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Nach vielen hundert Umläufen wird im Hohen Hort von Tarjan endlich ein Zwillingspärchen geboren, auf das sich große Hoffnungen richten. Behütet und geschult von den besten Meistern wachsen sie in der Purpurkammer auf, bis eine Entscheidung gegen Traditionen ein tief¬greifendes Zerwürfnis mit ihrem Vater auslöst. Sie werden in die Verbannung geschickt, nicht ohne einen bedeutsamen Auftrag zu erhalten. Ihre Reise ist gespickt mit Gefahren, Geheimnissen, Komplotten und überraschenden Entdeckungen. Aber die Zwillinge finden auch ihre Bestimmung, neue Freunde, Hilfe und die Liebe.
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2023
Aus den Legenden der Purpurkammern
Teil 1
Verbannung
Science Fantasy Roman
von Rabe Acht
Layout und Lektorat:
Helen Warnat
Titelbild und Zeichnungen:
Heide Warnat
Impressum:
ISBN Softcover: 978-3-347-92287-7
ISBN E-Book: 978-3-347-92288-4
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH,
Heinz-Beusen-Stieg 5
22926 Ahrensburg
Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Rabe Acht verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.
Lektorat von: Helen Warnat
Coverdesign von: Helen Warnat
Satz & Layout von: Helen Warnat
Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
© 2023 Rabe Acht
Über das Buch
Nach vielen hundert Umläufen wird im Hohen Hort von Tarjan endlich ein Zwillingspärchen geboren, auf das sich große Hoffnungen richten. Behütet und geschult von den besten Meistern wachsen sie in der Purpurkammer auf, bis eine Entscheidung gegen Traditionen ein tiefgreifendes Zerwürfnis mit ihrem Vater auslöst. Sie werden in die Verbannung geschickt, nicht ohne einen bedeutsamen Auftrag zu erhalten. Ihre Reise ist gespickt mit Gefahren, Geheimnissen, Komplotten und überraschenden Entdeckungen. Aber die Zwillinge finden auch ihre Bestimmung, neue Freunde, Hilfe und die Liebe.
Über den Autor
Rabe Acht ist der Achte dieses Namens und beileibe nicht immer schwarz. Nach den Pflichten des Nestbaus und der Jungenaufzucht war ihm langweilig. Man kann ja nicht immer bloß singen oder Walnüsse vor Autos werfen. Dies ist das Ergebnis seiner Träume von einer menschlichen oder unmenschlichen Welt. (Ihr kennt die Geschichte vom Menschen, der träumte, er sei ein Schmetterling, der träumte, er sei ein Mensch… hier ist er ein Rabe.)
Ehre den Meistern.
Der Weise tut ab das Zuviel
Lao Tse
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Über das Buch
Glossar
Prolog
Kapitel 1 Abschiedsschnee
Kapitel 2 Vom Suchen und Finden
Kapitel 3 Lektionen in Liebe und Tod
Kapitel 4 Abgründe
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Glossar
Kapitel 4 Abgründe
Cover
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Prolog
- alles Schwere der Welt ward aus Leichtem und alles Große entsteht aus Geringem -
Mit klopfendem Herzen schlich Zibatheya den Flur der Purpurkammer entlang. Obwohl sie selbst in einer Purpurkammer aufgewachsen war, die sie erst vor einigen Monaten hatte verlassen müssen, erschien ihr alles fremd, hier an der Spitze der Welt. Der Hohe Hort bildete tatsächlich nicht nur die Spitze, sondern auch das Ende der Welt. Hier ging es einfach nicht weiter. Man konnte nirgends hin. Es gab kein Umland, keine Seen, Hügel oder Wälder. Nur eisige Luft, herrlich weiten Himmel und die Sterne. Ganz tief unten ließen sich bei klarem Wetter die Gipfel des Wellengebirges erahnen. Der Hohe Hort bestand aus Felsnadeln, die sich Seccai um Seccai in die Atmosphäre reckten.
