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Ein Ort in Deutschland, 1948: Sie, die Ungeliebte, gezeugt durch brutale Vergewaltigung, wird als Kuckuckskind in die Familie Müller geboren. Das untergeschobene Kind wird vernachlässigt, gedemütigt und schließlich von ihrem Vater als billiges Stück Fleisch an die Männer der Stadt verkauft. Als sie heranwächst, entwickelt sie einen raffinierten Plan, um sich an ihren Peinigern zu rächen. Haan, September 2017: Die ganze Stadt ist in Feierlaune. Bei spätsommerlichem Wetter lockt die Haaner Kirmes zahlreiche Besucher an. Auch sie, die Ungeliebte, kommt in die Stadt, um gemeinsam mit ihren Kegelschwestern, ein paar unbeschwerte Tage auf der Kirmes zu verbringen. Doch es kommt ganz anders ...
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Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Wieso werden die täglichen millionenfach
stattfindende Vergewaltigung von Kindern
beschönigend nur als sexueller Missbrauch
bezeichnet?
Lilo Keller (*1934)
Beim Missbrauch werden Kinder wie Gras
zertreten.
Else Pannek (1932-2010) deutsche Lyrikerin
Prolog
Ritual
Mittwoch, 20.09.2017
Winter 1947/48
Auf der Wache
Sie war 6 Jahre
Donnerstag, 21.09.2017
Oberlehrer Faust
Hotel im Park
Dem Kind geht es doch gut
Freitag, 22.09.2017
Verkauft
Freitagabend
Der Sadist
Samstag, 23.09.2017
Ein Tabu brach
Kirmeseröffnung
Der erste Gutenachtkuss
Da ist Herr Neumann
Der Vater muss sterben
Sonntag 24.09.2017 morgens
Endlich leben
Sonntag, der 24.09.2017
Schöne Einsamkeit
Montag, 25.09.2017
Vergnügte Rache
Dienstag, 26.09.2017
Herr Neumann ist weg
Sie zieht das Schwert
Finale
Epilog
Lieber Leser,
ich wollte diese Geschichte nicht nackt, sondern mit einem Prolog bekleidet überreichen.
Jeder Mensch ist einzigartig und individuell. So habe ich in dieser Geschichte eine willensstarke und charakterfeste Person geschaffen, die sich mit vielen Gedanken und Entscheidungen quälte. Ihr Leben war von Gewalt und Übergriffen begleitet und jedes traurige Gefühl hatte sich heimatberechtigt in ihrem Gemüt eingerichtet. In dieser Geschichte zeigt sich, dass die Ruhe ein wohltuender Zustand ist und die Schönheit eines Gartens sowie die Fürsorge für Leidensgenossen eine Inspiration sein kann. Der Inhalt dieses Buches und somit auch die Protagonistin ist meiner Fantasie entsprungen.
Ich räume ein, dass mir meine Protagonistin ans Herz gewachsen ist, ich an mancher Stelle eine wohlwollende Augenbinde trug und ihre Fehler als kluge Schachzüge darstellte.
In diesem Buch wird die Geschichte einer besonderen Frau erzählt. Diese Geschichte ist in ihrer Gesamtheit frei erfunden, die einzelnen Situationen aber nicht. Solche Situationen erlebten und erleben auch heute noch zahlreiche Menschen. Das gilt für die heiteren Episoden, die tatsächlich erlebten und mir anvertrauten Kirmesgeschichten, aber auch für die schrecklichen Erlebnisse, die mir in einem besonderen Maße erwähnenswert erschienen. Es ist also eine fast wahre Geschichte. Der Leser wird eine Frau kennenlernen, die zwar eine Taufe und einen Namen bekam, aber von ihren Eltern niemals Liebe oder Zuneigung erhielt. Sie, die Ungeliebte, wuchs in einer seelisch toten Welt auf. Dabei soll, zum Gedenken an sie, daran erinnert werden, dass es nur ihre Geschichte ist und dass nicht jedem so eine Geschichte widerfährt. Diese Geschichte spielt teilweise in der früheren und teilweise in der jüngeren Vergangenheit. Die Handlung hat ihren Ursprung in den Monaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Diesem Krieg, der alles veränderte, was einmal gut begonnen hatte. Durch die veränderten gesellschaftlichen und seelischen Normen wurde sie, die Ungeliebte, dazu getrieben freiwillig und unfreiwillig den Tod zu umarmen. Weil gleich die erste Berührung mit dem Tod sie zu tiefst berührte, wurde er ihr lebenslanger Begleiter.
Schon während er kichernd und verwirrt durch das Zimmer schritt, löste sich etwas von ihrem lauernden Druck. Mit dem inneren Jubel eines Kindes, das sich ein Stück Freiheit ertrotzt hatte und auf die Einschränkungen und Konsequenzen, die sich daran anknüpfen könnten pfiff, lehnte sie locker am Türrahmen und genoss seine Verwirrtheit. Pfarrer Meier hatte schon immer sehr innig an ihr gehangen und war seinerseits nicht die stärkste Natur. Sein Geist war verstört und beschämt, seitdem er die Brücke zwischen seinem Glauben und seiner Leibeslust überschritten hatte. Sie, die Ungeliebte, besaß hingegen eine schwer zu Fall bringende, im Leben stark verwurzelte Urkraft. Der Pfarrer besuchte sie in ihrem Heim. Das Haus war im Stil des nordischen Klassizismus auf einem sehr großen Grundstück erbaut. Ihm gefiel das in fröhlichen Wetterfarben gestrichene Haus mit den Halbsäulen zu beiden Seiten der Eingangstür von Beginn an. Er hatte sich schon gefreut, an die alten Zeiten anknüpfen zu können. Bei seiner Ankunft schielte er über den um fünf Stufen erhobenen Eingangsbereich hinweg auf das obere Stockwerk. Die bodentiefen Fenster waren leicht geöffnet und ein weißer Vorhang strich sachte über das kunstvoll geschwungene Eisengitter des kleinen Balkons. Dort lag bestimmt ihr Schlafgemach.
Nun stand er hier im hell eingerichteten, mit Stuck verzierten Esszimmer. Durch drei transparente, rosafarbene Vorhänge schaute auf den rückwärtigen Garten. Irgendwie war ihm heute nicht wohl. Sein Kopf glühte und seine Schläfen pochten rasend. Er schwitzte, seine Pupillen waren geweitet und sein Blick stark verlangsamt. Mühevoll versuchte er, die knappen und gepflegten Bewegungen ihrer schönen, schlanken Hände zu verfolgen. Sie hatte extra für ihn gekocht und alles sehr nett und geschmackvoll angerichtet. Eigentlich wollte er nach dem Essen zum gemütlichen Teil übergehen. Stattdessen schaute er auf seine eigenen ungeschickten Hände und verstand nicht, warum ausgerechnet heute sein Körper enteignet zu sein schien. Bereits seit einer Viertelstunde durchlebte er eine sehr starke Erregung. Aber sie hielt ihn mit der Geschicklichkeit einer Agentin gekonnt hin, bis ihn ein schlimmes Kratzen in Mund und Rachen störte. Bereitwillig reichte sie ihm ein Glas Wasser. Sein rückwärts gebürstetes Haar war am Scheitel bereits gelichtet und an den Schläfen fast vollständig ergraut. Seine hohe und von Falten zerklüftete Stirn bebte vor Erregung und starker Euphorie, bevor seine große Heiterkeit plötzlich von Weinkrämpfen abgelöst wurde. Der Bügel seiner Hornbrille drückte sich in den aufgedunsenen Nasenrücken, als er wie ein Tiger durchs Zimmer lief. Er rieb sich sein rasiertes Kinn und sprach in scherzender Weise plattdeutsch:
»Komm, jank mech fott!« (Das mag ich nicht!), gab der Pfarrer scherzend von sich.
