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Joseph von Eichendorffs "Aus dem Leben eines Taugenichts" (1826) ist eines der bekanntesten Werke der deutschen Romantik – eine poetische Erzählung von Leichtigkeit, Freiheit und der Suche nach dem eigenen Platz in der Welt. Zwischen Wanderschaft und Sehnsucht, Natur und Gesellschaft entfaltet sich ein Stück Weltliteratur, das bis heute berührt: die Geschichte eines jungen Mannes, der – scheinbar ziellos – seinem Herzen folgt und gerade darin Sinn und Glück findet. Diese kommentierte ebook-Edition bietet: •eine sorgfältig überarbeitete, behutsam modernisierte Textfassung, angepasst an die neue Rechtschreibung, •eine literaturwissenschaftliche Einordnung des Werkes in die Epoche der Romantik, •Bezüge zu Eichendorffs Leben und Denken, •eine Interpretation zentraler Motive wie Wandern, Musik, Natur, Liebe und Freiheit, •eine Deutung vor kulturhistorischem und philosophischem Hintergrund, •sprachliche und stilistische Anmerkungen zur dichterischen Gestaltung, •sowie die Darstellung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Diese Ausgabe verbindet philologische Sorgfalt mit interpretativer Tiefe und macht Eichendorffs Klassiker in einer zeitgemäßen, zugleich werkgerechten Form neu zugänglich. Ein Buch für alle, die sich nicht nur verzaubern lassen, sondern verstehen wollen, warum die Romantik bis heute als Gegenentwurf zur Entfremdung der modernen Welt fasziniert – ein Lese-, Studien- und Denkbuch zugleich.
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2025
Joseph von Eichendorff
Aus dem Leben eines Taugenichts
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Titel
Editorial
Vorwort 2014
Vorwort 2025
Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Anmerkung des Herausgebers
Biografie
Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte
Theorie und Weltanschauung
Der ‚Taugenichts‘ im Gesamtwerk und in der Romantik
Interpretation und Einordnung: Wem Gott will rechte Gunst erweisen
Weitere Werke Eichendorffs
Weiterführende Literatur
Literaturwissenschaftliche Bücher von Manfred Müller
Literaturklassiker
Lektüretipps
Impressum neobooks
Joseph von Eichendorf –
Aus dem Leben eines Taugenichts
Literaturklassiker Band 2
Herausgegeben und mit einem Vorwort
von Manfred Müller, M.A.
Diese Ausgabe enthält neben dem Originaltext Ausführungen zu Biografie,
der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte sowie zu Theorie und Weltanschauung.
Außerdem wird der Text in das Gesamtwerk von Eichendorff einsortiert und sein Stellenwert in der deutschen romantischen Literatur beleuchtet.
Auch werden weitere Lektürehinweise gegeben.
Originalausgabe: Vereinsbuchhandlung, Berlin 1826
Autor: Joseph von Eichendorff
Überarbeitung, Layout, Vorwort und Analyse: Manfred Müller
Warum gibt es jetzt noch eine weitere Publikations-Reihe mit Literaturklassikern? Es gibt doch schon so viele!
Manfred Müller hat es sich zur Aufgabe gemacht, anhand einer rein subjektiven Bewertung und Klassifizierung Klassiker der deutschsprachigen Literatur in loser Reihenfolge zu veröffentlichen. Der Grund dafür ist relativ schnell geschildert:
Neuauflagen stehen immer mehr im Fokus und rücken damit stärker in die Beachtung des Lesemarktes als bereits bestehende Ausgaben. Das führt dazu, dass die Texte präsent bleiben und einer immer größeren Leserschaft zugänglich gemacht und näher gebracht werden. Die Redaktion Müller hat sich auf Werke konzentriert, die ihres Erachtens in den Literaturkanon eines jeden Bücherfreundes und jeder Bücherfreundin gehören.
