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Im letzten Dienstjahr vor der Pensionierung von Kommissar Lars Petersen kommt es zu diversen Turbulenzen auf Wangerooge. Raffinierte Trickbetrügereien, der Mord an einer Bekannten Petersens, ein Disziplinarverfahren und die Verwicklungen mit einem ungeklärten Fall aus der Vergangenheit machen den Insel-Ermittlern das Leben schwer. Die zunächst distanzierte Art der neuen Kollegin, Hella Hansen, macht das Miteinander in der Wache auch nicht einfacher. Dann passiert ein weiteres Verbrechen… Wird Petersen die Fälle lösen können? Und gibt es wieder einen Showdown auf Leben und Tod? Aber vor allem: Wie geht es weiter auf dem Wangerooger Polizeirevier?
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Seitenzahl: 424
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ausgelöscht
auf
Wangerooge
Petersens neunter Fall
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Kriminalroman
von
Malte Goosmann
Copyright: © 2025 Malte Goosmann
Self-publisher
Cover Design & Buch-Layout: Monika Goosmann
Titelbild: Monika Goosmann
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Jedwede Verwendung des Werkes darf nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erfolgen. Dies betrifft insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung, Übersetzung und Verfilmung.
Bisher ermittelte Kommissar Petersen in folgenden Fällen:
2015 / Schattenüber Wangerooge
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2016 / Verscharrt auf Wangerooge
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2018 / Rufmord auf Wangerooge
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2019 / Mundtot auf Wangerooge
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2021 / Novemberblues auf Wangerooge
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2022 / Zerbrochen auf Wangerooge
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2023 / Endstation Wangerooge
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2024 / Todesangst auf Wangerooge
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Alle Titel sind ebenfalls als eBooks und Hörbücher erhältlich
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Buch-Tipp:
Ein Winter auf Wangerooge
Petersens Kampf gegen die Pfunde
Eine Humoreske mit Illustrationen
von Monika Goosmann
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Die Herbstsonne hatte noch nicht an Kraft verloren. Er öffnete die Terrassentür, nahm einen Gartenstuhl vom Stapel, der sich in der hinteren Ecke befand und rückte ihn in die Mitte der Terrasse. Mit einem leichten Seufzer ließ er sich in den Stuhl fallen, während dieser verdächtig unter ihm knarrte. Genüsslich nahm er einen ordentlichen Schluck aus der Flasche Jever und blinzelte in die Sonne. Hauptkommissar Lars Petersen, Leiter des Polizeipostens Wangerooge, hatte sein Revier verlassen. Zum ersten Mal seit seiner rund zehnjährigen Amtszeit auf der Insel wohnte er nicht mehr in der Dienstwohnung über der Wache in der Charlottenstraße. Sein Kumpel Sönke Meiners, mittlerweile pensionierter Lehrer auf der Insel, hatte ihm seine Doppelhaushälfte, die über viele Jahre ausschließlich an Feriengäste vermietet worden war, als Dauerwohnraum zur Verfügung gestellt. So richtig konnte Petersen die Situation noch gar nicht begreifen. Einbauküche, Terrasse, Garten, all das stand ihm jetzt zur Verfügung. Die neuen Möbel hatte er sich selbst ausgesucht, wenngleich, genaugenommen seine Tochter Lena dabei ihren Einfluss auf ihn geltend gemacht hatte. Bei ihrem gemeinsamen Gang durch ein großes schwedisches Möbelhaus in der Nähe von Bremen hatte sie schon im Voraus gewusst, welche Möbel die richtigen für ihren alten Herren sein würden. Petersen war kaum eine Wahl geblieben, aber letztendlich war er ihr sogar dankbar, dass sie ihm die Entscheidungen abgenommen hatte. Seine Tochter verfügte über einen sehr guten Geschmack, wie er fand, von daher konnte er mit ihrer Auswahl sehr gut leben. Letzte Woche war dann Lena mit ihrem Freund, den er äußerst sympathisch fand, angerückt. Schon beim Anblick der Montageanleitungen für die Möbelstücke war Petersen völlig überfordert gewesen. Aber Lena und Jonathan schienen ein eingespieltes Team zu sein. In nur wenigen Stunden hatten sie Regale, Bett und Schränke aufgebaut. Die gemütliche Sitzgarnitur im Wohnzimmer gefiel ihm so gut, dass er sie von Sönke übernommen hatte. Überhaupt, das sehr große Wohnzimmer war das Schmuckstück der Wohnung. Rechts neben der Sitzgarnitur hatte er sich eine Musikecke eingerichtet. Seine vier Gitarren standen dort aufgereiht vor dem Fender Twin Reverb-Verstärker. Noten- und Mikrofonständer rundeten die Ecke ab. Hier konnte er sich so richtig austoben. Zudem hatte sich Sönke, der in der zweiten Haushälfte mit seiner Frau wohnte, im Keller ein kleines Tonstudio eingerichtet. Lena war mit der Einrichtung der Musikecke im Wohnzimmer nicht ganz einverstanden gewesen, weil ihrer Meinung nach dadurch das Gesamtensemble des Wohnzimmers zerstört werden könnte. Aber an dieser Stelle hatte Petersen nicht mit sich verhandeln lassen. Seine Musikecke war ihm heilig. Punkt! Murrend hatte Lena nur mit den Augen gerollt und ihren Widerstand aufgegeben, zumal Jonathan sich auf Petersens Seite geschlagen hatte, indem er von dem Recht auf eine individuelle Note sprach. Auf der Rückfahrt nach Harlesiel hatte diese Äußerung noch ein Nachspiel gehabt. Männer, hatte Lena geschimpft, sind in Geschmacksfragen nun wirklich keine Bündnispartner.
Petersen nahm einen weiteren Schluck aus der Bierflasche. Heute war sein letzter Urlaubstag. Morgen würde er zum ersten Mal nicht die Treppe von der Dienstwohnung runter ins Revier nehmen, sondern mit seinem neuen E-Bike, das er sich kürzlich angeschafft hatte, zum Dienst fahren. Noch im Urlaub hatte ihn Martje Willms von der Polizeiinspektion Wilhelmshaven/Friesland darüber informiert, dass für das Revier Wangerooge eine dritte Planstelle genehmigt worden war. Ziel war es, durch diese Maßnahme die Anzahl der Urlaubsvertretungen auf der Insel in der Hauptsaison einzuschränken. Leider würde es wohl nicht zu einer regulären Ausschreibung kommen, da die Stelle mit einer hochqualifizierten Kommissarin besetzt werden sollte, die unter Burnout litt. Petersen hatte sich während seines Umzugs nicht weiter um diese Angelegenheit gekümmert. Kollege Ronald Rohde aus Bremen, der ein Jahr auf der Insel gearbeitet hatte, war wegen dieser Entscheidung sehr enttäuscht gewesen. Ronny wäre gerne selber fest auf die Insel gekommen, um mit seiner Freundin Mandy Richter, die ihr Wangerooge nicht verlassen wollte, zusammenzuziehen. Aber gegen eine verdiente Hauptkommissarin, die schon in vielen Mordkommissionen mitgearbeitet haben sollte, sah er keine Chance und hatte seine Bewerbung wieder zurückgezogen. Im Augenblick interessierten Petersen diese Dinge noch nicht wirklich. Morgen würde immer noch genug Zeit sein, sich damit zu beschäftigen. Erst einmal musste er seine Wohnung richtig in Besitz nehmen. Nachdem er die Flasche Bier jetzt ausgetrunken hatte, ging er wieder zurück ins Wohnzimmer, warf sich auf seine Sitzgarnitur und rief über seine Rock-Playliste das neue Rolling Stones Album Hackney Diamonds auf.