»Watte nit sähs!« (Was du nicht sagst!), lächelte sie zurück. »Dat make mer henge eröm mem Höhnerkläuke!« (Wir gehen fein diplomatisch vor!), erklärte der Pfarrer.
»Wellste mech för et Läppke halde?« (Willst du mich auf den Arm nehmen?), fragte sie lachend.
»Nit met mech! Doför mosste dech e anger Tutedöppe söhke!« (Nicht mit mir! Such dir einen anderen Dummkopf!), sagte der Pfarrer und bewegte seinen rechten erhobenen Zeigefinger hin und her.
»Wenn dat nit fluppt, dann weeß ech et nit!« (Das klappt schon!), neckte sie ihn.
»Du kanns mech emol dr Nache deue!« (Rutsch mir doch den Buckel runter!) Völlig unerwartet sprach er dann hektisch und vollkommen frei von humoristischen Zügen in aller Sachlichkeit mit einem imaginären Postboten und einem Kutscher. Sein Redeschwall steigerte sich in irres Schreien. Sein Mund war groß, dann schlaff und dann plötzlich schmal und gespannt. Sein Kopf hämmerte, er zitterte, schwankte und würgte vor Übelkeit, erbrach sich aber nicht. Schleichend setzten Halluzinationen ein. Die darauffolgenden Tobsuchtsanfälle wurden von Krämpfen durchzogen und endeten in einem epileptischen Anfall. Mittlerweile waren seine Pupillen maximal geweitet. Neckisch blendete sie den Pfarrer mit der Tischlampe. Lichtscheu schob der gehetzte Pfarrer seine Arme vor die empfindlichen Augen, die wehrlos durch die Gläser seiner Brille blickten und scheinbar das blutige Inferno der Lazarette des Krieges sahen.
»Das Leben ist eine hohe Kunst«, beglückte sie Pfarrer Meier und verzehrte sich an seinem Leiden. Selbst die klösterliche Stille des äußeren Daseins vermochte ihn nicht mehr zu retten. Sein Schicksal war besiegelt. Er konnte die Gegenstände in seiner Umgebung nicht mehr klar erkennen und alles doppelte sich vor seinen Augen. Etwas amtlich-erzieherisch pulsierten seine beiden Halsschlagadern heftig. Tief und schnell dröhnte die Atmung des alternden Pfaffen, als er zunehmend bewusstlos wurde und schließlich erschöpft in einen schlafartigen Zustand fiel.
Mittlerweile war es Abend geworden und die Nachtkühle kroch hervor. Sie genoss die Dunkelheit und die Stille. Genüsslich zog sie an ihrer Zigarette und inhalierte den Qualm bis tief in die Lunge. Sie schaute auf den bewusstlosen Pfaffen. Sie sah, wie sich die rote Farbe seines Gesichtes bläulich färbte und wartete, bis ihm die zentrale Atemlähmung den Rest gab. Jedes Mal freute Sie sich auf die Zigarette danach. Drei Täter hatte sie schon besiegt und nun auch den Pfarrer.
»Check!«, sagte sie laut vor sich hin und machte einen Haken hinter seinem Namen auf der Liste, die vor ihr lag. Sie zog wieder genüsslich an ihrer Zigarette. Dieses Rauchen war ihr Ritual, das das Erlebnis noch schöner machte. Sie liebte den bitteren Geschmack des Tabaks und das Gefühl, zu inhalieren. Sie liebte die daraus gewonnene Entspannung. Keine Atemübung beim Yoga, keine Gesprächsstunde beim Therapeuten kam auch nur ansatzweise an dieses Gefühl heran. Das hier war ihr Rückzug in sich selbst. Nur ihren Atem konnte sie hören. Befreit und gelassen saß sie nun in ihrem Sessel. Genüsslich streckte sie sich aus und pumpte das Blut in ihre Arme und Beine. Sie saß allein und absolut ruhig in ihrem Lieblingssessel. Nunmehr verteilte sich die lang ersehnte Balance gleichmäßig in ihrem Körper. Endlich, endlich wiegten sich ihr Geist und ihre Seele wieder im Einklang.
Nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten unruhig verbracht hatte, wurde sie am Rande einer Großstadt sesshaft. Hier führte sie ein ruhiges und beschauliches Leben. Die kinderlose Ehe, die sie einst voreilig eingegangen war, wurde nach kurzem Glück durch den Tod getrennt. Während dieser Zeit hatte sie ihr unheimliches Verlangen ins Unterbewusstsein verdrängt. Sobald sie aber allein war, begann es, sich langsam, aber effektvoll wieder einen Weg in ihr Bewusstsein zu bahnen. Diesem Verlangen musste und wollte sie von Zeit zu Zeit nachgeben.
Nun aber war sie völlig frei, frei von dem gewaltigen Druck. Jegliche Anspannung war aus ihrem Körper gewichen. Sie hatte die tyrannische Begrenztheit besiegt. Die einst so diktatorischen Beklemmungen krochen nun, wie ein geschundener Wurm über den Boden von ihr weg. Sie, die Ungeliebte, hatte gesiegt. Genussvoll zog sie wieder an der Zigarette und schaute zufrieden auf die Leiche, die vor ihr auf dem Boden lag. Mit der rechten Hand strich sie sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht. Ihre Beine waren lässig übereinander geschlagen. Sie zog den bittersüßen Qualm ihrer Zigarette noch tiefer in die Lunge. Beim Ausatmen öffnete sie ihren Mund groß und rund. Sinnlich ließ sie große, dicke Rauchringe durch den Raum wandern. Nach dem letzten lustvollen Zug an ihrer Zigarette drückte sie die Kippe auf der Brust der Leiche aus. Genüsssüchtig kuschelte sie sich in ihren Ohrensessel und lauschte in sich hinein. Dank der angenehmen Entspannung erwachte ihre Aufmerksamkeit wieder zum Leben.
