Aus nächster Nähe - Jürgen Theobaldy - E-Book

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Jürgen Theobaldy

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Beschreibung

Während in den Wochen nach dem Fall der Mauer in Berlin die internationale Politik ihre Wende nimmt, stellen sich Richard und Gunter in der kleinsten WG von Charlottenburg Zukunftsfragen. Gunter will sein Taxifahrer-Kollektiv hinter sich lassen und mit einer Imbissbar im städtischen Dschungel der Gastronomie Fuß fassen. Seine aktuelle Freundin Johanna beharrt indes auf ihrer Unabhängigkeit, sowohl in ihrem Beruf als auch in ihren Gefühlen. Zeitgleich muss Richard einsehen, dass er mit seinem Job als Aushilfskraft in einem linken Verlag nicht mehr lange vorankommen wird. Aufgewühlt von der Nachricht, dass Mona, seine große Liebe aus den Jahren der Revolte, wieder in Europa, ja in Berlin lebt, stellt er sich den Erinnerungen an die Zeit der Kämpfe in den Hörsälen und auf der Hauptstraße von Heidelberg. Trotz seines Wiedersehens mit Mona wehrt sich Richard gegen die Ansicht, dass man nur einmal den einzig richtigen Menschen treffen und mit ihm glücklich werden könne- denn da gibt es noch die alleinerziehende Beatrice und nicht zuletzt Johanna. Am Ende einer selbstverschuldet langen Jugend sitzt er erneut vor dem Schreibheft im Café Bleibtreu und nimmt sich vor, die Muse zu umarmen, statt aus der Ferne auf ihren Kuss zu hoffen. Aus nächster Nähe erzählt Geschichten von der Liebe in politisch bewegten Jahren, davon, warum sie nicht sein soll und doch nicht endet. Der Roman zeichnet das Porträt des Künstlers als nicht mehr ganz jungem Mann nach und fragt, weshalb sich die Geschicke der Einzelnen den Kämpfen ihrer Epoche weder entziehen noch ganz in ihnen aufgehen können.

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Seitenzahl: 214

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Der Druck des Buches wurde unterstützt durch:

Lektorat: Angelika Andruchowicz

© 2013 Verlag Das Wunderhorn GmbHRohrbacher Straße 18D-69115 Heidelbergwww.wunderhorn.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Gesamtgestaltung: sans serif, BerlinTitelabbildung: © Dieter Grube

ISBN: 978-3-88423-455-6 (ebook)

JÜRGEN THEOBALDYAUS NÄCHSTER NÄHE

ROMAN

WINTERLICHT

1

Der Himmel hing tief, seit Tagen schon, die Wolkendecke war grau, verwischtes Marmor kurz vor Silvester, und bevor es richtig hell werden konnte, dämmerte es von neuem. Kachelofenniederschlag, ein nordisch fahles Nachleuchten, unter dem Richard diesmal einfach mitgetrottet war, ins Kaufhaus der vier Winde, so nannte Gunter das KaDeWe seit den Breschen in der Mauer. Ganz oben, zwischen den Delikatessen, musste man, wie Gunter ihn einführte, die volle Tüte im Auge behalten, wenn man seinen Fischzug mit einem Prosecco an der Bar beschloss, und Richard stand daneben, als Gunter das Angebot in den Regalen musterte, wählerisch, als hätte er sonst selten die Wahl, auf seiner Suche nach Beigaben für einen safranbeseelten Risotto. An solchen Tagen, an denen Richard, höchstens neugierig auf das Staunen der Ankömmlinge vor den luxuriösen Glanzlichtern im Westen, sich derart treiben ließ, traf er meistens auf ein Gesicht aus früheren Versammlungen und vollgequalmten, inzwischen verödeten Kneipen: Zufälle, die ihm als unvermeidliche fast berechenbar schienen.