Meta Runge, Baujahr vierundfünfzig, verwitwet, war noch eine Vermieterin vom alten Schlag. Ihre Pension strahlte den Charme der 70er Jahre aus. Die nachträglich eingebauten Nasszellen in den Pensionszimmern wirkten wie Fremdkörper. Aber Dusche und Toilette auf dem Flur wurde von den Gästen längst nicht mehr akzeptiert, so dass Meta Runge sich vor zehn Jahren schweren Herzens entschlossen hatte, die Nasszellen einbauen zu lassen. Trotzdem nahm die Zahl ihrer Pensionsgäste kontinuierlich ab. Sie konnte mit den auf der Insel neu entstandenen Appartement-Häusern einfach nicht mithalten. Investoren vom Festland, meist mit einem Fond im Hintergrund, dominierten mittlerweile das Vermietungsgeschäft auf der Insel. Diese Häuser trugen teilweise sehr wunderliche Namen wie zum Beispiel die von italienischen Komponisten. Meta Runge schüttelte darüber immer nur den Kopf, wenn sie während ihres Abendspaziergangs an diesen Wohnanlagen vorbeiging. Ihres Wissens nach waren Komponisten wie Vivaldi oder Puccini nie auf Wangerooge gewesen. Sie persönlich hielt es da lieber mit traditionellen Namen, die ihrer Meinung nach besser zur Nordsee passten. Über dem Hauseingang ihrer Pension in der Friesenstraße stand in schwungvoller weißer Schrift der Name „Friesenrose“ geschrieben. Wer bei Meta Runge buchte, erhielt das Rundum-Sorglos-Paket. Dazu gehörte ein üppiges Frühstück mit allem, was sich ihre Gäste nur wünschen konnten. Sogar Getränke für den Tag waren immer verfügbar. Auch wenn junge Ehepaare einmal allein sein wollten, übernahm Meta gerne mal die Kinderbetreuung. Aber all diese Leistungen waren scheinbar nicht mehr gefragt. Der Urlauber wollte heutzutage anonym bleiben und fühlte sich durch derartig persönliche Betreuung eher belästigt.
Meta Runges Mann, ein Kapitän, war schon Mitte der 90er verstorben, so dass sie sich alleine durchs Leben kämpfen musste. Die Ehe war kinderlos geblieben. Eine neue Beziehung war für sie nie in Frage gekommen. Die Erinnerung an ihren geliebten „Captain“, so hatte sie ihn immer genannt, war noch jeden Tag präsent. Ein neuer Partner wäre für sie Verrat an ihrem Mann gewesen. Ein Jahr noch durchhalten, dann müsste sie so viel Geld gespart haben, dass sie noch einige Jahre gut von diesem Kapital würde leben können. So hatte sie es sich jedenfalls ausgerechnet. Ihre Gesundheit spielte allerdings nicht mehr so recht mit. Die Arthrose in beiden Knien machte ihr schwer zu schaffen. Vor ein paar Monaten hatte sie deshalb eine ukrainische Hilfskraft mit dem Namen Kataryna Krawtschenko eingestellt, die ihr täglich zwei Stunden half.
Da die Buchungen seit mehreren Jahren fast nur noch über das Internet per Mail liefen, hatte sie sich vor einiger Zeit einen PC anschaffen müssen. Sönke Meiners, damals noch aktiver Lehrer der Inselschule, hatte ihr einen Schüler der zehnten Klasse empfohlen, der ihr den PC eingerichtet und ihr den Umgang mit dieser für sie neuen Technik gezeigt hatte.
Als sie an diesem Morgen ihren PC hochfuhr, meldete sich ihr Mailprogramm. Voller Freude registrierte sie eine Buchungsanfrage für mehrere Personen im Oktober dieses Jahres. Es handelte sich scheinbar um zwei Familien, die gemeinsam vierzehn Tage Urlaub in den Herbstferien machen wollten. In der Mail wurde Meta Runge gebeten, ein Preisangebot abzugeben. Kurz kalkulierte sie das Angebot: Das machte in diesem Fall, inklusive Frühstück, pro Tag und Zimmer 125 Euro. Sie setzte den Preis in ihr vorgefertigtes Angebotsformular ein und klickte auf antworten.
Gerade hatte Heike Wohlers, Polizeibeamtin des Wangerooger Reviers, die Eingangstür der Wache aufgeschlossen, als ihr Kollege Petersen mit seinem neuen E-Bike um die Ecke geschossen kam. Sie schüttelte nur den Kopf, während er vom Rad stieg und sich etwas umständlich den Fahrradhelm abschnallte.
„Moin, Lars, dir ist schon klar, dass so ein Rad nicht ganz ungefährlich ist.“
„Stimmt, ich hab noch nicht das Gefühl für die Geschwindigkeit. Ich glaube, mein Rad ist schneller als unser Polizei-Bike. Das war ja eben meine erste Fahrt. Ich muss demnächst mal mit dem Ding auf dem Deich üben. Hatte ja wegen meines Umzuges noch gar keine Zeit, mich mit dem Teil vertraut zu machen.“
„Mensch, nun übertreib mal nicht, die E-Bikes sind doch alle ab 25 km/h gedrosselt. Ich glaube, du bildest dir da was ein, aber okay, komm endlich rein, ich habe eine schlechte Nachricht für uns. Die neue Kollegin wird wohl schon morgen eintreffen.“
Während Petersen das Rad in den Flur geschoben hatte, war ihm nicht entgangen, dass der Gesichtsausdruck seiner Kollegin sich verfinstert hatte. Irgendwie schien ihr die neue Kollegin quer im Magen zu liegen. Er ahnte auch warum, denn eigentlich sollte Heike nach seiner Pensionierung den Posten der Revierleitung bekommen. Sie befürchtete jetzt wohl einen Konkurrenzkampf mit der neuen Kollegin, zumal die Kollegin bisher einen höherqualifizierteren Job innehatte. Er ging zur Kaffeemaschine und machte diese betriebsbereit, während Heike sich ihren Grünen Tee zubereitete.
„Ich gebe zu, dass ich mich mit der neuen Kollegin noch gar nicht beschäftigt habe“, sprach er Heike Wohlers direkt an. „Ich vermute, du machst dir Sorgen wegen meiner Nachfolge. Das kann ich ja verstehen, aber wissen wir denn, ob die Neue überhaupt länger bleiben will?“
Sie zuckte mit den Schultern und machte ein griesgrämiges Gesicht.
„Ich habe nur gehört, dass sie eine hochkarätige Hauptkommissarin aus Oldenburg sein soll.“
„Ja, gut, hab‘ ich auch gehört, aber dann haut die doch bald wieder ab, oder?“
„Reine Spekulation, Lars.“
Als Petersen an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, griff er zum Telefon und wählte Martje Willms Nummer in der Polizeiinspektion Wilhelmshaven/Friesland, seiner vorgesetzten Behörde. Mit Martje verband ihn ein einschneidendes Erlebnis auf der unbewohnten Insel Minsener Oog, auf der sie gemeinsam einen flüchtigen Straftäter festgenommen hatten.
„Moin, Lars“, meldete Martje sich und legte sofort los, „Urlaub beendet? Wie gefällt dir denn deine neue Wohnung? Da muss ich dich wohl bald mal besuchen.“
„Immer gern, habe auch ein Gästezimmer. Aber ich rufe aus einem anderen Grund an.“
„Kann ich mir denken“, unterbrach sie ihn, „die Neue kommt schon morgen. Hella Hansen heißt sie, war in den letzten Jahren in vielen Mordkommissionen tätig. Sie kommt direkt aus der Reha, Burnout. Mehr weiß ich auch nicht. Sonst ruf in Oldenburg an, wenn du mehr wissen willst.“
„Okay, aber ich mach‘ mir lieber selbst ein Bild.“
„Da ist noch was, Lars, Stichwort Wasserleiche im letzten Jahr. Wir haben die Frau mittlerweile identifiziert. Sie ist wohl vor längerer Zeit bei einem Segelunfall in der Blauen Balje über Bord gegangen. Die betreffende Yacht mit Namen ‚Luzifer‘ hatte einen festen Liegeplatz bei euch im Yachthafen. Es muss darüber bei euch eine Akte geben.“
„Jupp, die Akte hab‘ ich gefunden. Sie liegt direkt vor mir auf dem Schreibtisch. Hab‘ aber noch keinen Blick drauf werfen können. Mein Urlaub und der Umzug sind dazwischengekommen. Kümmere mich aber jetzt sofort darum.“
„Alles klar, dann noch eine gute Arbeitswoche!“
Heike hatte das Gespräch aufmerksam verfolgt. „Geht es um die Wasserleichenteile?“
Petersen nickte kurz und schlug dann den Aktendeckel auf und überflog die erste Seite.