Die Texte werden im Layout bearbeitet, und es werden zusätzliche Literaturhinweise gegeben. So erhält man weitergehende Informationen über den Primärtext zum Beispiel hinsichtlich Interpretationshilfen oder hinsichtlich der Einordnung des Ur-Textes in einen größeren Zusammenhang. Die in der Reihe Literaturklassiker herausgegebenen Werke erscheinen in einem modernen Gewand und nutzen alle Möglichkeiten des elektronischen Publizierens, z.B. von Verlinkung weiterer Quellen und ergänzender Texte.
Allen Einzelbänden der Literaturklassiker steht ein Vorwort von Manfred Müller voran, das das Werk sowohl in seiner Gesamtheit als auch im Kontext präsentiert. Manfred Müller ist Germanist und hat seine Abschlussarbeit über die Gewaltdarstellung und deren epistemologischen Dimensionen in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ geschrieben – von daher ist es naheliegend, dass genau dieser Roman als Band 1 der Literaturklassiker gewählt wurde! In der aktuellen Konzeption ist zunächst die Veröffentlichung von 10 Bänden geplant, die ab Dezember 2013 sukzessive herausgegeben werden.
Viel Spaß beim Kennenlernen und Wiederentdecken der Literaturklassiker und beim Erschließen der zusätzlichen Materialien!
Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt … diese Zeilen aus dem Anfangskapitels dieser Novelle dürften einer großen Leserschaft bereits alleine aufgrund ihrer Vertonung bekannt sein. Darüber hinaus zeigen diese Worte zentrale Motive des Textes. Umherwandern, Suche auf der einen Seite und Gottes Gunst und Freude auf der anderen Seite.
Auch wenn der Gattungsbegriff hier sicherlich eine untergeordnete Rolle spielt, so handelt es sich beim „Taugenichts“ doch eher um eine Novelle als um einen Roman:
Die unerhörte Begebenheit, Neuigkeit, die klassischerweise laut Goethe zu einer Novelle gehört, findet sich dann auch tatsächlich in der märchenhaften, teils romantisch verklärten Geschichte des Müllerssohn, der in der Tat eine fröhliche Wanderschaft antritt und als Günstling, dem einiges Gutes widerfährt, präsentiert wird.
Eichendorff lässt unterschiedliche Menschentypen auftreten und lässt zu, dass der Müllerssohn als Taugenichts bezeichnet wird. Der ist aber nichts von dem, was man sich unter einem Taugenichts vorstellt: Er ist weder faul noch versucht er andere reinzulegen oder zu bestehlen. Er verdient seinen Lebensunterhalt selbst und alles, was ihm geschieht und widerfährt, ist nicht zuletzt auf seine Initiative und sein Tun zurückzuführen. Auf der anderen Seite stehen die Philister, die unserem Helden mit großem Unverständnis entgegengetreten.
Die leichte Zugänglichkeit und Unbeschwertheit des Textes haben sicherlich zum Erfolg der (märchenhaften) Novelle beigetragen, manche Zeilen fanden Eingang in die Musik und trugen so zu einer noch größeren Verbreitung bei. Diese Ausgabe als Band 2 der Literaturklassiker herausgegeben von der Redaktion Müller soll dazu beitragen, dass das so bleibt.
Die Schreibweise dieser Ausgabe folgt dem Originaltext. Das hat mindestens zwei Dimensionen: Erstens bleibt die Authentizität erhalten und zweitens wird die Leseaufmerksamkeit geschärft, weil das ein oder andere Wort befremdlich, verfremdet erscheint.
Manfred Müller, Januar 2014
Es ist ein eigentümliches Glück, wenn sich im Lauf einer literaturwissenschaftlichen Annäherung ein Werk, das man zu kennen glaubte, noch einmal öffnet – nicht als Gegenstand, sondern als Gesprächspartner. Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts ist ein solcher Text. In seiner scheinbaren Leichtigkeit, in der ungebrochenen Melodie des Wanderlieds und der heiteren Naivität seines Helden scheint er fast aus einer anderen Welt herüberzuklingen. Doch gerade diese Heiterkeit ist kein Zufall, keine idyllische Verblendung, sondern eine dichterische Strategie – eine Kunst der Verwandlung, die Freiheit, Frömmigkeit und poetische Selbstbehauptung in eins zu denken versucht.