Zibatheya befand sich erst seit relativ kurzer Zeit an diesem außergewöhnlichen Ort, doch sie fühlte sich eingesperrt. Paradox, umgab sie doch Endlosigkeit, so weit das Auge reichte. Schon längst hätte sie sich von einem der ungezählten Altane gestürzt, wenn sie nicht einen Jungen getroffen hätte, der sie bezauberte. An Rho, der Bruder des Mannes, dem sie versprochen war. Ein hochgewachsener schlanker Bursche, der erst kürzlich seine Volljährigkeitsfeier begangen hatte. Beim Gedanken an seine blitzenden Augen und das nachtdunkle, seidige Haar spürte Zibatheya ein Gefühl, als streichelten hunderte Nachtfalter sanft mit ihren Flügeln ihr Inneres. An Rho wirkte so ganz anders als sein älterer Bruder. Arbathon verkörperte Macht und Robustheit, während An Rho Eleganz verströmte… und Magie. Kein Wunder, schließlich befand er sich in der Ausbildung zum nächsten Hochmagier des Hohen Hortes. Oh, wie sie ihn liebte! Die schlanken Hände, die glatte Haut, das schmale Gesicht mit den klugen, verständnisvollen Augen und erst der Mund, der pure Sinnlichkeit verströmte. Der Gedanke an diesen Mund und was An Rho damit getan hatte, ließ ihr Herz schmelzen.
Zibatheya presste sich in eine Nische, nachdem sie eine Tür hörte, die aufgeschoben wurde. Licht und Gesprächsfetzen ergossen sich auf den Flur. Obwohl den Boden ein dicker grauer Teppich bedeckte, drang die Kälte des Steins durch Zibatheyas fellgefütterte Füßlinge. So kalt, hier war es immer so kalt… Wenn sie nicht mindestens fünf Schichten Kleidung übereinander anzog, fror sie erbärmlich. Bei diesen Gelegenheiten erfasste sie zuweilen eine ziehende Sehnsucht nach den dunklen, warmen Gängen der Muyat–Höhlen.
Heute hatte sich das Mädchen für ihren Ausflug zusätzlich in einen dunkelvioletten schweren Überwurf gehüllt. Unter dem Gewand einer niederen Dienerin würde sie unentdeckt bleiben. Hoffte sie. Trotzdem schlug ihr Herz zum Zerspringen. Sie hob eine Hand und fuhr sich übers Gesicht. Bestimmt glühten ihre Wangen. Sie fühlte die Wärme. Ihre Finger dagegen waren wie Eiszapfen. Rasch verbarg sie die Hände in den tiefen Taschen des Überwurfs. Sobald die Geräusche verstummten, huschte sie weiter.
In einem großen Spiegel, der den Zwischenraum zwischen zwei gedrehten Säulen beinahe gänzlich ausfüllte, erblickte sie flüchtig ihre eigene Gestalt. Ein zierliches, blasses Mädchen mit hellgrauen großen Augen und weißblondem Haar, dessen sanft gewellte Strähnen im schwachen Sog der Zugluft hinter ihr herwehten. Zu klein, zu schmal, zu jung. Unbedeutend. Ohne die weiblichen Formen, die ältere Mädchen und Frauen so anziehend für das männliche Geschlecht machten. Ihre Brüste waren bisher nicht mehr als rosafarbene Spitzen auf kaum vorhandenen Wölbungen und ihre Hüften schlank wie die eines Knaben. Was An Rho an ihr fand, verstand sie selbst nicht genau. Ja, sicher, sie hatte in den Muyat–Höhlen die beste Ausbildung genossen, die man sich nur wünschen konnte, trotzdem fühlte sie sich unzureichend. In jeder Beziehung. Nicht genug als Gattin für den nächsten Clanherren, nicht genug als Repräsentantin des Hohen Hortes, nicht genug als Partnerin und Verhandlungsführerin. Und schon gar nicht genug als Mutter.