„Genau, es handelt es sich um eine Frau, die vor Jahren von einer Yacht gefallen sein soll, die damals im Wangerooger Hafen als Dauerlieger gemeldet war.“
Die skelettierten Überreste waren im letzten Jahr von einem Tonnenleger an der Einfahrt zur Blauen Balje, der Meerenge zwischen Minsener Oog und Wangerooge, gefunden worden. Zuerst hatten sie geglaubt, es würde sich dabei um die vermisste Schülerin handeln, die bei einer Klassenfahrt von einem Plattbodenschiff verschwunden war. Das Mädchen war von einem Gelegenheitsarbeiter und verurteilten Mörder im Schöpfwerk gefangen gehalten worden und auch Petersen war von ihm kurzfristig als Geisel genommen worden. Martje Willms und ihre Kolleginnen konnten damals mit Hilfe der Wangerooger Feuerwehr die Geiseln zügig befreien.
Heike Wohlers hatte sich zu einem Streifengang abgemeldet, während Petersen sich weiter in die Akte vertiefte. Die Yacht gehörte einem Bremer Geschäftsmann, las er, der, von Helgoland kommend, in die Blaue Balje eingefahren war. Petersen notierte, warum Blaue Balje? Wer von Helgoland kam, nahm in der Regel den Kurs durchs Harle Gatt, der Meerenge zwischen Spiekeroog und Wangerooge, und lief dann direkt in den Yachthafen ein. Hatten die Kollegen versäumt, den Skipper danach zu fragen? Er machte sich eine zweite Notiz, Wetterlage. Jetzt las er die Aussage des Skippers. Wegen der nahenden Dunkelheit hatte er sich entschlossen, den Kurs in die Blaue Balje zu nehmen, um dort in der Nacht vor Anker zu gehen. Eine Fahrt durchs Harle Gatt bei Dunkelheit war ihm zu gefährlich erschienen. Eine Erklärung, die Petersen durchaus plausibel fand. Die Yacht segelte auf einem Vorwindkurs bei Windstärke 6 Bft. Durch einen kleinen Moment der Unachtsamkeit sei plötzlich der Großbaum umgeschlagen und traf dann die Frau, die im Begriff gewesen war, auf das Vordeck zu gehen. Durch den Schlag des Baumes wurde sie über Bord geschleudert. Alle Maßnahmen, sie zu finden, waren erfolglos geblieben. Diese Aussage des Skippers wurde durch das andere Besatzungsmitglied, einem Geschäftspartner des Eigners, bestätigt. Petersen blätterte noch einmal zurück, um sich die Personalien der Besatzung anzusehen. Skipper und Eigner der zwölf Meter langen Yacht war der Bremer Geschäftsmann Rolf Wendler. Mit an Bord waren sein Geschäftspartner Simon Blendermann und eine Angestellte von Wendler, Lara Benedikt.
Petersen schloss die Akte und strich sich mit der rechten Hand über seinen Bart. Das Ganze war vor seiner Zeit auf Wangerooge geschehen. Der Vorfall wurde als ganz normaler Segelunfall, wie er immer mal wieder vorkommen konnte, eingestuft. Warum war diese Angestellte mit an Bord gewesen? Hatte Wendler ein Verhältnis mit ihr? Aber selbst, wenn, war das ja nicht verboten, sinnierte er. Eine solche Patenthalse, das unkontrollierte Umschlagen des Großbaumes, galt in Seglerkreisen eigentlich als Anfängerfehler. Gut, aber solche Fehler passierten halt. Langsam schob er die Akte beiseite. Eigentlich nichts Ungewöhnliches befand er, stand abrupt auf, ging zur Kaffeemaschine, goss sich den Kaffeepott derartig voll, dass er auf seinem Weg zurück zum Schreibtisch eine nasse Spur hinterließ. Petersen bemerkte es kaum, denn in seinem Inneren grübelte es schon weiter. Vielleicht sollte er mal mit Heinz Siel, dem ehemaligen Vormann des Wangerooger Rettungsbootes reden, der musste doch damals schon bei der Suchaktion dabei gewesen sein. Seinen direkten Vorgänger im Revier, Onno Siebelts, wagte Petersen nicht zu fragen. Siebelts hatte erst vor kurzem einen zweiten Herzinfarkt überstanden. Seine Frau Frieda würde ihn steinigen, wenn er Onno zu einem alten Fall befragen würde.
Nachdem Petersen seinen Kaffee ausgetrunken hatte, ging er nach oben in seine alte Dienstwohnung, die nach seinem Auszug frisch renoviert worden war. Er öffnete die Fenster. Der Farbgeruch hing noch deutlich in der Luft. Aber sonst sah alles ganz gut aus. Ab Morgen würde hier jemand Neues leben, ein ungewohntes Gefühl.
Hocherfreut las Meta Runge die eingegangene E-Mail. Die zwei Familien hatten ihr Angebot akzeptiert und wollten nun ihren Urlaub verbindlich bei ihr buchen. Zu diesem Zweck wurde nach ihrer Bankverbindung gefragt. Diese hatte zwar schon auf ihrem Angebotsschreiben gestanden, aber doppelt hält besser, dachte sich Meta und schickte noch einmal ihre Bankverbindung an ihre neuen Feriengäste.
Nach einer Stunde bekam sie wieder eine Mail, in der ihr mitgeteilt wurde, dass man ihr einen Scheck zuschicken würde. Meta Runge stutzte einen Moment. Waren nicht Zahlungen mit einem Scheck aus der Mode gekommen? Aber egal, Hauptsache sie bekam das Geld. Immerhin zwei Familien für vierzehn Tage, das war schon eine Hausnummer. Ihre Bedenken wegen des Schecks schob sie zur Seite und verließ ihr Haus, um ihre Freundin Mathilde Bramme, die am Alten Deich wohnte, zu besuchen.
Mathilde, ein paar Jahre jünger als Meta, hatte das Vermieten schon vor zwei Jahren aufgegeben. In früheren Zeiten hatte sie einiges an Geld zurückgelegt. Hinzu kam noch die gute Witwenrente ihres verstorbenen Mannes, der einen hohen Posten bei der Stadt Jever bekleidet hatte. Mathilde war erst sehr spät Mutter geworden, ihre Tochter Jantje lebte in Hamburg, wo sie bei einer IT-Firma tätig war. Mathildes größte Sorge war, dass ihre Tochter, mit fast 30, immer noch alleine lebte. Gern hätte sie Enkelkinder gehabt, aber leider sah sie diesen Wunsch in weite Ferne rücken. Jantje reagierte meist nur genervt, wenn sie von ihrer Mutter darauf angesprochen wurde.
Mathilde Bramme deckte ihr gutes friesisches Teeservice auf und schnitt den frischen Butterkuchen an. Kurze Zeit später traf Meta auch schon ein.
Die meisten Passagiere auf der „Wangerooge“ hatten sich oben auf dem Oberdeck ein schönes Plätzchen gesucht und genossen das relativ gute Wetter. Einige staunten nicht schlecht, als sie die Polizistin sahen, die im unteren Deck am Fenster saß. Neben der hochgewachsenen schlanken Beamtin stand ein Katzenkorb. Gelegentlich schien es so, als würde sie sich mit der Katze in dem Korb unterhalten. Hin und wieder schweifte ihr Blick gedankenverloren über das graue Wattenmeer.
