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Der Fund eines Tagesbuchs, in dem der Mord an einem Schleifer im Ittertal 1879 beschrieben ist, treibt die japanische Studentin Miyu nach Haan im Rheinland. Hier hofft sie, Antworten auf Fragen zu finden, die sie seit Jahren beschäftigen. Ein Einbruch in die alte Pumpstation und geheimnisvolle Aufzeichnungen aus dem 19. Jahrhundert treiben sie immer weiter. Die Suche nach der Wahrheit führt Miyu zu dem rätselhaften Weihestein der alten Kirche. Was hat das zu bedeuten?
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2020
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1. Auflage Ebookausgabe November 2020 beim KVR-Verlag, Haan. Copyright \copyright{ }2020 by Kirsten Voosen-Reinhardt Alle Rechte vorbehalten Redaktion: KVR-Verlag Satz: Marcel Voosen Titelbild: Guido Kraut Autorenbild: Soheil Seyfikar ISBN: 978-3-9820326-5-8
Wer sich besondere Fähigkeiten wünscht, kann es mit Menschlichkeit versuchen. Eine der seltensten Superkräfte der Welt.
Haan, 1879 Demütig senke ich meinen Blick auf meine blutverschmierten Hände und sehe, wie sein getrocknetes Blut mit jeder Bewegung von meinen Fingern abblättert. Diese Blutschuppen sind schwärzer als das geschriebene Wort und auch schwärzer als meine Seele. Ich fühle mich elend und schaue durch die Gitterstäbe eines Verschlages auf den brennenden Kotten. Das Tintenfass ist fast leer. Aber ich habe weder das Verlangen noch die Kraft und erst recht nicht den Mut, mein Versteck zu verlassen, um ein neues Tintenfass zu holen. Ich könnte die Feder niederlegen. Mich beiseiterollen und meine Nase an das kleine Fenster drücken, um auf die friedliche Itter zu schauen. Aber ich bewege mich keinen Zentimeter. Nie wieder werde ich auf die Itter schauen. Sobald ich diese Tagebucheintragung abgeschlossen habe, werde ich vergessen. Ich werde vergessen, dass meine eigene zerlumpte und erbärmliche Gestalt wie ein Wolf seiner Fährte folgte und versuchte, ihm Schritt zu halten. Bis zu diesem Tage führte er ein sehr entbehrungsreiches Leben. Er gehörte der Schleiferzunft an. Hier, in der Rheinischen Hochebene an der Itter, waren die Schleifer eine besonders eingeschworene Gemeinde. Aber er war wiederum ganz anders als alle anderen seiner Zunft. Und mit seinem Tod wurde die Geschichte dieser Region und seines Lebens bis zur Unkenntlichkeit verändert. Auch wenn die Geschichte dieser Region eines Tages aufgearbeitet sein wird, wird niemand merken, dass ein entscheidender Meilenstein fehlt. Dennoch kann er nicht komplett ausgelöscht werden. Denn dieser Meilenstein der Vergangenheit ist nun unwiederbringlich und mahnend durch seinen unbestatteten Leichnam an eine Windung der Itter gekettet. Im Geiste könnte ich mich glücklich schätzen, dass ich die Wahrheit erkannt habe. »Jises wahles, Herus wahles, Jodes wahles (Jesus walte es, der Herr walte es, Gott walte es).« Vor zwei Stunden hatte ich ihn eingeholt. Wir waren in dem Waldstück nahe des Schaafenkotten und der einsetzende Regen prasselte unaufhörlich auf uns herab. Er schnappte nach Luft, als er mit dem Rücken zu mir an einen Baum lehnte und an den Berghängen des Waldstückes einen Fluchtweg suchte. An seinem Gürtel hing der kleine Lederbeutel. Für diesen Beutel musste ich ihm folgen. Die Verfolgung war nicht spurlos an mir vorübergegangen. Die Anstrengung hatte meinen Körper geschunden und meine Lunge brannte. Wie ein Raubtier hielt ich ihn fest im Blick und bewegte mich langsam auf ihn zu. Jetzt, da ich meine Erlebnisse zu Papier bringe, kann ich mir gar nicht erklären, wie ich so ruhig sein konnte, denn mein ganzer Körper zitterte. Mit dem Knacken eines Astes unter meinem Fuß wirbelte er herum und duckte sich instinktiv in eine angriffsbereite Haltung. Ich war nicht besonders athletisch gebaut und mindestens einen Kopf kleiner als er. Als er mich erkannte, ließ seine Anspannung nach. Er richtete sich auf und schaute mich an. Langsam ging ich auf ihn zu, bis wir nur noch zwei Schritte auseinander standen. Er nahm die Tränen in meinen Augen wahr und fragte, warum ich ihm folge. Als ich nicht antwortete, rieb er sich seufzend mit seiner kräftigen Hand durchs Gesicht. Ich kam noch einen Schritt näher auf ihn zu und legte ihm meine zitternde Hand auf die Schulter. Er ließ es geschehen und schien keine Angst vor mir zu haben. Er wusste aber auch nichts von dem Messer, welches ich in meiner anderen Hand verbarg. »Gib mir den Lederbeutel«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Nein, den brauche ich dringender als du.« »Gib mir den Lederbeutel!« »Auf keinen Fall!« Mit diesem Satz schien sich die Welt in Zeitlupe zu drehen. Irgendwo in der Ferne hörte ich, wie ein Wolf eine Beute scheuchte. Ansonsten hörte ich nichts. Nur das Klopfen meines Herzens und die Tropfen des Regens. »Gib mir den Lederbeutel!«, ermahnte ich ein letztes Mal. »Niemals!« Ich beugte mich noch weiter vor und stieß einen wilden Schrei aus. Wie ein wildes Tier schrie ich ihm den ganzen angestauten Druck ins Gesicht. Sekunden später rammte ich ihm mein Messer in den Leib. Das Messer durchschnitt mühelos sein Baumwollhemd und bohrte sich durch seinen Glücksbringer Gürtel. Bebend sah ich, wie er ruckartig seinen Kopf nach hinten riss. Er gab aber keinen Laut von sich. Im nächsten Augenblick traten wir beide erschrocken einen Schritt zurück und starrten entsetzt auf das, was ich angerichtet hatte. Eine Blutfontäne ergoss sich auf dem Waldboden. Verständnislos starrte er auf den immer größer werdenden Blutfleck auf seinem Hemd. Dann umklammerte er schmerzerfüllt einen Baum und hielt die klaffende Wunde mit seiner rechten Hand zu. »Was hast du getan?«, stammelte er. Taumelnd glitt mir das Messer aus der Hand. Dabei tastete ich blind nach einem Baum, um mich daran festzuhalten. Er aber erhob stolz sein Haupt. Dann wandte er mir schweigend den Rücken zu und wankte tiefer in den Wald. Mit der rechten Hand hielt er seine Wunde, mit der linken umklammerte er den Lederbeutel. Er hielt seinen Kopf würdevoll senkrecht, während er sich ungelenk von mir weg bewegte. Ich dagegen, folgte ihm gierig und stolperte keuchend durch das Laub. Er schleppte sich noch weiter voran, aber dann verlor er das Gleichgewicht und stürzte. Am Boden kauernd schrie er einen Frauennamen in den Wald. Ich wusste genau, nach welcher Frau er schrie, aber der Schrei blieb unbeantwortet. Der Schleifer wurde immer schwächer, dennoch versuchte er sich am Boden liegend von mir wegzubewegen. Eine Hand hielt seine Wunde, die andere umklammerte immer noch den Lederbeutel. Ich stand ganz dicht vor ihm. »Gib ihn mir«, sagte ich ruhig. Er öffnete seinen Mund und seine blutverschmierten Zähne kamen zum Vorschein, aber er brachte keinen Laut hervor. In seinen rückwärts gerollten Augen erkannte ich nur noch das Weiße. Er konnte nichts mehr sehen, aber er spürte, dass ich bei ihm war. Als ich mich zu ihm herunterbeugte, griff seine blutverschmierte Hand in mein Gesicht. »Gib mir den Beutel. Komm schon, es ist vorbei.«, flüsterte ich. »Ich muss das Geheimnis weitertragen«, hauchte er mit letzter Kraft. »Ich muss das Geheimnis weitertragen.« Diese Worte haben sich in mein Ohr, in mein Gemüt und auf meine Seele gebrannt. Bis zu meinem Lebensende werde ich diese Worte nicht vergessen. Aber wer wird das Geheimnis nun weitertragen? Lange sitze ich in meinem Verschlag und schaue auf den abgebrannten Kotten. Der schwarze, aufsteigende Rauch zeichnete sein Gesicht vor dem großen, runden Vollmond. Verbittert entscheide ich: Niemand wird es je erfahren. Es ist vorbei. Dies ist mein letzter Tagebucheintrag. Nie wieder im Leben werde ich schreiben. Der Schleifer, der Inhalt seines Lederbeutels und das, was heute geschah, wird für immer ein Geheimnis bleiben.