»Nur ein toter Mann ist ein guter Mann!«, lachte sie zufrieden und trocken. Sie sah sich den leblosen Körper ruhig und besonnen an. Seine leicht gebräunte Haut strahlte Gesundheit aus. Sie konnte aber nicht über den tatsächlichen Zustand hinwegtäuschen. Er war tot, richtig schön tot! Ihr eigener Körper war nicht besonders athletisch, aber sie war kräftig genug, um den leblosen Körper mühelos zu entsorgen. Vier Stunden genoss sie den Rausch der Entspannung mit der Leiche. Mit jeder Kippe, die sie auf der Leiche ausdrückte, gewann sie mehr Selbstvertrauen zurück. Es war bereits tiefe Nacht, als sich dichter Zigarettenqualm an der Decke gesammelt hatte. Pfarrer Meiers Körper war nunmehr übersät mit ausgedrückten Zigarettenstummeln. Die letzte Kippe drückte sie in seinem linken Auge aus. Anschließend ging sie in den Garten und hob ein Beet aus. Obwohl sie bereits vor ein paar Tagen die Erde aufgelockert hatte, trieb ihr die körperliche Anstrengung den Schweiß aus den Poren, als sie plötzlich eine Stimme hörte.
»Hallo Frau Nachbarin, warum gräbst du mitten in der Nacht den Garten um? Willst du eine Leiche vergraben?«, fragte ihr Nachbar. Ruhig und gelassen sah sie auf, fuhr sich mit ihren gespreizten Fingern durchs Haar und befreite ihr verschwitztes Gesicht von losen Haarsträhnen.
»Ja, sicher! Leichen muss ich nachts vergraben. Am Tag fällt so was doch auf«
»So ist recht. Wir wohnen schließlich in einer anständigen Gegend«, erwiderte der Nachbar lachend. Dann fragte er ernst:
»Kannst du wieder nicht schlafen?«
»Gartenarbeit hilft mir darüber hinweg«
»Mach nicht mehr so lang«, gab der Nachbar noch den guten Rat und ging in sein Haus. Als alle Lichter in der Straße erloschen waren, ging sie zurück ins Haus und rollte die Leiche auf den Rücken. Sie schob ihre Arme von hinten unter die Achselhöhlen des leblosen Körpers und zog ihn mit einem festen Ruck in eine sitzende Position. Begleitet von einem kräftigen Atemzug lehnte sie seinen schlaffen Körper an ihrem Schienbein an, doch Pfarrer Meier rutschte nach rechts und fiel wieder zu Boden.
»Mein Gott, bist du fett geworden«, fluchte sie innerlich und begann wieder von vorn. Diesmal hielt sie den leblosen Körper mit der rechten Hand fest, als sie sich vorbeugte, um den linken Arm des Pfarrers rechtwinklig vor seine Brust zu beugen und diesen mit ihrer linken Hand zu umklammern. Dann schob sie ihre rechte Hand unter seiner rechten Achselhöhle hindurch und drückte seinen Unterarm mit beiden Händen gegen seinen leblosen Körper. Mit diesem festen Griff zog sie die Leiche bis in die ausgehobene Stelle im Garten. Sorgfältig bedeckte sie die Leiche mit den seit Wochen gesammelten Ästen, Laub, Grasschnitt und Erde. Bis sie ein schönes, rückenfreundliches Hügelbeet vor sich hatte. Den Fuß des Erdhügels fasste sie mit Granitsteinen ein und setzte liebevoll ihre Stauden und Pflanzen darauf. Am nächsten Morgen erstrahlte an dieser Stelle ein wunderschönes Blumenbeet.
Nachdem der Juni in fast allen Landesteilen Temperaturen von über 30 Grad Celsius gebracht hatte, war nun irgendwie ein falscher Hochsommer eingefallen. Es war Mittwoch, der 20. September 2017 gegen 11:30 Uhr, als Chris in der Schule saß und sich dem Schulende entgegensehnte. Er saß mit unermüdlicher Hingabe seine Zeit im Unterricht ab. Gedanklich ging er seine Ersparnisse durch und überlegte, wie er diese am besten auf die Fahrgeschäfte und Imbissbuden aufteilen könnte, die er während der Kirmestage auf jeden Fall besuchen wollte. Dem Unterricht folgte er schon lange nicht mehr. Seine Konzentration amüsierte sich schon auf der Kirmes.
›Wie schön es jetzt auf der Kirmes wäre. Straße rauf und runter, von einem Ende der Festmeile zum anderen laufen. Am besten wäre es eigentlich, wenn es die ganze Zeit regnen und nur am Montagvormittag die Sonne scheinen würde ... beste Kirmesbedingungen, nur für Haaner Schüler, das wär's doch!‹, dachte er verträumt. Bald war es so weit. In ein paar Stunden würden die Schausteller den Neuen Markt und die Kaiserstraße beherrschen. Endlich ertönte die Schulglocke und die langweilige Englischstunde war vorbei. Eilig stopften die Schüler ihre Bücher, Hefte und Stifte in die Rucksäcke und verließen mit ohrenbetäubendem Lärm das Schulgebäude. Chris hatte seinen Heimweg begonnen und fuhr mit dem Fahrrad über den Drosselweg, die Diekermühlen- und Diekerstraße, die in gerader Linie zum Neuen Markt führten.
Wo am Vormittag noch Obst, Gemüse und Blumen verkauft wurden, sollte in Kürze der Aufbau der Kirmes beginnen. Hell und großzügig lag der lang gestreckte Marktplatz und seine Nebengassen inmitten der Gartenstadt Haan, die mit Fachwerkhäusern und vielen historischen Gebäuden ergötzlich ausgestattet war. Chris fand den Neuen Markt noch in geschäftigem Treiben vor. Auf dem gepflasterten Marktplatz waren die Marktstandbetreiber noch damit beschäftigt, die nicht verkauften Waren einzupacken und die Stände abzubauen. Nachdem die letzten Marktfuhrwerke den Platz geräumt hatten, lag der Markt für einen kurzen Zeitraum schweigend im Abglanz des Wochenmarktes. Dann aber ging es endlich los. Die Handwerker schleppten die Einzelteile der Fahrgeschäfte heran und bald schon kletterten sie in den Nischen und Verstrebungen umher. Die Schausteller kommandierten die Angestellten und gestalteten, laut rufend und hämmernd, das Stadtbild neu. Ob Chris nun aus dem Inneren des Marktes durch die Marktpassage oder von außen über die Mittelstraße zur Kaiserstraße gelangte, war einerlei. Überall zeigte sich geschäftiges Aufbautreiben. Noch war die Kaiserstraße für den allgemeinen Verkehr frei. Aber ab morgen sollte dies anders werden. Denn dort, wo sich heute noch eine Blechlawine den Weg durch Haan bahnte, würde morgen das Kirmesgeschehen als Platzhirsch das Revier verteidigen. Chris schob sein Fahrrad auf den Parkplatz des Rathauses. Hier waren die Parkplatz suchenden bereits vertrieben. Die große Geisterbahn der Familie Schütze hatte nunmehr das Geschehen fest im Griff. Nichts für schwache Nerven. Es waren neue Geister eingetroffen. Am Samstag würden über zwanzig Untote auf dem Parkplatz des Rathauses ihr Unwesen treiben. Chris sah einen Arbeiter, der seinen Handwerkergürtel um die Hüften geschnallt hatte und einen grauen Arbeitsanzug aus robuster Baumwolle trug. Mit der rechten Hand drückte er ein Brecheisen auf den Boden und legte das gekrümmte Endstück lässig an seiner Hüfte ab. Chris blieb stehen und schaute mit Begeisterung zur nächsten Attraktion. Daneben sollte „Sky Dance" entstehen. Gegenüber würde bald „Jump Street" der Familie Klaasen zum Leben erwachen. Chris schaute auf die Uhr. Er hatte schon viel zu viel Zeit vertrödelt. Die verdammten Hausaufgaben und Lateinvokabeln warteten noch auf ihn. Morgen würde es noch viel interessanter werden. Morgen wird alles gesperrt sein und die Kirmes kann ihr herrliches Antlitz vollkommen entfalten.