Für Hauptkommissarin Hella Hansen begann heute ein neuer Lebensabschnitt. Seit dreißig Jahren hatte sie keine Uniform mehr getragen. Das alles hier kam ihr denn doch relativ fremd vor. Aber an ihrem Entschluss, die Stelle auf Wangerooge anzunehmen, zweifelte sie keine Sekunde. Sie hatte die Reißleine einfach ziehen müssen, sonst wäre sie untergegangen. Über zwanzig Jahre hatte sie im Raum Oldenburg in verschiedenen Mordkommissionen ihren Dienst getan. Ihr eilte der Ruf voraus, eine sehr gute Ermittlerin zu sein. Bei der Aufklärung spektakulärer Mordfälle, die in der ganzen Republik für Aufsehen gesorgt hatten, war sie maßgeblich beteiligt gewesen. Aber irgendwann war das Maß voll, als hätte jemand eine Lampe ausgeknipst. Eine unbändige Wut war in ihr aufgestiegen. Fast hätte sie in einer Verhörsituation einem Vergewaltiger, der sich an einer Dreizehnjährigen vergangen hatte, ins Gesicht geschlagen. Wäre da nicht ein Kollege dabei gewesen, der sie gerade noch davon hatte abhalten können, hätte sie es getan. Jegliche professionelle Distanz, die sie in ihrer bisherigen Tätigkeit ausgezeichnet hatte, war plötzlich verflogen. Sie hätte diesen schmierigen Typen, wie sie da in ihren ballonseidenen Trainingsanzügen vor ihr saßen, vor die Füße kotzen können. Dieses geistlose Gestammel in den Verhören, keine Empathie mit den Opfern, ob es nun Kinder, Frauen oder alte Menschen waren, die von irgendwelchen gestörten Pflegern totgespritzt wurden. Sie konnte diesen ganzen Wahnsinn einfach nicht mehr ertragen. Der tägliche Horror begann, sie innerlich zu vergiften. Die Abgründe der menschlichen Psyche verursachten bei ihr einen kompletten Blackout. Warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Diese Frage beschäftigte sie immer noch. Immerhin hatte sie diesen Job über Jahrzehnte gemacht und mit den schlimmsten Massenmördern zu tun gehabt. Auch in der psychosomatischen Klinik, in die sie im Rahmen einer Reha-Maßnahme eingewiesen worden war, hatte keiner der Therapeuten diese Frage beantworten können. Diese Gesprächskreise mit Redesteinen und Teelichtern waren nichts für sie gewesen. Nach einer Woche hatte sie ihre Koffer gepackt und war wieder nach Hause gefahren. Eine Ursache für ihren Burnout, Gott, wie sie diese Vokabel hasste, war sicherlich nicht zuletzt auch die Scheidung gewesen. Sie als erfahrene Ermittlerin hatte es nicht bemerkt, dass ihr Ehemann, Abteilungsleiter einer großen Versicherung, sie monatelang betrogen hatte. Aber diese Geschichte konnte natürlich nicht die alleinige Ursache ihrer Misere sein. Fast alle ihrer Kollegen waren geschieden oder lebten in irgendwelchen kaputten Beziehungen. Polizeidienst mit seinen Unwägbarkeiten und Abgründen forderte menschliche Opfer. Einige Kollegen flüchteten sich in Alkohol, andere betrieben krankhaft viel Sport. Für sie stand nur fest, dass sie sich neu sortieren musste und diesem Zweck sollte nun der Aufenthalt auf Wangerooge dienen. Frische Seeluft, überschaubares kriminelles Umfeld, das sollte doch reichen, um wieder ein normales Berufsleben führen zu können und dass sie dafür heute hier wieder in einer Polizeiuniform saß, störte sie nicht. Wangerooge sollte ihrer eigenen psychischen Entgiftung dienen.
Natürlich hatte Hella Hansen sich vorher über die Dienststelle auf der Insel informiert. Die Erste Hauptkommissarin Mona Behrens, Leiterin der Abteilung OK (Organisierte Kiminalität) wusste sie, war vor Jahren selber auf Wangerooge tätig gewesen. Sie hatte den Leiter des Polizeipostens, Lars Petersen, als angenehmen Zeitgenossen beschrieben, wenn auch manchmal etwas eigenwillig oder schräg. Ihre Augen funkelten etwas, wenn sie von Petersen sprach. Hella kam das schon etwas verdächtig vor. Hatten die beiden mal was miteinander gehabt? Aber das sollte ihr nun wirklich egal sein. Sie musste auf der Insel zur Ruhe kommen, das war das Gebot der Stunde.
Die „Wangerooge“ lief jetzt langsam in den Hafen ein. Während das Schiff drehte, konnte sie schon die blauweißen Waggons der Inselbahn auf der Pier stehen sehen.
Wieder einmal stand Petersen auf dem Bahnsteig des Inselbahnhofs, um eine neue Kollegin zu begrüßen. Wie oft hatte er Praktikanten, Urlaubsvertretungen oder neue Kolleginnen hier schon begrüßt. Mit jeder dieser Personen verband er eine spezielle Geschichte oder gemeinsame Erlebnisse. Etwas wehmütig schwelgte er in seinen Erinnerungen. Wahrscheinlich war es heute das letzte Mal, dass er hier stand, um eine neue Beamtin zu begrüßen. Vielleicht kam da schon seine Nachfolgerin, die da gleich aus dem Zug steigen würde. Heike Wohlers, die sich Hoffnungen auf seinen Posten machte, befürchtete es jedenfalls. Ihre schlechte Laune könnte noch zum Problem in der täglichen Zusammenarbeit werden. Noch einmal waren seine Personalführungsqualitäten gefragt, obwohl er selber bezweifelte, dass er über solche verfügte. Letztendlich hoffte er auf ein ruhiges letztes Jahr vor seiner Pensionierung. Die zusätzliche Stelle, die jetzt geschaffen worden war, würde die Arbeitsbelastung etwas erträglicher machen, so hoffte er jedenfalls. Das Pfeifen der Lokomotive der Inselbahn riss ihn aus seinen Gedanken. Die rote Lok war schon zu sehen und dann fuhr der Zug langsam in den Bahnhof ein. Er hatte kein Bild von dieser neuen Kollegin gesehen, auch hatte er sich nicht vorher über sie schlau gemacht. Der Urlaub mit dem Umzugsstress hatte das verhindert. Mit einem lauten Quietschen kam der Zug zum Stehen. Direkt aus dem Waggon, der vor ihm hielt, stieg eine große sportliche Frau in Polizeiuniform aus. Ihre hellbraunen, leicht rötlich schimmernden Haare trug sie kurz geschnitten und pfiffig gestylt. In der rechten Hand trug sie einen Korb. Petersen musste genau hinsehen. War da ein Tier drin? Jupp, er tippte auf Katze.
„Moin, Sie sind sicherlich Kollege Petersen, Hella Hansen“, stellte sie sich vor. Ein Händeschütteln war nicht möglich, da sie ja diesen Katzenkorb in der rechten Hand trug und augenscheinlich auch nicht gewillt war, diesen abzusetzen.
„Moin“, brummte Petersen nur.
Hella Hansen sah sofort, dass Petersen den Korb fixierte.
„Das ist Maigret, mein Partner“, grinste sie schelmisch und sah in das völlig verwirrte Gesicht ihres Gegenübers.
„Mein Kater heißt Maigret.“
Jetzt entspannten sich Petersens Gesichtszüge und er musste grinsen.
„Wie Kommissar Maigret aus den Romanen von Georges Simenon?“
Hella Hansen nickte und war positiv von den Literaturkenntnissen ihres zukünftigen Kollegen überrascht.
„Witzig“, murmelte der und dachte sofort daran, wie Heike Wohlers das wohl finden würde, dass die Kollegin hier mit einem Kater auflief.
„Ist das ein Problem?“, fragte Hansen.
Petersen schüttelte sofort den Kopf. „Nö, für mich nicht.“
Auf dem Bahnhofsvorplatz warteten sie auf die Gepäckcontainer. Unauffällig musterte sie Petersen, dessen Gesicht von Falten durchzogen war. Wahrscheinlich konnte jede einzelne dieser Falten eine Geschichte erzählen, dachte sie. Auf jeden Fall wirkte dieser Mann auf den ersten Blick nicht unsympathisch, was für die gemeinsame Arbeit ja nun nicht ganz unwichtig war. Aber erste Eindrücke konnten bekanntlich ja auch täuschen. Diese Erfahrung hatte sie in ihren langen Ermittlerjahren immer wieder gemacht. Nachdem Hella Hansen ihren Rollkoffer gefunden hatte, nahm Petersen ihr den Koffer ab und rollte ihn über den Bahnhofsplatz. Dann gingen sie langsam in Richtung Charlottenstraße. Petersen überlegte, wie er die neue Kollegin einschätzen sollte. Außer über ihren Kater hatten sie bisher wenig gesprochen. Er hatte begonnen, ein wenig über die Insel zu sprechen, aber sie hatte etwas barsch abgewunken.
„Ich werden mir selber ein Bild machen.“
Eigentlich wollte er nur freundlich sein, aber sie hatte wohl wenig Interesse, die Distanz zwischen ihnen zu verringern. Okay, auch gut, dachte er. Wir müssen ja nicht gleich Freunde werden, ähnlich war es ja auch mit der Kollegin Wohlers. Hauptsache das Dienstliche klappte. Vor der Wache stand ein E-Karren der örtlichen Speditionsfirma. Umzugskartons wurden ins Haus getragen. Erfreut stellte Hella Hansen fest:
„Klasse, das hat ja schon mal geklappt. Dann kann ich ja gleich schon einmal mit dem Auspacken anfangen.“
Petersen geleitete sie ins Dienstzimmer, wo Heike Wohlers gespannt wartete. Als sie den Katzenkorb sah, verzog sie sofort ihr Gesicht. Katzen waren nun überhaupt nicht ihr Ding. Petersen machte die beiden Frauen miteinander bekannt. Die Einladung auf einen Kaffee schlug Hella Hansen aus. Sie wollte erst einmal die neue Wohnung in Beschlag nehmen, später würde sie dann noch einmal nach unten kommen. Als Hansen nach oben gegangen war, schüttelte Heike Wohlers den Kopf.