Vor der Wache an der Dieker Straße in Haan stand eine kleine, zierliche Person. Ihr Haar war platt an ihren Kopf gedrückt und sie trat nervös von einem Bein auf das andere. Dabei starrte sie voller zurückhaltender Entschlossenheit auf die Eingangstür der Wache und zupfte ihren alten Wollrock zurecht. Hier, vor der Wache war ihr Herzklopfen noch viel heftiger als zu Hause. Doch sie war von der Gewissheit erfüllt, ihr Ziel bald zu erreichen. Entschlossen strich sie mit beiden Händen über die Sitzfalten ihres Rocks und schob ihre alte, schäbige Umhängetasche auf den Rücken. Nervös schloss sie ihre Augen und zählte langsam bis siebenundzwanzig. Dann atmete sie tief durch und sagte leise: »Jetzt oder nie.« Im nächsten Moment öffnete sie die Tür zur Wache. Sachte schob sie ihren Kopf durch den kleinen geöffneten Spalt. »Hallo? Darf ich eintreten?« »Aber selbstverständlich«, entgegnete der diensthabende Beamte Timo Beil. Als Miyu eintrat begann ihr Herzschlag in ihren Ohren zu dröhnen. Der junge und aufstiegsbewusste Polizeibeamte Beil musterte die junge asiatische Frau. Sein Blick wanderte von dem leicht runden Gesicht über die strähnigen Haare, zur verfilzten Strickjacke und endete auf der alten Umhängetasche, die durch das Gewicht des Innenlebens nach vorn gerutscht war. »Setzen Sie sich«,agte Beil und schob den Besucherstuhl zurecht. Angespannt ließ sich Miyu auf dem Stuhl nieder und stellte ihre Füße unbeholfen übereinander. Nachdem sie eine einigermaßen feste Sitzposition gefunden hatte, drückte sie ihre Umhängetasche fest auf ihre Knie. Mit einem musternden Blick schritt Beil um seinen Schreibtisch, dabei stieß er mit dem Oberschenkel an die Tischkante. Ohne sich dem Schmerz hinzugeben, der seinen Oberschenkel durchströmte, setzte er sich der Besucherin gegenüber. Im Hintergrund lief ein Ventilator und bewegte ganz sachte die obersten Blätter eines Unterlagenstapels. Als Miyu die Wache betrat, hatte sie sofort den verwaisten Schreibtisch seines Kollegen entdeckt. Es lag ihr auf der Zunge, sich nach dem Grund des leeren Schreibtischs zu erkundigen, aber sie verkniff sich jede Frage und hielt ihren Blick starr auf Beil gerichtet. »Was führt Sie zu uns?«, fragte Beil. Sie war müde und an einem für sie völlig fremden Ort. Dennoch fasste sie ihren ganzen Mut zusammen und sagte. »Ich bin … mein Name ist …« Miyu schluckte hörbar und sammelte sich, während sie tief einatmete. Dann sprach sie sicher weiter. »Ich bin Studentin. Ich bin aus Japan hierher gekommen, um Sie zu treffen.« Beil runzelte die Stirn und sah die zierliche Frau fragend an. »Ich will Sie schon mein halbes Leben aufsuchen«, sagte sie in akzentfreiem Deutsch. »Ich habe schon viel zu viel Zeit verstreichen lassen. Um genau zu sein, elf Jahre, drei Monate und zwanzig Tage.« Beil hob amüsiert die Augenbrauen und wiederholte. »Elf Jahre, drei Monate und zwanzig Tage.« Von draußen klang der Trubel der Kleinstadt durch das geöffnete Fenster. Beil sah, wie eine Frau ihren Hackenporsche aus dem gegenüberliegenden Geschäft zog und wie ein Liebespaar eng umschlungen am Straßenrand stand. »Das ist aber eine lange Zeit. Was kann ich denn für Sie tun?« Beil lächelte Miyu freundlich an. Angestrengt schaute die Japanerin auf seine entblößten Zähne. »Haan ist eine gemütliche Kleinstadt. Ich sorge hier für Ruhe und ein friedliches Zusammenleben. Ich führe Statistik über die Vorkommnisse hier in Haan. Der ein oder andere Diebstahl war auch schon mal dabei. Wir haben eine beachtliche Aufklärungsquote. Brauchen Sie Informationen für eine Bachelor- oder Masterarbeit über unser schönes Haan?« Beil machte eine ausschweifende Handbewegung. Als die kleine Japanerin den Kopf schüttelte, strich er mit seinen Fingern über die vertraute Tastatur, gab sein Passwort ein und betätigte die Entertaste. Auf dem Bildschirm öffnete sich eine Seite mit übersichtlich angeordneten Eingabefeldern. »Wurden Sie bestohlen oder haben Sie etwas verloren?« »Nein.« Ihre Stimme war fest. »Ich besitze nichts, was man mir stehlen könnte.« Blitzschnell drehte sich die kleine Frau um und starrte auf den leeren Schreibtisch. Kurz darauf riss sie ihren Blick wieder ab und schaute Beil erwartungsvoll an. »Ich bin nicht hier, um eine Anzeige aufzugeben.« »O.k., deswegen sind Sie nicht hier.« Beil hielt fragend inne. »Warum sind Sie dann hier?« »Wir müssen über meine Familie sprechen.« »Reden Sie nicht weiter, denn Sie sind hier falsch. Sie sind auf der Polizeiwache in Haan. Die Familienberatung ist in der Elberfelder Str. 6 in Mettmann. Ich glaube, die haben heute bis 15:00 Uhr geöffnet. Das schaffen Sie noch locker, wenn Sie sich jetzt auf den Weg machen. Ich kann Ihnen aber auch gerne die Telefonnummer heraussuchen, dann können Sie sich schon mal telefonisch erkundigen.« Während Beil sprach, zog die zierliche Person den Reißverschluss ihrer alten Tasche auf und holte einen Stapel mit vielen unterschiedlichen Papieren heraus. Alle Seiten waren abgegriffen und eselohrig. Diese Loseblattsammlung wurde lediglich mit einer braunen Kordel zusammengehalten. Kraftvoll knallte die kleine Person den Stapel auf Beil's Schreibtisch. »Ich habe mein halbes Leben mit der Erforschung meiner Ahnen verbracht.« Mit zittriger Hand öffnete sie die Schlaufe und strich die Kordel von dem Papierstapel. Dabei fielen einige der Zettel auf den Boden. Eiligst hob sie die heruntergefallenen Blätter auf und breitete alles auf dem Schreibtisch aus. Aber Beil schaute nur skeptisch auf das Blättermeer. Dort lagen Zeugnisse, Fotos, Kopien von Seiten aus Bibliotheksbüchern und handgefertigte Skizzen. An den meisten Kopien waren handschriftliche Anmerkungen in einer sehr kleinen Schrift angebracht. Immer wieder huschten die kleinen japanischen Hände flink über die Papiere. In Sekundenschnelle griff sie scheinbar wahllos in den Stapel, zog ein Blatt hervor und hielt es Beil direkt vor die Nase. Das völlig zerknitterte Papier war komplett übersät mit Schriftzeichen. Die Zeichen waren extrem klein und so dicht, dass man kaum noch das Weiß des Blattes sehen konnte. »Das sind Informationen über meine Familie. Ich habe mit den Eintragungen angefangen, als ich 10 Jahre alt war. Daher ist alles in japanisch geschrieben. Ich kann mittlerweile Japanisch und Deutsch lesen und schreiben.