Geschichten im Vorübergehen - Jürgen Theobaldy - E-Book

Geschichten im Vorübergehen E-Book

Jürgen Theobaldy

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Beschreibung

Jürgen Theobaldy hat eine Sammlung locker verknüpfter Kurzgeschichten, Anekdoten, Berichte und Kürzestnovellen eines namenlosen, in Bern seine Tage zubringenden Ich-Erzählers geschrieben. Aufmerksam für alltägliche, skurrile bis beklemmende Vorfälle in der Bundesstadt, nimmt er auch die höhere Wahrheit des frei Erfundenen, gar Erträumten in Anspruch oder schweift mal auf ferne Kontinente aus, schliesslich geht es nicht um Heimatliteratur.

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Seitenzahl: 283

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Jürgen Theobaldy

GESCHICHTEN IM VORÜBERGEHEN

verlag die brotsuppe

Jürgen Theobaldy

GESCHICHTEN IM VORÜBERGEHEN

verlag die brotsuppe

Inhalt

Auf dem Posten

Hochachtungsvoll

Bangen um Finn

Nun zu dir

Stand und Anordnung

Spiegel der Liebe

Plaudern bis zuletzt

Regenzeit

Milchpreis

Erneuerungslustig

Bergführers tödlicher Umstand

Badges

Rettung durch Lesen

Laufende Legende

Suchanzeige

Uhrenland

Male

Nichts geschenkt!

Ein zweites Glück

Drei Frauen

Nacherzählt

Keinem das Seine

Tun oder Nichttun

An der Haltestelle

Das kommt davon

Auf Durchreise

Offen gestanden

Stille Verlierer

Vor dem Kiosk

Gesellen der Liebe

Einer, der sich traut

Wellen und Täler

Am Ball

Mietfrei

Bin ja noch da

Im Kaufhaus

Welche Gastgeber?

Flagge hissen

Nachtlicht

Ein Forscherschicksal

Elf Zentimeter

Moralische Anstalten

Jetzt bist du dran!

Happening mit Röbi

Weiße Kerzen

Die Gestalt der Mutter

Flieder

Schön, schöner, am schönsten

Porträt eines Verwegenen

Der magische Helm

Die letzten Seiten

Pulvermilch

Der Unfallsammler

Berufsehre

Vom Nutzen der Statistik

Weihnachten und danach

Guten Appetit!

Wer auf das Ende sieht

Im Rausch seiner Fahrt

Offen genug

Leiden des Lesens

Das Klassentreffen

Ein Reisender

Ich bin auch jemand

Die Kenner

Lektion

Wildbret

Vom Gewicht der Tradition

Der Autor

Auf dem Posten

Wer will nicht dessen habhaft werden, was mit dem Tag vergeht, heute noch, gestern schon, letzten Monat, vor Jahren? Ich spreche von mir und höre zu, wo andere reden, wenn der Baulärm verebbt, die Bars und Schankhäuser sich füllen und die Trams und Busse seltener fahren. Mit den ersten Neugierigen strebe ich einem lokalen Kulturzentrum zu, mal einer stillgelegten Feuerwache oder Brauerei, mal einer ehemaligen Werkhalle oder der Aula eines umgenutzten Schulhauses, ich stecke mein mobiles Telefon weg, um bald mit anderen beim Apéro in nächster Nähe Ansichten zu diskutieren, ohne dass wir viel voneinander preisgeben, und Meinungen auszutauschen, die ungefähr so bedeutsam sind wie die folgenden Begebenheiten. Wir sind auf Augenhöhe.

Da ist dieser Sog, der mich wieder in das Zwischenreich hinüberzieht, in dem diese Begebenheiten, einmal aufgeschrieben, den offenen Raum an Bildern schaffen für Sie und dich, die wir nie und nimmer das Lesen aufgeben werden. Die Züge meiner Schrift, könnten sie hoch über den Hauswänden zu sehen sein, still glimmend, fein geschwungen, gestochen scharf gewebt, die harten Ränder der Buchstaben, die verschlungenen Sätze! Könnten sie sich am Leben halten, bis sie mit der Dämmerung im selben Maß, in dem der Himmel eindunkelt, hell und heller aufleuchten am Rand des Lichternetzes der Innenstadt mit dem zage flimmernden Neon, den wenigen zuckenden und zackenden, weltweit bekannten Firmenzeichen! Sie würden dazugehören wie der pausenlos wirbelnde Staub zu dem Sturm, von dem es heißt, er wehe vom Paradies her und treibe den Engel der Geschichte rückwärts und unaufhaltsam in die blind geborene Zukunft.