Deshalb hielt Richard eine persönliche Statistik für möglich, nur fehlte ihm der Abstand, sie einzusehen, und er wollte keine statistische Größe sein. Das gab er an der Bar weiter, als er dort auf Plettner stieß, den Pletti, seit gut zehn Jahren nicht mehr gesehen, den nachlässigen Volkswirtschaftler damals im Studentenheim, draußen neben den Mais- und Rübenfeldern am Rand von Heidelberg, wohin Richard so oft gefahren war. Das Zimmer von Mona war auf demselben Stockwerk wie Plettners Zimmer gelegen, und ein paar Semester später war Pletti, heute rotbäckiger Enddreißiger mit börsennotierten Interessen, wie Richard schien, früher jedoch an revolutionären Umtrieben interessiert, allzu oft bei Mona in der Wohngemeinschaft aufgetaucht; ja er war ihr sogar ein enger Vertrauter geworden, vorsichtig gesagt, und eigentlich freute sich Richard, dass er wenigstens ihn wieder vor sich sah. Die Hand halb verlegen, halb gönnerhaft ihm auf der Schulter, fühlte Richard sich selbst, zu Recht, wie ihm sofort überlief, gönnerhaft behandelt, doch er musste nach Mona fragen, ganz egal, was Plettner dazu durch den Kopf ginge.

»Die Mona«, wiederholte Plettner, »die soll ja lange in São Paulo gewesen sein und dort im Labor gearbeitet haben.«

»Also hat sie ihren Abschluss nicht umsonst gemacht.«

»Natürlich nicht«, sagte Plettner, »und jetzt lebt sie auch hier«, hängte er an, und nach dem Fanfarenstoß, dem Richard diese Nachricht war, summten die Kassen und wuselten die Kunden unter seinen Sohlen durch die Gänge dieses auf einmal herrlich erregenden Labyrinths von Waren und Verheißungen.

Allerdings hatte Plettner von Mona nur um mehrere Ecken herum gehört, wo genau und mit wem sie wohnte, das hatte er dann doch nicht sagen können, ebenso wenig kannte er ihre Telefonnummer, und Richard blieb nur so zu tun, als sei das auch nicht weiter tragisch.

Und Gunter, dem er manchmal von Mona erzählt hatte, wenn er dabei war, sich aus einer leidvoll gewordenen Affäre lange nach Mona zu winden, spielte gar nicht erst den Verblüfften.

»Immerhin bist du, Riko, all die Jahre ohne sie ausgekommen«, sagte er, den Schuh unter der Einkaufstüte, und Riko ließ Richard sich nur in solchen Momenten nennen, in denen er sich überrumpelt fühlte.

Ob Mona wusste, dass auch er und länger als sie, in dieser Stadt war? Richard würde darauf keine Antwort finden, solange er nur Worte für sie fand, Mona, ein Name, bei dem er, bevor er ihr begegnet war, an die Geste gedacht hatte, mit der junge Frauen, die Damen sein wollten, ihre Zigarettenspitze hielten, Mona, geschrieben in Neonschrift über einer Bar mit dunkel getäfelter Theke und vernickelten Aufbauten, voll von geschniegelten Offizieren einer Besatzungsmacht. Aber es war bloß die Kurz- und Koseform von Monika, einem Namen, der so einnehmend klang wie eine rosa Hauswand aussah, und doch, wenn er diesen Namen unverhofft hörte oder las, dann sah er Mona vor sich, die großen, nur auf manchem Foto traurig blickenden Augen, die langen, nicht ganz so dunklen Haare, die schmalen Schultern, den Streifen Haut zwischen Jeans und T-Shirt, und er hörte ihr belegtes Lachen am Telefon, von dem er sich wieder umfangen fühlte.