« Beil betrachtete das ganze Wirrwarr schweigend und suchte gedanklich nach einer Möglichkeit, dieses verwirrte Wesen loszuwerden. Emsig griff die kleine Frau wieder in den ausgebreiteten Papierhaufen und zog ein weiteres Dokument hervor. Eilig entfaltete sie ein DIN A3 Blatt. Zum Vorschein kam eine handgefertigte Zeichnung, an der sich bereits transparente Faltlinien gebildet hatten. »Ich habe über drei Monate daran gezeichnet. Die Zeichnung stellt das Ittertal im Jahre 1879 dar. Sie können das gerne überprüfen, ich habe alle Details beachtet.« Erwartungsvoll wechselte sie ihren Blick immer zwischen Beil und der Zeichnung. Dieser antwortete mit gesenkter Stimme. »Das haben Sie ganz toll gezeichnet. Ich bin sicher, dass der Bergische Geschichtsverein sehr viel zu ihren Aufschreibungen und Zeichnungen sagen kann. Ich suche Ihnen gerne einen Ansprechpartner heraus.« Augenblicklich fiel die gesamte Hektik von der kleinen Frau und sie senkte ebenfalls ihre Stimme, allerdings soweit, dass sie nur noch flüsterte: »Sie verstehen es wohl nicht? SIE müssen mir helfen!« »Ich helfe Ihnen ja und suche Ihnen die richtigen Ansprechpartner für Ihr Anliegen heraus.« »Ich bin wegen einer ganz speziellen Angelegenheit hier. Es geht um eine Gräueltat, die im Jahr 1879 im Ittertal geschehen ist. Ich rede hier von einem ganz speziellen Brand und Sie sind daran beteiligt.« Beil beugte sich leicht vor und sah der kleinen Japanerin mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck tief in die Augen. »Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten. 1879 war weder ich noch mein Großvater geboren. Ich kann 1879 an keinem Brand beteiligt gewesen sein.« »Es gibt einen Brief. Ich habe ihn vor Jahren auf dem Dachboden unseres Hauses gefunden und gelesen. Dieser Brief lag in einem Tagebuch. Damals war ich noch zu klein, um den Sinn zu verstehen. Als ich aber später danach gesucht habe, war das Buch verschwunden und ich habe es auch nie wieder gefunden. Dieser Verlust war für mich sehr schwer und ich zweifelte an meiner Wahrnehmung. Aber später auf der Universität habe ich einen Bericht über diesen Brand gefunden. Und Sie oder jemand aus Ihrer Familie weiß genau darüber Bescheid.« »So ein Quatsch!« »Ganz sicher, ich habe den Namen Beil in einer wissenschaftlichen Zeitschrift in der Universität zu Tokio gefunden. Dort stand, dass Ihre Familie aus Mettmann stammt und ein Familienmitglied einen Mord im Ittertal beobachtet hat.« »Kompletter Schwachsinn! Meine Familie stammt aus Wiesbaden und dort lebt sie immer noch. Nur ich bin vor gut 10 Jahren nach Mettmann gezogen. Da liegt eine Verwechslung vor.« Die kleine Japanerin bekam hektische Flecken im Gesicht. »Bitte!«, brachte sie fast flehend hervor und klammerte sich dabei an dem Schreibtisch fest. »Es gibt einen wissenschaftlichen Bericht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift über Ihre Familie. Ich habe ihn gelesen.« Sie machte eine kleine Pause, dann sprach sie weiter während ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg. »Ich habe auf dem Dachboden meiner Eltern ein Tagebuch gefunden. Darin wurde detailliert über das Ittertal und die Schleiferzunft berichtet. Und dort war niedergeschrieben, was in jener Nacht 1879 im Ittertal geschehen war. Ich hatte vorher noch nie etwas von Mettmann gehört. Ich lebe in Japan, in der Stadt Nagoya. Deutschland kannte ich nur aus dem Schulunterricht. Aber weder Mettmann noch das Ittertal wurden jemals in der Schule besprochen. Zuerst war es nur ein kleiner Fund, dem ich keine besondere Bedeutung beigemessen habe. Als ich älter wurde, schlich ich wieder auf den Dachboden, um erneut in dem Tagebuch zu lesen. Aber es war verschwunden. Ich habe alles abgesucht. Aber es war weg. Ich fragte meine Eltern nach diesem Buch. Aber auch sie wussten nichts von diesem Tagebuch. Seit dieses Tagebuch verschwunden ist, lässt mich der Gedanke daran nicht mehr los. Zumal meine Eltern behaupten, dass so ein Tagebuch auch niemals in unserem Besitz gewesen sei. Ich weiß aber ganz sicher, dass ich es auf dem Dachboden gefunden und auch gelesen habe.« »Ich glaube Ihnen ja, dass Sie dieses Tagebuch gefunden haben. Aber ich bin nicht die Person, die Sie suchen. Sie irren sich«, sagte Beil so beruhigend wie möglich. »Ich habe einen sehr weiten Weg auf mich genommen, um Sie zu finden.« »Ich verstehe, dennoch bin ich die falsche Person.« »Nein, Sie sind die richtige Person. Es ist etwas schwer für mich, meine Aussagen zu beweisen. Bedauerlicherweise habe ich den Artikel nicht kopiert. Aber ich weiß genau, was ich gelesen habe.«
