mich von oben bis unten musterten, ohne ein Wort zu sagen. Eine Kammerzofe kam auf mich zu und fragte mich, ob ich hier als Gärtnerjunge arbeiten wolle, da ich angeblich ein ganz netter Kerl sei. Ich kramte in meinen Taschen und stellte fest, dass ich außer meiner Geige nichts mehr besaß. Die wenigen Münzen, die mir mein Vater gegeben hatte, musste ich beim Tanzen verloren haben. Der Herr mit dem Stock weigerte sich, mir auch nur einen Pfennig zu geben. Ich begann zu verzweifeln und sagte eingeschüchtert „Ja!“ zu der Kammerzofe.

Ich behielt die unheimliche Gestalt des Herren mit dem Stock im Blick, die majestätisch und unheimlich im Flur auf und ab stolzierte. Dann kam endlich der Gärtner und führte mich hinaus. Auf dem Weg in den Park er hielt mir eine lange Predigt. Er sagte mir, ich solle immer nüchtern und fleißig sein, nicht in der Welt umherschweifen und mich mit brotlosen Künsten oder anderen überflüssigen Dingen beschäftigen. Nur so würde ich es mit der Zeit zu etwas bringen. Er gab mir noch viele andere nützliche Ratschläge, aber ich habe sie alle vergessen. Damals wusste ich noch nicht, was das alles zu bedeuten hatte, und so sagte ich zu allem Ja und Amen. Ich fühlte mich wie ein begossener Vogel1. Aber immerhin hatte ich Gott sei Dank eine Anstellung gefunden.

Im Park ließ es sich gut aushalten. Ich hatte genug zu essen und mehr Geld, als ich für Wein ausgeben konnte, aber leider auch viel Arbeit. Ich mochte die Tempel, die Lauben und die schönen grünen Alleen im Park, aber viel lieber wäre ich dort in Ruhe spazieren gegangen und hätte mich unterhalten, wie die Herren und Damen, die jeden Tag kamen. Wenn der Gärtner wegging und ich allein war, holte ich immer meine kleine Tabakspfeife heraus und machte es mir bequem. Dann dachte ich mir nette und höfliche Gespräche aus, die ich mit der jungen Dame, die mich ins Schloss gebracht hatte, führen würde, wenn ich ein Kavalier wäre und mit ihr hier spazieren ginge. An schwülen Nachmittagen lag ich oft nur da und sah den Wolken nach, die über mir in Richtung meines Dorfes zogen, und die Gräser und Blumen wiegten sich im Wind. Dann dachte ich an die Dame, und manchmal schlenderte sie wirklich durch den Garten, mit einer Gitarre oder einem Buch in der Hand, so ruhig, groß und freundlich wie ein Engel, dass ich nicht genau wusste, ob ich träumte oder wach war.

Einmal sang ich vor mich hin, als ich an einer Gartenlaube vorbeikam:

Wohin ich geh' und schaue, in Feld und Wald und Tal, vom Berg ins Himmelsblaue, viel schöne gnäd'ge Fraue, grüß' ich dich tausendmal.

Da sah ich plötzlich aus der kühlen Laube zwischen den halb geöffneten Jalousien und den Blumen zwei schöne junge Augen hervorblitzen. Ich erschrak, hörte auf zu singen und ging, ohne mich noch einmal umzusehen, an meine Arbeit zurück.

Später am Abend stand ich am Fenster des Gartenhauses, spielte auf meiner Geige und freute mich auf den morgigen Sonntag. Dabei dachte ich immer wieder an die strahlenden Augen.

Plötzlich erschien in der Dämmerung die Kammerzofe und sagte: „Die gnädige Frau lässt dir etwas zu trinken bringen, damit du auf ihre Gesundheit anstoßen kannst. Gute Nacht!“

Mit diesen Worten stellte sie eine Flasche Wein auf das Fensterbrett und schlich wie eine Eidechse zwischen den Blumen und Hecken wieder davon.

Ich konnte es im ersten Moment gar nicht glauben und betrachtete verwundert die Flasche. Hatte ich vorher schon fröhlich auf meiner Geige gespielt, so spielte und sang ich jetzt noch fröhlicher. Wieder und wieder sang ich das Lied von der schönen Frau und all die anderen Lieder, die ich kannte, bis draußen die Nachtigallen erwachten, der Mond längst aufgegangen war und die Sterne über dem Garten funkelten. Ja, es war wirklich eine gute und schöne Nacht!

