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Haan wird von mysteriösen Autounfällen erschüttert. Alle Unfallopfer erliegen ihren schweren Verletzungen. Die Polizei ist ratlos. Die Bürgerin Clara Grube und der Journalist des Haaner Treffs Max Tür wollen den Beamten unter die Arme greifen und zwar auf ihre ganz eigene Art. Der Fall wird aber für alle Ermittler zu einer großen beruflichen wie menschlichen Bewährungsprobe, als ein einflussreicher Geschäftsmann im Speisesaal des CityClass Hotels erschossen wird.
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Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Von Haan für Haan. Dieser Krimi ist für Sie und Ihre gemütliche Lieblingsecke gemacht. Viel Spaß beim Lesen
Der Himmel zeigte sich grau in grau und war an diesem Sommertag mit einer Wolkendecke überzogen. Seit Wochen hatte es bei flauen Winden immer wieder geregnet. Die so stark ersehnte Wetterbesserung war bisher ausgeblieben. Es war der 8. Juli im Jahr 2016. Der Start in den zehnten Haaner Sommer stand unter einem guten Zeichen. Der „Haaner Sommer“ wurde im Jahr 2007 unter dem Motto „Haaner für Haan“ ins Leben gerufen. Für alle die in den Sommerferien nicht in den Urlaub gefahren waren, kam der Urlaub nach Haan. Alle Daheimgebliebenen konnten ihr Fernweh im Häusermeer des Neuen Marktes stillen. Der Anblick des weißen Strandes und der Liegestühle schickte die Gedanken der Besucher auf eine kleine Karibik Reise. Zu dieser Zeit gab es in Haan kaum etwas chilligeres als sich in einen Liegestuhl zu legen, ein Buch zu lesen oder einfach nur dem Lachen der Kinder zu lauschen. Mit den Krümeln der Erde und dem Sand zwischen den Zehen konnte man sich an einen entlegenen Zipfel der Welt träumen. So wurde der Haaner Sommer zum beliebten Treffpunkt für Groß und Klein, für Jung und Alt. Sieben Wochen lang sollte das Strandleben als Kulturlandschaft den Neuen Markt beherrschen. Zudem wurde auf den Brettern die die Welt bedeuten am Neuen Markt ein vielfältig und bunt gemischtes Programm geboten. Alle Aufführungen und Aktivitäten waren kostenfrei. Und endlich lag Veränderung in der Luft. Nach und nach bahnte sich die Sonne einen Weg durch die dicke Wolkendecke. Stück für Stück setzte sie immer mehr ihrer Kraft ein, bis sie endlich den Wolkenteppich durchbrach und strahlend zum Vorschein kam. So war es nur gerecht, dass zu Beginn des ökumenischen Strandgottesdienstes tatsächlich die Sonne schien. Nach der Eröffnungsrede der kürzlich ernannten Bürgermeisterin Dr. Bettina Warnecke versprühte die Reggae-Band Senjam mit schönen afrikanischen Rhythmen einen Hauch von Urlaub. Das Publikum wollte sich den Auftakt dieser herrlichen Innenstadt belebenden Festlichkeit nicht entgehen lassen. Diese stimmgewaltige Band brachte fast uferloses Urlaubsfeeling nach Haan. Doch die Liebe zur Musik konnte die Liebe zum Fußball nicht verdrängen. Der überwiegende Teil des Publikums wollte diesen Ort in den frühen Abendstunden verlassen, um das Fußball-Viertelfinale Deutschland gegen Italien zu schauen. Während die Einen das Spiel in der Happy Hour auf Balkonien genießen wollten, zog es andere in einen Biergarten mit TV-Anbindung. So verließ nach und nach eine große Anzahl von Besuchern den Neuen Markt.
Auch Winfried Edelhoff wollte rasch nach Hause, um sein Auto in die Garage zu stellen und anschließend im Becherhus bei einem Bier das Spiel zu genießen. Heute hatte sein Vater Namenstag gefeiert. Winfried hatte ihn kurz nach dem Mittag mit einem Blumenstrauß und einer Dose Gebäck überrascht. Martinus Edelhoff lebte nach dem Tod seiner Frau sehr zurückgezogen. Am wohlsten fühlte er sich zu Hause, hier in seinem großen alten Haus auf der Alleestraße. Viel zu alt und unmodern meinte sein Sohn Winfried. Martinus hingegen liebte dieses Haus genau so, denn es trug die Handschrift seiner Frau. Ihr Geist lebte in den vielen kleinen Details weiter. Das hielt die Erinnerung an die schönen gemeinsamen Jahre wach. Winfried liebte seinen Vater. Es tat ihm weh, dass er nach dem Tod seiner Mutter so zurückgezogen lebte. Gerne hätte er sich das Fußballspiel mit ihm gemeinsam angeschaut. Aber der alte Herr hatte den Vorschlag vehement abgelehnt. Gegen 20:30 Uhr begleitete Martinus seinen Sohn zur Tür:
>>Junge, ich bin müde und will mich hinlegen – fahr endlich los, sonst verpasst du den Anstoß.<<
Winfried umarmte seinen Vater und küsste ihn auf die Wange. Am Auto drehte er sich noch einmal um und sah ihn winkend im Eingang stehen. Alt und grau war er geworden.