Mag dann irgendeine mir unbekannte Gestalt nach der letzten Vorstellung geil und gähnend aus dem Kino treten, hinein ins spärliche Treiben auf den Straßen, kurz aufblicken zum nächtlichen Himmel und verschwommen im Widerschein der herabgekühlten Stromstärken die Züge meiner Schrift rein ihrer Zartheit wegen erhaschen. Aber dann wird diese Person sich fragen, wo solche Schriftzüge denn herkämen, sie wird mit den Achseln zucken und ein gleichmütiges Jaja vor sich hin murmeln, ja von ungefähr, da kämen sie wohl her, während sie in den dunkleren Gassen verschwindet. Ich hingegen, auf meiner Liege aus dem Halbschlaf geruckt, in einem der hinaus in die Felder und Wälder gewucherten Stadtteile, weiß es auf einen Streich: Ich lebe nicht unter Millionen in einer Metropole, habe dort nur ein paar Jahre zubringen wollen, und mir hat jetzt höchstens davon geträumt. Ans Fenster getreten, atme ich die nächtlich feuchte Luft der Bundesstadt, wo ich die Sprache auf den Straßen und Gassen, in den Kauf- und Wirtshäusern seit Jahren besser verstehe als spreche und wo ich allmählich zum Anwärter auf ein Plätzchen in einem ihrer weit angelegten Friedhöfe zu werden drohe. Dabei mag ich nichts anderes einnehmen als so etwas wie eine Funktion, eben die des Erzählers; ich ziehe mich zurück, entziehe mich den meisten Geschehnissen, die auf den nächsten Seiten zu lesen sind, und werde selber zum Erzählten werden. Oft geht das Wort an andere weiter, Beglückte und Geschundene, für einen kuriosen Ausschnitt aus der Geschichte ihres Lebens, der sich einem Treffen im Kaffeehaus verdankt, einer Zeitungsmeldung, einer Beobachtung auf der Straße, oder er ist frei erfunden, gar erträumt, wo zur Welt der Dichtung auch all das gehört, was nicht der Fall ist, was einfach ist, was war und was irgendwann, ja schon auf den folgenden Seiten werden wird.

Hochachtungsvoll

Aller Lust auf Erneuerung zum Trotz, wie mancher und manche sie hier verspüren, gleicht der Himmel, der sich heute über die Gassen wölbt, dem von vielen anderen Tagen und Jahren im Spätherbst, und das ist selbst unter den Lauben zu spüren, auch dort, wo der noble, holzgetäfelte Tabakladen immer noch so aussieht wie auf der rötlich eingefärbten Daguerreotypie in seinem Schaufenster. Und der darauf schemenhaft erkennbare Inhaber des Geschäfts scheint der gleiche zu sein, der seit 140 Jahren seine Kundschaft mit jener ausgesuchten Höflichkeit bedient, die es ihm verbietet, irgendeinen Unterschied zwischen den verschiedensten, bei ihm eintretenden Käufern zu machen.

Während sich die einen die Flasche Rum aus Cuba zu einem dreistelligen Preis aus dem Schaufenster reichen lassen, kreuzen die anderen, deren Klamotten aus jeder Altkleidersammlung aussortiert würden, nur auf, um ein Päckchen Zigarettenpapier zu erstehen und sich dann wieder zur nahen, dem Heiligen Geist geweihten Kirche zu trollen, wo sie sich auf den Stufen vor dem Eingangsportal niederlassen. Neben ihren rätselhaft folgsamen, ähnlich abgeschlafften Hunden streichen sie ihren Knaster auf das dünne Papierchen, sie setzen die Dose Billigbier an und trinken erst dann aus, wenn sie die Münzen für das nächste Sixpack beisammen haben. Den Stängel zwischen den Lippen, mustern sie mit spöttischem Blick die Vorbeigehenden, sofern sie als Anzubettelnde ausscheiden, und kontern so die abschätzigen bis verächtlichen Mienen derjenigen, die ihre Bankkonten gefüllt und, wer weiß wie vorläufig, in Sicherheit glauben. Abgesehen von ihren Vorstößen mit hingehaltener Mütze, die von Münzen nur sehr langsam schwerer wird, bleiben sie unter sich, allen Pflichten ausweichende, von Pflichten überforderte Treppenhocker. Am Ende des Tages brauchen sie sich bloß um wenig Unrat vor der Kirche zu kümmern, weil sie außer Gratiszeitungen kaum etwas von dem ergattern, wovon andere die Reste und Verpackungen in den Straßen und auf den Plätzen liegen lassen. Nur ihre Hunde gehören ihnen und das feine Gespür dafür, dass ihnen jemand nicht beflissen vor Konfliktscheue, sondern achtungsvoll entgegentritt – wie eben der Inhaber des ehrwürdigen, 140 Jahre alten Ladens um die Ecke.

An diesem Samstag vor den Adventswochen drohten, für die Bundesstadt nicht typisch, heiße Scharmützel zwischen rechtsbürgerlichen Manifestanten aus dem Umland und taktisch, kaum strategisch beweglicheren Widerständigen, entschlossen, den bewilligten Aufmarsch zu sprengen. Während die erste Unruhe in den Gassen und auf den Plätzen tiefer in der Stadt als ein Knistern in der Luft, ein fernher hallendes Gesumme aus Stimmen und Sirenen spürbar wurde, rafften sich die Stammgäste der steinernen Stufen zum Heiligen Geist nach und nach auf. Die Horde schlurfte um die Kirche herum, überquerte die Straße, die dort wegen des längst fälligen Umbaus des Bahnhofplatzes für Autos gesperrt ist, und fand sich unter dem Schild »Cigarren« mit ihren Hunden unbekannter rassischer Abkunft ein, von denen einige kaum kleiner waren als Polizeihunde.

Der Tabakwarenladen war wie immer samstags um diese Zeit schon geschlossen. Keine hässlichen, von skurrilen Texturen aus der Spraydose verschmierten Rollläden schützten die Schaufenster und darin die funkelnden Flaschen, die silbernen Rauchbestecke, die dunklen und hellen Zigarren, die teils offen auf schwarzem Samt drapiert lagen, teils in zarte Kistchen aus Tropenhölzern gefügt waren. Falls der Inhaber mit Ausschreitungen gerechnet hatte, dann weit weg auf dem Bundesplatz und in den Straßen darum herum, der von der Polizei behaupteten Stamm- und Wachregion.