Niemandem wird an der Wiege gesungen, was aus ihm wird. Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Unverhofft kommt oft. Und der Mensch denkt und Gott lenkt. Als ich am nächsten Tag wieder im Garten bei einer Pfeife saß, schaute ich an mir herunter und dachte, dass ich eigentlich ein recht schlampiges Leben führte. Entgegen meiner bisherigen Gewohnheit stand ich von nun an jeden Tag vor dem Gärtner und den anderen Arbeitern auf. Morgens war es draußen im Park sehr schön. Die Blumen, die Springbrunnen, die Rosenstöcke, der ganze Park funkelte in der Morgensonne wie Gold und Edelsteine. Und in der hohen Buchenallee war es noch still, kühl und andächtig wie in einer Kirche. Nur die Vögel flatterten und pickten im Sand. Unter den Fenstern des Schlosses, in dem die schöne Frau wohnte, stand ein blühender Strauch. Dorthin schlich ich mich immer am frühen Morgen und versteckte mich hinter seinen Zweigen, denn ich wagte nicht, mich zu zeigen. Von meinem Versteck aus schaute ich nach den Fenstern und oft sah ich die schönste Frau in ihrem schneeweißen Kleid ans Fenster kommen, noch halb schlafend. Manchmal flocht sie ihr dunkelbraunes Haar und ließ ihren Blick über die Büsche und den Garten schweifen. Manchmal lehnte sie sich aus dem Fenster, pflückte ein paar Blumen und band sie zu einem Strauß. Oder sie nahm die Gitarre in ihre weißen Arme und sang so schön, dass ich heute noch wehmütig werde, wenn mir ab und zu eines ihrer Lieder in den Sinn kommt. Ach, es ist so lange her!

Das ging wohl eine Woche so. Aber eines Tages, als sie wieder am Fenster stand und alles ganz still um sie herum war, flog mir doch eine verdammte Fliege in die Nase, und ich musste schrecklich niesen und konnte nicht mehr aufhören. Sie lehnte sich weit aus dem Fenster und sah mich armen Kerl, wie ich mich hinter dem Busch versteckte und lauschte. Da schämte ich mich und ging viele Tage nicht mehr hin.

Als ich mich ein paar Tage später endlich wieder zu dem Fenster wagte, blieb es verschlossen. Vier, fünf, sechs weitere Morgen wartete ich hinter meinem Busch, aber sie ließ sich nicht wieder am Fenster blicken. Dann wurde mir das Warten zu langweilig. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging von da an jeden Morgen an allen Fenstern des Schlosses vorbei, ohne mir etwas dabei zu denken. Aber die liebe, schöne Frau ließ sich nicht mehr blicken. Stattdessen sah ich oft die andere Dame am Fenster stehen, die ich mir vorher noch nie so genau angesehen hatte. Sie war wirklich schön, rosig und voll, wie eine prächtige und stolze Tulpe. Ich machte ihr jedes Mal ein nettes Kompliment und sie bedankte sich höflich mit einem freundlichen Augenzwinkern. Einmal glaubte ich dabei, dass die Schöne hinter einem Vorhang stand.

Aber viele Tage vergingen, ohne dass ich sie wieder zu Gesicht bekam. Sie kam nicht mehr in den Garten oder ans Fenster. Der Gärtner schimpfte, ich sei faul. Ich wurde mürrisch. Sogar meine eigene Nasenspitze stand mir im Weg, wenn ich in die Welt hinausschauen wollte.

In dieser Stimmung lag ich an einem Sonntagnachmittag im Park, sah den blauen Wolken meiner Tabakspfeife hinterher und ärgerte mich, dass ich keinen Beruf ergriffen hatte, bei dem man auch die Montage freihat. Alle anderen in meinem Alter hatten sich in Schale geworfen und waren unterwegs in die Tanzlokale der nahen Vorstädte. Überall wimmelte es von Menschen in Sonntagskleidern, die in der warmen Luft zwischen den hellen Häusern und den umherziehenden Leierkastenmännern umherspazierten. Ich aber saß einsam wie eine Rohrdommel im Schilf eines abgelegenen Parkteiches und ließ mich in einem Kahn schaukeln, der dort angebunden lag. Während die Vesperglocken aus der Stadt zu mir herüberschallten und die Schwäne gemächlich neben mir dahinzogen, fühlte ich mich sterbenselend.

Doch plötzlich hörte ich Stimmen, erst von fern, dann immer näherkommend, die sich fröhlich miteinander unterhielten. Bald darauf schimmerten rote und weiße Tücher, Hüte und Federn durch das Grün und wenig später sah ich eine Gruppe strahlender junger Herren und Damen aus dem Schloss über die Wiese auf mich zukommen. Unter ihnen waren auch meine beiden Damen.