Winfried startete seinen Kleinwagen und fuhr die Alleestraße entlang. Beiläufig blickte er nach links. Er sah das Jugendhaus der Stadt Haan. Wohlige Erinnerungen an den Duft der Holzwerkstatt stiegen in ihm hoch. Die Ampel schenkte ihm grünes Licht. So fuhr er mit leicht überhöhter Geschwindigkeit in seinem dunkelblauen Kleinwagen auf die Kaiserstraße. In der Linkskurve auf Höhe des Schwimmbades wollte er die Geschwindigkeit drosseln, aber das Bremspedal ließ sich ohne Widerstand durchdrücken. Panisch schaute Winfried in den Fußraum. Er trat immer wieder auf das Pedal. Nichts. In Windeseile sauste sein Fahrzeug am Rathaus vorbei. Mit Müh und Not versuchte er, sein Fahrzeug unter Kontrolle zu halten. Aber die nächste lang gezogene Kurve trug das Fahrzeug gefährlich in die Fahrbahn der Gegenrichtung. Immer wieder trat er verzweifelt auf die Bremse.
Auch Arne und Clara Grube verließen den Neuen Markt, um sich das Fußballspiel anzuschauen. Aber sie wollten sich noch etwas Urlaubsfeeling mitnehmen. So holten sie sich beim Eis-Cafe-Eisbär noch den Urlaub to go in Form von Schokoladeneis. Sie schlenderten in Ruhe durch die Straßen und genossen die laue Luft, als Clara auf der Kaiserstraße den dunkelblauen Kleinwagen erblickte. Die Blicke von Clara und Edelhoff trafen sich. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Clara die weit aufgerissenen und panischen Augen des Fahrers. Dann krachte der dunkelblaue Kleinwagen mit einem ohrenbetäubenden Knall erst gegen die Laterne und dann gegen das Kebap-Haus. Durch den Aufprall wurde die Motorhaube eingedrückt, und der Wagen erfuhr einen Linksdrall. Er prallte mit voller Wucht mit der Fahrerseite an die Hauswand. Die Fenster des Kleinwagens wurden durch den Aufprall zerschmettert. Die kurze Motorhaube wurde wie eine Ziehharmonika zusammengedrückt. Augenblicklich schlugen bläuliche Flammen aus der Motorhaube. Für einen kurzen Augenblick stand Clara wie angewurzelt mit ausgebreiteten Armen auf dem Bürgersteig und starrte auf das, was sich vor ihren Augen abspielte. Dann stürmte sie zu dem Fahrzeug und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie sah den Fahrer bewusstlos und eingeklemmt hinter seinem Steuer. Die linke Seite des Fahrzeuges war an die Hauswand gedrückt und nicht zu erreichen, und die rechte Tür ließ sich nicht öffnen. Sie rannte zum Heck und versuchte, den Kofferraum des dreitürigen Fahrzeuges zu öffnen. Die Flammen, die aus der Motorhaube drangen, wurden gelbrot und zündelten gefährlich im Motorraum. Clara riss wie eine Verrückte an der Heckklappe. Aber sie ließ sich nicht öffnen. Das Fahrzeug hatte sich durch den Aufprall verzogen. Währenddessen alarmierte Arne Grube geistesgegenwärtig die Feuerwehr, die Polizei und einen Notarzt. Clara suchte hastig nach einem Gegenstand, um die Scheibe einzuschlagen, konnte aber nichts dergleichen finden. Muammer Güldogan kam aus dem Kebap-Haus herausgestürmt. Er sah die Katastrophe und holte einen Eimer Wasser, aber die Flammen im Motorraum ließen sich nicht löschen. Panisch lief er zurück, schnappte sich den Feuerlöscher und gab Stoßschübe auf die Motorhaube. Clara lief in das Kebap-Haus, griff nach dem Fleischklopfer und schlug damit die Scheibe ein. Ein Schauer von Glassplittern ergoss sich ins Innere des Fahrzeuges. Dichter Qualm quoll aus dem Fenster. Sie wollte durch die eingeschlagene Scheibe in den Wagen steigen, um das bewusstlose Opfer aus dem Fahrzeug zu holen. Aber ihr Mann Arne hielt sie fest.
>>Du kannst da nicht rein. Was ist, wenn das Auto explodiert?<<, schrie er sie an und zerrte sie beiseite. Im gleichen Moment trafen die Rettungsfahrzeuge und die Polizei ein. Clara, Arne und Muammer sahen sich an und ließen sich erschöpft auf die Bürgersteigkante sinken. Alle drei saßen fassungslos nebeneinander. Von Clara fiel die ganze Anspannung ab. Sie hustete anhaltend, der Schweiß vermischte sich mit den Tränen, sodass sie kaum noch etwas sehen konnte. Was für eine Katastrophe! Hoffentlich überlebt der Fahrer diesen Unfall, dachte sie.
Am nächsten Morgen saß Clara in der Polizeiwache in der Dieker Straße. Die Amtsgewalt der Polizei in Haan reduzierte sich auf die Zeit von Montag bis Samstag 8:00 bis 16:00 Uhr. Die Sonntage waren gar nicht aufgeführt. Wahrscheinlich fanden Gesetzesverstöße an Sonntagen in Haan einfach nicht statt. Sie waren möglicherweise ganz einfach verboten worden. Vielleicht wurde dieser Umstand so reguliert: >>Gesetzesverstöße sind nur von Montag bis Samstag in der Zeit von 8:00 bis 16:00 Uhr möglich. Zuwiderhandlungen werden am nächsten Werktag erbarmungslos verfolgt.<< Neben den eingeschränkten Öffnungszeiten war die Wache in Haan auch noch sehr klein. Es gab keinen Wartebereich; wenn man die Tür zur Wache durchschritt, stand man auch schon mitten drin. Haan ist eine mittelgroße Stadt mit 30.000 Einwohnern und liegt im Bergischen Land im Übergang zur Niederrheinischen Bucht zwischen Düsseldorf und Wuppertal.