Die spontan geformte Schutztruppe, die kaum je, gar zur selben Zeit, der gleichen Tätigkeit wie die uniformierten Polizisten nachgegangen war, hockte sich nicht einfach vor die Tür, etwa wie einst die rebellische Studentenschaft beim Sit-in vor das Rektorat ihrer Universität. Nein, sie zog einen Halbkreis um die ganze Breite des Schaufensters rechts und des schmalen, vitrineartigen Fensters links der Tür. Vor dieser Art Sperrzone wichen alle, die da unter den Lauben auf dem Heimweg herankamen, auf die Straße aus und behielten einen Kommentar über solche Wegelagerer so lange für sich, wie diese ihn hätten hören können.

Währenddessen machte sich die städtische Guerilla daran, weil an einem direkten Angriff auf die Manifestanten einer gesunden Heimat weiträumig gehindert, Pflastersteine und leere Flaschen in die Richtung schamlos teurer, ihnen verhasster Geschäfte zu schleudern. Was als ablenkendes Manöver begann, wurde zur eigentlichen Aktion. Mehr und mehr näherten sich die schwarz vermummten Gestalten der Heiliggeistkirche, die erste Scheibe des Kleidergeschäfts an der Ecke sackte klirrend und gläserne Funken sprühend in sich zusammen, dann zerrten auf einmal die Hunde vom Pulk der Bewacher an ihren langen Leinen und Stricken, und ihr Gebell, schon an sich Furcht einflößend, hallte um das eigene Echo verstärkt unter den Lauben wider.

Was die einen den anderen zubrüllten, war kaum verständlicher als das, was die anderen den einen zurückgaben, doch ging es ohnehin nicht um eine Diskussion freier Geister. Die einen drohten mit Steinen, sie fuchtelten mit Flaschen, die sonst so verschlafenen Hunde der anderen rissen immer heftiger an ihren Stricken und Seilen, was die Vermummten nicht lange übersehen konnten. Sie ballten die Fäuste, sie reckten die Mittelfinger hoch, sie fluchten unter ihren dunklen Kapuzen auf die Verräter, aber sie drängten weiter. Da waren noch andere Schaufenster, genauso verlockend, genauso krachend, als die Steine dagegen und hindurchflogen, ehe die Guerilleros endgültig zu ihrem Stützpunkt hasteten, der ehemaligen Reitschule, von ihnen zeitweise beansprucht, mit Parolen übersät und von anderen für junge Feierbiester und aufsässige Events halbwegs in Stand gehalten. Dort kämen die Polizisten, durch den Schutz öffentlicher Gebäude und Paläste gebunden, vorerst nicht hin, und das Gespann eines patrouillierenden Streifenwagens, ob mit Blaulicht oder ohne, sollte besser nicht am Vorplatz halten.

Am Abend, als die elektronischen Medien erste Bilder und empörte Stellungnahmen über den Sachschaden in die heimeligen Stuben lieferten, standen die Stammgäste der steinernen Stufen zum Heiligen Geist trotz der Kälte immer noch unter dem Schild »Cigarren«. Alle umringten den Inhaber, dessen Gesicht kreidebleich im dämmerigen Schein unter den Lauben aufgetaucht war, bis er sein Geschäft, im Gegensatz zur Confiserie nebenan, ohne jeden Kratzer vorgefunden hatte. Höchstpersönlich zündete er jetzt mit einem extra langen Streichholz jedem Einzelnen die Havanna an und schenkte, sacht über die schlafenden Hunde steigend, aus der Flasche nach. In Plastikbecher? Nein, in sorgsam ausgeteilte und in Empfang genommene schottische Whiskygläser, wie sich das unter Kennern für einen zwölf Jahre alten Glennfiddich so gehört.

Bangen um Finn

Gläser voll Bienenhonig und erste Mandarinen haben sie Finn dargebracht, die so beherzten wie betroffenen Bundesstädter, um seine Genesung zu fördern, nachdem er, von einem geistig verwirrten Mann erschreckt und vielleicht bedroht, derart heftig zugepackt hatte, dass die herbeigerufenen Polizisten unter dem Gekreische der Passanten und den Blicken beflissener, im Schauer der Sensation zu Zeugen gewordener Smartphone-Touristen einen exakt gezielten Schuss mit Deformationsmunition, ein sogenanntes Mannstopp-Geschoss aus einer Maschinenpistole Finn in die Brustwand jagen mussten, weil er nur auf diese umstrittene Weise von dem unverhofften Eindringling abzubringen gewesen war und er danach noch eine kleine Weile auf den besiegten, am Kopf, den Oberschenkeln und der einen Hand blutenden, reglos am Boden Liegenden gestarrt hatte, womöglich zweifelnd an dem, was ihm dieser vor ihm herumfuchtelnde Zweibeiner habe antun wollen, bevor die Sanitäter den verletzten, vorerst nicht Vernehmungsfähigen wegtrugen und die Veterinärmediziner sich endlich auch um Finn kümmern konnten, was sich wegen der tiefen Wunde durch das Mannstopp-Geschoss schwieriger gestaltete, zumal ein 250 Kilogramm schwerer Braunbär, derart angegangen, besonders gefährlich werden könnte, er aber nun mit dem Tode ringt, den zu besiegen sich heute alle Leserbriefschreiber oder sonst Befragten von Finn ebenso erhoffen wie die immer noch aufgewühlten Passanten und Touristen, sofern unterwegs zur kürzlich eingeweihten neuen Bärenanlage, deren Bau nicht zuletzt wegen der Sicherheitsvorkehrungen eine viel höhere Summe verschlungen hatte als vor der Volksabstimmung veranschlagt und von der die Fachleute für artgerechten Umgang mit Tieren dennoch sagen, wer hineinkommen wolle, der käme hinein.