Ein Schnellzug fuhr an jenem leicht dämmrigen Abend in einen mittelgroßen Bahnhof ein. Evelin Rebling erwachte, als das rhythmische Rollen der Räder verstummte und die hervorgebrachte Stille die Geräusche von draußen bedeutsam anhob. Sie verspürte einen faden Geschmack im Mund. Langsam kam sie zu sich, wie aus einem Rausch. Ihrer Ruhe war der Rhythmus genommen, welchem sie sich hingegeben hatte, um im dumpfen Reiseschlaf die Zeit zu überbrücken. Evelin reckte sich ein wenig und sah in das besorgte Gesicht einer kleinen und zierlich gebauten Dame, die versuchte, ihren großen und scheinbar schweren Koffer mit dem Knie ruckweise in den Zug hineinzuschieben. Sie sah mit gehetzten und angstvollen Augen auf den Rollkoffer. Auf ihrer weit hervorstehenden Oberlippe bildeten sich kleine Schweißperlen. Evelin stand auf und half der Dame, allein dieser Oberlippe zuliebe.
Evelin war eine unscheinbare, schmale Person. Aus ihren Gesichtszügen konnte man ihr Alter schwer ablesen, obwohl sie bald das 70. Lebensjahr vollenden würde. Sie schaute aus dem Fenster und las das Schild „Wuppertal Hbf" auf dem Bahnsteig. Bald würde sie aussteigen müssen. Sie nahm ihre rotlederne Reisetasche mit den silbernen Schnallenriemen und stellte sie auf den Sitz neben sich. Sie war allein unterwegs und wollte sich mit den anderen Mitgliedern ihres Kegelclubs „Die Bahnbrecher" in Haan treffen. „Die Bahnbrecher" bestanden aus Loretta von Bischoffshausen, Paula Buddenberg, Cathrin Hengelsberg, Erna Heitmeier und Evelin Rebling.
Loretta von Bischoffshausen war eine Frau mit ungewöhnlichen Reizen. Trotz ihrer nahezu 70 Jahren schauten ihr die Männer immer noch hinterher. Sie hatte eine tiefe Verbindung zu Haan und war bereits am Morgen angereist. Paula Buddenberg war eine bodenständige und gerechte Frau, im gleichen Alter wie Loretta. Sie liebte es, ohne Wecker aufzuwachen und noch ganz gemütlich mit ihrer Katze auf dem Sofa zu schmusen. Aus diesem Grund wollte sie sich nicht auf eine bestimmte Reisezeit einlassen und würde einfach dann losfahren, wenn der Aufbruch in ihrem Biorhythmus passte. Cathrin Hengelsberg, ebenfalls nahezu 70 Jahre alt, hatte sich eigentlich mit Loretta auf eine gemeinsame Anreise geeinigt. Leider musste sie noch kurzfristig einen Arzttermin wahrnehmen, sodass sie es nicht pünktlich zum vereinbarten Treffpunkt geschafft hatte. Erna Heitmeier war in Haan geboren und mit ihren 65 Jahren das Küken des Kegelklubs. Sie freute sich sehr darauf, alte Bekannte zu treffen. Insbesondere wollte sie einen ehemaligen Klassenkameraden finden. Seine Küsse auf der letzten Bank im Kino waren ihr immer noch lebhaft in Erinnerung und nun, da ihr Ehemann verstorben war, war sie frei und bereit, alte Verbindungen wieder aufleben zu lassen. Sie war bereits am Vormittag in Haan eingetroffen.
Als sie, die Ungeliebte, am Haaner Bahnhof aus dem Zug stieg, war sie getrieben; getrieben von ihrer inneren Anspannung und Unruhe. Endlich konnte sie sich aus der Enge des Zuges befreien und ihrem Bewegungsdrang freien Lauf lassen. Über die Jahre hatte sie gelernt, mit dieser Unruhe und inneren Hektik umzugehen. Sie wusste aber genau, dass sie wieder töten musste. Die Vorfreude darauf gab ihr die Kraft, sich zusammenzureißen. Um nicht aufzufallen, bemühte sie sich, ihre verstärkte Reizbarkeit und ihre aggressive Haltung zu unterdrücken. Sie hasste diesen Zustand. Zwar tötete sie am liebsten in ihrer bekannten Umgebung, aber ihr letztes Opfer hatte sich aus dem Staub gemacht. Nun war sie gezwungen, willkürlich zu töten.
Im Alter rückte die Vergangenheit immer näher. Die Erinnerungen überschwemmten sie regelmäßig in quälender Weise, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Sie hatte sich dieses Leben nicht ausgesucht. Mit jedem neuen Lebensjahr wurden die Abstände des Tötens kürzer. Während sie rast- und ziellos ihren schweren Koffer durch den Grünstreifen Haans zog, überlegte sie überreizt, wie sie an ein Opfer kommen könnte. Um etwas Ruhe aufzubauen, dachte sie über eines ihrer Opfer aus der Vergangenheit nach. Damals war sie 32 Jahre alt. Die Nachbarn nannten sie die Skeptische und Stille, aber diese Einschätzung war völlig falsch. Sie war eine Rebellin. Sie suchte und fand einen ganz bestimmten Halbstarken. Regelmäßig traf sie sich mit ihm im Park einer entfernten Großstadt. Sie und ihr damaliges Opfer hatten sich betrunken und ganz bewusst die Passanten angepöbelt. In der Dunkelheit knackten sie ein Auto und unternahmen eine Spritztour. Betrunken, wie sie waren, endete diese Tour natürlich im Straßengraben. Torkelnd verließen die beiden damals die zerstörte Karre. Stunden später saß sie allein und entspannt in ihrem Sessel. Sie holte sich nun das erhabene Gefühl hervor, wie sie damals auf die Leiche schaute, die nackt vor ihr auf dem Boden lag. Sehnsuchtsvoll dachte sie an die Ruhe, die sich mit seinem Tod in ihrem Körper ausgebreitet hatte. Er war groß gewachsen und hatte lange Haare. Seinen schlanken Körper hatte er nie geschont. Alkohol und Drogen hatten deutliche Spuren hinterlassen. Er war ein Rebell, genau wie sie. Sein Jurastudium hatte er im 4. Semester geschmissen und den Kontakt zu seinem Elternhaus abgebrochen. Seither lebte er auf der Straße. Im Volksmund würde er der bildungsfernen Gesellschaft zugeordnet werden. Ihn vermisste keiner. Die Jungs von der Straße glaubten, dass er weitergezogen war. Aber er hatte ein dunkles Geheimnis. Und darum musste er sterben. Für die nächste Zeit war ihr Bedarf gedeckt. Obwohl sie damals schon merkte, dass sich ihr Leben zu einer Sisyphusarbeit entwickelte, genoss sie die kurze Entspannung. Sie musste einfach immer wieder von vorne anfangen.