Clara trug ein weißes Poloshirt und einen dunkelblauen Rock. Sie hatte ihr blondes Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Ihre Augenringe erzählten von der Nacht, doch der klare Blick aus den graugrünen Augen wirkte so freundlich wie immer. Sie und ihr Körper hätten gerne letzte Nacht geschlafen, aber ihr Kopf wollte wissen, wie dieser schreckliche Unfall passieren konnte. Neben Clara war auch noch Muammer Güldogan auf der Wache. Auch auf seinem Gesicht waren deutlich die Spuren einer schlaflosen Nacht zu erkennen. Clara und Muammer begrüßten einander freundlich. Bisher war ihr Verhältnis von gelegentlichen Besuchen im Kebap-Haus geprägt. Muammer Güldogan war ein mittelgroßer Mann um die 50 Jahre. Claras Sohn zufolge war sein Kebap-Haus die Geburtsstätte für guten Geschmack und die Heimat der Haaner Pommes. Obendrein war Muammer Güldogan der Lieblingsdönermann von Claras jüngstem Sohn. Und nun steckte beiden dieser schreckliche Abend in den Gliedern. Weiter waren noch Hans Dampf und Timo Beil auf der Wache. Sie waren als diensthabende Beamte mit dem Fall betraut worden. Dampf war ein untersetzter, mittelgroßer Mann. Sein schütteres Haar war mittlerweile weiß geworden. Er zählte bereits die Tage bis zu seiner Pensionierung. Er freute sich auf die langen, ereignislosen Tage, die er unter der Linde im Garten seines Elternhauses auf der Mozartstraße verbringen würde. Hier war seine Familie eingezogen, als er fünf Jahre alt war, und hier lebte er immer noch mit seiner Mutter unter einem Dach. Dampf fühlte sich von allen Fällen einfach nur noch belästigt. >>Wo sind die anderen?<<, fragte Beil. Er stand wie so häufig auf den Aktenschrank gestützt. Beil war ein schlanker, breitschultriger, 29-jähriger aufsteigender Polizeibeamter. >>Welche anderen?<<, fragte Dampf zurück, der genau wusste, dass die Untersuchungskommission in erster Linie aus ihm und Beil bestand. >>Rasur und Reich<<, erwiderte Beil. >>Rasur ist im Krankenhaus und Reich ist an der Unfallstelle<<, entgegnete Dampf brummig. Der „Haaner Treff“ lag auf dem Tisch und Beil blätterte darin herum. >>Verdammte Schmierfinken<<, murrte er. >>Guck dir nur mal dieses Bild an.<< Das Foto ging über drei Spalten und zeigte einen jungen Polizeibeamten aus der Mettmanner Wache, der mit sorgenvoller Miene den Unfallort betrachtete. >>Besonders vorteilhaft sieht das nicht aus<<, bemerkte Beil neidvoll. Denn ihm wäre es lieber gewesen, er hätte den Unfall aufgenommen. >>Wer ist der Mann?<<, fragte Dampf. >>Das ist Thor Schuss. So ein Grünschnabel von der Mettmanner Wache. Ein vollkommener Idiot. Ich kenne ihn von der Polizeischule. Lies nur mal den Text.<<In Haan (Kreis Mettmann) verunglückte ein Autofahrer (46) auf der Kaiserstraße. In einer Kurve kam er von der Fahrbahn ab und prallte gegen das Kebap-Haus. Durch die Wucht des Aufpralls wurde er im Fahrzeug eingeklemmt. Einsatzkräfte der Feuerwehr mussten den schwer verletzten Mann befreien. Er wurde zur Behandlung in das nahe gelegene St. Josef Krankenhaus gebracht. Nach Angaben des Polizeibeamten war der Wagen aus noch ungeklärter Ursache auf die Gegenfahrbahn geraten; dabei verlor der Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug. Das Fahrzeug prallte gegen die Hauswand der Kaiserstraße 52. Muammer Güldogan ist der Held des Tages. Er bekämpfte die im Motorraum entstandenen Flammen mit einem Feuerlöscher und verhinderte dadurch eine Explosion. Unser Bild zeigt den Polizeibeamten Schuss bei der Untersuchung der Unfallstelle. Obwohl sich Muammer nicht als Held sah, schmeichelten ihm diese Worte. Innerlich tat ihm die Anerkennung gut und tröstete etwas über das schreckliche Erlebnis hinweg. Beil las den Artikel ganz anders, er konnte Schuss nicht ausstehen. Anerkennende Worte hätte er lieber in Verbindung mit seinem Namen gelesen. Er seufzte missmutig. >>Wir wissen also überhaupt nicht, was eigentlich passiert ist.<< Dampf versuchte gar nicht den Ärger, in seiner Stimme zu unterdrücken. >>Das ist doch nichts Besonderes<<, bemerkte Beil. >>Wie sollen wir denn jetzt schon wissen, was eigentlich passiert ist.<< Dampf sah ihn missbilligend an: >>Ich meine, wir wissen nicht, warum das Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn geraten ist.<< >>Mit dem Fahrzeug war etwas nicht in Ordnung<<, warf Clara ein. >>Sie können mir glauben: Das Fahrzeug hatte einen Defekt. Es ist vor meinen Augen gegen die Wand geprallt. Und ich konnte diese panischen Augen des Fahrers sehen.