Nun zu dir

Eine Tür ist eine Tür, und keine Tür ist eine Tür; wo Stein, Glas oder Holz ist, dort trittst du ein und rührst keinen Finger dabei. Eine Zeitlang schien die Entwicklung in jene Tür zu münden, bei der man nichts weiter tut als auf sie zuzuhalten, und schon fährt sie auseinander. Aber du hast lernen müssen, den Schritt zu drosseln und auf sie, von der du nie sicher weißt, ob sie überhaupt geschlossen ist, direkt bemessen zuzusteuern. Und der Gedanke, sie könnte nicht rechts und links in der Wand verschwinden, hat dich an Tagen, die nicht die deinen waren, schier gelähmt. Noch immer passiert es, dass du wie einer von denen, die draußen bleiben müssen, vor so einer Tür stehst, keine Klinke findest, keinen Knopf, und du starrst durch die mannshohe Scheibe, die am Ende gar keine Tür ist, in den Gang, der dir lächerlicherweise verschlossen bleiben soll. Weil du einen Termin hast, wirst du nicht zum Verräter deiner Absichten, die vielleicht nicht einmal deine sind, die dir von deinem Terminkalender aufgezwungen sind. Du trollst dich nicht davon, als hättest du nur einen Blick von außen auf den Hauptbau werfen wollen, um deinen Eindruck in einer Runde von Vertretern, die zu schnell verdienen, um sich vor Feierabend auf einen Stuhl sinken zu lassen, an der nächsten Hotelbar preiszugeben. Vielmehr setzt du dich in Bewegung, langsam, um die Lichtschranke, die dir alles öffnet, nicht zu überfordern, und wunderst dich, dass du schließlich doch unverletzt und zügig hindurchgelangt bist.

Die Welt dreht sich weiter, das ist sicher, die Sänger singen weiter, vermutest du, die Politiker und die Bosse machen weiter, die Sportler sowieso, ein Dichter zögert noch, obwohl niemand auf ihn wartet, und die Türen, vor denen niemand warten soll, machen weiter. Inzwischen sind die raumfordernden Türen erreicht, von deren Umfang und Wirkungsweise kaum einer geträumt hat, bevor er sie sah, Türen, die sich weder einklinken noch offenhalten lassen, die weder zuschlagen noch aufgehen, die sich vielmehr, so der letzte Stand der Dinge, fortwährend drehen wie die Schneiden der Saftmaschine in der Eisdiele. Vier gläserne Flügel bestreichen in einem vollendeten Kreis den Eingang zur Bank, geräuschlos und anscheinend unaufhaltsam gleiten sie um ihre Mittelachse. Sie lassen kein Nadelöhr für die Älteren, die sich kaum noch dort hindurchwagen, wo nirgends ein roter Schalter zu entdecken ist, mit dem sich die ganze Konstruktion im Notfall stillstellen ließe. Und schließlich wünscht sich diesen Stillstand auf den obersten Etagen niemand, mag da die eine und andere würdige Greisin das Raumschiff nicht mehr betreten wollen und willfährig in ihrer alten, dem Untergang geweihten Welt zurückbleiben.

Wie einfach hingegen sieht für dich ein Schritt in die weit geöffnete Tür aus! Und dennoch: Wenn du ihn tust, darfst du dich nicht dabei aufhalten, Stillstand ist hier mehr als Rückschritt. Von hinten schiebt die breite gläserne Front heran, bei dem Lärm auf den Straßen lautlos, während der Flügel vorn sich stetig entzieht, sodass du ihm hinterher musst, mit kurzen, trippelnden Schritten, die du sonst einem Model auf dem Laufsteg zubilligst, und wenn dir dann ein Schirm oder der eigene Mantel in die Quere kommen, ja dann, wer malt es aus? Du nicht, du begreifst, dass die heutigen Baumeister ihre Ahnen den Fallen des Einzelhandels überlassen, der Glocke über der Tür, den Kisten mit Gemüse und Obst an der Straße, wo das Grünzeug der Saison die paar Stunden schadlos übersteht, denn es handelt sich um widerstandsfähige Sorten. Außerdem haben all die langjährigen Kunden die Grenzen ihrer Lebenserwartung weit genug hinausverlegt, sie haben keine Termine mehr außer der Zucker- und Blutdruckkontrolle, sie brauchen kein Sechserpack Golden Delicious, was sie suchen, sind ein, zwei saftige Dinger wie einst. Du aber, weltoffen, den Schirm beiläufig elegant an der Seite, schleust dich wieder in den endlosen Kreislauf der Gelder und Waren ein, durchmisst in zügigen, den eigenen Bewandtniszusammenhang durchgreifenden Schritten das täglich nachgewienerte Foyer. Weil du einen Termin hast, wirst du nicht zum Verräter deiner Absichten, die vielleicht nicht einmal deine sind, die dir von deinem Terminkalender und so weiter.