„Mein Gott, die ist aber distanziert. Das kann ja heiter werden. Wenn das meine neue Chefin werden sollte, lass‘ ich mich versetzen. Und dann diese Katze, wir sind hier doch keine Zoohandlung, sondern eine Polizeiwache.“ Sie rümpfte demonstrativ die Nase, als könnte sie das Katzenklo schon riechen.
Petersen machte eine beruhigende Handbewegung.
„Heike, nun warten wir doch erst einmal ab. Wenn die tatsächlich einen Burnout hatte, muss sie sich doch auch erst einmal zurechtfinden.“
„Du nun wieder, spiel hier bloß nicht den Frauenversteher.“
„Nein, ich bin eben ein Vorgesetzter mit Einfühlungsvermögen.“ Bei diesen Worten machte Petersen ein bierernstes Gesicht. Dann musste er selber lachen.
Heike flippte schier aus vor Lachen, dabei liefen ihr Tränen übers Gesicht.
„Huch, das war der Gag des Tages. Ich fasse es nicht!“
Hella Hansen war beim Anblick der kleinen Dienstwohnung positiv überrascht. Zwar waren die Möbel nicht ganz ihr Geschmack, aber sie würde es sich hier schon gemütlich machen. Kater Maigret war etwas zögerlich aus seinem Korb gestiegen und nahm ebenfalls sein neues Revier in Augenschein. Erst einmal beschnupperte er die Umzugskartons, dann wurde das Katzenklo ausgepackt und ins Bad gebracht. Die Begegnung eben mit den neuen Kollegen war wohl keine Glanzleistung von ihr gewesen. Aber zu viel Nähe wollte sie so schnell nicht aufkommen lassen. Sie musste jetzt verstärkt auf sich schauen, um überhaupt mit der neuen Situation klarzukommen.
Meta Runge staunte nicht schlecht, als sie vor ihrem PC saß. Kopfschüttelnd las sie die Mail, in der ihre neuen Gäste ihr mitteilten, dass sie zu viel Geld auf dem Scheck angewiesen hätten. Anbei war ein Foto des Schecks als Anlage angehängt. Es handelte sich um einen Betrag von 500 Euro, der zu viel ausgestellt worden sei. Der Scheck würde die Tage eintreffen. Die Mail endete mit der Bitte, den überzahlten Betrag zurückzuüberweisen. Wie konnte man sich derart irren und so viel Geld zu viel überweisen? Das waren doch wohl keine alten Leute, dachte sie und beschloss, noch keine Überweisung zu tätigen, sondern lieber den Eingang des Schecks abzuwarten. Vielleicht würde er ja schon heute kommen und sie könnte die Sache dann erledigen. Wie üblich, servierte sie sich selbst erst einmal eine Tasse Tee. Das gehörte zu ihrem morgendlichen Ritual. Zwei Stunden nach dem Frühstück gab es bei ihr immer „Tass Tee“. Während sie die Tageszeitung studierte, hörte sie das Klappern an ihrem Briefkasten und tatsächlich befand sich neben einigen Reklameflyern da der Brief mit dem Scheck. Erleichtert ging sie zu ihrem PC und tätigte direkt die Überweisung von 500 Euro auf das angegebene Konto. Um nicht eine böse Überraschung zu erleben, wollte sie den Scheck sofort bei der Volksbank einlösen. Sie zog sich ihre Jacke an, nahm den Scheck und spazierte in Richtung Zedeliusstraße. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass es ja keinen Schalter mehr gab, sondern nur einen Automaten. Im Automatenraum war niemand, der ihr helfen konnte, aber es wurde ein Kontaktanruf bei einem Servicemitarbeiter angeboten. Für diesen Fall musste man in die Servicebox namens Frida gehen. Sie drückte die Taste und tatsächlich erschien auf dem Monitor das Gesicht eines jungen Mannes, der ihr erklärte, dass das Einlösen eines Schecks nur auf dem Festland möglich sei. Trotzdem bat er sie, den Scheck einmal vor die Dokumentenkamera zu halten. Er wolle mal eben überprüfen, ob der Scheck gedeckt sei. Seine bedenkliche Miene war Meta nicht entgangen. Stimmte hier etwas nicht? In ihrer Magengegend rumorte es. Der junge Mann auf dem Bildschirm tippte und tippte auf seiner Tastatur herum. Endlich meldete er sich wieder.
„Einen kleinen Moment, ich muss da noch eben was anderes checken.“
Das hörte sich nicht gut an, dachte Meta. Dann hörte sie wieder nur das Klappern der Tastatur. Fast fünf Minuten waren mittlerweile vergangen. Der Mitarbeiter hatte jetzt seinen Platz verlassen. Meta schaute sich nach einem Stuhl um, fand aber keinen. Jetzt hörte sie Stimmen. Der Mitarbeiter hatte wieder an seinem Schreibtisch Platz genommen. Dann hörte sie ein Räuspern.
„Liebe Frau Runge, der Scheck ist leider nicht einlösbar. Er wurde zurückgezogen. Mein Chef und ich sind der Meinung, dass Sie einer Betrügerei aufgesessen sind.“
Eine junge Frau, die den Automatenraum gerade betreten hatte, sah, dass Meta Runge taumelte. Schnell griff sie ihr unter die Arme.
„Ist Ihnen nicht gut?“
Von dem Monitor hörte sie eine Stimme, die etwas von einer Anzeige bei der Polizei sprach. Langsam fing sich Meta Runge wieder. Trocken bemerkte sie:
„500 Euro in den Sand gesetzt, ich dumme Kuh.“
Hella Hansen hatte ihren ersten Arbeitstag. Petersen, Heike Wohlers und sie saßen zusammen um den Besprechungstisch. Hansen bemühte sich, heute etwas freundlicher zu sein und hatte das Angebot, gemeinsam eine Tasse Kaffee zu trinken, diesmal nicht ausgeschlagen. Auch Kater Maigret durfte heute ausnahmsweise mal mit in die Diensträume, damit er oben nicht so alleine war. Heike Wohlers war davon nicht begeistert, aber Petersen hatte mit einem Augenzwinkern scherzhaft gemeint:
„Auf den Kollegen Maigret sollten wir hier nicht verzichten.“
Zum ersten Mal hatte Heike in Hella Hansens Gesicht Anzeichen eines Lächelns beobachtet. Petersen erläuterte gerade die dienstlichen Abläufe, als Maigret auf den Schoß von Petersen sprang, sich dort zweimal um die eigene Achse drehte und es sich gemütlich machte. Im ersten Moment hatte sich Petersen etwas erschrocken, fing sich aber schnell und begann dann vorsichtig, den Kater zu streicheln, was diesem offensichtlich sehr gut gefiel, denn er schnurrte leise vor sich hin.
Heike Wohlers konnte sich nur wundern. Was war mit ihrem Chef los? Wurde der jetzt etwa altersmilde oder wollte er der Hansen gefallen? Sein Frauentyp war die mit Sicherheit nicht, da war sie sich ganz sicher.
Hella Hansen wiederum wunderte sich über ihren Kater, der sonst Fremden gegenüber nicht sehr vertrauensselig war. Maigret schien Petersen wohl zu mögen. Sein mittlerweile lautes Schnurren war jedenfalls ein eindeutiges Indiz dafür.
Gerade, als die drei eine Einteilung der Nachtbereitschaften vornehmen wollten, klopfte es an der Reviertür und zwei Frauen traten in das Dienstzimmer. Die jüngere Frau, die Petersen von der Kurverwaltung bekannt vorkam, hatte die ältere Dame untergehakt.
„Moin, Sheriff“, begrüßte die Jüngere die Anwesenden, „Frau Runge möchte Anzeige erstatten.“
Über die Anrede „Sheriff“ war Hella Hansen etwas erstaunt. Die beiden Frauen schienen so auf Petersen fixiert zu sein, dass Heike Wohlers und sie Luft für die beiden waren. Zum Leidwesen von Maigret hob Petersen ihn von seinem Schoß, stellte ihn neben seinen Stuhl und ging zum Tresen. Die junge Frau verabschiedete sich und Petersen bat Meta Runge, nachdem er ihr einen Platz angeboten hatte, ihre Geschichte zu erzählen. Die Aufregung war ihr noch anzumerken. Heike Wohlers bot Meta ein Glas Wasser an, das sie auch dankbar annahm.