In den Beiträgen, die sich an den Originaltext anschließen, habe ich, Schritt für Schritt, versucht, den inneren Bau dieses Textes freizulegen. Ausgangspunkt war die Biografie Eichendorffs – jenes schlesischen Romantikers, dessen Lebensweg zwischen adeliger Herkunft, katholischer Frömmigkeit und preußischem Staatsdienst eine geradezu emblematische Spannung austrägt. Aus dieser Spannung heraus erklärt sich sein Werk: das Sehnen nach einem „anderen Leben“ jenseits der Normen der Bürokratie, zugleich aber das unerschütterliche Vertrauen auf eine göttliche Ordnung, die selbst das Zufällige durchwaltet. Eichendorffs Lebensweg ist – literaturhistorisch betrachtet – die biografische Chiffre für jene romantische Dialektik zwischen Weltflucht und Weltfrömmigkeit, zwischen religiöser Innerlichkeit und poetischer Existenz.
Daran anschließend habe ich die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Taugenichts entfaltet – von der Zeitgenossenschaft bis zur Gegenwart. Schon früh wurde das Werk als Inbegriff der deutschen Romantik kanonisiert, doch seine Geschichte ist nicht bloß eine der Verehrung, sondern auch der Vereinnahmung. Die Wanderseligkeit des Taugenichts wurde im 19. Jahrhundert zum Inbild biedermeierlicher Harmlosigkeit, im 20. Jahrhundert ideologisch umgedeutet – von der völkischen Romantik bis in die pädagogischen Reformbewegungen. Zugleich aber hielt sich in der modernen Forschung – von Dilthey bis zu den neueren Arbeiten von Polheim und Eberhardt – ein Bewusstsein dafür, dass Eichendorffs Text, hinter seiner volksliedhaften Oberfläche, eine vielschichtige poetische Konstruktion ist: ein Gleichnis über Freiheit, Gnade und das schöpferische Selbst.
Der dritte Beitrag widmete sich den theoretischen und weltanschaulichen Grundlagen dieses Werkes. Hier wird sichtbar, dass Eichendorffs Dichtung aus dem Geiste einer poetisch gewendeten Theologie lebt: einer christlich-romantischen Hermeneutik, die in der Natur nicht bloß Kulisse, sondern Offenbarung sieht. Die Welt des Taugenichts ist kein zufälliger Schauplatz, sondern der sinnlich erfahrbare Beweis einer göttlichen Ordnung, die sich gerade im Ungeplanten, im scheinbar Müßigen manifestiert. Die Freiheit des Wanderers ist deshalb keine anarchische, sondern eine gnadenhafte Freiheit – sie lebt aus dem Vertrauen, dass das Leben selbst göttlich gerichtet ist.
Den Abschluss bildete die umfassende Interpretation des Liedes „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“, das als poetische Keimzelle der gesamten Novelle gelten kann. In ihm bündelt sich Eichendorffs Weltdeutung: Wandern als Offenbarung, Bewegung als Form des Glaubens, Gesang als Sprache der Welt. Dieses Lied, scheinbar schlicht, ist in Wahrheit ein poetologisches Manifest: Es stellt die Gunst Gottes gegen die Trägheit der Welt, das Offene gegen das Sesshafte, die innere Musik gegen den Lärm der Sorge. Innerhalb der Novelle bildet es nicht nur den Auftakt, sondern auch den inneren Klangraum, in dem sich die Geschichte entfaltet. Alles, was folgt, ist – in narrativer Form – eine Variation dieses Liedes.
Was diese vier Texte verbindet, ist der Versuch, Eichendorffs Werk nicht nur philologisch, sondern existentiell zu lesen: als Versuch, Poesie, Religion und Leben in eine fragile, aber schöpferische Balance zu bringen. Der Taugenichts steht am Übergang zwischen Spätromantik und moderner Selbstsuche; er ist nicht bloß ein harmloser Träumer, sondern ein früher Zeuge jenes europäischen Bewusstseins, das die Freiheit des Individuums mit der Geborgenheit im Ganzen zu versöhnen sucht.