Stand und Anordnung

Schon als er mich in seine Kartei aufnahm, wusste mein Hausarzt Doktor Mondrian seinen Dienst so einzurichten, dass er Punkt 12.30 Uhr die mittäglichen Nachrichten seines Lieblingssenders hören konnte, einer kleinen, privaten, mit umweltkritischen Beiträgen auftrumpfenden Redaktion. Der Tag, an dem er zum ersten Mal das Radio abschaltete, bevor die Sendung zu Ende war, gilt mir als Beginn des letztlich verlorenen Kampfes gegen die wilde Müllhalde auf einer sonst grünen Anhöhe stadtauswärts. Im wechselhaften Verlauf dieses Kampfes, in dem Doktor Mondrian einen Aufruf im Studio seines Lieblingssenders verlas und dort an mehreren Diskussionsrunden teilnahm, wurde die Halde samt ihren Büschen und Bäumen von nie überführten, auch dem Bürgerverein, wie er glaubwürdig beteuerte, nicht bekannten Zündlern heimgesucht, unterstützt von jugendlichen, mehr gedanken- als gewissenlosen Nachahmungstätern. Sie verwandelten die Halde in eine brennende, dann lange qualmende, erneut aufflammende, hier und dort fortglühende Wüste und schließlich erloschene Einöde, aus der die verkohlten Reste der Baumstämme wie trostlose Mahnmale ragten. Und als Doktor Mondrian gar von Unbekannten überfallen wurde, die nach der einseitigen Prügelei auf Motorrollern ohne Licht entflohen, als er mit Schnittwunden und blauen Flecken im Spital zu sich kam, immerhin von befreundeten Kollegen umsorgt, hatte sein Lieblingssender alle bloß auf die Musik achtenden Zuhörer verloren. Die einen hatten das umweltschützerische Vorpreschen dieses Senders nie mitbekommen, die anderen hielten jede militante Aktion gegen welche Missstände auch immer für vergeblich, wenn nicht hirnrissig. Einen Sieger sollte dieser sinnlos gewordene Konflikt trotzdem haben, und dieser Sieger schien sogar, soziologisch betrachtet, eher aus dem Umkreis von Doktor Mondrian zu stammen. Irgendwann im späten Herbst hörte auch der Letzte auf, in dunkler Stunde seine Abfälle auf den Hang zu kippen, und im Frühling durchstießen die ersten lindgrünen Halme die Asche und die verbrannte Erde, ein schüchterner Neubeginn der auch hier erwachenden Natur, den ich zusammen mit meinem Hausarzt, wieder ganz genesen, betrachten ging.

Aber so wenig wie das Ende des Konflikts unzweideutig ausgerufen worden war, so wenig waren die Profilstangen angekündigt worden, die seit letzten Montag das Gelände verunzieren. Aus Stand und Anordnung kann man erschließen, dass auf der steilen Anhöhe, seit der frühesten amtlich beurkundeten Erwähnung der Stadt um 1190 erstmals von Baumaschinen umzingelt, eine weithin sichtbare, meinetwegen prächtige, terrassenförmig angelegte Siedlung erstellt werden soll. Wer noch immer dem Gratisblatt widersteht, das sich ihm abends auf den leeren Sitzen in den Bahnen und Bussen aufdrängt, der konnte heute Morgen in beiden lokalen Tageszeitungen die Gründe dafür nachlesen: erstens um den Anteil an Wohneigentum in der Bundesstadt mit ihren mehrheitlich bloß vermieteten Liegenschaften zu erhöhen; zweitens, ansteigend gewertet, zum Wohl der lokalen Bauunternehmen und ihren vielen, aus den ärmeren Ländern des Balkans stammenden, mit Tiefstlöhnen abgespeisten Arbeitern, zum Wohl auch von Chronisten, die, wofür ich nicht zweifelsfrei verlässlich bin, über etwas berichten können, das tatsächlich andere Leute beschäftigt; drittens zum Ansehen des Bürgervereins, dem die Liegenschaften der halben Stadt gehören und der jeden Herbst mit Basaren und Quartierfesten den Neidern auf den Straßen und Gassen und den wehrhaften Kreisen der Stammtische den Wind aus den Segeln nimmt. Überdies achtet der Bürgerverein auf wenig mehr als darauf, dass die meisten Mitglieder seines traditionsgebundenen Leitungsgremiums öffentlich nicht bekannt werden, ein aus feudalen Zeiten herübergeretteter und gern gepflegter Hang zur Diskretion.

Zu dieser Strategie passt der finanzielle Beitrag, den man dem kleinen privaten, vom Konkurs bedrohten Sender in Aussicht stellte, damit er sich, wie man heute in wirtschaftlich und politisch handelnden Kreisen sagt, neu positionieren und zudem seinen erfahrenen, von anderen Sendern umworbenen Programmgestalter länger an sich binden könne. Dieser Mitdreißiger, so mit Ingrimm mein Hausarzt Mondrian, als er mir gestern früh die Manschette um den Oberarm legte, sei offenbar schon seit Jahren ein heimlicher, durch sein Talent zum Lavieren aussichtsreicher Anwärter auf einen Sitz im Leitungsgremium des Bürgervereins. Mit so einem Aufstieg vor Augen habe der korrupte Sack durchblicken lassen, er könne ihm, Doktor Mondrian, eine Wohnung auf der Terrasse zum Vorzugspreis reservieren, bauliche Sonderwünsche eingeschlossen. Bauliche Sonderwünsche! Jawohl! Wie weit Bern auch vom Meer entfernt sei, man sitze schließlich doch im gleichen Boot, und eine architektonisch kühne Anlage mit viel Glas zwischen Beton und grünen Kübeln sei nicht nur ökonomisch sinnvoller, sondern auch ästhetisch einnehmender als eine rauchende Anhöhe. Gerade war ich versucht, im frühen Abschied vieler Stammhörer vom Sender so etwas wie eine politische Weitsicht von eigentlich Halbblinden zu sehen, als Doktor Mondrian die Luft aus dem Gummiball entweichen ließ, den Blick vom Blutdruckmesser hob und sagte, wenn ich wollte, würde er mich an diesen Herrn weiterleiten, mit meinen Werten könne ich in einer dieser neuen Wohnungen noch Jahrzehnte hinbringen.