Gertrud Müller saß einsam auf den Stufen eines zerstörten Hauses. Sie lauschte und hoffte auf Sehnsuchtsgeräusche, wie Glockenklang oder das Singen einer Drossel. Die Sommerabende ihrer Kindheit kamen ihr in den Sinn. Die roten Johannisbeeren, die sie von den Sträuchern im Garten ihres Vaters gepflückt hatte. Sie dachte an das Glitzern im Wasser der Regentonne. Sie sehnte sich nach dem Geruch des Kuchens, den die Mutter sonntags gebacken hatte und träumte, wie ihr Vater nach Hause kam und fröhlich ein Lied pfiff, während er seine Krawatte löste und den obersten Hemdknopf öffnete. All dies war weit entfernt und unwiederbringlich verloren. Denn Gertrud Müller kämpfte 1947 immer noch an der entbehrungsreichen Heimatfront. Sie wurde zu Arbeiten in der Industrie eingesetzt. Sie war allein für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich. Tagsüber musste sie die Kinder versorgen und die knappen Lebensmittel gleichmäßig verteilen und nachts arbeitete sie in der Fabrik. Sie machte zwar aus der Not eine Tugend und baute Gemüse im Kleingarten an, aber trotzdem fehlte es an allen Ecken und Enden. Der Krieg war verloren und zum Glück war die Zeit der nächtlichen Bombenangriffe vorbei, aber der Kampf ging weiter, denn nun folgte der Kampf um das nackte Überleben. Deutschland war von einem langen, harten Winter belagert. Kilometerweit war der Rhein zugefroren. Die Versorgungslage war extrem schwierig. Die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen suchten nicht nur Zuflucht in den zerbombten Städten der Besatzungszone, sondern auch Lebensmittel. Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Deutschland nichts. Keine Butter, keinen Speck und das bisschen Marmelade hatte sich die Besatzung unter den Nagel gerissen. Wegen Kohlemangels wurden Betriebe geschlossen. Der Hunger zwang die Menschen, ihr Vieh zu schlachten. Überfälle und Plünderungen waren an der Tagesordnung. Der Hunger und die klirrende Kälte eröffneten einen ungleichen Kampf.
An einem dieser eisigen Abende Anfang Dezember 1947 war Gertrud Müller mit dem Fahrrad unterwegs. Der frostklirrende Wind war erbarmungslos. Ihre Hände schmerzten und konnten kaum die Griffe des Lenkers umgreifen. Auf der Straße kamen ihr drei Männer entgegen. Als sie an ihnen vorbeifahren wollte, stellte sich ihr einer der Männer in den Weg. Sie wollte ihm ausweichen, aber die anderen beiden hatten sich rechts und links an der Straße postiert und stießen sie mit ihrem Fahrrad um. Gertrud fiel auf die Straße und wurde von den Männern in den Graben gezerrt. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte und wehrte sich. Sie schrie, schlug und biss um sich, aber die Männer waren kräftiger als sie. Einer nahm das Fahrrad und fuhr zunächst davon. Die beiden anderen vergewaltigten sie brutal. Sie schrie und weinte, aber keiner hörte ihre Schreie. Obwohl mehrere Fahrzeuge die Stelle passierten, hielt niemand an, um ihr zu helfen. Als die beiden endlich fertig waren, kam der Dritte mit dem Fahrrad zurück. Auch er fiel ohne Skrupel über sie her. Irgendwann ließ er befriedigt von ihr ab und ließ die weinende Gertrud einfach liegen. Ihre Kleider waren zerrissen, ihre Lippe aufgeplatzt und ihre Nase gebrochen. Starr vor Entsetzen lief sie weinend und blutend nach Hause. Ein paar Meter vor ihrem Zuhause traf sie eine Frau. Schluchzend erzählte Gertrud der Fremden, was gerade geschehen war. Nur zu gut konnte diese Frau verstehen, was Gertrud widerfahren war.
»Wir haben den Krieg verloren und sind nichts mehr wert. Da müssen wir jetzt durch«, sagte die Fremde so aufbauend wie möglich und bot ihr eine Gelegenheit, sich zu waschen. Niemals wieder hat Gertrud über dieses Ereignis gesprochen, viel zu groß war die Scham. Aber in ihrem Unterleib regte sich bald Leben.
Es war am 27. Tag des Januars 1948, im härtesten Winter nach den Schrecken des Krieges. Mühevoll stapfte Wilhelm Müller durch den hohen Schnee. Eine eisige Windböe fegte über das Feld. Die Kälte drang durch die Löcher seiner dünnen Wollkleidung und krallte ihre eisigen Finger um seinen hungrigen Körper. Mit jedem Schritt sank Wilhelm bis zu den Knien in den Schnee ein. Ein Schwall des eisigen Schnees blendete ihn. Das blanke Entsetzten stieg in ihm auf. Würde er jetzt, nachdem der Krieg und die Gefangenschaft vorüber war, sein Leben verlieren, weil er in diesem Schneesturm die Orientierung verlor und nun bis zur endgültigen Erschöpfung im Kreis lief? An seinen Brauen und Lidern hatten sich Schneekrusten gebildet. Die Kälte lag schmerzhaft in seinen Händen und Füßen. Angsterfüllt fuhr er sich mit seiner rechten zittrigen Hand durchs Gesicht. Dann kniff er die Augen etwas zusammen, um seinen Blick zu schärfen und schaute in die Ferne. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. Er hatte die schwarzen Umrisse des Kölner Doms entdeckt.
›Endlich‹, dachte er, fast hatte er es geschafft.