Richard hatte sich nie vorstellen können, dass Mona nach dem Studium wieder dorthin zurückkehren würde, wo ihre Eltern lebten, nach Bad Godesberg und in den Kreis ihrer Schulfreunde von einst, die inzwischen Ärzte waren, Topmanager oder immerhin Lehrer. Noch länger soll sie in Bogotá gewesen sein, hatte Plettner nachgereicht, ob vor oder nach São Paolo wusste er nicht, war auch nebensächlich, beide Städte waren für Richard nichts als ein paar Fernsehbilder von hellen, in der Sonne schwärenden Betonbauten, von engen, mit Autos und Menschen verstopften Straßen, von Wellblechhütten an schlammigen Abhängen, übergossen von knallig buntem Unrat. Richard war nie so weit gereist, hatte nie über das, was er hochtönend den alten Limes nannte, hinauskommen wollen, und urplötzlich erschien ihm dies als eine Schwäche, für die er einmal einstehen müsste.

Tatsächlich, räumte er ein, als er mit der Ofenklappe die schmauchende Luke schloss und Gunter hinten in der Küche die leere Tüte wegpackte, all die Jahre war er ohne sie, ich war, Mona, durchaus und ganz gut ohne dich ausgekommen. Jedes dieser Worte sprach er sich insgeheim vor, während er sich in sein Zimmer zurückzog und Gunter wohl eben die Reihe Gewürzdosen durchging. Aber es war dir nur scheinbar gut dabei gegangen, so flüsterte ihm die Gegenstimme zu, die auch nach seiner Stimme klang, und Richard kam sich überboten vor, ein verkannter Wohltäter, der im Keller eines Abbruchhauses hauste, sich selbst gut zuredete, solange er die Hände über dem Flämmchen einer mickrigen Kerze rieb. Dass sich die einmal mit Mona genossenen Freuden später mit anderen Frauen nicht bruchlos hatten fortsetzen, geschweige verfeinern lassen! So wenig hatte er gewusst von dem, worauf es ihm selbst vor allem ankam, er hatte nicht einmal erahnt, wie viel ihm damals schon zugekommen war. Dennoch hatte er, auch um seinen Empfindungen für Mona zu trotzen, nie an die eine einzige, ihm und allen vorbestimmte Liebe glauben wollen, die Liebe war nicht nur einmal zu durchleben, sie blieb das unwiederbringliche Abenteuer, das gegen allen soziologischen Erhebungen nicht in einer Zweckgemeinschaft mit erlöschenden Zwecken auslaufen musste.

Aber man musste wendig sein, dazu geistesgegenwärtig, hielt er Gunter gelegentlich vor, schon um in der Millionenstadt den Mut zu wahren, täglich vor die Haustür zu treten. Für sich jedoch wollte Richard mehr, wollte sich jeden Morgen freuen können, auf den glückenden Einstieg ins Dasein, auf die Geliebte nächtens an der Seite, sonst schrumpfte das Gefühl für den eigenen Wert in wenigen Wochen auf die Größe einer Nussschale zusammen. Alles Erfahrene kam ihm dann abhanden, sank ab als bloßes Erlebnis, war bald weniger als das, wurde Durchlaufstation, gegen die er sich mit Bildern von einst behalf: das Nachtblau im Fenster und das zerknüllte Laken neben der Matratze am Boden, die Pflanze vor dem umgekippten Papierkorb, die mit breiten, schier tapsigen Blättern von ihrem Stecken wegwuchs, die Linie der Wirbel auf ihrem Rücken, während Mona an ihm heraufkroch und ihre Haare ihn bedeckten, als sei er mit den Füßen voran in ein dunkel zerfließendes Strauchwerk gekrochen.