Ungefähr zwei Kilometer entfernt schlich der kleinwüchsige Karl durch die Eingangstür seines unscheinbaren Reihenhauses auf der Königgrätzer Straße. Als er das Haus betrat, huschten seine hellwachen Augen durch den Flur. Er war allein. Lautlos stieg Karl die Kellertreppe hinab. Im Keller angekommen, betätigte er einen kleinen, versteckten Schalter. Kurz darauf schob sich, wie von Geisterhand bewegt, ein schweres Eisenregal lautlos zur Seite und eine Holztür kam zum Vorschein. Karl öffnete die Holztür und betrat den Raum. In dem Raum befand sich eine alte Kommode, ein alter Schreibtisch und eine Gebetsbank aus Eiche. Seine Seele jubelte, weil er einer höheren Macht dienen durfte. »Der Herr hat mir ein Heim geschenkt. Er gibt meinem Leben einen Sinn«, flüsterte er zufrieden. Ehrfurchtsvoll öffnete er die Kommode. Versteckt hinter alten Büchern fand er ein Handy. Zufrieden wählte er die einzige Nummer, die in diesem Handy gespeichert war. »Ja?«, fragte die angerufene Stimme. »Ja!«, antwortete Karl. Dann trat eine große Stille ein. Der Angerufene schien die Antwort auszukosten, bis er das Schweigen wieder durchbrach. »Ich danke Ihnen sehr für diese guten Nachrichten. Viel zu lange haben wir auf diesen Anfang warten müssen.« Karl wusste nur zu gut was auf dem Spiel stand und schaltete das Handy aus. Sein Körper zitterte vor Freude und Anspannung. Da die Nacht erst in mehreren Stunden erwachen würde, hatte er noch genug Zeit, seiner Seele etwas Gutes zu tun, um die Aufregungen des heutigen Tages abzuschütteln. Mit diesen Gedanken legte er das Handy wieder hinter der Bücherreihe ab und entnahm der Kommode ein in Leder gefasstes Buch. Damit kniete er sich auf die Gebetsbank, las darin und tauchte in eine fast vergessene Welt: Im achtzehnten Jahrhundert lebte eine Familie im rheinländischen Haan. Das Familienoberhaupt dieser Familie war unbestritten der befähigtste Messerschleifer jener, an guten Schleifern nicht armen, Epoche. Diese Einwandererfamilie aus Schlesien trug den Namen Drieß. Auch wenn der Name Drieß heute nicht mehr bekannt ist, so liegt es einzig daran, dass der Fleiß dieses Genies nur verdeckt in der Geschichte der Region wirkte. Obwohl der Name Drieß keine eigene Spur in der Geschichte hinterließ, sind die Menschen, die durch sein Handeln geprägt und entstanden sind, in der Region deutlich erkennbar. Zu jener Zeit war das einst sehr dünn besiedelte Bergland entlang der Flüsse und Bäche von zahlreichen Schleifkotten und Hammerwerken durchsetzt. Der fruchtlose Boden, die ausgeprägte Berg- und Talstruktur und der übermäßige Regen, hielt die Anstrengungen der ursprünglichen Landwirte in extrem engen Grenzen. Die Bauern verharrten aber nicht in einem produktiven Selbstbetrug, sondern machten sich andere Möglichkeiten mit den dazugehörigen Schwierigkeiten zu eigen. Sie entdeckten die Wasserkraft als Antriebsenergie. So kam es, dass viele Kotten das Gefälle der Bäche und Flüsse für ein wasserbetriebenes Gewerbe nutzten. Und natürlich war die Itter in Haan mit ihrer Wasserkraft und dem starken Gefälle besonders attraktiv. Innerhalb der vielen Betriebe von Mühlen und Schleifkotten gab es einen Kotten, der sich zwar nicht besonders von den anderen Betrieben unterschied, aber dessen Geschichte von besonderer Bedeutung war, nämlich die Geschichte des Drießkotten an der Itter. Die Kälte war viel früher und viel härter als jemals über Haan eingebrochen. Nur Schnee war noch nicht gefallen. Zu dieser Zeit beherrschte ein Ereignis das Tun und Handeln von Christoph Drieß. Dieses Ereignis ließ sein Gesicht erstrahlen und seine Lippen eine Melodie pfeifen. Stoffel, so wie Christoph Drieß allgemein genannt wurde, saß am Tisch und schlug aufs Freudigste bewegt eine Mappe auf. Zum Vorschein kam ein kleiner Stapel mit Papieren. Liebevoll strich er mit seiner Hand von links unten nach rechts oben über diesen kleinen Papierstapel. An der oberen rechten Ecke angekommen, nahmen seine Finger vorsichtig die beschriebenen Papiere auf und legten sie sorgfältig beiseite. Dann nahm er ein neues, unbeschriebenes Blatt, tauchte die Gänsefeder in das schwarze Tintenfass, beugte sich über das Blatt und schrieb ruhig und besonnen. Zu seiner Rechten folgten der sechsjährige Gerit und die fünfjährige Elisabeth, genannt Lys, aufmerksam diesem Ritual. Die kleine Lys war zart gebaut und trug ein Kleidchen aus fester Baumwolle. Sie hatte ihren krausen Wuschelkopf dem Pergamentpapier zugewandt und ihre lebhaften, dunkelbraunen Augen verfolgten wissensdurstig und interessiert, wie die Feder über das Blatt glitt. Gerit, dem solche Lebhaftigkeit fremd war, schaute mit leicht geöffnetem Mund der Feder hinterher, sodass seine kleinen, gelblich schimmernden Zähne zum Vorschein kamen. Für Stoffel blieben die interessierten Blicke verborgen. Sein rundes, rosig-rau überzogenes Gesicht, dem die höchste Konzentration anzusehen war, wurde von seinem vollen braunen Haar umrahmt. Er war Mitte dreißig. Die harte Arbeit auf dem Kotten hatte seinen Körper kräftig geformt. So kam es, dass sein bester Anzug an den Armen und Oberschenkeln etwas spannte. Sein Kinn ruhte mit dem Ausdruck der Behaglichkeit auf seinem Kragen. Die kleine Familie saß in der Stube des Kottens am Wiedenhof Mittelhonschaft Haan, welchen Christoph schon seit seiner Kindheit bewohnte und von seinem Vater übernommen hatte. Die Wände und Böden waren weitestgehend schmucklos und strahlten Bescheidenheit aus. Einzig ein Landschaftsbild mit gelblichem Sonnenuntergang zierte die rechte Wand. Es zeigte regsame und beschwingte Winzer, die den fleißigen Bauersleuten bei der Bestellung der ausgedehnten Landschaft zuwinkten. An der gegenüberliegenden Wand knisterte das Feuer des Kamins aus Backstein. Der große Tisch mit der dicken Tischplatte und den robusten Beinen bildete den Mittelpunkt der Stube. Zudem gab es noch einen kleinen Nähtisch am Fenster und einen Holzschrank. Keiner sprach ein Wort. Vom Kamin her, wo nur die Holzscheite durch das Knistern und Knacken einander kecke Antworten zu geben schienen, breitete sich eine behagliche Wärme in der Stube aus. Das Licht der Flammen schien auf das Pergamentpapier und spielte kleine Windungen auf die ersten geschriebenen Worte. Die Tür zur Schlafstube stand auf. Von dort hörte man eine Frauenstimme, die ganz leise eine ruhige Melodie summte. »Der Mond ist aufgegangen. Die goldnen Sternlein prangen. Am Himmel hell und klar …« Eva Drieß, die von allen