Ich erhob mich und wollte gerade fortgehen, als mich die ältere der schönen Damen entdeckte und mir lachend zurief: „Na, das trifft sich gut! Rudere uns doch ans andere Ufer!“

Daraufhin stiegen die Damen langsam und vorsichtig in den Kahn. Die Herren, von denen sich einige besonders mutig gaben, halfen ihnen dabei. Als die Frauen auf den Bänken saßen, stieß ich das Boot vom Ufer ab. Einer der jungen Männer stellte sich vorne an den Bug und begann das Boot zunächst unmerklich zu schaukeln. Als dann die Damen die Bewegung bemerkten, wurden sie unruhig. Einige schrien sogar. Aber die schöne Frau blickte nur sanft lächelnd über das klare Wasser. Sie berührte es mit einer Lilie, die sie in der Hand hielt. Ihr Bild spiegelte sich auf der Wasseroberfläche zwischen Wolken und Bäumen, und so sah sie aus wie ein Engel, der sanft durch den tiefblauen Himmel schwebte.

Während ich sie so betrachtete, schlug mir die andere Dame plötzlich vor, während der Fahrt ein Lied zu singen. Ein schmaler junger Mann mit Brille auf der Nase, der neben ihr saß, drehte sich schnell zu ihr um, küsste sanft ihre Hand und sagte: „Danke für diese schöne Idee! Ein Volkslied, gesungen von einem Mann aus dem Volk. Hier draußen in Gottes freier Natur. Im Vergleich ist unser Gesangbuch doch dürr wie eine Trockenblume. Der Gesang aber gleicht einer Alpenrose auf einer Bergwiese. In solchem Singen liegt die wahre Seele des Volkes.“

Ich sagte, ich wüsste kein passendes Lied für eine so vornehme Gesellschaft. Die Kammerzofe, die mit einem Korb voller Tassen und Flaschen neben mir saß und die ich bis jetzt gar nicht bemerkt hatte, warf schnippisch ein: „Ich kenne da ein sehr schönes Lied. Es handelt von einer schönen Frau.“

„Ja, ja! Sing es! Singe es laut und deutlich!“, rief die Dame, und ich wurde rot wie eine Tomate. In diesem Augenblick blickte die schöne Frau vom Wasser auf und warf mir einen Blick zu, der mir durch Mark und Bein ging. Da überlegte ich nicht lange, sondern fasste mir ein Herz und fing an, aus voller Kehle zu singen:

Wohin ich geh' und schaue, in Feld und Wald und Tal, vom Berg hinab in die Aue: Vielschöne, hohe Fraue, grüß ich dich tausendmal.

In meinem Garten find' ich viel Blumen, schön und fein, viel Kränze wohl draus wind' ich und tausend Gedanken bind' ich und Grüße mit darein.

Ihr darf ich keinen reichen, sie ist zu hoch und schön, die müssen alle verbleichen, die Liebe nur ohnegleichen bleibt ewig im Herzen stehn.

Ich schein' wohl froher Dinge und schaffe auf und ab, und ob das Herz zerspringe, ich grabe fort und singe und grab' mir bald mein Grab.

Als wir das andere Ufer erreichten, stiegen sie alle aus. Einige der jungen Männer hatten sich während meines Gesangs über mich lustig gemacht, mich mit höhnischen Blicken gemustert und den Damen dabei etwas zugeflüstert. Der Herr mit Brille kam auf mich zu, nahm meine Hand und sagte etwas zu mir. Ich weiß nicht mehr, was. Die ältere der Damen sah mich freundlich an. Die schöne Dame, die während meines Liedes den Blick gesenkt hatte, verließ wortlos den Kahn. Da durchzuckte mich ein Stich der Scham und des Schmerzes. Mir wurde bewusst, wie schön sie war und wie armselig dagegen ich – von aller Welt verspottet und verlassen. Als sie endlich alle hinter den Büschen verschwunden waren, warf ich mich ins Gras und begann bitterlich zu weinen.

Der Taugenichts bringt hier zwei Redensarten durcheinander: Wie ein begossener Pudel dastehen und einem Vogel die Flügel stutzen. Im Original: Denn mir war wie einem Vogel, dem die Flügel begossen worden sind. Dieser Hinweis stammt von Carel ter Haar und ist entnommen aus Aus dem Leben eines Taugenichts, kommentierte Ausgabe, München 1977, die von Carel ter Haar herausgegeben wurde.↩

Zweites Kapitel

Gleich hinter der Parkmauer führte eine Landstraße vorbei.

---ENDE DER LESEPROBE---