Hungrig wühlte sich Wilhelm Müller durch die Schneewehen und kämpfte gegen das aufsteigende Schwindelgefühl. Er hatte seit mehreren Tagen nichts gegessen. Sein Körper war gequält und seine Seele zerstört. Seine Kriegserfahrungen als Soldat, als Täter, als Barbar und als Opfer hatten ihn emotional vernichtet. Nun kehrte er heim, in eine zerstörte Stadt. Er brauchte eine gewisse Zeit, um sich in den Ruinen zurechtzufinden. Aber dann, endlich fand er die Reste seines Hauses und trat durch einen Bretterverschlag ein. Gertrud saß mit den beiden Jungs, Hans und Gerd, an der Feuerstelle und wärmte sich. Ihr Mann Wilhelm musste damals, unmittelbar nach der Trauung seine Siebensachen packen und in den Krieg ziehen. In den beiden Heimaturlauben wurden Hans und Gerd gezeugt. Danach brach der Kontakt zwischen Wilhelm und Gertrud Müller ab. Am Aushang hing eine Vermisstenliste und regelmäßig fragte sie in der Stadtverwaltung nach dem Verbleib ihres Mannes. Aber er schien verschwunden.
›Offensichtlich war er gefallen‹ dachte sie. Als er nun, halb erfroren aber wahrhaftig, in ihrem zerbombten Haus stand, glaubte sie, dass nunmehr alles gut werden würde. Aber als Gertrud ihren Mann in die Arme schloss, spürte sie bereits, dass er nicht als der gleiche Mann zurückgekehrt war, als der er nach der Hochzeit in den Krieg gezogen war. Die Kinder sahen den fremden Mann, der offensichtlich ihr Vater war, argwöhnisch an. Dann fielen sie ihm weinend um den Hals. Wilhelm wickelte sich die gefrorenen Tücher von den Händen und den Füßen. Kurz erstarrte er bei dem Anblick seiner kränklichen, blauweißen Haut. Er rieb sich die tauben Finger und Zehen. Seine Glieder juckten und pochten, als das Gefühl wieder Einzug hielt. Gesprochen wurde nicht viel und erst recht nicht über das Erlebte, aber bald wurde das ungewollte Leben in Gertruds Leib ehelich.
Im September 1948 setzten die Wehen scheinbar zu früh ein. Eine Nachbarin eilte durch die zerstörten Straßen, um Heidrun, die Hebamme, zu holen. Heidrun klopfte einmal an die Tür, sie wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern trat unmittelbar ein. Die Zeit war zu knapp und bot keinen Raum für Förmlichkeiten. Das Zimmer war dunkel, die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Es dauerte einen Augenblick, bis sich Heidruns Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Schleunigst untersuchte sie ihre Patientin. Gertruds Körper war angeschwollen und aufgebläht. Ihr Puls raste und die Atmung war flach. Heidrun durfte keine Zeit verlieren. Da betrat Wilhelm den Raum und schrie:
»Was machst du hier?«
»Dein Kind kommt zur Welt«, sagte die Hebamme.
»Wir haben kein Platz für den Bastard«, zischte er und setze sich in eine Ecke.
›Was für ein hartherziger Mensch‹, dachte Heidrun und legte Gertrud ein nasses Tuch auf die Stirn. Gertrud wurde bereits über viele Stunden durch die Wehen gequält und wurde immer schwächer, aber nichts passierte. Nachdem die Hebamme ihr den Schweiß von der Haut getupft hatte, trat sie vor Wilhelm und erklärte ihm, dass das Kind nicht in der richtigen Position läge, sie das Kind alleine aber nicht drehen könne und dass Wilhelm ihr helfen müsse.
»Ich soll dir dabei helfen? Bist du übergeschnappt?« Wilhelm zeigte völlig empört auf seine Frau.
»Wenn du mir nicht hilfst, wird Gertrud sterben«
»Du spinnst doch! Sie hat schon zwei gesunde Jungs zur Welt gebracht, dabei sind keine Komplikationen aufgetreten. Du kannst das doch gar nicht beurteilen«, blaffte Wilhelm Heidrun an. Das war zu viel, dass dieser Mann ihre Fähigkeiten als Hebamme anzweifelte. Heidrun baute sich vor Wilhelm auf und starrte ihm tief in die Augen. Dann schrie sie ihm ins Gesicht und stieß mit ihrem rechten ausgestreckten Zeigefinger gegen seine Brust:
»DU hast keine Ahnung. Schau sie dir nur an« Wilhelm trat näher an das Bett seiner Frau. Er sah die schweißnassen Haare, die auf ihrer Haut klebten und der Anblick ihrer gelblichen Gesichtsfarbe versetzte ihm einen Schreckensschmerz in der Magengegend. Ihre dunkel umschatteten Augen lagen tief in ihren Augenhöhlen. Ungläubig beugte sich Wilhelm zu seiner Frau herunter und horchte. Entsetzt richtete er sich ruckartig wieder auf, denn er hatte nur ein ungleichmäßiges und klägliches Atmen vernommen.
»Und? «, fragte Heidrun fordernd. Wilhelm trat ein Stück zurück und lief wie ein Tiger im Zimmer auf und ab. Er schien nachzudenken. Dann blieb er stehen und fragte:
»Was soll ich machen?«
»Ich erkläre dir genau was wir machen«, brachte die Hebamme sichtlich erleichtert hervor.
»Zunächst musst du mir helfen sie hochzuheben.« Gemeinsam hoben sie Gertruds schlaffen Körper hoch und nahmen sie in die Mitte. Behutsam stellten sie sie auf ihre eigenen Beine. Kraftlos taumelte Gertrud gegen ihren Mann.
»Das Kind muss unbedingt in die richtige Lage kommen. Auf mein Kommando heben wir sie hoch und schütteln sie. Aber lass sie auf keinen Fall fallen.« Gertrud hing schlaff zwischen Wilhelm und Heidrun. Ihr Kopf hing scheinbar leblos auf ihrem Brustkorb.
»Eins...zwei...hoch!« Gertrud versuchte sich aus Wilhelms Griff zu lösen. Die Schmerzen und die Angst ließen ihren Körper große Kräfte entwickeln. Nachdem Sie Gertrud ein paar Mal hochgehoben und geschüttelt hatten, legten sie sie wieder behutsam auf ihr Bett.
Im Krieg hatte Heidrun viele Kinder ohne jegliche Hilfsmittel zur Welt gebracht. Einige Kinder, aber auch einige Mütter hatten die Strapazen nicht überlebt. Und auch um diese beiden Leben musste sie kämpfen. Heidrun untersuchte Gertrud. Der Gebärmuttermund war geschwollen und verkrampft. Gertrud stöhnte schmerzerfüllt auf, als die Hebamme an dem widerspenstigen Gewebe der Gebärmutter mit dem Nagel ihres Mittelfingers zerrte, dann wurde ihr Körper locker. Warmes Blut ergoss sich. Endlich öffnete sich der Muttermund. Mit einem beherzten
»Ja« griff Heidrun sanft nach dem Kopf des Ungeborenen und drückte ihn leicht nach unten. Heidrun fühlte, wie sich das Kind bewegte. Behutsam aber beharrlich zog sie an dem winzigen Leib und achtete ganz genau darauf, dass sie die weichen Knochen nicht verletzte. Endlich erschien der von dichtem Haar bedeckte Kopf des Kindes. Vorsichtig zog die Hebamme den Kopf aus dem Mutterleib und drehte den Körper leicht. So konnte sie erst die kleine linke und anschließend die rechte Schulter durch die schmale Öffnung heben. Ein letzter kräftiger Ruck ließ den kleinen, nassen Körper in Heidruns Hände gleiten. Heidrun betrachtete die zarte, rosige Haut und nahm wohlwollend den kräftigen Schrei des Babys zur Kenntnis.