Während Gunter hinten in der Küche den Wintersalat anrichtete, gelegentlich einen Schluck Soave nahm, den Risotto rührte und sich dabei nicht unterstützen ließ, um die Lust auf das, was er da zubereitete, erst mit dem Essen zu teilen, sah sich Richard unschlüssig im Zimmer um. Er sollte wenigstens auf und ab gehen, wenn so ziemlich alles, das ihm auf den Straßen draußen begegnen könnte, diese Unentschiedenheit war, in der sich Gier und Neugierde in manchem Gesicht durch den verdrießlichen Missmut anderer Gesichter ausglichen. Hatte er sich je in Mona so hineinversetzt, als gäbe es die Welt nur mit ihr und wäre ihm sonst wertlos wie der Hinweis auf »Betriebsferien« an einer Ladentür? Dieser hohle Begriff Welt. Er wollte ihn nicht mehr vor sich hin sagen und etwas anderes wollte er nicht und wollte er doch: Mona im Wachtraum begegnen oder im Halbschlaf, nein, er wollte sie, Mona selbst, wiedersehen.

2

Es war sie, im klammen Winterlicht unzweifelhaft sie, die sich in der Tür zur Seite drehte, wortlos und wie um endgültig zu gehen, um sich dann aber doch, als habe sie ihn rufen hören, ihm zuzuwenden. Lautlos wie alle ihre Bewegungen glitt ihr Mantel auseinander: dämmerig getönte Haut, das Dunkel unter der Wölbung zwischen den Hüftknochen, so hielt sie inne, wie damals in dem engen, schlampigen Hotel in Montparnasse. Wieder sah Richard jenes Zimmer direkt unter dem Dach vor sich, das hintere Fenster ging auf einen Innenhof, der kaum breiter als ein Lichtschacht war und mitten in der Stadt so still, dass er die Tauben auf dem Blech trippeln hörte, ein winziges Zimmer, in dem die beiden nur ihre Reisetaschen öffnen mussten, und schon sah es völlig durchwühlt aus. Sie waren müde gewesen vom nächtlichen Herumziehen, vom Stehen und Reden in brodelnd vollen Bistros, und Mona war in seinem Mantel von der Toilette auf dem Flur hereingehuscht und zu ihm geschlüpft. Unter der Decke sammelte sich die Wärme wie unter einem dichten Blätterwerk im Zwielicht der grünen Folie auf der Scheibe, die die Morgensonne schwach durchdrang, und Monas Schenkel leuchteten aus dem Laub, wo auf jedem Blatt ein Augenpaar saß, in das noch niemand geblickt und diesen Blick überlebt hatte. Wieder war ihm heiß geworden, während Mona wie träge das Knie anzog und ihm sich derart nahe darbot, dass er schutzlos idiotische Vergleiche zu flüstern begann, wo es immer nur Gleichnisse wären, mit denen er sich dieser Liebe verschrieb, hier, um die Tiefe seines Arbeitstisches von der Wand entfernt. Bis heute war ihm Mona beides gewesen: diejenige, die solche Bilder gewährt und diejenige, die sich ihnen entzogen hatte, bis diese Bilder wieder oben auf dem Strom seiner Erinnerungen trudelten, sobald er lange allein war.