Zibatheya warf einen letzten Blick in den Spiegel und schlug die Kapuze über ihr verräterisch leuchtendes Haar. Irgendwie fühlte sie sich unwohl, als taxierten sie aus der Ferne misstrauische Blicke. Nachdem sie den Flur in beiden Richtungen erneut prüfend gemustert hatte, schob sie die hinter einem purpurnen schweren Samtvorhang verborgene Tür auf. Die Rollen verursachten leise schabende Geräusche. Das Mädchen unterdrückte einen Fluch. Sie wollte keinesfalls bei ihrer Eskapade entdeckt werden, schon gar nicht von ihrem versprochenen Gemahl. Die Vorstellung, dass Arbathon hinter der nächsten Gangbiegung aus den Schatten treten könnte, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken und verursachte ihr eine Gänsehaut. Ihr künftiger Gemahl – das sie nicht lachte! Obwohl sie wusste, dass sie ein bloßes Unterpfand für das Bündnis zwischen dem Höhlenlabyrinth und dem Hohen Hort darstellte, fühlte sie Bitterkeit in sich aufsteigen. Mit Zuneigung oder gar Liebe von Arbathons Seite hatte Zibatheya schon nicht wirklich gerechnet, doch diese kalte Gleichgültigkeit verunsicherte sie zunächst, bevor sich das Gefühl in Abneigung und später Ärger wandelte. Noch später in Zorn.
Ja gut, ihr war völlig klar, dass sich ein längst erwachsener Thronerbe kein dreizehnjähriges junges Ding als erste Gemahlin wünschte, doch hätte Arbathon nicht wenigstens freundlich sein können? Seine kühle Strenge, die schweigende Nichtachtung mit der er über ihre Äußerungen, Vorschläge und Wünsche hinwegging, das verächtliche Verziehen des Mundes, jedesmal, wenn sein Blick auf seine Verlobte traf – das alles demütigte sie. Wieso hatte er der Vermählung und dem Bündnis zugestimmt, wenn er sie so wenig schätzte?
Dabei war das Mädchen voller Vorfreude und Spannung auf die neuen Erfahrungen gewesen, auf den neuen Ort, weitab von den finsteren Höhlen und dem Gewusel der schwarzpelzigen Crantus. Sie hatte sich gut vorbereitet gewähnt, auf ein Leben an der Seite eines respektierten Clanoberhaupts. Weit gefehlt! Über ihre naive Fehleinschätzung konnte sie jetzt nur noch den Kopf schütteln. Dabei hatte sich Zibatheya zu Beginn ihrer Bekanntschaft durchaus von der kräftigen machtvollen Erscheinung und der charismatischen Ausstrahlung Arbathons angezogen gefühlt. Doch dieses Charisma verschwendete der Kronprinz nicht an sie. Da gab es andere. Das atemberaubende Mädchen aus den Nebelmeeren zum Beispiel. Heißer Neid auf die dunkle Schönheit stieg in Zibatheya auf. Nicht eigentlich auf das fremde Mädchen, sondern eher auf die Komplimente, die Aufmerksamkeit, die bewundernden Blicke, die der nächste Herr des silbernen Throns der anderen widmete.
Sie hingegen fand kaum Beachtung – von der distanzierten kargen Begrüßung mal abgesehen, hatte Arbathon sie bisher kaum eines Wortes gewürdigt. Zibatheya war geduldig gewesen, mühte sich verzweifelt um das Interesse des Prinzen, wandte alle Tricks an, in denen sie von den Meistern in den Höhlen ausgebildet worden war – schöne Kleider, Schmuck, aufwendige Frisuren, Düfte, dezente Schminke. Nichts half. Nichts davon machte Eindruck auf den ersten Sohn. Sämtliche ihrer Verführungskünste prallten wirkungslos von ihm ab. Sein Interesse galt einzig ihrer Rivalin aus den Nebelmeeren.
