Ausverkauf - Michael Contre - E-Book

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Michael Contre

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Beschreibung

Ein Unfall. Ein Toter. Zehn Millionen. Keine Zeugen. Erfüllt sich für die geschasste Außendienstverkäuferin Bea Bertram endlich das Glücksversprechen unserer Gesellschaft, verliert Ex-Straßenkämpfer Uhl einen wichtigen Job, muss Bodyguard Cordt die Millionen zurückholen, befiehlt sein Auftraggeber: keine Zeugen! Jetzt wird Bea zur Zielscheibe und gerät in die mörderische Welt unter der dünnen Kruste unserer Zivilisation.

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1

Der Bodyguard landete auf dem Rücken und starrte in die Mündung der Pistole. Ein Axthieb spaltete die 1 cm dicke Stahlkette an seinem Handgelenk. Der dünne Räuber mit der Eishockeymaske riss den Geldkoffer an sich und stieß dem abwehrend die Hände hebenden Bodyguard den Pistolenlauf ins Gesicht. Lachend trabte der Dünne davon.

Eine Glock 18c aus dem Fach in der gepanzerten Autotür ziehend, schnellte der Bodyguard hinter dem Mercedes S 550 hoch. Der zweite, bullige Räuber hielt den mit einem Arm umklammerten Chauffeur wie einen Schild vor sich und feuerte augenblicklich. Mehrere Schüsse fielen gleichzeitig. Der Bullige verfehlte. Der Bodyguard nicht. Die Treffer rissen den Räuber samt Geisel von den Beinen. Wild um sich schießend, ließ der Bullige den blutenden Chauffeur los. Der Bodyguard tauchte hinter dem Mercedes ab. Kugeln schlugen kreuz und quer. Unterdessen erreichte der Dünne mit dem Geldkoffer den silbernen Toyota Avensis. Geduckt hastete der Bodyguard um die Limousine herum, kam hinter der Motorhaube hervor und tötete den Bulligen mit einem gezielten Kopfschuss.

Laut aufjaulend setzte der Toyota zurück.

Die Pistole beidhändig in Vorhalte marschierte der Bodyguard Richtung rückwärtsfahrendes Fahrzeug und pumpte Projektil um Projektil in die Karosserie. Der Avensis vollzog 180° Kehre und raste schlingernd auf die Kurve zu. Da platzte die Heckscheibe. Mit der 19. abgefeuerten Patrone arretierte der Schlitten der Glock. In den wenigen Sekunden, die der Bodyguard benötigte, um ein volles Ersatzmagazin reinzurammen und durchzuladen, geriet der Toyota in der Biegung der Waldstraße außer Sicht. Bei jedem Schuss hasserfüllt „Hai!“ brüllend feuerte der Bodyguard einfach weiter.

2

„Du bist vielleicht nichts als ein Stück Ware mit rapide sinkendem Marktwert“, sagte Bea Bertram zu ihrem Spiegelbild auf der Toilette eines 4-Sterne-Hotels in Flughafennähe. „Aber heute Abend, Engelchen, bist du ganz weit vorn.“

Sie gefiel sich in dem dunkelblauen Businesskostüm und der weißen Bluse, die langen blonden Haare hochgesteckt, dazu ein perfektes Make-up, das Natürlichkeit vortäuschte, aber viel Aufwand erforderte. Erfolgreich. Erotisch. Begehrenswert. Sie ging locker für 39 durch. Ein Beleg für ihre Disziplin. Sie war zehn Jahre älter.

In der Hotelbar herrschte Männerüberschuss wie meistens unter der Woche, wenn Geschäftsreisende und mittlere Manager die Klientel bildeten. Bea war gekommen, um einen Mann aufzugabeln, einen einigermaßen charmanten Kerl, der passabel aussah, sie freihielt und nicht allzu schlecht vögelte. Doch alle starrten ausnahmslos auf einen Großbildschirm. Die Champions-League wurde übertragen. Halbfinale. Sie hatte lernen müssen, ihre Ansprüche der Marktrealität anzupassen. Im 21. Jahrhundert trat Bea auf der Spielwiese der Lust gegen Privat-Amateure an, gegen Semi- und Vollprofessionelle, gegen WhatsApp- und Tinder-Dater. Alle Welt war hemmungslos geil und überall und jederzeit bereit. Heute Abend ging’s auch noch gegen Fußball. Schlechtes Timing.