»Es ist ein gesundes und kräftiges Mädchen«, strahlte die Hebamme.
»Eine Zecke«, zischte der Vater hart und abweisend. Auch Gertrud wandte sich angewidert von dem Säugling ab. Sie hasste dieses kleine Bündel Leben, dass so gewaltsam in ihren Körper kam und sie nun fast das Leben gekostet hatte.
Für das kleine Mädchen gab es keinen Platz in dieser Welt. So wurde SIE, die Ungeliebte, am 25.09.1948 ungeküsst in eine kalte, hungrige und seelisch tote Welt geschubst.
Hans Dampf saß an seinem Schreibtisch und spielte mit seinem Zentimetermaßband. Dieses Maßband war der Countdown seiner Arbeitszeit. Dampf war ein untersetzter, mittelgroßer Mann mit weißem Haar. Seine Tage bis zur Pensionierung waren gezählt. Er freute sich auf die langen, ereignislosen Tage, die er unter der Linde im Garten seines Elternhauses in der Mozartstraße verbringen würde. Hier war seine Familie eingezogen, als er fünf Jahre alt war, und hier lebte er immer noch mit seiner Mutter unter einem Dach. Dampf sah jeden Fall, den er bearbeiten musste, als eine persönlich gegen ihn gerichtete Schikane. Er musste nur noch bis Dezember durchhalten. Dann endlich, begann für ihn sein lang ersehnter neuer Lebensabschnitt. Er wird viel Zeit haben. Dann wird er sich all seine lang gehegten Wünsche erfüllen. Er hatte sich in die Heckscheibe seines Autos Rente 2017' geklebt. Soviel Sinn für Humor hatte Beil seinem Kollegen gar nicht zugetraut. Dampf brauchte nur die Zeit an seinem Schreibtisch bis Dezember abzusitzen. Sein Platz war schon komplett sauber. Alle Ordner waren weggeräumt. Kein offener Fall lag auf seinem Schreibtisch. Die paar Beschwerden wegen ruhestörendem Lärm hatte er immer Beil hingelegt. Dampfs Mutter hatte ihm während seiner Mittagspause eine Vase mit Kornblumen auf den Schreibtisch gestellt. Dampf hasste die Blumen, aber er ließ die Vase aus Respekt zu seiner Mutter dort stehen. Aus der angenehmen Langeweile heraus öffnete er seine Schreibtischschublade. Die wichtigsten Dinge hatte er bereits entfernt. In der Schublade befanden sich noch eine alte Taxiquittung, eine alte Kinokarte, kaputte Kugelschreiber und eine leere Tablettenschachtel. Mit dem Zeigefinger fuhr er durch die letzten Sachen seiner Schublade. Die Kinokarte erweckte doch noch seine Aufmerksamkeit. Er nahm die Karte heraus und sah sie sich noch mal genauer an. Sie trug ein Datum aus dem Jahr 1967. Damals hatte er noch geraucht. Genüsslich dachte er an eine Zigarette und bekam schwitzige Hände. Damals war es schick zu rauchen. Geraucht wurde überall. In den Gaststätten und Kneipen. Sogar im Fernsehen wurde ganz offiziell gequalmt. Und im Kino. Er mochte es eigentlich nicht, aber es war cool. Dampf hatte damals nur geraucht, weil seine Herzdame auch geraucht hatte. Gedankenverloren gab er sich seinen Erinnerungen hin und dachte nur noch an sie. Es war die schicke Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Man war wieder wer. Die Werbung für Zigaretten war nach amerikanischen Schnittmuster gestrickt. Neben den ganzen alltäglichen Dingen, schielte man auch nach Luxusgütern. Dampf träumte damals von einem Fahrrad und - ganz tollkühn - von einem Motorroller. Er erinnerte sich an das herrliche Kino, das in den 50er und 60er Jahren am Windhövel für Unterhaltung sorgte. Das Eiscafé am Windhövel trug im Volksmund den Namen "Teenager-Befruchtungsanlage". Und auch Hans hatte dort seine erste Verabredung. Als seine Großeltern im Lokal Friedrich Pfeiffer ihre Eiserne Hochzeit gefeiert hatten, schlich er sich unerkannt davon und traf sich heimlich mit seiner Herzdame in diesem Eiscafé. Anschließend knutschten sie bei Winnetou Teil 1, 2 und 3 in der letzten Reihe. Niemals mehr in seinem Leben war er so verliebt, wie damals. Er war 15 Jahre alt und sie hieß Erna. Sie war eines der aufregendsten Mädchen an seiner Schule. Es war selten, dass sie ihn ansah und lächelte. Mit der Klugheit, die seiner Natur eigentlich fremd war, stellte er sich ihr in den Weg, so dass sie über seine Blicke stolpern musste. Wenn sie ihn anschaute, machte sein Herz Sprünge. Sie war eine Qual für ihn, aber eine Qual, die ihn glücklich machte. Sie konnte ihn in einen Rausch versetzen, sobald sie ihn ansah. Verträumt drehte er die Kinokarte in seinen Händen und lächelte in sich hinein. Dann strich er die Karte sorgfältig zwischen den Fingern glatt und steckte sie in seine Brieftasche.
»Ja, das waren noch Zeiten«, sagte Dampf laut, wenn auch mehr zu sich selbst. Beil sah auf und bemerkte, dass Dampf in seinen Gedanken gefangen und scheinbar verloren war. Beil war ein schlanker, breitschultriger, ehrgeiziger Polizeibeamter. Er war 30 Jahre alt und hatte ein eher oberflächliches Naturell; aber er hatte Ziele. Er wollte Karriere bei der Polizei machen. Um diese Ziele zu erreichen, hatte er sich gezwungen, ein Gewohnheitsmensch zu werden. Er war der Meinung, dass er seine selbstgesetzten Ziele besser erreichen könne, wenn er sich gewissen Zwängen unterwarf. Dazu gehörte ein klar strukturierter Tagesablauf sowie eine komplett durchgeplante Woche. Er wollte unbedingt Chef der Polizeiwache in Mettmann werden.
»Alles o.k. mit dir?«, fragte Beil.
»Mein Leben wird wieder anfangen, sobald ich nicht mehr hier her muss. Ich werde schwimmen, Fahrrad fahren, wandern und mich ausruhen. Ich freue mich so sehr auf diese unbeschwerte Zeit. Das glaubst du nicht«, sagte Dampf und nahm einen tiefen Atemzug, als würde er den entbehrten Duft der Freiheit in sich aufsaugen.