<< Clara war 51 Jahre alt und ein paar Falten hatten sich bereits auf ihrem Gesicht gebildet. Sie wirkte immer ein wenig verhuscht, das geordnete Chaos war ihr ständiger Begleiter. Sehr zum Leidwesen ihres Mannes Arne war ihr eine soziale Ader angeboren. Er hoffte aber, dass man diese irgendwann einmal operativ entfernen könne. Und nun wollte sie Dampf und Beil davon überzeugen, dass an diesem Unfall irgendetwas nicht stimme. Sie glaubte mit ganzem Herzen daran. So trug sie es im vollen Ernst vor. Beil rieb mit seinem rechten Zeigefinger an seinem Nasenflügel. Dann fragte er: >>Sind Sie sich sicher?<< >>Ja, hundertprozentig.<< Clara bebte. Als das Telefon klingelte, schob Beil einen Notizblock vor das Telefon und nahm einen Kugelschreiber zur Hand. >>Ach so, du bist es. Na, fang schon an.<< Die anderen sahen ihm schweigend zu. Dann beendete Beil das Gespräch und sagte: >>Der Anruf kam aus dem Krankenhaus. Edelhoff ist seinen schweren Verletzungen erlegen.<< Geschockt sah Clara den Beamten an. Für eine Minute brachte sie kein Wort heraus. Doch dann fing sie an, wild zu erzählen, sie stotterte, und dann überschlugen sich ihre Erklärungen. Cyril Northcote Parkinson hatte einmal gesagt: >>Wenn Sie jemanden überzeugen wollen, fassen Sie sich kurz und kommen Sie zur Sache.<< Das allerdings konnte Clara überhaupt nicht. Sie brannte vor Leidenschaft, und die Sätze sprudelten wie aus einem Wasserfall aus ihr heraus. Sie redete und redete, dabei wiederholte sie immer wieder den Sachverhalt – nur in einer anderen Wortfolge. Sie konnte weder still sitzen noch still sein. Im Redeschwall stand sie auf und setzte sich wieder. Sie redete mit Händen und Füßen. So viel Temperament war Dampf nicht gewohnt. Sein Kopf wurde so rot wie Rote Beete. Während Claras Redefluss klingelte das Telefon. Fast wie ein Ertrinkender, schnappte Dampf hastig nach dem Hörer. Sein Gesicht nahm langsam wieder eine normale Farbe an. Nur die Nase blieb rot. >>Woher soll ich das wissen?<<, brüllte er in den Hörer und legte ohne ein weiteres Wort auf. >>Die von der Spusi wollen wissen, wo sich das Unfallfahrzeug in den letzten 24 Stunden aufgehalten hat. Die Bremsschläuche waren gelöst.<< Teils erleichtert, teils erschrocken nahm Clara die Worte auf. Irgendwie war sie froh, dass ihre Annahme eine Bestätigung gefunden hatte, aber irgendwie empfand sie diese Erkenntnis auch als äußerst erschreckend. War es ein Versehen oder war es Vorsatz? >>Hatte das Opfer eine Garage, oder stand das Fahrzeug für jeden zugänglich am Straßenrand?<<, wollte Dampf wissen. >>Ich habe noch keine Ahnung.<<, antwortete Beil. >>Das müssen wir erfragen. Es ist bestimmt nur ein ganz normaler Unfall. Ein tragischer, aber ein ganz normaler Unfall<< >>Ach, so ein Mist!<<, begann Clara, aber Beil unterbrach sie: >>Ist es nicht besser, wenn Sie nach Hause gehen und sich hinlegen?<< Das könnte denen so passen, dachte Clara, sie fragte aber: >>War denn einer der Herren schon mal an der Unfallstelle?<< Weder Beil noch Dampf antworteten. >>Ich dachte immer, dass eigentlich die Unfallstelle genau untersucht werden muss?<<, schoss sie nach. >>Ich habe hier noch zu tun<<, erklärte Dampf. Beil zuckte mit den Schultern, stand auf und ging zur Tür. >>Frank ist noch an der Unfallstelle, aber ich fahre auch noch mal hin<<, sagte er und forderte Clara und Muammer auf, die Wache zu verlassen. >>Es muss einfach ein gewöhnlicher Unfall sein<<, murmelte Dampf eigenwillig vor sich hin. Tod durch Manipulation der Bremsleitung. Ich hoffe, die beiden Experten hier erkennen den Ernst der Lage, dachte Clara. Dann erhob sie sich, und Muammer tat es ihr gleich. Sie verabschiedeten sich von Dampf und verließen mit Beil die Wache. Clara war niemals bei der Polizei tätig gewesen. Sie hatte auch niemals die Absicht gehabt, sich mit Verbrechen zu beschäftigen. Ihre einzigen kriminalistischen Erfahrungen sammelte sie gelegentlich bei einem Tatort vor dem Fernseher. Und nun war sie Zeugin eines Verbrechens geworden. Anders als Dampf und Beil war sie davon überzeugt, dass es sich hier um ein Verbrechen handelte. Nur: Warum musste Edelhoff sterben? Er war ein unauffälliger Bürger der Stadt Haan gewesen. Er war niemals polizeilich auffällig geworden. Sein größtes Vergehen war eine Geschwindigkeitsüberschreitung gewesen. Er war unverheiratet und arbeitete als Hausmeister in einer Wohnanlage des Immobilienkonzerns von Dirk Bär. All dies hatte Beil in einer eiligen Recherche herausgefunden.