3

In der Spüle hinten standen die Teller, Schüsseln und Gläser, der ausgekratzte Risottotopf, halb voll mit kaltem Wasser und erstarrtem Öl, und das brauchten sie nicht mehr zu bereden, dass morgen Richard sich um alles, auch die leeren Flaschen, kümmern würde. Vorne auf der Straße platzte ein Kanonenschlag, die Erde in dem schmalen Beet unter seinem Fenster erzitterte. Dann war es im Innenhof wieder so still, dass Richard den Stuhl nebenan ächzen hörte. Gunter blätterte dort in seinen Prospekten, Richard hörte sogar das Scharren des Glanzpapiers, Gunters Vater hatte seinem ältesten Sohn die Prospekte zugesteckt, und Gunter hatte seinen Vater zwischen zwei Inlandflügen einen halben Tag lang im Taxi durch die geöffnete, wenngleich noch nicht zusammengewachsene Stadt kutschiert. Was an ihr, fast über Nacht, für alle zu sehen war, hatte Gunter ihm unbedingt zeigen wollen, in aufgeflackerter Lust am Umbruch, die sich an seines Vaters Skepsis wund rieb, ob es in einem Jahr überhaupt noch einen Teilstaat im Osten gäbe. Aber beide nahmen sie Aufträge entgegen, der Vater in einer Bonner Kanzlei, wo die drohende Einigung ihn zum Lokalpatrioten gemacht hatte, der an der alten Hauptstadt festhielt, Gunter seit kurzem auch im Mietwagen, mit dem er auf einer Tour vor historischem Hintergrund einmal neugierig gewogene, ein andermal gern mit der Enge ihres Terminkalenders protzende Gäste durch Berlins abgewirtschaftete Mitte steuerte. Oder er wartete darin stundenlang an der Oper, schob Kassetten mit Opern ein und lauschte der Utopie nach, die in der Weltbevölkerung einen gemischten Chor mit einer Handvoll herausragender, aber harmloser Solisten sah. Oder Gunter las in einer Geschichte der Renaissance, starrte auf die gemarterten Heiligen im Engelsschein einer erwachenden Epoche, ausgeleuchtet vom Leselämpchen über dem Rückspiegel, bis er sich aus der Karre wälzte, um die Kreuzwirbel zu entlasten und zwei Ecken weiter einen schnellen Kaffee zu kippen. Und manchmal fuhr Gunter rasch um die Häuser zu Johanna, denn es gab da immer etwas zu besprechen, anzufassen oder abzuklären, sofern Johanna daheim war. Die beiden hatten nicht lange suchen müssen, um sich zu finden; zumindest hatte Gunter es Richard so dargestellt, und Richard hatte daran nichts problematisieren wollen. Aber der schier mühelose Erfolg von Gunter, der in diesen Wochen seine Entschlusskraft täglich zu trainieren schien und neuerdings mit unrasierten Backen vom schütter werdenden Haupthaar abzulenken suchte, hatte in Richard dann doch einen nadelfeinen Stich gejagt, als er zum ersten Mal, obschon sie nicht im mindesten Mona ähnlich sah, Johanna gesehen hatte.

Seit dem Besuch seines Vaters spürte Gunter Nudelmaschinen nach, ebenso Teigwaren in vielerlei Formen und Formaten. Ein ausgesuchter Imbissladen schwebte ihm vor, ein halb privater Tortelloni-Club, in dem er selbst kochen und nur Hausgemachtes anbieten würde, während an der nächsten Ecke die Schlange vor dem Discountladen langsam vorrückte und in den Eingängen der Häuser daneben gewiefte Handelspioniere ihre Kartons umpackten, damit sie, von ihren Lasten kaum behindert, zurück zu den Bussen unter der Hochbahn des zentralen Bahnhofs zwischen Minsk und Mailand fanden. Obwohl die Grenze löchrig bis zur Oder-Neiße geworden war, schien sich das östliche Ausland dahinter nur zu vergrößern und mehr und mehr irgend erleichterte Menschen freizugeben. Ihnen allen, die von dorther bei ihm vorbeikämen, würde Gunter mit seiner überschaubaren, so kleinen wie noblen Speisekarte die Stirn bieten: Sie würden lernen müssen, auf den Geschmack zu kommen, und dann wäre Gunter der Letzte, der nicht auch sie willkommen hieße.