nur Heyva genannt wurde, lag im Bett. Mit schwacher Hand bewegte sie eine kleine Wiege gleichmäßig hin und her. Stoffel war so sehr von seiner Schreibarbeit in Anspruch genommen, dass er kaum einen Blick in die Schlafstube warf. Er war aufs Höchste konzentriert und trug einen andächtigen Gesichtsausdruck. Sein Mund war leicht geöffnet. Sein Kinn ließ er dabei ein wenig hängen. Seine Augen verengten sich zuweilen und er schrieb: »Wir schreiben den 19. November 1847 zu Mittelhonschaft Haan, Wiedenhoven. Mit Gottes Gnaden hat meine liebe Frau Eva Drieß, geborene Decker, um 4 Uhr in der Früh einen kleinen, gesunden Buben entbunden. Mein geliebter Sohn wird durch die heilige Taufe den Namen Hauke annehmen. Wir danken Gott dem Allmächtigen, der meine Heyva so gnädig durch die schweren Stunden begleitet hat. Sie hat große Schmerzen erlitten. Ich danke Dir oh Herr, der Du uns durch die größte Not und Gefahr hilfst. Du lehrst uns, Deinen Willen und Deine Gebote zu verstehen. Herr leite und führe mein geliebtes Söhnchen und uns alle, solange wir auf dieser schönen Erde weilen.« Erhaben und hoch konzentriert führte Stoffel die Feder über das Pergamentpapier. Zeile für Zeile sprach er ehrfurchtsvoll zu Gott und endete seine Aufschreibungen mit dem letzten Satz: »Führe und beschütze meinen geliebten Hauke auf all seinen Wegen. Schenke ihm den Frieden und ein reines Herz, auf dass er einst in Deinem Reich aufgehe.« Nachdem er seine Aufschreibungen mit einem »Amen« beendete, lehnte er sich zufrieden zurück und atmete hörbar erleichtert auf. Langsam und behutsam nahm er die anderen beschriebenen Papiere in die Hand. Dann begann er darin zu blättern und las die Daten und Schriften, die sein Zeigefinger vorfand. Stoffel zeigte sich zutiefst dankbar, dass er von Gottes Hand sichtbar so gut durch das Leben geführt wurde. Seine Frau hatte bereits zwei gesunde Kinder zur Welt gebracht. Dabei war die Geburt von Lys so schwer gewesen, dass die Hebamme und der herbeigerufene Arzt ihr das Leben bereits abgesprochen hatten. Der Pfarrer war damals gekommen. Er sprach Christoph Mut zu und erteilte seiner lieben Frau Heyva den letzten Segen. Aber Gott der Allmächtige hatte seine Frau gerettet. Als Christoph diese Stunden der Angst im Geiste wiederum durchlebte, ergriff er nochmals die Feder, tauchte sie in das Tintenfass und fügte dem Pergamentpapier zu Lys' Geburt den Satz hinzu: »Oh Herr, Dein Wille geschehe. Wir werden Dich ewig loben und preisen bis in alle Ewigkeit.« Zum Ausdruck seiner Dankbarkeit und um dem geschriebenen Wort noch mehr Nachdruck und Entschlossenheit zu verleihen, fügte er noch drei Amen hinzu. Ehrfurchtsvoll las er dann die Zeilen seiner ersten Vaterschaft, bis er schlussendlich das Pergamentpapier seiner Eheschließung in den Händen hielt. In der Tiefe seiner Seele gestand er sich ein, dass er keine Liebesheirat eingegangen war. Noch heute spürte Stoffel die Hand seines Vaters auf seiner Schulter, als er zu ihm sagte: »Junge, nimm die Eva Decker zu deinem Weib. Sie wird das Dachdeckergewerk ihres Vaters niemals führen. Du kannst zwar nur eine kleine Mitgift erwarten, aber sie ist gesund und kräftig. Sie wird dir bei der Führung des Kottens gut zur Hand gehen und dich unterstützen.« Erst nach diesem Gespräch wurde Christoph auf Eva aufmerksam, umwarb sie und hatte sie von diesem Tage an, als seine von Gott anvertraute Gemahlin, geschätzt und geachtet. Entschlossen hob Christoph seinen Blick von diesen Aufzeichnungen, schaute seine Kinder gütig aber eindringlich an und sagte: »Diese Aufzeichnungen sind unser Familienschatz. Eines Tages werde ich euch diese Schriftstücke übergeben. Sie sind die Gegenwart und die Vergangenheit unserer Familie. Ihr müsst diese Papiere schützen und in Ehren halten. Diese Aufzeichnungen wurden schon vor sehr vielen Jahren begonnen und müssen gepflegt und gehütet werden. Euer Vater und eure Mutter leben eine Verbindung, die Gott zusammengeführt und mit nunmehr drei Kindern gesegnet hat. Mein Sohn Gerit, du wirst eines Tages diesen Kotten übernehmen und er wird dann dereinst auf deinen erstgeborenen Sohn übergehen. Führe ihn mit Bedacht und tätige nur Geschäfte, die dich bei Nacht gut schlafen lassen.« Mit diesen Worten schloss Christoph die Mappe, zog sie ganz nah an sich heran, nahm sie auf und legte sie mit äußerster Sorgfalt in das hinterste Fach des einzigen Stubenschrankes. Dann schritt er stolz in die Schlafstube. Auch hier waren die Wände weiß getüncht. An dem Fenster hingen Vorhänge aus Leinen und verdeckten die Eisblumen an den Scheiben. Es war bitterkalt und Christoph hatte seiner Frau zuliebe die doppelten Fenster schon eingesetzt. Nach den Stunden der Schmerzen und Ängste lag nun eine friedliche und entspannte Stimmung in der Luft, die zudem vom Feuergeruch und der Wärme des Kamins angereichert war. Christoph beugte sich über die Wiege und betrachtete das schlafende Kind. Dann hob er den Blick zu seiner Frau. Heyva war kreidebleich, trug aber ein glückliches Lächeln im Gesicht. Sie war, wie alle Deckers, eine kräftige Erscheinung. Was ihr an Schönheit fehlte, glich sie mit ihrem hellen und sonnigen Gemüt aus. Ihre ruhige und besonnene Art strahlte stets Klarheit und Vertrauen aus. Nur heute war ihr Gesicht bleicher als sonst und die vielen kleinen Sommersprossen hoben sich unruhig ab. Ihr rotes Haar war von den Anstrengungen der Geburt noch schweißgetränkt und verklebt. Heyva streckte ihrem Gatten die Hand entgegen. Liebevoll ergriff Christoph ihre kraftlose Hand und drückte sie schützend, dabei strich er ihr mit der anderen Hand eine zerzauste Strähne aus der Stirn. Dann wanderte sein Blick in die Wiege. Das Kind atmete gleichmäßig und geräuschvoll. Vorsichtig beugte er sich vor, liebkoste den Kopf des kleinen Buben und hauchte ein: »Gott segne dich.