Nun aber erst einmal viel Vergnügen mit der überarbeiteten und behutsam in die neue deutsche Rechtschreibung gebrachten Version dieses Novelle.
Das steht dem Konzept der Erstausgabe von 2014 zuwider, hat seine Begründung aber im erleichterten Lesefluss. Sperrige oder veraltete Worte werden im Text erklärt oder kommentiert. So ist dieser Text in der Neuzeit angekommen und kann weiterhin seine Strahlkraft verbreiten.
Manfred Müller, November 2025
Editorial
Vorwort 2014
Vorwort 2025
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Anmerkung des Herausgebers
Biografie
Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte
Theorie und Weltanschauung
Der ‚Taugenichts‘ im Gesamtwerk und in der Romantik
Interpretation und Einordnung : Wem Gott will rechte Gunst erweisen
Weitere Werke Eichendorffs
Weiterführende Literatur
Literaturwissenschaftliche Bücher von Manfred Müller
Literaturklassiker
Lektüretipps
Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen, mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: „Du Taugenichts! da sonnst Du Dich schon wieder und dehnst und reckst Dir die Knochen müde, und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann Dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Türe, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb Dir selber Dein Brodt.“ – „Nun,“ sagte ich, „wenn ich ein Taugenichts bin, so ist’s gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen.“ Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehen, da ich den Goldammer, der im Herbst und Winter immer betrübt an unserem Fenster sang: „Bauer, miet’ mich, Bauer miet’ mich!“ nun in der schönen Frühlingszeit wieder ganz stolz und lustig vom Baume rufen hörte: „Bauer, behalt Deinen Dienst!“ – Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus. Ich hatte recht meine heimliche Freud’, als ich da alle meine alten Bekannten und Kammeraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten recht stolz und zufrieden Adjes zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinaus kam, da nahm ich meine liebe Geige vor, und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend:
Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,
Dem will er seine Wunder weisen
In Feld und Wald und Strom und Feld.
Die Trägen, die zu Hause liegen,
Erquicket nicht das Morgenrot,
Sie wissen nur vom Kinderwiegen
Von Sorgen, Last und Noth um Brodt.
Die Bächlein von den Bergen springen,
Die Lerchen schwirren hoch vor Lust,
Was sollt’ ich nicht mit ihnen singen
Aus voller Kehl’ und frischer Brust?
Den lieben Gott lass ich nur walten;
Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
Und Erd’ und Himmel will erhalten,
Hat auch mein’ Sach’ auf’s Best’ bestellt!
Indem wie ich mich so umsehe, kömmt ein köstlicher Reisewagen ganz nahe an mich heran, der mochte wohl schon einige Zeit hinter mir drein gefahren sein, ohne dass ich es merkte, weil mein Herz so voller Klang war, denn es ging ganz langsam, und zwei vornehme Damen steckten die Köpfe aus dem Wagen und hörten mir zu. Die eine war besonders schön und jünger als die andere, aber eigentlich gefielen sie mir alle beide. Als ich nun aufhörte zu singen, ließ die ältere still halten und redete mich holdselig an: „Ei, lustiger Gesell, Er weiß ja recht hübsche Lieder zu singen.“ Ich nicht zu faul dagegen: „Ew. Gnaden aufzuwarten, wüsst’ ich noch viel schönere.“ Darauf fragte sie mich wieder: „Wohin wandert er denn schon so am frühen Morgen?“ Da schämte ich mich, dass ich das selber nicht wusste, und sagte dreist: „Nach W.“; nun sprachen beide miteinander in einer fremden Sprache, die ich nicht verstand. Die jüngere schüttelte einigemal mit dem Kopfe, die andere lachte aber in einem fort und rief mir endlich zu: „Spring er nur hinten mit auf, wir fahren auch nach W.“ Wer war froher als ich! Ich machte einen Reverenz und war mit einem Sprunge hinter dem Wagen, der Kutscher knallte und wir flogen über die glänzende Straße fort, dass mir der Wind am Hute pfiff.