Reich war noch an der Unfallstelle. Sein dunkelgrauer Trenchcoat hing wie ein Sack an ihm herunter. Die Krawatte hatte er unachtsam in die rechte Jackentasche gestopft, sodass ein Teil heraushing und im Wind flatterte. Reich war Oberkommissar bei der Polizei Mettmann. Obwohl jeder Kollege wusste, dass er mit Abwesenheit glänzte, wenn man ihn mal dringend brauchte. Er war aber wegen seiner Gabe zur guten Kombination, seines außerordentlichen Erinnerungsvermögens und seiner unglaublichen Ruhe beliebt. Er hatte keinen Sinn für Humor und lachte nie. Er war belanglos und knickerig. Er hatte niemals eine zündende Idee, geschweige denn glänzende Einfälle. Aber er war ein ausgezeichneter Polizeibeamter. >>Wie geht es hier voran?<<, fragte Beil. >>Gar nicht<<, antwortete Reich. >>Gibt es irgendwelche Erkenntnisse?<< >>Nein<< >>Wo ist Schuss?<< >>Er hat heute frei<< >>Der hat hier gute Arbeit geleistet<<, entgegnete Reich und blickte auf die Häuserwand. >>Ja<<, gab Beil missmutig zu. An der Unfallstelle waren noch deutlich die Spuren des Aufpralls zu sehen. Die Mauer des Hauses sah sehr düster aus. Ausgebrochene Mauerstücke vermischt mit verbogenen Autoteilen, Glassplittern und verklebten Schaumresten des Feuerlöschers lagen auf dem Boden. Ein halbes Dutzend schaulustiger Passanten hatte sich um die Unfallstelle versammelt. Der Feuerlöscher stand noch im Eingang zum Kebap-Haus auf dem obersten Treppenabsatz. Unter den Schaulustigen stand ein großer älterer Mann mit Pfeife im Mund. Die rechte Hand hatte er tief in der Manteltasche vergraben, mit der linken Hand hielt er seinen Hund Henk an der Leine. Es war Kurt Schneider. Er war ein Haaner Urgestein, Rentner und allgemein wegen seiner unerschütterlichen Ruhe und seiner Hilfsbereitschaft beliebt. Sein ausgeprägter Sinn für Humor war nie übersehbar, auch wenn er selten lachte. >>Tach<<, sagte er zu Clara, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. >>Was ist denn hier passiert?<< >>Hier ist gestern ein Auto in das Kebap-Haus gefahren.<< >>Ach herrje! Wie geht es dem Fahrer?<< >>Er hat es nicht geschafft, er ist verstorben<<, erzählte Clara sichtlich betroffen. Kurt nahm die Pfeife aus dem Mund und zeigte mit dem rechten Fuß fragend auf die Hausecke. >>Nein<<, entgegnete Clara, >>er ist im Krankenhaus verstorben.<< >>Armer Teufel<<, hauchte Schneider. Dann stopfte er seine Pfeife mit dem Tabak aus seinem Tabakbeutel, zündete sie an, verabschiedete sich und ging weiter. Und auch Clara zog es nach Hause. Sie verabschiedete sich von Muammer und schloss sich Kurt an; beide gingen schweigend die Walder Straße hinunter. Clara wohnte mit ihrer Familie in einem beschaulichen Fachwerkhaus. Beim Betreten des Hauses erkannte sie an den rundlichen, kräftigen und kompakten Dreckabdrücken auf der frisch geputzten Treppe, dass ihre Tochter Juno mit Titus, ihrem Labrador, zu Besuch gekommen war. Labradore haben ein praktisches selbstreinigendes Fell. Diese selbstreinigende Funktion des Fells dehnte sich jedoch nicht auf seine Umgebung aus. Clara schmunzelte und verabschiedete sich gedanklich von der Sauberkeit ihrer Wohnung. Sie freute sich, ihre Tochter und Titus zu sehen. Titus war ein lebhaftes, ewig hungriges, liebenswertes Tier. Er folgte Juno bedingungslos überallhin, außer wenn Clara den Raum betrat. Dann freute er sich überschwänglich und riss alles, was zwischen ihm und Clara stand, um. Sein Lieblingsplatz war vor dem Kühlschrank, dort wo das Fleisch drin war, von dem er regelmäßig etwas abbekommen wollte. Er sabberte nicht ein bisschen, er sabberte ganz viel! Zudem schaffte er es mühelos mit dem bisschen Wasser aus seinem Napf die gesamte Küche unter Wasser zusetzten. Als die überschwängliche Begrüßung und die Fütterung mit Leckereien aus dem Kühlschrank abgeschlossen waren, wollte Titus spielen. Er konnte vorsichtig spielen, zog es aber vor, dies nicht zu tun. Familie Grube glaubte anfangs, dass der Hund mit ansteigendem Alter ruhiger werden würde, aber das war ein Irrglaube. Irgendwann hatte er sich beruhigt und lag auf dem Boden. Dabei nahm er deutlich mehr Raum ein, als ihm größenmäßig zustand. Und er lag auf jeden Fall mitten im Weg. Juno sah ihre Mutter mit großen braunen Augen an und sagte: >>Du siehst müde aus!<< >>So viele Gedanken … und so wenig Schlaf … Ich musste heute voll auf die inneren Werte setzen<<, entgegnete Clara und ließ sich auf einen Stuhl sinken. >>Aber niemand nimmt mich so richtig ernst. Die beiden Beamten von der Haaner Wache denken, ich wäre eine gelangweilte und überdrehte Furie.<< Juno zwinkerte mit den Augen. >>Und du hast natürlich überhaupt keine Schuld daran.