Schließlich akzeptierte Zibatheya das Unvermeidliche. Sie gab auf. Ihr war klar, dass sie als erste Gemahlin nicht in die Höhlen zurückgehen könnte, und sie hatte sich auch schon beinahe mit ihrem Schicksal als ungeliebte Gattin abgefunden – da traf sie auf den viele Jahre jüngeren Bruder des Kronprinzen. Diese Begegnung wirkte wie eine Offenbarung auf sie, gab Zibatheya ihr Selbstvertrauen zurück, erfüllte sie mit Freude, Dankbarkeit und später einer zitternden Spannung. Kaum vermochte sie das nächste Treffen zu erwarten. An Rho war inzwischen alles, was sie sich wünschte. Er schenkte ihr Aufmerksamkeit, Anerkennung, Zärtlichkeit… Liebe. Jetzt erst ahnte sie, was Liebe wirklich bedeutete. Die Gedanken an diesen Jungen füllten ihr Herz mit Glück, atemloser Vorfreude, Sehnsucht und Erwartung. Wenn sie ihre Liebe doch nur verbergen könnten, das Geheimnis bewahren! Doch jedesmal, wenn ihre Blicke sich trafen, wenn ein verräterisches süßes Lächeln aufblitzte, wenn ihre Hände oder Schultern sich im Vorbeigehen streiften, fühlte Zibatheya sich zerrissen zwischen berauschender Freude und bebender Furcht. Aber die Freude überwog die Furcht um ein Vielfaches. Was gab es schon zu fürchten? Arbathons Desinteresse präsentierte sich so klar wie die kalte Luft und der weite grüne Himmel um die Steinernen Brecher. Der Kronprinz wollte sie nicht.
Doch An Rho wollte sie, liebte sie, sehnte sich nach ihr. Diese Gewissheit erfüllte das zierliche Mädchen mit Genugtuung und versöhnte sie mit ihrem Schicksal.
Hinter der Flurtür führte eine schmale Treppe steil hinab. Obwohl Globen mit Photoplankton darin den Gang mit sporadischen Lichtflecken sprenkelten, setzte Zibatheya ihre Füße mit Vorsicht auf die glatten Stufen. Einen Sturz mochte sie nicht riskieren. Beim letzten Treffen hatte An Rho gesagt, er wolle ihr heute etwas zeigen…was es wohl sein mochte? Ein kurzes Lächeln ließ Zibatheyas Gesicht aufleuchten. Eigentlich war es ganz egal, weshalb der Magier sie treffen wollte, Hauptsache, er wollte sie treffen. Die Erinnerung an seine behutsamen, heißen Hände, seine weichen Lippen, die Zunge, die in sanft kreisenden Bewegungen über ihre Schultern und Brüste glitt, die Lust, die sie nun bei ihren Vereinigungen erfüllte, zauberte abermals Röte auf ihre blassen Wangen. Was gab es Schöneres, als das Wissen, begehrt zu werden?
Immer tiefer ging es hinunter, in die düsteren hallenden Eingeweide des Hohen Hortes. An einer Abzweigung blieb das Mädchen stehen und lauschte. Waren das Geräusche von Schritten hinter ihr? Nein, sie musste sich geirrt haben. Die Echos in dem endlos scheinenden Schacht hatten sie genarrt. Von früheren Erkundungsgängen wusste sie, dass sich an dieser Gabelung kurz nach einer weiteren Treppe die Trainingsräume der stillen Brüder befanden. Aus der Entfernung drangen leise Laute an ihre Ohren. Die Gowan–Jünger trainierten immer, es sei denn, sie erfüllten einen Auftrag des Clanherren. Seit Diracon an einer unbekannten Krankheit litt, die weder die Heiler noch Kräuter und Elixiere aus den Kavernen der Höhlen zu lindern vermochten, hatte sein ältester Sohn als Regent fast sämtliche Aufgaben des Clanherren übernehmen müssen. Jetzt schickte Arbathon die Gowan-Jünger auf Reisen, zur Begleitung und zum Schutz der Luftkarawanen. Sie durften die Welt sehen.