Hinter mir gingen nun Dorf, Gärten und Kirchtürme unter, vor mir neue Dörfer, Schlösser und Berge auf; unter mir Saaten, Büsche und Wiesen bunt vorüberfliegend, über mir unzählige Lerchen in der klaren blauen Luft – ich schämte mich laut zu schreien, aber innerlichst jauchzte ich und strampelte und tanzte auf dem Wagentritt herum, dass ich bald meine Geige verloren hätte, die ich unterm Arme hielt. Wie aber denn die Sonne immer höher stieg, rings am Horizont schwere weiße Mittagswolken aufstiegen, und alles in der Luft und auf der weiten Fläche so leer und schwül und still wurde über den leise wogenden Kornfeldern, da fiel mir erst wieder mein Dorf ein und mein Vater und unsere Mühle, wie es da so heimlich kühl war an dem schattigen Weiher, und dass nun alles so weit, weit hinter mir lag. Mir war dabei so kurios zu Mute, als müsst’ ich wieder umkehren; ich steckte meine Geige zwischen Rock und Weste, setzte mich voller Gedanken auf den Wagentritt hin und schlief ein.
Als ich die Augen aufschlug, stand der Wagen still unter hohen Lindenbäumen, hinter denen eine breite Treppe zwischen Säulen in ein prächtiges Schloss führte. Seitwärts durch die Bäume sah ich die Türme von W. Die Damen waren, wie es schien, längst ausgestiegen, die Pferde abgespannt. Ich erschrak sehr, da ich auf einmal so allein saß, und sprang geschwind in das Schloss hinein, da hörte ich von oben aus dem Fenster lachen.
In diesem Schlosse ging es mir wunderlich. Zuerst wie ich mich in der weiten kühlen Vorhalle umschaue, klopft mir Jemand mit dem Stocke auf die Schulter. Ich kehre mich schnell herum, da steht ein großer Herr in Staatskleidern, ein breites Bandelier von Gold und Seide bis an die Hüften übergehängt, mit einem oben versilberten Stabe in der Hand, und einer außerordentlich langen gebognen kurfürstlichen Nase im Gesicht, breit und prächtig wie ein aufgeblasener Puter, der mich frägt, was ich hier will. Ich war ganz verblüfft und konnte vor Schreck und Erstaunen nichts hervor bringen. Darauf kamen mehrere Bedienten die Treppe herauf und herunter gerannt, die sagten gar nichts, sondern sahen mich nur von oben bis unten an. Sodann kam eine Kammerjungfer (wie ich nachher hörte) grade auf mich los und sagte: ich wäre ein scharmanter Junge, und die gnädige Herrschaft ließe mich fragen, ob ich hier als Gärtnerbursche dienen wollte? – Ich griff nach der Weste; meine paar Groschen, weiß Gott, sie müssen beim herum tanzen auf dem Wagen aus der Tasche gesprungen sein, waren weg, ich hatte nichts als mein Geigenspiel, für das mir überdies auch der Herr mit dem Stabe, wie er mir im Vorbeigehn sagte, nicht einen Heller geben wollte. Ich sagte daher in meiner Herzensangst zu der Kammerjungfer: Ja, noch immer die Augen von der Seite auf die unheimliche Gestalt gerichtet, die immerfort wie der Perpendikel [Uhrpendel] einer Turmuhr in der Halle auf und ab wandelte, und eben wieder majestätisch und schauerlich aus dem Hintergrunde heraufgezogen kam. Zuletzt kam endlich der Gärtner, brummte was von Gesindel und Bauerlümmel unterm Bart, und führte mich nach dem Garten, während er mir unterwegs noch eine lange Predigt hielt: wie ich nur fein nüchtern