<< Juno hatte bereits von ihrem Vater erfahren, was passiert war. >>Mama, dein Kopfkino hätte einen Oscar verdient. Wir leben hier in Haan, nicht in Chicago. Lass die Polizei mal ihren Job machen.<< >>Na super, das fehlt mir jetzt auch noch – gute Ratschläge, die nichts bringen.<< Clara wollte keine Zweifel zulassen und sagte zu ihrer Tochter: >>Ich will ausgehen, was besonders Gutes essen und mindestens zwei Glas Wein dazu trinken. Kommst du mit?<< >>Klar<<, sagte Juno. Claras Mann Arne lag im Wohnzimmer auf dem Sofa. Von dort erklang die kurze Frage: >>Was gibt es heute zu essen?<< >>Nichts<<, antwortete Clara. >>Aber das gab es doch schon gestern<< >>Ach, Schatz, ich habe für zwei Tage gekocht<<, sagte sie und entschwand mit ihrer Tochter durch die Tür. Clara und Juno gingen die Walder Straße hinauf. Ihr Weg führte sie ins Chau. Die Chau Resto Bar stand für Genuss der allerfeinsten Güte und lud zum Verweilen ein. Hier hatte Clara die vietnamesische Küche kennen und lieben gelernt. Die immer freundliche Bedienung fragte, ob sie lieber drinnen oder draußen Platz nehmen möchten. Clara und Juno waren sich einig: Sie wollten das gemütliche Ambiente der Terrasse genießen. Sie nahmen Platz und schauten in die Karte. Sie hatten die Wahl zwischen vielen kleinen Portionstellern mit warmen und kalten Spezialitäten oder einem individuellen Menü. Im Chau wurde immer alles frisch und sehr schmackhaft zubereitet. Sie bestellten sich die Freundschaftsplatte für zwei Personen mit je zwei vietnamesischen Frühlingsrollen, Sommerrollen, Hühnerlanzen und knackigen Garnelen. Dazu gönnten sie sich jeder einen Cocktail. >>Ein guter Cocktail kann einen guten Wein durchaus ersetzen<<, sagte Clara schmunzelnd. Sie lehnte sich zurück und genoss die angenehme Umgebung. >>Dieser schreckliche Unfall meinst du wirklich, dass der herbeigeführt wurde?<< >>Ja, ich bin mir ziemlich sicher. Ich weiß halt nur nicht so genau, ob es wirklich Vorsatz war oder ob da jemand einfach nur geschlampt hat. Dann wäre es aber zumindest grob fahrlässig<< >>Wie kommst du darauf?<< >>Ich habe die panischen Augen des Fahrers gesehen. Glaub mir, Kind, mit dem Fahrzeug stimmte etwas nicht. Und in der Polizeiwache habe ich aufgeschnappt, dass die Spurenermittlung den Wagen untersucht und dabei festgestellt hatte, dass die Bremsschläuche gelöst waren<< >>Oh, das hört sich nicht gut an<<, sagte Juno. >>Was hast du jetzt vor?<< >>Ich habe keine Ahnung, aber ich kann nicht untätig herumsitzen und hoffen, dass die Polizei das Richtige unternimmt<<
Samstagmorgen schien die Sonne und der Himmel strahlte in seinem schönsten Blau. Clara wachte langsam und mit zwei immer noch müden Stellen im Gesicht auf. Sie hatte den Kopf noch tief im Kopfkissen vergraben und lag ganz ruhig in ihrem Bett. In der Linde vor ihrem Fenster hörte sie eine Amsel singen. Die Walder Straße fuhr gerade ein Auto hinauf. Ansonsten hörte sie nur die Stille des Waldes und der Umgebung. In der Wasserleitung rauschte es. Die Nachbarin schlug die Wohnungstür zu und die Stimmen aus der Küche ließen Clara vollends wach werden. >>Braucht ihr heute das Auto?<<, fragte Felix seinen Vater. >>Ich glaube nicht. Aber du musst gleich Mama fragen.<< Clara richtete sich leicht auf, stützte sich auf ihren Ellenbogen und streckte ihre rechte Hand nach ihrem Handy aus. Gestern war sie schon wieder erst heute in den Schlaf gekommen. Bis vier Uhr hatte sie wach gelegen. Dieser verdammte Unfall lag nun schon eine Woche zurück, aber ihre Gedanken kamen nicht los davon. Das Handy zeigte halb neun, aber es war Samstag und sie hatte keine Termine. Müde schwang sie sich aus dem Bett und ging in die Küche. Felix und Arne saßen am Tisch und frühstückten. >>Na, ist es wieder spät geworden gestern?<<, fragte er und goss ihr einen Kaffee ein. Immer noch verschlafen nickte sie ihrem Mann zu, begrüßte ihn mit einem Kuss, strich ihrem Sohn mit der linken Hand durchs Haar und nahm die Kaffeetasse dankend an. >>Mama kann ich das Auto haben? Wir haben heute Probe<<, fragte Felix. Er war der musikalische Feingeist der Familie. Er spielte Schlagzeug. Clara erinnerte sich noch ganz genau an die vielen Konzerte, bei denen sie sein Schlagzeug abbauen, verladen und zum Konzertsaal bringen musste. So ein Auftritt kam immer einem Umzug gleich. Während dieser Schlepperei hatte sie immer gewitzelt: >>Im nächsten Leben spielst du besser Blockflöte oder Triangel.<< Aber grundsätzlich liebte sie diese Zeit. Sie hatte ihren Sohn immer gerne zu den Proben und den Konzerten begleitet. Nun war er längst volljährig und konnte selber fahren. Nur ein eigenes Auto besaß er nicht. Sie teilten sich Claras Wagen. Mit ein bisschen Absprache klappte das auch immer recht gut. >>Ja, du kannst das Auto haben. Wir brauchen es heute nicht. Du musst aber tanken. Wann bist du wieder hier?