Ein Seufzer wollte sich aus der Kehle des Mädchens lösen, doch sie unterdrückte ihn hastig. Ihr Keuchen, als unvermittelt eine Hand aus der Dunkelheit nach ihr griff, vermochte sie jedoch nicht zu beherrschen. Sie schlug die Hand vor den Mund. Schreck wandelte sich in Erleichterung.
„Wartest du schon lange?”, raunte es an ihrem Ohr, dann fühlte sie den Kuss, die Zähne, die an ihrem Ohrläppchen knabberten. Der Mund wanderte den Hals hinab.
„An Rho, du bist verrückt! Wir sind auf einer Treppe!” Sie schob den Jungen sacht, aber energisch von sich. Sein strahlendes Lächeln wärmte sie. Es war, als sei in dem kalten Flur eine Sonne aufgegangen.
In seinem Blick lag offenkundige Bewunderung. „Du bist so süß und hübsch. Ich habe dich so sehr vermisst… und du fragst mich bloß, ob ich verrückt bin. Im Übrigen solltest du das längst wissen.”
Der Magier zog sie erneut an sich und schenkte ihr einen Kuss, der Zibatheyas Verlangen auflodern und ihre Knie weich werden ließ. Trotzdem musste sie jetzt die Vernünftige sein. Sie legte die Finger über seinen Mund, war nicht überrascht über die Zunge, die sie leckte. „Warte. Das ist kein guter Ort. Du wolltest mir doch etwas zeigen…”
„Ja, ja. Komm!”
Die Ablenkung funktionierte. Er fasste nach ihrer Hand und zog sie eifrig weiter die Treppe hinab. An einer massiven Tür aus Silberbaumholz, die zusätzlich mit geschmiedeten Metallornamenten verstärkt worden war, hielt er inne, um in der Tasche seiner Tunika nach etwas zu suchen. An Rho förderte einen großen Schlüssel mit vier Bärten zutage.
„Vorsichtig”, murmelte er im Selbstgespräch vor sich hin, während er den Schlüssel inspizierte, ins Loch schob und die Verzierungen auf dem Griff mit den eingeätzten eigenartigen arkanen Mustern und uralten Zeichen auf dem Beschlag der Schlüssellochumrandung verglich. „Der Meister hat mich gewarnt. Ich muss ganz sicher sein, dass alles übereinstimmt, sonst verkantet sich der Schlüssel und wir gelangen nie in diesen Raum…” Seine Stimme wurde leiser und leiser, verwehte schließlich zu einem Hauch, während er mit aufmerksamer Entschlossenheit den Schlüssel drehte.
„Was ist hier?”
„Siehst du gleich… jetzt.”
Der junge Magier zog das schwere Türblatt auf. Neugierig spähte Zibatheya hinein. Nach dem ersten Blick hatte sie Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Hier gibt es nur Staub und Gerümpel. Was soll daran besonders sein?”
Ein großer Raum, beinahe ein Saal, tat sich vor den beiden jungen Leuten auf, mit verstaubten Regalreihen an den Wänden, unbekannten Geräten, Kanistern, Glasbehältern, Kolben, Zylindern und dicken, an den Wänden entlang verlaufenden Leitungsbündeln. In der Mitte befand sich ein mächtiger Tisch mit Schubladen, ebenso verstaubt wie alles andere. Im Dunkel darunter verbargen sich weitere Gerätschaften. Nie gesehene Apparate standen auf zwischen den Regalen angeordneten Tischen.