Nun sind wir beide nicht die Typen, die über solch einen Scherz in ein schallendes Gelächter ausbrechen, immerhin hat mein Doktor bei mir das von ihm erwartete, einverständige Lächeln geerntet, und schließlich wird der zum Griesgram, der im Unfrieden mit seiner Epoche lebt. Tja, Niederlagen übersteht man am besten mit Zynismen, und vielleicht heißt ja zu leben vor allem, sich weder den eigenen Niederlagen noch nervigen, kaltblütig daran entzückten Spöttern zu beugen. Noch immer gibt es Geschichten, die mit einer Moral enden, gerade weil die Verlierer wie mein Hausarzt wenig zu lachen haben. Sie müssen ertragen lernen, und ich muss es mit ihnen, dass man uns als brutal humorlose Zeitgenossen abstempelt, denen man besser keinen freien Stuhl im Restaurant einräumt, wenn man über die Vorteile von Wohneigentum, günstiger denn je zu erwerben, fachsimpelt und erst, wenn man über die Namen der Nutznießer munkelt, zu denen sich, wie ich zwangsläufig heute Abend am Nebentisch mitgehört habe und weshalb ich das hier erst aufschreibe, aktuell auch dieser Doktor Mondrian geschlagen haben soll. Haben soll! Mein Hausarzt, mein Stiefbruder im Geiste! Mein falscher Fünfziger!

Spiegel der Liebe

Nachdem es ihm geglückt war, in einem der alteingesessenen Brockenhäusern, von denen kürzlich das erste in Brocki-Shop umbenannt wurde, für sie einen alten Spiegel aufzustöbern, mit einem breiten achteckigen Rahmen aus Holz, dessen dunkle Farbe sich bestens zur Kommode in der Diele fügte, und hoch genug, damit sie, bevor sie ihre Wohnung verließ, letzte Hand anlegen, den passenden Schal wählen, die richtige Mütze zurechtrücken konnte, entdeckte er, kaum dass er das gute Stück des Abends im Lampenschein an der Wand befestigt hatte, einen winzigen schwarzen Fleck auf dem Spiegel, den er vergebens wegzuwischen suchte und den er, einmal gesichtet, nicht mehr übersehen würde, sodass ihm nur die Hoffnung blieb, sie werde diesen Makel seines zwar nicht kostbaren, doch auch nicht wertlosen Geschenks nie bemerken, wo dieser Makel bei Tageslicht kaum zu sehen war, während sie, als ihr dieses Fleckchen im Vorübergleiten ihres Blicks gewahr wurde, insgeheim der eine Wunsch durchglühte, dieser winzige Schaden bliebe auf immer vor ihm verborgen und er selbst von der leisesten Enttäuschung über seine feine, die ganze Diele wärmstens widerspiegelnde Aufmerksamkeit bis an das Ende seiner Tage oder ihrer Liebe verschont.

Plaudern bis zuletzt

Wie mir der Amtsschreiber Andreas H., den seit jeher Ereignisse anzogen, worüber die zwei lokalen Zeitungen höchstens auf ihren letzten Seiten berichten, mitteilte, hatte er gegen den Frühling zu begonnen, nach einem erschöpfenden Arbeitstag irgendeines der zahlreichen Wirtshäuser aufzusuchen und in gediegener Umgebung bei einem Glas oder zwei wieder zu sich zu kommen. In der letztens von ihm betretenen Stube hatten sich, wie er sofort gesehen habe, eher ältere Herrschaften eingefunden, und, wie er bei seinem zweiten Besuch etliche Tage später entdeckte, die Spiegel seien auf eine besondere Weise angeordnet. Von mehreren Tischen aus, an denen er in diesem gut besuchten, aber nie überfüllten Lokal immer Platz nehmen konnte, sah er sich selbst im Spiegel von hinten sitzen: die Schultern, seinen in dieser Haltung kurzen Hals, den kahlen, fettig glänzenden Flecken Haut auf dem Hinterkopf. Und dessen in diesem Licht ekelhaft bleiche Farbe wich, so konnte er ungerührt beobachten, im Lauf des Sommers einem direkt indianischen Bronzerot.

Vielleicht deshalb hatte Andreas H., als sich sein Kollege Werner M. eines späten Nachmittags im September zu ihm setzte, das Gespräch auf die nordamerikanischen, ziemlich aus der Mode gekommenen Wildwestfilme gebracht, auf ihren erheblichen Einfluss zu seiner Zeit auf die spätpubertäre Sozialisation, wie er etwas hochtrabend von sich gab. Andreas H. wich aber auch deswegen auf dieses Thema aus, weil er sich daran gewöhnen musste, dass ihm sein Kollege deutlich gealtert schien, seitdem er ihm letzte Woche vor seiner Bürotür auf dem Flur begegnet war und Andreas H. ihm sein Dasein als Beamter mit einem neuen Scherz über die Chefetage erträglicher gemacht hatte.

»Fraglos ist in den besten Western das Genre überstiegen«, sagte Andreas H., um das Verb ›transzendiert‹ fürs Erste zu meiden. »In kurzen Rededuellen, wie sie durchaus der lakonischen Ausdrucksweise des kriegerischsten aller altgriechischen Stämme entsprechen, wird das Verhältnis zwischen Gut und Böse mehr angetippt als ausgelotet, zuletzt aber mit treffsicheren, den Colt blitzschnell aus dem Gurt reißenden Helden entschieden, ja man kann sagen, in solchen Duellen setzt sich das Lakonische mit anderen Mitteln fort.«

Kollege Werner M. sagte erst einmal nichts.