und arbeitsam sein, nicht in der Welt herumvagieren, keine brotlosen Künste und unnützes Zeug treiben solle, da könnt ich es mit der Zeit auch einmal zu was Rechtem bringen. – Es waren noch mehr sehr hübsche, gutgesetzte, nützliche Lehren, ich habe nur seitdem fast alles wieder vergessen. Überhaupt weiß ich eigentlich gar nicht recht, wie doch alles so gekommen war, ich sagte nur immerfort zu allem: Ja, – denn mir war wie einem Vogel, dem die Flügel begossen worden sind. – So war ich denn, Gott sei Dank, im Brote. –
In dem Garten war schön leben, ich hatte täglich mein warmes Essen vollauf, und mehr Geld als ich zu Weine brauchte, nur hatte ich leider ziemlich viel zu tun. Auch die Tempel, Lauben und schönen grünen Gänge, das gefiel mir alles recht gut, wenn ich nur hätte ruhig drinn herumspazieren können und vernünftig diskurrieren [heftig erörtern], wie die Herren und Damen, die alle Tage dahin kamen. So oft der Gärtner fort und ich allein war, zog ich sogleich mein kurzes Tabakspfeifchen heraus, setzte mich hin, und sann auf schöne höfliche Redensarten, wie ich die eine junge schöne Dame, die mich in das Schloss mitbrachte, unterhalten wollte, wenn ich ein Kavalier wäre und mit ihr hier herumginge. Oder ich legte mich an schwülen Nachmittagen auf den Rücken hin, wenn alles so still war, dass man nur die Bienen sumsen hörte, und sah zu wie über mir die Wolken nach meinem Dorfe zuflogen und die Gräser und Blumen sich hin und her bewegten, und gedachte an die Dame, und da geschah es denn oft, dass die schöne Frau mit der Guitarre oder einem Buche in der Ferne wirklich durch den Garten zog, so still, groß und freundlich wie ein Engelsbild, so dass ich nicht recht wusste, ob ich träumte oder wachte.
So sang ich auch einmal, wie ich eben bei einem Lusthause zur Arbeit vorbei ging, für mich hin:
Wohin ich geh’ und schaue,
In Feld und Wald und Tal
Vom Berg’ in’s Himmelsblaue,
Viel schöne gnäd’ge Fraue,
Grüß’ ich Dich tausendmal.
Da seh’ ich aus dem dunkelkühlen Lusthause zwischen den halbgeöffneten Jalousien und Blumen, die dort standen, zwei schöne junge frische Augen hervorfunkeln. Ich war ganz erschrocken, ich sang das Lied nicht aus, sondern ging, ohne mich umzusehen, fort an die Arbeit.
Abends, es war grade an einem Sonnabend, und ich stand eben in der Vorfreude kommenden Sonntags mit der Geige im Gartenhause am Fenster und dachte noch an die funkelnden Augen, da kommt auf einmal die Kammerjungfer durch die Dämmerung dahergestrichen. „Da schickt Euch die vielschöne gnädige Frau was, das sollt Ihr auf ihre Gesundheit trinken. Eine gute Nacht auch!“ Damit setzte sie mir fix eine Flasche Wein auf’s Fenster und war sogleich wieder zwischen den Blumen und Hecken verschwunden, wie eine Eidechse.
Ich aber stand noch lange vor der wundersamen Flasche, und wusste nicht wie mir geschehen war. – Und hatte ich vorher lustig die Geige gestrichen, so spielt’ und sang ich jetzt erst recht, und sang das Lied von der schönen Frau ganz aus und alle meine Lieder, die ich nur wusste, bis alle Nachtigallen draußen erwachten und Mond und Sterne schon lange über dem Garten standen. Ja, das war einmal eine gute schöne Nacht!