„Was ist das hier?”, flüsterte Zibatheya. Plötzliche Ehrfurcht hatte sie ergriffen. „Das muss alles äonenalt sein. Stammt das etwa noch… beim Ursprung…”
„Nein nein, soooo alt ist das Zeug nun auch wieder nicht. Mein Meister hat mir diesen Experimentierraum übergeben. Er gehörte dem letzten Hochmagier vor mir und dem davor und davor und davor. Meister Jang Li meinte, es sei Zeit, dass sich der zukünftige Hochmagier ebenfalls mit seinem Erbe vertraut mache. Ist es nicht toll hier? So viel zu entdecken. So viele Möglichkeiten! Was sagst du?”
Seine Begeisterung wirkte ansteckend auf das Mädchen. Sie nickte entschieden. „Wozu willst du ihn nutzen? Weißt du überhaupt schon, wofür sich diese ganzen Geräte verwenden lassen?”
Auf einmal überschattete Ernst die Züge des Jungen. „Es ist tabu, was ich dir jetzt sage. Ich vertraue dir, aber behalte es für dich, ja? Unter allen Umständen.” Fragend blickte An Rho auf seine Liebste und erst, als diese wortlose Bestätigung nickte, senkte er seine Stimme zu einem fast unhörbaren Raunen. „Unsere Magie schwindet. Es werden nur noch wenige magisch begabte Kinder im Hohen Hort geboren.”
„Aber du bist begabt… eine große Begabung!” Entsetzen lag in Zibatheyas geflüsterter Entgegnung und machte ihre Stimme spröde.
Der Junge neben ihr schüttelte den Kopf. „Meine Fähigkeiten halten keinem Vergleich mit dem Können früherer Generationen stand. Ich beherrsche lediglich einen Bruchteil…”
„Nein, ich habe selbst gesehen, wie du… du kannst aus dem Nichts Licht und Feuer machen, du hast uns vor der neugierigen Dienerin verborgen, du hast mich geheilt, nach meinem Sturz, einfach so… das ist doch große Macht!”
Abermals schüttelte An Rho seinen Kopf. „Nichtigkeiten. Banalitäten. Weißt du, wozu die Magier in früheren Zeiten fähig waren? Sie veränderten ganze Tierarten, riefen Sterbende von der Schwelle des Todes zurück, leiteten Flüsse um, konnten mit einem Fingerschnippen enorme Lasten schweben lassen, bauten Städte unter Wasser. In den Chroniken wird sogar von Magiern berichtet, die mit den Geistern der Toten zu sprechen vermochten. Unfassbar, nicht? Sie haben auch den Hohen Hort geschaffen. Er war als Fahrstuhlstation zu den Monden gedacht. Nein. Es muss an uns liegen. An unseren Genen möglicherweise, an den Veränderungen, die Tarjan uns aufzwingt oder der Spaltung unserer Rasse in Clans… oder etwas ganz anderem. Ich will die Ursachen für das Schwinden unseres magischen Potenzials herausfinden.” Er schaute dem Mädchen neben sich mit schräg gelegtem Kopf forschend in die Augen. „Hilfst du mir?”
In Zibatheya regte sich Freude. Der junge Magier traute ihr zu, ihn zu unterstützen? „Ja”, flüsterte sie, „alles, was ich kann.”
Seine Augen leuchteten auf, er er griff nach den Schultern des Mädchens und zog sie näher. „Danke, dass du das sagst. Gemeinsam können wir es schaffen, zumindest einen großen Schritt auf dem Weg gehen. Ich bin fest davon überzeugt.” Mit einem entschlossenen Griff fasste An Rho nach Zibatheyas Hüften und hob sie auf den Experimentiertisch. Er trat näher, suchte den Blick ihrer großen grauen Augen. Seine Stimme klang plötzlich rau. „Ich hatte solche Sehnsucht nach dir. In den letzten Tagen haben mich die Meister ziemlich beansprucht und auch mein Bruder überhäufte mich mit merkwürdigen Forderungen. Aber jetzt bist du hier. Bei mir.” Er küsste Zibatheya schnell, nur ein flüchtiges Streifen über die Lippen. Trotzdem hob sich seine Brust unter rascheren Atemzügen. „Willst du mich?”, stieß er hervor, „jetzt gleich?”