»Und wenn der Sheriff sich aus dem Sessel hebt, das Gewehr von der Wand nimmt und zum nächtlichen Rundgang vor die Tür tritt oder wenn er mit ungewohntem Hochzeitsschlips, den Colt lässig in der Gürteltasche baumelnd, allein durch die leere Hauptstraße schreitet, weil alle anderen sie meiden aus Angst vor den drei mit dem Mittagszug eintreffenden Halunken, ja dann darf man mit Heinrich von Kleist sagen, das Leben wisse von nichts Erhabenerem als nur von diesem, dass man es erhaben wegwerfen könne.«

»Allerdings spielt im Western«, so warf sich Kollege Werner M. nun doch dazwischen, »ein angelsächsischer Pragmatismus mit. Und dieser Pragmatismus tut den Dämon, dem Kleist sein Schicksalswort verdankt, locker als großspurig ab. Ein Gentleman verliert eben wenig Aufhebens darüber, dass mit ihm das Gute noch immer gesiegt hat.«

»Genau darum, so hat Kleist selbst eingeräumt, rollt dieser Planet immer noch freundlich durch den Himmelsraum, und die Frühlinge wiederholen sich, und die Menschen leben und genießen und sterben nach wie vor.«

Als sich Amtsschreiber Andreas H. noch fragte, ob das nicht ein recht gewöhnlicher, gar schon altersmüder Einwand sei, hörte er seinen Kollegen Werner M. noch einmal eifern: »Und doch tun sie das selten ohne Opfer und oft sehr spät: Zu spät für Millionen von friedfertigen Männern und schuldlosen Frauen und Kindern, erfasst vom schlimmstmöglichen Ausgang ihrer Geschichte: einem gewaltsamen Tod.«

»Aber es geht auch anders herum«, legte Andreas H. nach, währenddem sich ein weiterer, nach Gesellschaft suchender Kollege mit gebrechlichen Bewegungen wie nach einem langen schweren Arbeitsleben dazu setzte, »die Menschen werden sogar immer zahlreicher. Drei Milliarden, fünf Milliarden, sieben, acht …«

»Eine Erfolgsgeschichte«, ergänzte mit zittriger Stimme der neu Hinzugekommene, aus dem fortan kein Ton mehr herauszukriegen war.

»Bis jetzt«, dämpfte ihn Werner M. zusätzlich, »bis jetzt.«

Amtsschreiber Andreas H. blickte wieder hoch, wo der Spiegel vor ihm das Bild im Spiegel hinter ihm zeigte. Der kahle Fleck zwischen seinem praktisch über Mittag ergrauten Haar hatte sich vergrößert, auch die Schultern waren schmaler geworden, der ganze Rücken schien geschrumpft zu sein. Schien? Er war es! Noch mehr beunruhigte Andreas H., als ein weiterer Kollege im Wirtshaus eintraf und, auf Anhieb nicht mehr zu erkennen, dem Greisenalter nahe sein musste, weshalb er besonders rücksichtsvoll an den Tisch geladen wurde, wo er derart brüchig und leise um einen Bierwärmer für sein Glas bat, dass der Kellner sein Anliegen mehr erriet als verstand.

Auch Andreas H. nahm ein letztes Glas für heute, und als ihn nach zwei, drei Schlucken ein nie erlebter Schwindel erfasste, fühlte er sich wie emporgehoben, wie mit einem Mal aufgenommen in den Kreislauf von Werden und Vergehen, fühlte ein freudvoll trauriges Ja zu diesem späten, diesem letzten Abschnitt seines Lebens. Beim nächsten Blick auf seinen weißen, schütteren Haarkranz im Spiegel und danach in die Gesichter um ihn herum durchfuhr ihn der Gedanke, dass dieses Gerede vom ewigen Kreislauf des Lebens nichts als ein beschönigender Selbstbetrug war.

Das Schlimmste käme immer zuletzt, dieser Satz von ihm ist mir im Ohr geblieben. Für ihn, so hat Andreas H. mir kurz vor seiner Einlieferung in das Salem-Spital anvertraut, für ihn wie für seine längst pensionierten Kollegen am Tisch und für alle anderen Gäste dort im Wirtshaus, das eigentlich einem lieblosen Speisesaal geglichen habe, mit samt und sonders alten bis steinalten, teils im Rollstuhl an die Tische herangekarrten Menschen, sei nichts mehr im Kreis gelaufen, alles sei nur noch geradeaus gelaufen, ohne Schlenker und Schleifen, ohne Verzögerungen und gnädig gewährte Pausen, in denen man ruhiger hätte durchatmen können. Nein, nein, er könne nicht einmal sagen, dass sein Leben ein Lauf gewesen sei, ein Treten sei es gewesen, mehr ein Treten, zudem auf der Stelle, der Stelle, Stelle. Stelle.

Regenzeit

Es ist nicht gut, sich unten am Ufer herumzutreiben, wenn man dort nichts Bestimmtes zu tun hat und sich wie im Traum dahin versetzt fühlt, statt hoch oben auf der Brücke zu gehen, besonders an einem verhangenen Tag wie heute, da der Fluss gefährlich angestiegen ist und eine matte, silbergrüne Fläche Wasser schon in das matte Grün der Wiese am Hang mit stumpfen, entblätterten Bäumen zwischen ehrwürdigen Häusern eingelassen ist wie ein künstlich angelegtes Becken, auf dem sich das Grau des Himmel spiegelt.