„Liebe Frau Runge, das ist eine Betrugsmasche, wie wir sie hier auf der Insel noch nicht erlebt haben. Es tut mir wirklich leid, aber ich fürchte, das Geld ist weg. Wir werden natürlich versuchen, die Betrüger ausfindig zu machen. Können Sie mir den Mail-Verkehr, den sie mit den Leuten hatten, zukommen lassen? Dann möchte ich von dem Scheck ein Foto machen. Wenn ich richtig informiert bin, ist es leider so, dass man noch innerhalb einer Frist von bis zu vier Wochen einen Scheck zurückziehen kann.“
Meta Runge, die sich wieder etwas beruhigt hatte, nippte an ihrem Wasserglas.
„Ich bin ja selber schuld. Die Sache mit dem Scheck kam mir gleich spanisch vor. Mit uns alten Leuten kann man’s ja machen. Da freut man sich, dass mal wieder eine ordentliche Vermietung reinkommt und jetzt so ein Mist.“
„Frau Runge, so dürfen Sie nicht denken“, Petersen war aufgestanden, um sein Handy für das Foto zu holen, „schuld sind die Betrüger, nicht Sie. Reden Sie sich das bitte nicht ein.“ Dabei musste er aufpassen, nicht auf Maigret zu treten, der ihm beharrlich um die Beine strich.
Hella Hansen, die sich im Hintergrund aufhielt, nickte zustimmend. Nachdem das Anzeigeformular ausgefüllt war, wollte Meta Runge gerade aufstehen, als ihre Freundin, Mathilde Bramme, mit hochrotem Gesicht die Wache betrat.
„Dunnerlüttchen, Mathilde, was machst du denn hier?“, rief eine völlig verdutzte Meta Runge in die Runde.
„Dübel ok, ick bün büschen maddelich,“ stotterte Mathilde.
Heike Wohlers, die diese plattdeutschen Begriffe nicht kannte, ahnte aber ihre Bedeutung. Schnell bot sie Mathilde Bramme ebenfalls einen Stuhl an. Von hinten kam Hella Hansen mit einem zweiten Glas Wasser. Sie dachte, was geht hier denn ab? Petersen bat alle, sich zu beruhigen, und forderte danach Frau Bramme auf, ihr Anliegen vorzutragen. Was sie jetzt zu hören bekamen, löste bei allen größtes Erstaunen aus.
Mathilde Bramme hatte einen Anruf von ihrer Tochter, Jantje, aus Hamburg bekommen. Sie hatte angeblich einen Verkehrsunfall gehabt und befand sich jetzt mit einer Fraktur der linken Schulter im Krankenhaus. Sie war privatversichert. Da sie ihre Versicherungskarte jedoch nicht dabeihatte, verlangte das Krankenhaus eine Anzahlung von 5.000,-€. Ihre Tochter hatte dann noch schnell die Kontonummer des Krankenhauses durchgegeben und dann das Gespräch sofort beendet. Natürlich hatte Mathilde das Geld sofort überwiesen, da sie den Eindruck hatte, dass ihre Tochter wirklich in Not sei. Was allerdings Mathilde völlig aus der Fassung brachte, war die Tatsache, dass ihre Tochter etwa eine Stunde später bei ihr anrief, um ihren Besuch fürs Wochenende auf der Insel anzukündigen.
Nachdem Mathilde Bramme das alles geschildert hatte, wischte sie sich erstmal mit ihrem blütenweißen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Sie war richtig aufgeregt. Aus ihrer Jackentasche zog sie einen kleine Zettel, auf dem sie die Kontonummer des angeblichen Krankenhauses notiert hatte, und schob ihn zu Petersen rüber.
„Das ist die Kontonummer vom Krankenhaus.“
„Ich seh‘ schon an der IBAN-Nummer, dass es ein ausländisches Konto sein muss.“
„Mit diesen neumodischen langen Banknummern kenn‘ ich mich auch gar nicht aus.“
„Wenn das Profis waren und da müssen wir wohl von ausgehen, dann haben die das Konto sofort nach Eingang des Geldes wieder gelöscht und sich in Luft aufgelöst.“.
„Ach du Schreck! Und was ist jetzt mit meinem Geld?“
„So leid es mir tut, viel Hoffnung hab‘ ich da nicht. Wenn Sie Pech haben, müssen Sie das Geld abschreiben.“
Petersen nickte vor sich hin, eigentlich der Klassiker, dachte er, aber irgendwie dann doch anders als bei den Enkeltricks, da geht es ja ausschließlich um Bargeld.
„Das darf alles nicht wahr sein“, jammerte Frau Bramme.
Petersen überlegte noch einmal und stellte dann die entscheidende Frage:
„Frau Bramme, ich frag‘ jetzt einfach nochmal nach, bei dem Anruf mit der Geldforderung haben Sie da klar und deutlich die Stimme Ihrer Tochter erkannt? Sind Sie sich wirklich sicher, dass die Person am Telefon Ihre Tochter war?“
Entrüstet antwortete sie:
„So tüdelich bin ich ja nun noch nicht, dass ich nicht die Stimme meiner Tochter erkennen würde. Nein, nein! Die Stimme und ihre Ausdruckweise, das war eindeutig Jantje.“
Es herrschte nun ein Moment Stille. Jeder der Anwesenden versuchte, das eben Gesagte zu verarbeiten. Die normale Masche war ja ein Anruf einer fremden Person, die um Geld für einen Angehörigen bat, der in Not sei. Petersen schüttelte ratlos seinen Kopf.
„Der normale Enkeltrick ist das nicht“, warf er in die Runde ein.
Mathilde Bramme nickte.
„Das war jetzt ja auch so häufig im Fernsehen und bei XY, auf so etwas wäre ich nicht mehr reingefallen.“
„Was sagt denn Ihre Tochter dazu?“, kam es von Heike Wohlers.
„Die war völlig fertig und hat Stein und Bein geschworen, dass sie nicht angerufen habe. Und wenn Sie denken, dass meine Tochter Geld braucht, dann irren Sie sich gewaltig. Jantje hat einen tollen Job mit Penthouse in der HafenCity in Hamburg.“
Heike Wohlers notierte sich die Nummer von Jantje Bramme und nahm dann die Anzeige auf. Hella Hansen, die sich völlig im Hintergrund gehalten hatte, spürte wieder diese Wut in sich aufsteigen. Wer machte so etwas? Alten Leuten, die ein wenig Geld für ihren Lebensabend gespart hatten, einfach das Geld zu entlocken! Die Wut, die sich ihrer bemächtigt hatte, schlug jetzt in akutes Unwohlsein um. Bloß keine Panikattacke bekommen. Zur Überraschung aller stand sie auf und nahm ihre Jacke. Mit den Worten, „ich muss mal an die frische Luft“, verließ sie die Wache.
Heike Wohlers und Petersen sahen sich überrascht an. Was war das denn jetzt? Um die Situation zu retten, schob Petersen noch schnell eine Begründung nach.
„Die Kollegin muss auf Streife.“
Nachdem noch einige Formalitäten erledigt wurden, verließen Meta Runge und Mathilde Bramme untergehakt die Wache. Vereint im gemeinsamen Leid, schien es ihnen schon wieder etwas besser zu gehen.
Heike Wohlers wirkte konsterniert und blickte ihren Chef nachdenklich an.
„Was war das denn nun mit unserer Neuen? Wenn die solche Sachen schon nicht mehr aushalten kann, ist sie doch gar nicht diensttauglich. Haut einfach ab und lässt das Viech einfach in der Wache.“
Auch Petersen machte einen verunsicherten Eindruck, während Maigret es sich auf der Fensterbank gemütlich gemacht hatte und sich putzte.
„Mal abwarten, was sie dazu sagt. Aber mal jetzt zu unseren beiden Damen, ist das nun Zufall oder geplant, dass beide gleichzeitig Opfer von Trickbetrügern werden?“
„Die Täter müssen sie jedenfalls kennen, sonst funktioniert das doch nicht“, gab Heike Wohlers zu bedenken.