Das Mädchen schloss ihre Augen. Wenn sie an den großen Saal dachte, in dem sie sich befanden, an den Geruch nach Staub und Alter, an die hallenden Echos und die Schatten, die sich in den Ecken zu bewegen schienen, kroch Angst ihre Kehle hinauf. Doch den Jungen, der nun vor ihr stand, mit der drängenden Bitte in seinen Augen, den schmalen Händen, die ihre Schultern und Arme streichelten, der klopfenden Ader an seinem Hals, dem leicht geöffneten Mund, aus dem ein sanfter Atemhauch ihre Wange traf, den konnte sie einfach nicht abweisen. So raunte sie: „Ja. Ich will dich. Willst du mich auch?”
An Rho lachte auf, griff nach ihrer Hand und presste sie auf die Beule in seiner Hose. „Weißt du es jetzt?”
Sie schaute ihn mit vager Beunruhigung an. Hatte es dort hinten in den Schatten nicht eine Bewegung gegeben? Sollte sie ihrem Liebsten nicht davon erzählen und auch von den Krämpfen, die sie morgens zuweilen überfielen und sie zwangen, ihr Frühstück zu erbrechen? Oder der schmerzhaften Spannung in ihren Brüsten? Nein. Nicht jetzt, wo er ungeduldig auf ihre Antwort wartete. Nicht jetzt, wo sie endlich zusammen sein konnten. Das Verlangen überwand ihre Zweifel. Sie fühlte, wie ihr Magier ihre Hand umfasste und in seine Hose schob. Sein Blick wurde beinahe flehend. „Willst du?”
„Ja”, murmelte sie.
„Ich liebe dich so sehr. Mein Bruder hat dich gar nicht verdient, er weiß nicht, wie wundervoll du bist, wie süß und schön und bezaubernd unschuldig…”
„Na, das mit der Unschuld dürfte sich ja schon vor einiger Zeit erledigt haben…”
Die kalte Stimme ließ das Blut in Zibatheyas Adern erstarren. Arbathon. Wie hatte er…? Jetzt erklärte sich auch das unsichere Gefühl einer Bedrohung, die Bewegungen in den Schatten und der Eindruck von beobachtenden Blicken, der sie bereits den ganzen Weg über beunruhigt hatte.
„Habt ihr über mich gelacht, als ihr es hinter meinem Rücken miteinander getrieben habt? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es ein Vergnügen gewesen sein soll, mit diesen mageren Ding zu vögeln, doch du scheinst ja anders darüber zu denken, mein geliebter jüngster Bruder, hmmm? Was ist der Grund, der dich veranlasste, einen derartigen Vertrauensbruch zu begehen? Diese Göre ist doch kaum den Kinderschuhen entwachsen. Außerdem war sie mir zur ersten Gemahlin bestimmt!”
Zibatheya glitt vom Tisch und trat einen Schritt vor. Näher traute sich sich nicht, denn Arbathon umloderte eine eiskalte Flamme des Zorns. Trotzdem fasste sie sich ein Herz und sprach:
„Warum bist du wütend? Du hast dich nie so verhalten, als ob dir irgendwas an mir läge. Kein Wort, kein Lächeln, nicht mal ein Blick – die ganzen Monate, die ich schon hier bin. Nicht mal Höflichkeit. Von Wärme oder Zuneigung will ich gar nicht erst anfangen, die hattest du ja ausschließlich für deine neue Gespielin aus den Nebelmeeren reserviert!”
„Bist du etwa eifersüchtig, kleines Mädchen? Wenn du diese Leidenschaft bereits bei deiner Ankunft aufgebracht hättest – möglicherweise wäre ich dann mehr an dir interessiert gewesen. Aber du warst ständig nur so unfassbar langweilig!”