« Zärtlich strich er mit seinem rauen Zeigefinger über die winzigkleine und runzelige Hand des Neugeborenen. »Er hat schon kräftig getrunken.«, berichtete Heyva stolz. »Willst du zur Kirche gehen?« »Ja, gleich ist hohe Zeit, die Kinder warten in der Stube.« Er wandte seinen Blick in die Stube und nickte leicht. Augenblicklich kamen Gerit und Lys vorsichtig und leise in das Schlafgemach, um das kleine Brüderchen zu begrüßen. Die Gesichter der Geschwister glühten rot vor Aufregung. Eilig küssten sie ihre Mutter und warfen dann einen Blick in die Wiege. Dann ergriff der Vater das Gesangbuch und deutete zum Gehen. Unbeholfen entfernten sich die Kinder, dabei blieb Lys mit dem Fuß am Bettpfosten hängen, stolperte und stieß gegen die Wiege. Durch das Ruckeln erwachte das Neugeborene. Milde lächelnd atmete Christoph tief durch. Dann verließ er mit Gerit und Lys schweigend das Haus. Sie gingen ruhigen Schrittes auf direktem Wege zur Kirche. Dabei wurden sie vom durchdringenden Geschrei des neuen Familienmitglieds verfolgt. Auf dem Weg zur Kirche gab sich Christoph einem Schmerz hin. Es schmerzte ihn, dass sein Vater nicht mehr die Geburt seiner Kinder erleben durfte. Sein erstgeborener Gerit erblickte im Herbst des Jahres, nach dem Ableben des Vaters das Licht der Welt. Gerit bekam von Jahr zu Jahr mehr Ähnlichkeit mit seinem Großvater. Besonders seine fein geschnittene Nase und die kleinen Zähne waren gerade die des Alten. Als Gegenspieler stachen seine buschigen Augenbrauen, die Gerit genau wie sein Vater gerne mal emporzog, aus dem Gesicht hervor. Seine Gestik, seine ruhige Art, sowie sein scheues Lächeln, welches nur selten seine gelben, kleinen Zähne zeigte, erinnerten Christoph täglich an seinen alten Herrn. Heute, an diesem besonders feierlichen Tag, würde der Pastor die Messe auch für ihn lesen. Denn der Vater veranlasste vor seinem Tode eine Schenkung mit der Auflage, regelmäßig Messen für sein und das Seelenheil seiner Familie zu lesen. Lys war im höchsten Maße niedlich und glich immer mehr ihrer Mutter. Unter ihrer dicken Mütze lugte ihr krauses Haar hervor. Sie setzte ihre kleinen Beinchen mit wippender Fröhlichkeit voreinander. Je näher sie zur Kirche kamen, umso mehr Dorfbewohner trafen sie. Die Geburt von Hauke in den frühen Morgenstunden hatte sich bereits herumgesprochen. Viele Menschen kamen auf die drei zu und gratulierten ihnen aufs Herzlichste. Die Schneidersgattin, die ihren Hut mit Seidenbändern auf dem Kopf trug, kam eiligen Schrittes auf sie zu und rief: »Meinen aller herzlichsten Glückwunsch zur süßen Last! Gott segne euch.« Der Gastwirt nahm zur Ehrerbietung sogar seinen Zylinder ab und nickte wohlwollend. Maximilian war ebenso alt, wie Christoph's Vater an diesem Tage gewesen wäre. Er war der Verleger der Stadt, aber in seiner Seele wohnte ein Poet. Er hatte stets einen Reim in der Hinterhand. Heute war er mit einem braunen Leibrock bekleidet und trug, seiner Jugendmode treu geblieben, kurze Beinkleider. »Gott segne dich und deine Familie!«, sagte Maximilian nach der überschwänglichen Begrüßung. Dann beugte er sich zu der kleinen Lys herunter, schüttelte ihr die Hand und vollführte ein paar ausgesuchte Komplimente. Mit einem milden, angenehmen und gütigen Lächeln wandte er sich sodann Gerit zu und sagte: »Achte auf solch Kompliments und führe sie fort, da sie schlechterdings von der neuen Generation nicht gepflegt werden.« Gerit nickte ehrfurchtsvoll, musste aber ein spöttisches Grinsen mit großer Anstrengung unterdrücken. Dann bediente sich Maximilian seiner Tabakdose und schritt weiter auf die Kirche zu. Nach und nach wurde Stoffel von allen Dorfbewohnern aufs Vortrefflichste begrüßt und beglückwünscht. Alle plauderten, man sprach über das große Glück einer gesunden Geburt und über die frühe Kälte. Hie und da sah man ein mildes Lächeln zwischen den spärlichen Backenbärten. Die Bäckersfrau überreichte Christoph direkt vor der Kirche noch ein Korinthenbrot. Bevor die Glocke verstummte, hatten alle Dorfbewohner ihren Platz in der Kirche gefunden. Das grau melierte Haar des Pastors schmeichelte seinem behaglichen und fröhlichen Gesicht. Seine munteren Augen wanderten durch die Reihen über die Gesichter der Anwesenden, bevor er seine Gemeinde begrüßte. Nach einer Stunde endete der Gottesdienst und die Gemeinde begann aufzubrechen. Würdevoll begleitete der Pastor seine Gemeindemitglieder zur Pforte und verabschiedete sich von jedem persönlich mit einem Handschlag. Während des Gottesdienstes war der Wind schärfer geworden und trieb den einsetzenden Regen seitwärts hernieder. Einige Herrschaften schlugen die Kragen ihrer Mäntel hoch, einzelne Damen verhüllten sich in Tücher und eilten nach Hause. Auch Christoph lief mit den Kindern über das nasse Gras, welches aus dem Pflaster hervorspross und ließ die nunmehr in Regen gehüllte Kirche hinter sich. Alle drei schüttelten sich den Regen ab, als sie in die heimische Stube traten. Dann schloss Christoph die knarrende Holztür sorgfältig und schritt durch die Stube. Noch neben dem großen Holztisch griff seine Hand in die Innentasche seines Mantels und tastete nach dem Korinthenbrot. Dann trat er in die Schlafstube, wo seine Frau Heyva immer noch ruhte. Ein leicht säuerlicher Milchgeruch lag wohltuend in der Luft. »Na, Weib, wie geht es dir ?« Stoffel blieb vor dem Bette stehen und strich seiner Frau über das Haar. Seine durchnässte Gestalt hob sich unruhig von der Stille des Schlafgemaches ab. »Noch ein wenig müde. Ich horche auf das gleichmäßige Atmen unseres Hauke. Das ist ein verflixtes Wetter draußen, nicht wahr?