„Solche Taten werden ja meist von Banden verübt, deren Zentrale im Ausland sitzt. Ich denke da zum Beispiel an Izmir, da haben sie doch einige Leute hochgehen lassen.“
„Das stimmt, aber hier auf der Insel muss doch ein Hinweisgeber sitzen.“
„Oder eine Hinweisgeberin, so viel Zeit muss sein, Heike.“
„Oh, ja, da genderst du plötzlich, interessant.“
Lars Petersen konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
Hella Hansen stand an der Promenade und atmete schwer. Was für ein peinlicher Auftritt! Ihre Kollegen mussten an ihrer Dienstfähigkeit zweifeln. Was hatte der Polizeipsychologe gesagt:
„Sie müssen sich klarmachen, dass Sie Menschen mit ihrer Arbeit helfen. Nur so können Sie den polizeilichen Alltag bestehen.“
Leichter gesagt als getan. Aber die Richtung stimmte, das spürte sie.
Hella Hansen war begeisterte Chorsängerin. Vor einigen Jahren hatte sie sogar im Chor des Oldenburger Staatstheaters gesungen. Leider hatten dann die ständigen Einsätze bei Mordermittlungen dieses geliebte Hobby zunichte gemacht. Zuletzt hatte sie nur noch in einem Freizeitchor gesungen. Zur Beruhigung stöpselte sie ihre Kopfhörer ein. Auf ihrer Playlist Chormusik kam jetzt die berühmte Hymne von Mendelssohn Hör mein Bitten. Langsam entspannte sie sich bei dieser für sie erhabenen Musik.
Sie ließ einige Minuten ihren Blick über die ruhige Nordsee streifen, atmete tief durch und machte sich dann auf den Rückweg zur Wache. Sie hatte ganz vergessen, ihren Kater nach oben zu bringen, wo sein Katzenklo stand.
Als sie das Dienstzimmer betrat, verstummten die beiden Kollegen, die sich gerade sehr angeregt unterhielten.
„Kollegen, ich muss mich entschuldigen“, sprach sie die beiden an, „das war nicht professionell. Die beiden Damen haben mir echt leidgetan. Ich habe in den letzten Jahren die Distanz, die wir für unsere Arbeit brauchen, verloren. Daran muss ich noch arbeiten.“
Petersen nickte.
„Ich denke, das Problem kennen wir. Kollegin Hansen lassen Sie sich Zeit. Vielleicht haben Sie den Spruch auf dem Anleger im Hafen gelesen?
„Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt.““
Heike Wohlers musste sich wegdrehen. Jetzt gibt er wieder den Frauenversteher mit einem Spruch, der eigentlich gar nicht passte, dachte sie.
„Okay“, Petersen wurde jetzt wieder sehr förmlich, „wie gehen wir in beiden Fällen vor?“
„Wir sollten in jedem Fall die OK (Organisierte Kriminalität) in Oldenburg informieren. Diese Taten werden ja in der Regel von organisierten Banden aus dem Ausland durchgeführt. Sie haben da doch einen ganz guten Draht hin, Kollege Petersen.“
Er horchte bei diesen Worten auf. Wer hatte da denn geplaudert? Dann kam nur ein knappes „Okay.“
Heike Wohlers verzog ihre Lippen.
„Wir gehen mal davon aus, dass hier auf der Insel jemand Hinweise gegeben hat“, brachte sich jetzt Heike Wohlers ein, „diese beiden alten Damen sind die perfekten Opfer. Jemand muss sie ausgewählt haben. So etwas kann man sich doch nicht einfach aus dem Telefonbuch suchen.“
Petersen holte jetzt den Flipchart-Ständer und notierte:
OK, Oldenburg / Gemeinsame Bekannte / Jantje Bramme.
„Ich habe die Tochter mit aufgeschrieben.“
„Warum das denn?“, fragte Heike etwas konsterniert.
Statt Petersen antwortete Hella Hansen:
„Wir müssen doch zumindest prüfen, ob sie nicht Geld von ihrer Mutter haben wollte.“
„Machen wir auch, sie kommt sowieso am Wochenende auf die Insel, dann befragen wir sie. Trotzdem halte ich dieses Szenario für relativ unwahrscheinlich. Was ist mit der Stimme der Tochter?“ Petersen fuhr dabei mit seiner rechten Hand über die Bartstoppeln.
Heike Wohlers räusperte sich.
„Die Frau Bramme machte mir nicht Eindruck einer verwirrten Frau.“
„Aber sie hat die Stimme ihrer Tochter am Telefon erkannt, wie kann das sein, wenn sie sich nicht doch getäuscht hat?“, warf Petersen ein.
Plötzlich erhob sich Hella Hansen ging zum Flipchart und notierte KI.
Völlig verdutzt blickten sich Wohlers und Petersen an. In diesem Moment kratzte Kater Maigret an der Tür zum Flur und miaute laut.
„Entschuldigung, ich bringe ihn mal eben schnell nach oben zu seinem Katzenklo. Bin gleich wieder da.“
Und schon war Hella Hansen mit Kollege Maigret auf dem Arm verschwunden. Petersen fing völlig unverhofft an zu lachen.
„Was ist?“, blickte ihn Heike Wohlers irritiert an.
„Katzenklo, Katzenklo, ja das macht die Katze froh“, sang Petersen und konnte sich kaum halten.
„Mann, Petersen, hast du schon mal in deinen Ausweis gesehen? Wie albern ist das denn jetzt?“, echauffierte sich Heike, „sag du mir lieber, was das mit der KI soll?“
„KI, heißt Künstliche Intelligenz.“
„Mensch, Lars, für wie bekloppt hältst du mich eigentlich? Das weiß ich selbst! Ich versteh den Zusammenhang bloß nicht.“
In diesem Moment betrat Hansen wieder das Dienstzimmer. Maigret hatte sie erstmal oben gelassen.
„Also, ich bin Ihnen noch eine Erklärung schuldig wegen der KI. Ich habe in einem Artikel im Netz gelesen, dass man damit rumexperimentiert, menschliche Stimmen zu kopieren und zu imitieren.“
Erstaunt blickten sich Lars Petersen und Heike Wohlers an.
„Wenn das tatsächlich möglich ist, kann man ja fast jeden reinlegen“, kommentierte Heike.
Petersen wiegte seinen Kopf hin und her.
„Stimmt natürlich, aber hilft uns das in unserem Fall weiter?“
Hella Hansen zuckte mit ihren Schultern.
„Eigentlich nicht, aber, wenn das hier der Fall wäre, stünde da wahrscheinlich eine hochspezialisierte Organisation dahinter.“
„Okay, aber beweisen können wir das nicht, wir haben keine Stimmprobe“, räumte Petersen ein. Für den Rest des Tages wurden Routinearbeiten erledigt. Hella Hansen sollte die Anzeigen an die Abteilung OK Oldenburg weiterleiten. Heike Wohlers schrieb eine Vorladung für Jantje Bramme.
Petersen hatte heute Nachtbereitschaft und saß noch im Dienstzimmer. Gerade hatte er wieder mal eine WhatsApp von Madeleine Dreyer erhalten. Seit er sie bei seinem letzten Fall von ihrem Stalker, einem dieser gefährlichen Incel-Männer, die Frauen extrem verachteten, befreien konnte, nervte sie ihn mit eindeutigen Angeboten. Als ehemalige Prostituierte, vermutete er, wollte sie auf diese Art ihre Dankbarkeit zeigen.
Sheriff, du glaubts ja gar nicht, was ich alles draufhabe! Wenn du Bock hast, du weißt, ich bin jederzeit bereit. Es könnte eine lange Nacht werden.
Es war mittlerweile schon die dritte WhatsApp dieser Art, die sie ihm geschickt hatte. Das passte ihm gar nicht, aber einfach blockieren mochte er sie auch nicht. Es half nichts, irgendwann musste er mit Madeleine darüber reden und ihr klarmachen, dass er als Polizist einfach nur seinen Job gemacht hatte und diese Art von Dankbarkeit für ihn auf gar keinen Fall infrage kam. Vielleicht hallten da noch ihre Erfahrungen aus Hamburger Tagen nach, wo sie damals als Hure gearbeitet hatte. Er erinnerte sich, mal gelesen zu haben, dass zu der Zeit durchaus Ermittler im Milieu kostenlos durch die Puffs ziehen durften. Eine Sonderkommission in Hamburg hatte diese Art der Korruption auf der Reeperbahn damals aufgedeckt.