»Ausgezeichnet! «
»Ja, es wird hervorragend. Übrigens gestaltet sich der Dienst heute nicht vorteilhaft. Manchmal geht die Zeit schneller um. Ich kann mich aber kaum sattsehen, an meinem leeren Schreibtisch«, sagte Dampf und sein Mund wurde von einem Ausdruck der übertriebenen Freude verzogen. Dann plötzlich geriet er ins Lachen, in ein hemmungsloses Lachen, das seinen Bauch erschütterte und sein Gesicht aufhellte.
»Was ist los? Warum lachst du?«
»Die Vorkommnisse auf der Kirmes musst du alle alleine bearbeiten«
»Du Zyniker!«, lachte Beil ihm entgegen und konnte dessen Freude auf den Ruhestand durchaus nachvollziehen. Dampf schaute zufrieden lächelnd, zog eine Zeitung aus seiner Tasche und las darin. Selbst als sich die Tür zur Wache öffnete, las Dampf seine Zeitung wie selbstverständlich weiter. So kam es, dass er die Dame, die in diesem Augenblick die Wache betrat auch nicht sah. Beil stand auf und begrüßte die Dame mit seiner unnachahmlich herzhaften Art. Mit dieser Haltung strahlte er fröhliches Vertrauen aus, das jede Befangenheit überflüssig machte. Die Dame war ungefähr fünfundsechzig Jahre alt, schmalschultrig, schlank und bedeutend kleiner als Beil, so dass er den Kopf nach vorn neigen musste, um ihr ins Gesicht zu schauen. Sie war ungewöhnlich blass, was durch ihre schwarzen Haare und die dunkle Glut ihrer Augen noch hervorgehoben wurde. Beil dachte unwillkürlich an Schneewittchen im betagten Alter. Sie trug ein schwarzes Kleid, rote Slipper und ein weißes, überfallendes Halstuch. Sie lächelte Beil herzlich an und gab den Blick auf ihre makellosen weißen Zähne frei. Freundlich streckte sie ihm die Hand zum Gruß entgegen. Beil schüttelte ihre Hand und fragte, was er für sie tun könne.
»Seien Sie gegrüßt. Ich möchte eine Anzeige aufgeben«, sagte die Dame.
»Ja, bitte nehmen Sie Platz.« Es war schon fast rührend, zu sehen, wie Dampf die Zeitung las, um nicht einmal ansatzweise mit Arbeit in Kontakt zu kommen. Er schaute noch nicht mal mit väterlichem Misstrauen, ob Beil alles richtig machte. Die Dame antwortete, während sie auf dem Besucherstuhl Platz nahm.
»Mir wurde meine Geldbörse gestohlen.« Beil nahm die Anzeige auf. Bei der Abfrage der persönlichen Daten wurde Dampf auf einmal hellhörig und erhob den Kopf. Er schaute die Dame eindringlich an. Da sie aber mit dem Rücken zu ihm saß, stand er auf, ging quer durch den Raum und baute sich hinter Beil auf. Aus dieser Position konnte er die Dame genau sehen. Auch sie hob ihren Kopf und schaute Dampf an. Die Dame wich gleichsam zurück. Für einen kurzen Augenblick büßte sie ihre Herzlichkeit ein und schaute Dampf forschend an.
»Äh, Erna?«, stotterte Dampf fragend.
»Hans?«, fragte die Dame ihrerseits.
»Meine Güte, es sind bestimmt 50 Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wie geht es dir?«
»Äh, gut. Und dir?«, erwiderte Hans. Dabei verschwieg er, dass er gerade noch an sie gedacht hatte.
»Jetzt geht es mir auch wieder gut. Mein Mann ist vor ein paar Monaten verstorben. Es war eine schwere Zeit für mich, aber nun habe ich mich wieder gefangen. Ich bin mit meinem Kegelklub hier in Haan. Wir wollen die Kirmes besuchen.«
»Na das ist ja toll. Und jetzt wurde dir deine Geldbörse gestohlen?«
»Ja, das ist sehr ärgerlich. Wir sind heute erst angereist und schon wurde ich bestohlen. Ich habe bereits alle Karten sperren lassen. - Jetzt muss ich aber los, die Mädels warten auf mich.«
»O.k., ich kümmere mich persönlich um diesen Diebstahl und melde mich bei dir, sobald ich was herausgefunden habe. Mein Kollege hat ja deine Kontaktdaten aufgenommen.«
Es war Sommer. Ganz in der Nähe grollte ein Donner und sie, die Ungeliebte, erwachte. In ihrem Bett suchte sie nach Wärme und Behaglichkeit. Aber nichts davon war ihr vergönnt. Der Regen prasselte unaufhörlich. Ein Blitz, dem unmittelbar das laute Krachen eines Donners folgte, erhellte das Zimmer. Das heftig tobende Sommergewitter lies den Geruch von nasser Erde aufsteigen. Der Wind frischte auf und ließ die Eiche vor ihrem Fenster rhythmisch hin und her wiegen. Die Schatten der Äste fielen ins Zimmer. Sie lag wach in ihrem Bett und fixierte gebannt die tanzenden Schatten. Die Schatten aber wurden zu Monstern, die nach ihr griffen.
›Nein!‹, dachte sie. Angsterfüllt riss sie ihren Mund auf, als wolle sie schreien. Aber sie hielt inne. Wenn der Vater sie hörte, würde er wütend werden und wütend war er überhaupt nicht zu ertragen. Sie lag wie erstarrt da und beobachtete voller Entsetzen das Zucken der Blitze.
»Bitte, lass das Gewitter schnell vorbeigehen«, flüsterte sie leise in den Zipfel ihrer Bettdecke, den sie sich vor das Gesicht gezogen hatte. Sie war starr vor Angst und unfähig, sich zu bewegen. Die Angst vor den Schattenmonstern an der Wand wurde immer mächtiger. Obwohl die Angst ihren klaren Verstand lähmte, wusste sie, dass sie etwas unternehmen musste, um sich dieser Situation zu entziehen. Endlich hob sie voller Entschlossenheit ihren kleinen Kopf und schob das Kinn vor. Sie bewegte sich langsam und mit größter Vorsicht aus dem Bett und ließ die Schattenmonster an der Wand für keine Sekunde aus den Augen. Ihre Füße berührten den Fußboden. Das vertraute Gefühl der kalten Oberfläche gab ihr Sicherheit. Dennoch wagte sie kaum zu atmen, als sie sich in Richtung Flur begab. Leise öffnete sie die Zimmertür und schlich lautlos, aber schnell über den Flur ins Badezimmer. Sofort verschloss sie die Badezimmertür von innen. Das Badezimmer hatte kein Fenster. Sie schaltete das Licht ein, setzte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel, schlug ihre kleinen Arme um die angezogenen Beine und vergrub ihr Gesicht zwischen den Knien. In dieser Position wartete sie bis zum Morgengrauen, als das Gewitter endlich weiterzog. Eiskalt und hundeelend schlich sie wieder in ihr Bett. Kurz darauf brüllte die schrille Stimme des Vaters über den Flur.