<< >>Gegen 18:00 Uhr<<, antwortete Felix. Der Grund für die schlafarme Nacht lag an Claras Besuch in der Haaner Polizeiwache. Gestern hatte sie sich bei Dampf und Beil nach dem Stand der Ermittlungen erkundigt. Dampf hatte sie nicht angetroffen. Er war zu Mittag nach Hause gefahren, und auch Beil wollte gerade losgehen, um sich etwas Essbares zu besorgen. >>Wenn es in Ordnung ist, warte ich hier, bis Sie wiederkommen<<, schlug Clara vor. >>Okay<<, sagte Beil und verschwand. Zehn Minuten später war er wieder da. Nach einer weiteren Viertelstunde riss Dampf die Tür auf und rief ungehemmt: >>Was will die denn schon wieder hier?<< Beil stand auf und schritt langsam um seinen Schreibtisch. >>Es geht um den Werkstattinhaber<<, begann Dampf völlig unvermittelt. Clara schaute Dampf fassungslos an. Sie hatte sich darauf eingestellt, ihm jeden Knösel aus der Nase ziehen zu müssen, und nun fing er einfach von alleine an. >>Das Fahrzeug von dem Unfallopfer ist einen Tag vor dem Unfall aus der Werkstatt von Ben Zarges aus Solingen gekommen.<< Dann sprach er gewandt und flüssig weiter: >>Am Unfalltag hatte Edelhoff vormittags sein Fahrzeug aus der Werkstatt abgeholt. Er hatte neue Sommerreifen bestellt und diese in der Werkstatt aufziehen lassen. Ben Zarges, der Werkstattinhaber, bestätigte den Auftrag und die Ausführung. Zudem teilte er uns mit, dass er im Rahmen der Qualitätsprüfung festgestellt hatte, dass sich der Bremsschlauch vorne möglicherweise aus dem Anschlussstück lösen könnte, wodurch es zum Austritt von Bremsflüssigkeit und zum Nachlassen der Bremswirkung in einem Bremskreis kommen würde. Aus diesem Grunde hatte er sich die Kostenzusage von Edelhoff eingeholt und die beiden Bremsschläuche vorne ausgetauscht. Die Werkstatt war im März schon einmal in den Fokus einer polizeilichen Ermittlung gekommen. Dabei ging es um gelöste Radmuttern. Wenige Stunden nach dem Zarges in seiner Werkstatt die Reifen an einem Fahrzeug gewechselt hatte, war eine 22-jährige Frau mit diesem Fahrzeug ins Schleudern geraten und in eine Leitplanke gefahren. Am linken Hinterrad entdeckten die Beamten nur noch zwei lose Radmuttern. Alle anderen fehlten. Sie konnten auch am Unfallort nicht gefunden werden. Offensichtlich hatten sich die Muttern bereits während der Fahrt gelöst. Die junge Frau kam aber mit dem Schrecken, einer leichten Verletzung im Nacken und einem Schock davon. Zum Glück fuhr sie auf einer Bundesstraße und nicht auf einer Autobahn. Am Fahrzeug war die gesamte rechte Seite eingedrückt. Die Polizei Solingen hatte die Frage untersucht, ob der Auto-Mechaniker Zarges beim Reifenwechsel geschlampt hatte oder ob böse Absicht dahintersteckte. Ein Sachverständiger hatte den Unfall aufgeklärt und untersucht. Zarges konnte man nicht nachweisen, dass er die Muttern nicht ordnungsgemäß angezogen hatte, weil das Fahrzeug zwischen dem Werkstattbesuch und dem Unfall für ein paar Stunden unbeobachtet auf der Bahnhofstraße in Haan abgestellt worden war. Schließlich wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen unbekannt ermittelt. Die Schrauben hätte auf der Bahnhofstraße jeder lösen können.<< In einer Atempause erhob Dampf den Zeigefinger, um seiner Aussage mehr Nachdruck zu verleihen. >>Ich für meinen Teil überprüfe immer, ob bei dem Reifenwechsel der aufgezogenen Winter- oder Sommerreifen die richtigen Muttern verwendet und die richtigen Felgen aufgezogen wurden. Die Schrauben lösen sich nicht so schnell, wenn sie mit einem Drehmomentschlüssel ordnungsgemäß angezogen wurden. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Nach jedem Reifenwechsel in der Werkstatt frage ich den Mechaniker, ob er die Radmuttern auch wirklich mit einem Drehmomentschlüssel fest genug angezogen hat. Und nach 50 Kilometern lege ich einen Kontrollstopp ein. Dabei überprüfe ich, ob noch alle Radmuttern vorhanden sind. Mit Tritten gegen den Reifen überprüfe ich dann auch, ob die Muttern fest genug sitzen.<< Clara und Beil schauten Dampf mit offenem Mund an. So viele Sätze auf einmal hatte er noch nie von sich gegeben. Leicht kopfschüttelnd ging Beil quer durch die Wache und schaute durchs Fenster. >>Das wär’s eigentlich. Nein, eine Sache noch. Die Rechnung, die Ben Zarges ausgestellt hatte, war auf ein falsches Nummernschild und zudem mit sehr niedrigen Stundenlöhnen ausgestellt. Es schien so, als ob er zwei Reparaturen entweder verwechselt oder sonst was durcheinander gebracht hätte<<, erzählte Beil, ohne seinen Blick zum Fenster hinaus zu ändern. >>Was hat er dazu gesagt?<<, fragte Clara. >>Zarges räumte ein, dass an diesem Tag sehr viel in der Werkstatt zu tun war. Die Kunden haben sich die Klinke in die Hand gegeben. Er hatte offensichtlich bei der Rechnungslegung die Aufträge verwechselt. Früher hatte seine Frau die Büroarbeiten für ihn erledigt. Aber die war verreist.