« Ein paar Tage nach der glücklich überstandenen Geburt kamen ordnungsgemäß die Nachbarn und Verwandten. Christoph Drieß saß in der abflauenden Dämmerung, als das Glockenspiel seiner Wanduhr in einen Singsang aus pling, plong, ping einsetzte. Obwohl die Uhr aus seiner Heimat auf der langen Reise aus Schlesien Schaden genommen hatte, liebte er das nunmehr taktlose Geläut, wenn die kleinen Glocken feierlich aber immer noch würdevoll die Uhrzeit erzählten. Mitten im Glockenspiel klopfte Ina Klönkes vom Nachbarkotten an die Tür. Sie war die gute Seele der Gemeinde und nicht viel jünger als seine Heyva. Abgesehen von ihren harten Gesichtszügen, trug sie die gleiche Freundlichkeit im Herzen wie Heyva. Sie war nur wesentlich dünner, fast hager. Ihr Mann Gustav besaß kein gutes Handwerkergeschick. Dazu flüchtete er immer häufiger vor der Wirklichkeit in den Fusel. Ina begrüßte Stoffel kurz, dann suchten ihre flinken, grünlichen Augen die junge Mutter. »Besten Dank!«, sagte Heyva, nachdem Ina ihr zur gut überstandenen Geburt gratuliert und das mitgebrachte Kümpchen überreicht hatte. »Iss, damit du wieder zu Kräften kommst. Den Kräuterkuchen habe ich extra für dich ganz klein geschnitten. Und schau nur, die Bäckerin hat mir Rosinen und Zucker für dich geschenkt. Den Anis-Likör habe ich Gustav geklaut. Er hatte es gar nicht bemerkt.« Mehrfach traten an jenem Nachmittag die Verwandten und Nachbarn in den Drießkotten ein. Die Stube lag in einem etwas unruhigen aber angenehmen Licht der Kerzen, die überall verteilt standen. Die Gäste hatten zum Teil an dem großen Tisch Platz gefunden. Einige standen im Raum. Sie waren gekommen, um Heyva zur glücklich überstandenen Geburt zu gratulieren. Man plauderte mit den Kindern und sprach über die Kälte. Der Pastor, dessen Gesicht zwischen dem bescheidenen Backenbart sehr lang gezogen wirkte, betrachtete bewunderungsvoll die verschiedenen mitgebrachten Kümpchen und die vielen Kuchen. Es waren die Geschenke, die die Nachbarn und Verwandten zur Geburt des neuen Erdenbürgers übersandt hatten. Da man auch sehen sollte, dass eine Gabe aus einem nicht geringen Hause kam, überreichte eine Dame vom Nachbarkotten das gut duftende Kümpchen in einer Silberschale. Vom Anis-Likör entzückt, schöpfte der Pastor zum wiederholten Male seinen Löffel aus der Wöchnerinnensuppe. Obwohl das Gericht der jungen Mutter galt, aßen alle davon und die Schale blieb als das erste Geschenk für das Neugeborene im Drießkotten. Der Pastor versuchte erst gar nicht, einen Sitzplatz zu ergattern. Er stand erwartungsvoll vor dem großen Tisch, hob mit wiegendem Kopf die silberne Schale empor und sprach in scherzender Weise: »Immer spendabel die Frau Nachbarin! Ihr werdet ganz schön zu tun haben, um die ganzen guten Gaben zu verzehren.« Dann strich er den Kindern sachte über den Kopf. Mit einem zerstreuten Lächeln erhob Stoffel seine Stimme und sprach: »Ich danke euch von Herzen, dass ihr so zahlreich erschienen seid.« Dann fasste er vorsichtig, fast elegant seinen Löffel und schöpfte aus dem guten Kümpchen und aß davon. »Ach was wären wir ohne euch?« Mit diesen Worten reichte er die Schüssel weiter. Während sich die versammelten Gäste an dem guten Kümpchen bedienten, fügte er zufrieden hinzu: »Solch eine gute Zusammenkunft wie heute ist nicht selbstverständlich. Obwohl ich diesen Tag nicht mit schlechten Gedanken überschatten möchte, will ich nochmals in Erinnerung rufen, dass Geburten auch anders verlaufen können. So möchte ich Gott dem Allmächtigen für die guten Stunden danken und dich lieber Pastor bitten, meinen Sohn zu segnen.« Heyva blickte mit einem erinnerungsschweren Lächeln in die Wiege. Zufrieden atmete Karl ein und klappte das kleine Buch zu. Milde lächelte er bei dem Gedanken, dass dieses Buch nur rein zufällig in seinen Besitz gekommen war. Zuerst war es nur ein altes Buch, aber dann erkannte er, dass weltweit nur drei Exemplare davon existierten. Jetzt liebte er die Abgeschiedenheit seines Kellerraums, um ungestört und weit entfernt von neugierigen Augen in diesem Buch zu lesen. Mit einem stummen Gebet strich er mit der flachen Hand über den Buchrücken, um es anschließend wieder in der Kommode zu verstauen. Inzwischen stand Karl wieder aufrecht und blickte auf die alte Gebetsbank herab. Die Sonne wird bald untergehen und bald auch wird alles Leid auf der Welt ein Ende haben, dachte er zufrieden. Karl's Weltanschauung war sehr traditionsverbunden und hatte ihren Ursprung in Haan. Noch bevor das Großherzogtum Berg in französischer Hand war, hatte sich eine Gemeinschaft Gleichgesinnter gebildet, die bis heute existiert und Karl gehörte ihr an. Nachdem die siebenjährige frucht- und furchtbare Herrschaft des Schwagers von Napoleon - dem Marschall Murat - vorbei war, festigte sich die Gesinnung. Über viele Jahrzehnte hinweg hatte sich die Gemeinschaft stetig auf ganz Europa ausgebreitet. Die Gemeinschaft war weit von einer international operierenden Organisation entfernt. Sie besaß keine Ordenshäuser. Weder die Universitäten noch sonstige Lehranstalten nahmen jemals Notiz von ihr. Dennoch wuchs die Gemeinschaft langsam aber stetig und sie war finanziell unabhängig. Alle Mitglieder lebten stets unauffällig in den Gemeinden. Trotzdem hatte der gefestigte Glaube und die gradlinige Haltung der Gemeinschaft den allgemeinen Argwohn und den Zynismus der Gesellschaft auf sich gezogen. Ein Mitglied ihrer Gemeinschaft hatte einmal den Fehler begangen und mit einem Zeitungsreporter gesprochen. Der Reporter witterte eine gute Story und wurde auch belohnt. Er stellte ihre Vereinigung als eine Sekte dar, die ihre Mitglieder einer Gehirnwäsche unterzögen. Alles Blödsinn. Sie waren lediglich eine Ansammlung von Menschen, die das Gebot der Nächstenliebe in ihren strengen Alltag einbauten. Karl war wütend über diesen Artikel, aber er verkniff sich Vernunftsargumente. Dieser Reporter liebte offensichtlich Skandalgeschichten. Einfach nur ein verwirrtes Schäflein, dachte Karl und beruhigte damit seine Wut. Alles Unbekannte verbreitet offenbar Angst und Argwohn. Karl wusste, dass seine Vereinigung schon viele Leben bereichert hatte. Aber jetzt würde er selbst an den Pfeilern der Macht rütteln. Noch wußte keiner, auf welche Art von Kampf sie sich würden einlassen müssen. Er selbst hatte den Stein ins Rollen gebracht. Bei diesem Gedanken schlug sein Herz bis zum Hals. Plötzlich kam er sich, im Schatten dieser losgetretenen Lawine, winzig vor. »Der Stein rollt.«