Richard und er, sie waren daran, auf dem Strom gestern noch undenkbarer Veränderungen ihre Boote über Wasser zu halten; Gunter sortierte seine Prospekte, Richard hatte die Druckfahnen hier, zum Lesen, Nachbessern und Abhaken: bestellte Beiträge und unverlangt Eingesandtes, alles war darunter, nur nichts von ihm, nicht eine Zeile. Manchmal eilte es im Verlag nicht, manchmal kämmte Richard über das Wochenende einem ganzen Buch die Läuse aus, er stieß die Fahnen mit der Kante auf dem Tisch auf, um das Bündel zu festigen, es rutschte ihm unter der Hand weg, blätterte sich von selbst auf die Dielen und starrte mit hundert Augen auf ihn zurück. Ob das ein gutes oder ein schlechtes Omen sei, darauf wusste Richard nie zu antworten. Falls je ein Unglück eingetroffen war, und ab welcher Größe wurde aus einem Missgeschick ein Unglück?, hatte er das Omen vergessen, und das mehrte seine Zuversicht in seinen Eigensinn; er öffne sich den Zeichen, sagte er sich, doch er gebe ihnen nicht nach. Abendstimmungen voll existenzieller Zweifel zog er einem langwierigen Selbsthass vor, und sicher hielt ihn das beweglich. An starken Tagen, die allerdings rarer wurden, zweifelte er nicht daran, dass die anderen voneinander mehr abhängig waren, als er es von ihnen war; doch gab es auch Stunden, an denen er sich eingestand, dass sie dies für ihre Lebensziele besser nutzten als er. Heute Abend aber war er gefestigt genug, um sich zu sagen, er würde nie, nie werde ich ihre Lebensziele zu den meinen machen.

4

Richard musste nicht lange suchen. Weiter nichts mehr hätte er gefunden als dieses Foto, das er seit Jahren in der unteren Schublade liegen hatte: Mona, die Primanerin noch, als die Richard sie gar nicht gekannt hatte, am Ufer eines Kiesweihers, wie im Tanzschritt erstarrt in den engen, von aufgenähten Flicken verzierten Jeans, den Kopf zurückgeworfen, die Haare flogen, die Bluse nur lose auf den Schultern und offen: viel deutlicher als Monas Augen die dunklen Höfe um die Brustwarzen und das hellere Rund der Brüste. Das Foto hatte ihn nicht bloß gequält, weil es in einem Sommer entstanden war, in dem es noch nicht üblich war, so froh und lockend und blumenbunt über die dumpfen Nachkriegsgrenzen der Scham hinwegzuspielen. Es hatte sich ihm eingebrannt wegen der Überredungskunst des anderen, ihm Unbekannten, der es geknipst, des anderen, dem Mona sich derart ausgestellt hatte. Und es hatte Richard erregt wegen ihrer Nachgiebigkeit, wegen dieses Moments, in den sie eingewilligt hatte, eines Moments, der sie, die Stolze, ihm als verführbar zeigte, mit Schwächen und Koketterien. Mitten im Vorspann hatte ihn der Gedanke daran überfallen und einen Nachmittag im Kino damals noch einsamer gemacht: Monas Schenkel in den eng anliegenden Jeans, der vorgeschobene Unterleib, von dem er sich herausgefordert fühlte, nur leichthin gezeigt und deshalb anziehend, weil alles Andeutung war, Vorzeichen, reines und doch anzügliches Versprechen auf Fortsetzung, auf Steigerung … Damals verdächtigte er sich, sogar auf das bloße Fotografieren eifersüchtig zu sein, obwohl er sich kaum für Blende, Tiefenschärfe oder Lichtempfindlichkeiten interessierte und die Rollei 35 SE, mit der sein Vater ihn einmal zum Geburtstag überrascht hatte, selten mit in den Rucksack stopfte. Die ihm wahrhaft wichtigen Dinge würde er im Gedächtnis bewahren und lieber wollte er sie, sich an sie erinnernd, wieder erobern. Hingegen hatte er das, was er sich dann doch als Motiv verfügbar gemacht hatte, irgendwelche tote Bauten, Wegränder und Schienenstränge, bald vergessen, weggesteckt in das kleine, silbern schwarze Gehäuse. Und darum gab es keine anderen Fotos von Mona bei ihm, aber umso mehr Inbilder, die ihn des Morgens im Halbschlaf von selbst überkamen.