<< Dieses Gespräch hatte Clara den Schlaf geraubt. Und heute wollte sie die Werkstatt von Ben Zarges aufsuchen. Sie fuhr mit ihrer Kawasaki dorthin. Als Vorwand für ein Gespräch wollte sie einen Termin für die Inspektion ihres Motorrades vereinbaren. Sie fand die Werkstatt verlassen vor – keine Kunden, keine Mitarbeiter. Die Werkstatt war erstaunlich ordentlich. Hier schien Ordnung kein übergeordnetes Ziel, sondern eine Grundbedingung zu sein. Die Ordnung wirkte unauffällig im Hintergrund und vermittelte den Eindruck von Zuverlässigkeit. Für alles gab es einen Platz, und alles war auch an seinem Platz. An der Wand hing ein Schild:Ordnung ist weder Weg noch Ziel, sondern Mittel zum Zweck. Gängige Schlüssel- und Nussgrößen lagen nach Größe sortiert auf dem Werkzeugwagen. Schmiermittel, Flüssigkeiten, Farben, Klebstoff und Co. waren in extra gekennzeichneten Kanistern ordentlich in einem Regal untergebracht. Lange Stangen und große Bleche waren sicher horizontal in den unteren Regalböden gelagert und mit speziellen Haken gesichert. An der hinteren Werkstattwand standen noch weitere verschlossene Schränke. An der linken Seite befanden sich Loch- und Hakenwände mit Wandhalterungen für das passende Werkzeug. >>Hallo!<<, rief Clara fragend, >>ist hier jemand?<< >>Ich komme<<, hörte sie eine Männerstimme. Zarges kam langsam aus einem Nebenraum und schleppte sich durch die Werkstatt auf Clara zu. Als er unmittelbar vor ihr stand, wich sie unwillkürlich vor dem Geruch von Schweiß und billigem Schnaps zurück. Entsetzt starrte sie den Mann an. Er stellte das genaue Gegenteil dieser Werkstatt dar. >>Bei ihm kann es sich nur um einen ungeliebten Mitarbeiter handeln<<, dachte sie. >>Ist der Inhaber, Herr Ben Zarges, zu sprechen?<< >>Mein Gott, Mädchen, ich steh vor dir.<< Der Mann mochte zwischen 50 und 55 Jahre alt und etwa einsfünfundsiebzig groß sein. Er war sehr mager, wog sicher nicht mehr als 60 kg und hatte dünnes aschblondes Haar. Zwischen seinen trüben braunen Augen stieß seine große, mit dünnen blauen Adern durchzogene Nase hervor. Unter seinem linken Auge zuckte ein Muskel unregelmäßig und seine Hände zitterten leicht. Sein Arbeitsanzug war voller Flecken und an verschiedenen Stellen durchlöchert. Einige Löcher waren mit verschiedenfarbigen Fäden gestopft. Er roch seltsam nach undefinierbarem Deo oder Mundwasser, gemischt mit einer leichten Note Alkohol – er schien aber nicht betrunken zu sein. >>Wie kann ich dir helfen, Mädchen? Brauchst du Hilfe mit deinem Motorrad?<<, >>Ja, ich würde gerne einen Termin für die Inspektion vereinbaren<< >>Für welche, Schätzchen?<< >>Für die 32000er<<, erwiderte Clara. Er rollte sich zwischen den Fingern eine Zigarette zusammen und bewegte sich aus der Werkstatt nach draußen. Dort steckte er die Kippe an, hustete trocken und heiser und schaute sich die Kawasaki an. >>Wie alt ist sie? Die sieht ja ganz ordentlich aus.<< >>Sie ist Baujahr 97 und wenig gelaufen. Sie war ein echter Glücksgriff<< >>Wann willst du dein Schätzchen bringen?<< >>Nächste Woche – wäre das Okay?<< >>Okay, ich merke dich vor.<< >>Wollen Sie nicht meinen Namen notieren?<< >>Brauch ich nicht, ich erkenne dich am Motorrad. Meine Frau hätte deinen Namen notiert, sie macht den Bürokram<<, sagte Zarges und schielte etwas nachdenklich. >>Soll ich später Ihre Frau anrufen?<< >>Sie ist verreist<<, murmelte er verlegen vor sich hin und starrte gedankenverloren auf den Boden. >>Der Alkohol ist ein Fluch<<, dachte Clara, verabschiedete sich von Ben Zarges, setzte sich auf ihr Motorrad, zog Helm und Handschuhe an und fuhr nach Hause.
Um 13:00 Uhr schloss Ben die Werkstatt und ging in das angrenzende Büro. Hier hatte sonst immer seine Elke gesessen, Rechnungen geschrieben, Termine vereinbart und Unterlagen für den Steuerberater zusammengestellt. Sie hatte immer alles fein säuberlich sortiert und in Ordner abgeheftet. Jetzt musste Ben die Büroarbeiten allein erledigen. Ihm lagen die Papierspiele überhaupt nicht. Er war Mechaniker und kein Bürohengst. Seit Elke fort war, herrschte hier das Chaos. Sämtliche Papiere, von den Lieferscheinen bis zu den Rechnungen, lagen kreuz und quer durcheinander. Der Aschenbecher quoll über. Der Gummibaum hatte vor drei Wochen sein letztes Blatt abgeworfen und staubte in der Ecke voll. Ben konnte Unordnung überhaupt nicht leiden, aber hier fühlte er sich seiner Elke besonders nah. Er saß hier ganz allein und hörte nur auf die Stille des unordentlichen Büros. Er schloss die Bürotür von innen ab, um komplett isoliert zu sein, die Flasche immer ganz dicht an seiner Seite.