Nachdem Beil Miyu aufgefordert hatte, die Wache zu verlassen, sammelte sie gehorsam alle ihre Papiere zusammen. Enttäuscht band sie sorgsam die Kordel um den Papierstapel. Dann verstaute sie die Unterlagen in ihrer großen Umhängetasche und verließ die Wache. Mit gesenktem Kopf lief sie die Dieker Straße hinunter. Am Beginn der Haaner Fußgängerzone lag ein großes Ärztehaus. Linkerhand gab es im Erdgeschoss ein kleines Café Namens „Karnstedt”. Das Café war gut besucht, aber am Fenster war noch ein schöner Platz frei. Miyu setzte sich mit dem Rücken zur Wand. Ihr war wohler wenn sie die anderen Besucher des Cafés gut sehen konnte. Vor dem Café glitzerten die Fenster eines Wohngebäudes und der blaue Himmel reflektierte sich darin. Enttäuscht und zusammengekauert saß Miyu auf dem Stuhl und starrte in das Panorama der Kleinstadt. Sie hatte schon sehr viel über die Gartenstadt Haan gelesen und wusste noch genau, wie sie bei den Namen „Dreckloch” geschmunzelt hatte. Erst später erkannte sie, dass es sich dabei um eine Ortslage handelte, die im Westen der Stadt an der Kreisstraße lag und nunmehr den Namen Flurstraße trug. Dort lag ein alter Hof, der Teil der Hofgruppe Spörkelnbruch war und Dreckloch genannt wurde, weil dort Torf abgebaut wurde. Haan sah ganz anders aus als die Bilder, die sie durch das Büchlein des Dachbodens im Kopf hatte. Miyu wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als Frau Karnstedt vor ihr stand und sie freundlich begrüßte. »Ich habe mich noch nicht entschieden.« »Darf ich Ihnen die Karte bringen?«, fragte Frau Karnstedt freundlich. »Ja, gerne.« Als Miyu nach der Karte griff, schlich sich wieder die Schamesröte in ihr Gesicht. Sie wusste ganz genau, dass sie fast kein Geld mehr hatte. Für das Flugticket nach Deutschland hatte sie in einer Lebensmittelfabrik gearbeitet, aber wie sie ihren Lebensunterhalt in Deutschland finanzieren sollte, hatte sie in ihrer Berechnung nicht bedacht. Um ein bisschen Zeit zu gewinnen, studierte sie die Karte langsam und ausdauernd. Dabei schaute sie immer wieder zu der Bedienung. Inzwischen zog Miyu schon die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich. Verstohlen schaute sie in die Runde, als ihr wandernder Blick verblüfft an einer alten Dame am Nebentisch hängenblieb. Die Dame wirkte sehr förmlich und schaute Miyu schweigend an. Die Hände ruhten auf ihrem Schoss, als würde sie auf irgendetwas warten. Sie war sehr klein und wirkte fast wie eine Puppe. Ihr schneeweißes, langes Haar lag wie ein Schal um ihren Hals. Als die Dame den stockenden Blick von Miyu bemerkte, erstrahlte ihr ovales Gesicht. Dann beugte sie sich vor und fragte flüsternd: »Na, Kindchen. Haste kein Geld?« Miyu schluckte schwer. »Für eine Tasse Tee reicht es noch. Danke.« Sie bestellte einen Pfefferminztee und legte das abgezählte Geld bereit. Neben dem Papierstapel, einem Rock, zwei T-Shirts, einer Strumpfhose, einem Sprachführer und drei Fachbüchern über das Neandertal befand sich ganz unten in der großen Umhängetasche noch eine Packung Butterkekse. Vorsichtig griff sie danach und steckte sich verstohlen einen Keks in den Mund. Sie hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Nach dem Frau Karnstedt ihr den Tee gebracht hatte, öffnete sie ihre Tasche, holte den Papierstapel heraus und legte ihn mit äußerster Vorsicht auf den Tisch. Stumm betrachtete sie die Papiere. Um keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen, tat sie so, als wäre es völlig normal, fast ohne Geld in einer fremden Stadt mit ihren eigenen Aufschreibungen in einem Café zu sitzen. »Was denken Sie gerade?«, fragte die puppenähnliche Dame. Miyu sah erschrocken auf. Tja, was dachte sie eigentlich? Diese Frage war gar nicht so leicht zu beantworten. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab und grübelten darüber, ob jemand aus ihrer Familie wohl jemals in Haan gewesen war. Sie fragte sich, ob die kleine Dame wusste, auf welchen Grundfesten das gesamte Leben aufgebaut war. Sie stellte sich die rauen Gesichter der Menschen dieser Region vor, wie sie einst emsig und pflichtbewusst die Messer geschliffen hatten. Dann richtete sie sich auf, sah die kleine Dame entschlossen an und fragte: »Kennen Sie den Drießkotten?« Der Dame zuckte ein unwilliger Zug über das Gesicht. Dann stellte sie ihre Teetasse mit einem deutlich hörbaren „Kling” auf die Untertasse. Sie dachte scheinbar einen Augenblick über diese Frage nach. Dann atmete sie tief durch, richtete sich auf und stellte eine Gegenfrage: »Warum fragen Sie mich das?« Miyu senkte ihren Blick und wurde kleinlaut. »Weil mich dieser Kotten bereits seit elf Jahren fesselt. Um ganz genau zu sein seit elf Jahren, drei Monaten und zwanzig Tagen«, sagte Miyu so zurückhaltend wie möglich. Das Lächeln der Dame verschwand. Sie schwieg und musterte Miyu's Gesicht. Scheinbar versuchte sie, darin zu lesen. Miyu hielt den Atem an. Sie saß auf der vordersten Kante ihres Stuhls und wartete leicht vorgebeugt auf eine Reaktion. Die Dame ließ sich viel Zeit. Ohne den Blick von Miyu abzuwenden, hob sie schweigend ihre Teetasse, trank kurz hintereinander mehrere Schlücke und stellte sie wieder sorgfältig und geräuschlos auf der Untertasse ab.