5

Im Lärm der überfüllten Dicken Wirtin am Rand des Savignyplatzes, unweit von Richards und Gunters Wohnung, eingezwängt vor dem Tresen in der Menge, über die alte Rocknummern ganze Wannen voll lau gewordener Gefühle schwemmten, konnte Richard ungestört der Frage nachhängen, ob alles recht eigentlich, wie man früher gesagt hätte, mit der Oktobermesse begonnen hatte: eine der letzten Kirmessen, die er auf der Raupenbahn zubrachte, dort, wo sich die anderen versammelten, nach den Mädchen schielten, die sie Weiber nannten, ihnen hinterher pfiffen und sich gegenseitig vor sie hinschubsten, wenn diese Weiber sich Arm in Arm und kichernd an ihnen vorbeischlängelten. Die Witze und Sprüche widerten Richard an, das Gekreische der Mädchen, sobald einer seiner Kumpel auf die anfahrende Bahn sprang, um unterzuschlüpfen, ehe die Raupe alle Paare ins Dunkel hüllte, stieß ihn ab. Jedoch die Mädchen selbst, sie zogen ihn an: jede gleichsam für alle und alle für diejenige, mit der Richard bald so tief ins Zwiegespräch kommen wollte, dass sich das dunkle, unbekannte Übrige von selbst ergeben würde. Aber wie viel mulmiger noch als vor dem ersten Wort ihm einmal vor dieser körperwarmen Nähe werden würde, ahnte er doch, und das nährte seine Beklommenheit vor dem ersten, darum damals nie ausgesprochenen Satz, der ersten Frage, dem ersten, umsonst bereitgehaltenen Scherz. Die Raupenbahn ratterte über die Schienen, die grüne Zeltplane lief in zitternden Wellen hinter seinem Rücken hin, das Dröhnen der mechanischen Orgeln, das Scheppern der Tonbänder unterlegten sich den Schreien der Mädchen, dem Gejohle draußen, warmer Atem strich ihm die Herbstluft aus dem Gesicht. Richard aber blieb auch eine Kirmes später stumm, dann plötzlich doch im Winkel zwischen den Messewagen, den knirschenden Schotter unter den Sohlen, bis die eine die andere lachend zurück ins Getümmel riss und beide ihn stehen ließen, kaum dass er die Lippen der einen auf dem Mund gespürt und plötzlich hätte wissen müssen, wie man richtig mit der Zunge küsst.

Im November lag er wieder auf der Couch in der Küche, schlug Buchdeckel auf wie Kajütentüren, und hinter ihm klapperte seine Mutter mit den Tellern und Messern und Gabeln und redete auf ihn herab, während ein paar Straßen weiter sein Vater, längst geschieden, daheim einen alten Filzhut so zurechtschnitt, bis der Deckel mit der restlichen Krempe vor der Stirn einer Baseballkappe ähnlicher sah als vorher einem Borsalino: gerade richtig, um sich damit im Winter durch die kalte Küche zu bewegen, ohne im Kopf zu frieren.

Das Spülwasser plätscherte, Richard schlich mit ein paar Keksen im Matchsack in den Bauch des Dreimasters, wurde von der Tochter des Kapitäns auf der harten, vom Salz zerfressenen Decke zwischen den Fässern mit Eingepökeltem entdeckt und bald unter vielen heimlichen Küssen mit Neuigkeiten und noch mehr Keksen versorgt, ohne dass ihr Vater oder der Steuermann in seinem rohen Argwohn einen Verdacht schöpfte. Und wenn Richard müde vom Lesen die brennenden Lider zusammenkniff, stand, aufgetaucht aus dem abendlichen Gewühl in den Einkaufsstraßen, ein Gesicht vor ihm, auf dem der Schein der Neonschriften und Lichterketten zitterte, wach und fragend, auch verletzlich, so schien ihm, der Wunden nicht fürchtete und dennoch niemand verletzen wollte, schon gar nicht in diesen Sekunden, vor diesen Augen, die Jahre später dunkel glänzten, statt je zu Schlitzen sich zu verengen, wenn Mona vor sich hin lächelte.

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