Es ist überhaupt nicht gut, darüber zu rätseln, wer diese vier Kinder betreut und also im Auge behalten sollte, die, offenbar nicht einmal im schulpflichtigen Alter, in ihrem Übermut selbst bei diesem trostlosen Wetter ohne Schuhe, die Hosenbeine hochgekrempelt in diesen Teich steigen und voranwaten, während oben auf der Brücke die ersten Vorübergehenden innehalten und zum Geländer treten – mit Gesten des Unmuts, wie mir scheint, aber zu weit weg, um eingreifen zu können, und schon deshalb achten die Kinder nicht weiter auf sie.

Auch mir hier unten wird beklommen zumute, als ich sehe, wie die Vier immer weiter in das zur Mitte hin offenbar tiefere Wasser vordringen, zumal es sich langsam in Bewegung setzt und erste Wellen zuschaukeln auf sie, die aufspringen in ihren schon nassen Hosen, um diese Wellen gleichsam unter sich hindurchzuwinken, Wellen, in denen allmählich eine Art Entschlossenheit anzuwachsen scheint: Unaufhaltsam werden sie höher, ich weiß nicht warum, es weht kein Wind, der sie aufwürfe, doch sicher ist das Wasser nicht kalt, was mir das arglose oder trotzige Treiben an diesem trüben, ausgesucht ungemütlichen Tag erklären kann, während die Leute oben auf der Brücke, anscheinend in ähnlicher Steigerung wie die Macht der Wellen, unruhiger werden und erste Warnrufe ausstoßen.

Aber noch immer sehe ich keine Person, ob männlich oder weiblich, die diese Kinder beaufsichtigt, im nassen Gras nur einen Steinwurf von ihnen entfernt, bin ich allein mit ihnen, die nun, und oben kreischen die Leute!, in der ersten, sie überragenden Welle verschwinden, aber sogleich wieder auftauchen, weshalb sich auf der Brücke in der jetzt stattlichen Menge freudige Schreie in den Schrecken mischen, und mir fällt auf einmal auf, dass die Kinder keinen Ton von sich geben, womöglich sind es Ausreißer, einem nahe gelegenen Heim entwichene Taubstumme.

Aber auch ich bin stumm, bin sprachlos, wo ich doch brüllen sollte: Zurück! oder: Raus aus dem Wasser! oder was auch immer; ich erkenne, dass die vier Kleinen den Kampf aufgenommen haben, dass sie von einer weiteren Welle erneut verschluckt werden, wieder auftauchen, von der nächsten überschwappt werden, nochmals hochkommen, von der übernächsten … Und jedes Mal schreit die Menge oben auf, und jetzt tauchen nicht mehr alle, nein, es taucht keins der Kinder mehr aus dem Wasser auf, das ruhiger zu werden scheint, aber so aufgewühlt, grau und trübe, wie es ist, den Grund nicht sehen lässt, weshalb ich, endlich aus meiner Erstarrung heraus dorthin gestürzt, nichts erkenne als diese Oberfläche selbst.

Noch kann nicht viel Zeit vergangen sein, durchfährt es mich, ein, zwei Minuten, als aus der Tiefe diese wie nach mir greifende Hand emporquirlt, und ich fasse sofort zu, noch bevor der Kopf über Wasser ist, und das Wasser ist kälter, als ich erwartet hatte, aber weil der Körper leicht ist und weil der Druck des Wassers mir sogar hilft, reiße ich den Bub heraus, überwinde den Gegendruck des Gewichts, das der Kleine über Wasser dann doch hat, lasse ihn neben mir hinsinken, kann mich aber nicht um ihn, den heftig Atmenden, kümmern, ich muss weiter das Wasser absuchen und sehe wieder eine Hand treiben, einen Unterarm, diesmal ohne Schwung nach oben, ich kriege die Hand trotzdem zu fassen, doch dieses Kind, obwohl kaum größer als das andere, scheint schwerer oder es hilft nicht mit.

Auch diesen hoffentlich Geretteten muss ich neben mir ablegen, ohne mich weiter um ihn zu kümmern, ich suche von neuem das Wasser ab, das sich endgültig beruhigt hat, aber trübe bleibt in seinem schier sanften Kreisen, ich starre auf das Wasser, das abweisende Wasser, in dem sich nichts mehr rührt, das mir nichts mehr anzubieten bereit ist. Undeutlich spüre ich die beiden nassen Körper neben mir, lebend der eine, vielleicht wiederzubeleben der andere, und von der Kornhausbrücke oben ist nichts mehr zu hören, kein Laut, nicht einmal das Rauschen eines Motors, und als ich hochschaue, steht niemand mehr dort oben, wo weit ausladende Netze aus Draht einen unglücklichen Menschen daran hindern sollen, hinab in den Tod zu springen, nur vereinzelt sehe ich Leute gehen, das kirschrote Neuner-Tram zieht an ihnen vorbei, und lautlos setzt ein Nieselregen ein.

Milchpreis

Wie haben wir das Volk im Reich der Mitte seiner Weisheit wegen und der hingetuschten Anmut seiner Bilder und Sinnbilder, der begütigenden Tiefe seiner Lehren und dem himmlisch-irdischen Gleichklang seiner Poesie geschätzt! Nicht nur hat uns dieses Volk über die Seidenstraße mit erlesenen Stoffen, dem Weißen Gold und seltenen Gewürzen betört, wir haben von ihm auch gelernt, zu welchen schönen Schöpfungen die Menschheit im Ganzen berufen sei. Und nicht nur hat es das Schießpulver erfunden, es hat die alten Meister des Feuerwerks ausgebildet und uns die flüchtigste und luftigste, sich selbst versprühende Schönheit ansichtig werden lassen, bevor es für Jahrhunderte im bewegten Ozean der Geschichte versank, lange unten in der Tiefe gehalten von den Hab- und Machtgierigsten in unseren Breiten.