Es wird keinem an der Wiege gesungen, was künftig aus ihm wird, eine blinde Henne find’t manchmal auch ein Korn, wer zuletzt lacht, lacht am besten, unverhofft kommt oft, der Mensch denkt und Gott lenkt, so meditiert’ [nachgedacht] ich, als ich am folgenden Tage wieder mit meiner Pfeife im Garten saß und es mir dabei, da ich so aufmerksam an mir herunter sah, fast vorkommen wollte, als wäre ich doch eigentlich ein rechter Lump. – Ich stand nunmehr, ganz wider meine sonstige Gewohnheit, alle Tage sehr zeitig auf, eh’ sich noch der Gärtner und die andern Arbeiter rührten. Da war es so wunderschön draußen im Garten. Die Blumen, die Springbrunnen, die Rosenbüsche und der ganze Garten funkelten von der Morgensonne wie lauter Gold und Edelstein. Und in den hohen Buchen-Alleen, da war es noch so still, kühl und andächtig wie in einer Kirche, nur die Vögel flatterten und pickten auf dem Sande. Gleich vor dem Schlosse, grade unter den Fenstern, wo die schöne Frau wohnte, war ein blühender Strauch. Dorthin ging ich dann immer am frühesten Morgen und duckte mich hinter die Äste, um so nach den Fenstern zu sehen, denn mich im Freien zu produzieren hatt’ ich keine Courage [Mut]. Da sah ich nun allemal die allerschönste Dame noch heiß und halb verschlafen im schneeweißen Kleide an das offne Fenster hervortreten. Bald flocht sie sich die dunkelbraunen Haare und ließ dabei die anmutig spielenden Augen über Busch und Garten ergehen, bald bog und band sie die Blumen, die vor ihrem Fenster standen, oder sie nahm auch die Guitarre in den weißen Arm und sang dazu so wundersam über den Garten hinaus, dass sich mir noch das Herz umwenden will vor Wehmut, wenn mir eins von den Liedern bisweilen einfällt – und ach das alles ist schon lange her!
So dauerte das wohl über eine Woche. Aber das einemal, sie stand grade wieder am Fenster und alles war stille rings umher, fliegt mir eine fatale Fliege in die Nase und ich gebe mich an ein erschreckliches Niesen das gar nicht enden will. Sie legt sich weit zum Fenster hinaus und sieht mich Ärmsten hinter dem Strauche lauschen. – Nun schämte ich mich und kam viele Tage nicht hin.
Endlich wagte ich es wieder, aber das Fenster blieb diesmal zu, ich saß vier, fünf, sechs Morgen hinter dem Strauche, aber sie kam nicht wieder an’s Fenster. Da wurde mir die Zeit lang, ich fasste ein Herz und ging nun alle Morgen frank und frei längs dem Schlosse unter allen Fenstern hin. Aber die liebe schöne Frau blieb immer und immer aus. Eine Strecke weiter sah ich dann immer die andere Dame am Fenster stehn. Ich hatte sie sonst so genau noch niemals gesehen. Sie war wahrhaftig recht schön rot und dick und gar prächtig und hoffärtig anzusehn, wie eine Tulipane. Ich machte ihr immer ein tiefes Kompliment, und, ich kann nicht anders sagen, sie dankte mir jedesmal und nickte und blinzelte mit den Augen dazu ganz außerordentlich höflich. – Nur ein einzigesmal glaub’ ich gesehn zu haben, dass auch die Schöne an ihrem Fenster hinter der Gardine stand und versteckt hervor guckte. –
Viele Tage gingen jedoch ins Land, ohne dass ich sie sah. Sie kam nicht mehr in den Garten, sie kam nicht mehr an’s Fenster. Der Gärtner schalt mich einen faulen Bengel, ich war verdrüsslich, meine eigne Nasenspitze war mir im Wege, wenn ich in Gottes freie Welt hinaus sah.
So lag ich eines Sonntags Nachmittag im Garten und ärgerte mich, wie ich so in die blauen Wolken meiner Tabakspfeife hinaussah, dass ich mich nicht auf ein anderes Handwerk gelegt, und mich also morgen nicht auch wenigstens auf einen blauen Montag zu freuen hätte. Die andern Bursche waren indes alle wohlausstaffiert nach den Tanzböden in der nahen Vorstadt hinausgezogen. Da wallte und wogte alles im Sonntagsputze in der warmen Luft zwischen den lichten Häusern und wandernden Leierkasten schwärmend hin und zurück. Ich aber saß wie ein Rohrdommel im Schilfe eines einsamen Weihers im Garten und schaukelte mich auf dem Kahne, der dort angebunden war, während die Vesperglocken aus der Stadt über den Garten herüberschallten und die Schwäne auf dem Wasser langsam neben mir hin und her zogen. Mir war zum Sterben bange. –