Aber eine andere Frage beschäftigte Petersen viel mehr und das war die Sache mit der KI. Vielleicht sollte er Carla Lefevre einmal anrufen, die IT-Forensikerin aus Bremen, die ihm bei dem Fall des Incel-Manns geholfen hatte. Carla war eine faszinierende Frau, Bikerin und Metal Fan, die allein schon durch ihr Outfit immer wieder für Aufsehen sorgte. Nicht nur beruflich hatte er sich mit ihr super verstanden. Es war sogar mal zu einem flüchtigen Kuss gekommen, mehr war aber zum Glück nicht passiert. Carla lebte in einer festen Beziehung mit einem Informatik-Professor der Uni Bremen, der, so hatte er es verstanden, über die KI forschte. Petersen blickte auf seine Uhr. Ob sie noch im Dienst war? Ich versuche es einfach mal. Mit etwas Herzklopfen drückte er auf ihre Nummer.
„Diese Nummer kommt mir aber seltsam bekannt vor, hallo Lars“, hörte er ihre etwas rauchige Stimme, „so spät noch im Dienst? Oder hast du Gesprächsbedarf?“
„Beides! Störe ich dich? Ich höre Stimmen im Hintergrund.“ Es raschelte etwas, dann hörte er eine ihm bekannte Stimme:
„Ciao, commissario, wann kommst du mal wieder zu mir? Der Grappa wartet.“
Es war die Stimme seines befreundeten Stammitalieners Rocco aus Bremen-Walle. Carla war also nicht mehr im Dienst, sondern saß im „Ristorante Da Rocco“.
„Ciao, Rocco, sicuramente molto presto.“ Petersen grinste in den Hörer, stolz auf seine neue italienische Vokabel, aber Carla war schon wieder dran.
„Was meinst du? Es ist so laut hier.“
„Ach, nichts, ich dachte… ist auch egal. Tut mir leid, dass ich dich jetzt beim Essen störe. Ich ruf dich morgen wieder an.“
„Nö, lass mal, ich bin hier schon beim Abschlussgrappa. Warte, ich gehe mal eben raus.“
Petersen war die Situation höchst unangenehm. Jetzt hatte er sie in ihrer Freizeit gestört.
„So, da bin ich wieder. Was hast du auf dem Herzen?“
In kurzen Worten berichtete er von dem vermeintlichen Anruf Jantje Brammes bei ihrer Mutter und ließ das Stichwort KI fallen.
„Carla, ich will nur wissen, ob das möglich ist?“
Es entstand eine kurze Pause. Er hörte das Geräusch einer vorbeifahrenden Straßenbahn, dann meldete sie sich wieder.
„Ich muss kurz ausholen. Es gibt in der Tat neuerdings Versuche, mit KI Stimmen gesprochene Texte zu fälschen. Wir nennen das Deepfake. Mit Hilfe von Audioschnipseln, YouTube-Videos oder Instagram-Stories kann die Stimme eines Menschen perfekt imitiert werden. Es reichen dafür schon fünf bis zehn Sekunden, um die Stimme zu erfassen.“
„Unfassbar“, stöhnte Petersen, „was ist mit Akzenten oder Dialekten?“
„Kein Problem. Mein „Prof“, hat mir das mal mit meiner eigenen Stimme vorgeführt, unglaublich. Das klingt nicht mal hölzern oder roboterartig, hört sich verdammt echt an das Ganze.“
„Jetzt bin ich ratlos. Wo liegt denn jetzt mein Ermittlungsansatz? Den kann ich doch in die Tonne treten.“
„Langsam, Lars, für das, was ich dir jetzt beschrieben habe, muss ein großer Aufwand betrieben werden.“
„Inwiefern?“
„Mein Gott, bist du ungeduldig, so kenn ich dich gar nicht. Menschen am Meer ruhen doch in sich.“
Petersen lachte kurz auf. „Das ist ein Klischee.“
„Okay, zurück zum Thema. Wenn also so eine Fake-Nachricht klingen soll, wie in deinem Fall am Telefon die Stimme der Tochter, dann brauchst du dafür vorher jedenfalls die Originalstimme, um aus Sprachschnipseln dann den Wortlaut der Fake-Nachricht herzustellen. Soweit klar?
„Mmh, das hatte ich schon kapiert.“
„Die Überlegung ist ja aber, wenn es um Geld geht, wie sucht der Täter sich sein Opfer aus? Also, wie geht er vor, hat er erst eine Stimme, die er im Netz gefunden hat und guckt dann im Umfeld der Person dieser Stimme nach passenden Opfern? Oder sucht er sich erst das Opfer, wie hier deine alte Dame und besorgt sich dann die Stimme der Tochter durch einen Trick? Einen Sprachmitschnitt kann man sich zum Beispiel auch durch einen Anruf oder eine Sprachmitteilung über WhatsApp besorgen und dann digitalisieren. Mehr kann ich dir nicht bieten, aber da musst du ansetzen.“
„Danke, du hast mir sehr geholfen, obwohl mich das als alten Mann ehrlich etwas überfordert.“
„Nun kokettier doch nicht immer mit deinem Alter. So wie ich dich kennengelernt habe, bist du doch noch ganz gut in Schuss.“
„Bin übrigens umgezogen, hab‘ jetzt ein kleines Häuschen gemietet. Es gibt auch ein Gästezimmer, falls du mich mal besuchen kommen möchtest.“
„Ich glaube, besuchen ja, aber mit dem Gästezimmer, das lassen wir mal lieber aus gutem Grund.“
„Wir sind doch beide erwachsene Menschen.“
„Ja, eben. Lars, grüß mir den Magister und wenn du weitere Fragen hast, immer wieder gerne, Metal forever!“
Mit diesen Worten beendete sie das Gespräch. Er musste einen Moment über die Sache mit dem Gästezimmer nachdenken, aber irgendwie hatte sie natürlich recht. So wie es jetzt war, war es schon in Ordnung, aber gerne hätte er...Schluss, aus, jetzt musste er sich zur Ordnung rufen und schrieb ein kurzes Gesprächsprotokoll. Diese Informationen hatten es in sich. Mit dieser neuen Technik würde eine ganz neue Dimension von Kriminalität möglich sein. Gut, dass er dann nicht mehr im Dienst sein würde.
Kurz bevor er die Wache abschließen wollte, meldete sich das WhatsApp-Signal auf seinem Privathandy.
Ich habe Bock und ich habe Zeit. Wann kommst du?
Natürlich Madeleine. Petersen stöhnte auf. Er musste dem ein Ende bereiten. Kurz tippte er eine Antwort ein:
Madeleine, wir müssen reden!
Jantje Bramme hatte in einer Mail mitgeteilt, dass sie schon am Freitagnachmittag ihrer Vorladung nachkommen könne. Petersen war darüber hocherfreut, so war zumindest eine gewisse Freizeit am Wochenende gesichert. Er wollte noch einige Bilder und Poster in seiner Wohnung aufhängen und Kühl- und Gefrierschrank mussten dringend aufgefüllt werden. Als er das Haus verließ, kontrollierte er noch kurz den Ladezustand seines Akkus, bevor er die Fahrt zum Revier antrat. Da er noch etwas Zeit hatte, fuhr er mit dem E-Bike über Siedler- und Richthofenstraße zum Deich. Ein starker Westwind blies ihm entgegen.
„So, Alter, jetzt musst du beweisen, was in dir steckt“, sprach er zu seinem Bike und schaltete den Turbo-Gang ein. Fast hätte das Rad einen Satz gemacht, so zog das Bike ab. „Geil“, schrie er in den Wind und genoss es, mit wenig Aufwand gegen den Wind anzukämpfen. Am Deichschart stoppte er. Gerade fuhr ein Müllzug der Inselbahn vorbei und der Lokführer winkte ihm zu.
In der Charlottenstraße später traf er auf Heike Wohlers, die gerade im Begriff war, die Tür der Wache aufzuschließen.
„Du machst so einen entspannten Eindruck. Was ist los?“
Petersen freute sich wie ein kleiner Junge und klopfte auf sein E-Bike.
„Das ist der Hammer. Selbst bei Gegenwind geht die Luzie ab.“
„Pass bloß auf, dass du dich nicht hinlegst mit dem Ding. Dann muss ich mit der „Dame“, sie deutete mit ihrem Kopf in Richtung Eingangstür der Wache, „alleine Dienst machen. Dann bekomme ich auch Burnout.“