Sie kehrte an ihren Platz zurück und bestellte einen weiteren Rotwein. An der Bar lehnte ein junger Mann, dessen Blicke vorzugsweise ihr und nicht dem Ball galten. Er lächelte schüchtern. Sie erwiderte seinen Annäherungsversuch mit einem einladenden Augenaufschlag.

„Sie interessieren sich also nicht für die Helden der Gegenwart?“, sagte der junge Mann, als er sich neben sie auf die Bank setzte.

„Nicht, wenn die Helden einem Ball hinterherlaufen.“

Er trug Jeans zu weißem Hemd und dunklem Sakko, ein bisschen einfallslos, aber sorgfältig abgestimmt und passgenau geschneidert. Geruch: erdig-herb. Alles in allem akzeptabel, wie Bea befand.

„Ich heiße Wotan, freut mich“, sagte der Mann, den Bea auf Anfang 30 schätzte.

Der Barkeeper brachte ihm auch ein Glas Rotwein.

„Bea, freut mich ebenso“, sagte sie lächelnd, weil er sich Mühe gab und sie Details mochte.

Er lächelte, weil sie lächelte. Die beiden ließen ihre Gläser erklingen.

„Wotan, was für ein eigenwilliger Name.“

„Man vergisst ihn jedenfalls nicht so leicht.“

Er besaß strahlend weiße Zähne, noch ein Plus. „Besitzt der Name in Ihrer Familie Tradition?“

„Das weniger. Meine Eltern hatten vor meiner Geburt Freikarten für den Ring der Nibelungen gewonnen. Ich vermute, die Oper wird den Ausschlag gegeben haben.“ Wotan nahm einen Schluck Rotwein.

Bea sagte: „Aha. Wissen Sie auch, was Ihr Name bedeutet?“

„Auch.“

„Und?“

„Na ja, er steht für, aber jetzt bitte nicht lachen ...“

„Wie könnte ich?“

„Er steht für die Summe der Intelligenz der Gegenwart.“

„Wie heldenhaft.“ Bea verzog keine Miene. Einmal hatte sie einen jungen Hirnakrobaten aufgelesen, der sein Sixpack im Spiegel bewunderte, während er sie von hinten nahm. Sie schloss daraufhin ihre Augen, dachte an ein dunkelgelocktes, jungenhaftes Unterwäsche-Model und ließ Adonis rackern. Kaum hatte er ihr einen Orgasmus verschafft, setzte sie ihn vor die Tür. Sollte er doch im Flur abspritzen.

„Was sind Sie für ein Sternzeichen, Wotan?“

„Oh, sind wir schon so weit?“

„Ist das etwa eine intimere Frage als die nach der Bedeutung Ihres Vornamens?“

„Welche Bedeutung hat denn Ihr Vorname, wenn ich fragen darf?“

Bea sah ihm tief in die Augen. „Die Beglückende.“

„Das passt aber wirklich zu Ihnen … Bea.“ Er betonte jeden Vokal einzeln.

„Ich habe am gleichen Tag wie Beatrix von den Niederlanden Geburtstag“, sagte sie und fügte an, weil er sich offenbar mit Royalitäten nicht auskannte: „Ich bin Wassermann.“

„Ich bin Skorpion“, hörte sie Wotan nach einigen Sekunden Stille sagen.

Ein anderes Mal hatte ein 55-jähriger Skorpion Bea mit auf sein Hotelzimmer genommen. Zuvor spendierte er ihr ein großzügiges Abendessen, Vier-Gänge-Menü mit Champagner. Es dauerte bestimmt 20 Minuten, bis die blaue Pille wirkte. Sein Geschick ließ zu wünschen übrig, dafür bewies er Ausdauer wie ein Triathlet. Bea verlor schließlich die Lust.

Wotan sagte: „Ich mache digitales Marketing und entwickle Online-Strategien für Markenartikler.“

Er gehörte sicher zu denen, die am liebsten über ihren Job redeten, darum sagte sie: „Ich bin in der Kosmetikbranche.“

„Der Kampf um die Endkunden wird heute nur noch im Netz gewonnen.“

„Ich bin im Außendienst bei Beauté de l‘Exquisite.“

„Eine großartige Marke. Eure neue Onlinestrategie ist wegweisend für die gesamte Branche.“

„Finden Sie?“, fragte Bea, die seine Begeisterung nicht nachvollziehen konnte.

„Absolut. Die Zukunft ist mein Geschäft. Ich verstehe was von Siegern und ihr gehört zur Speerspitze der digitalen Revolution in der Kosmetikbranche.“ Mit einem besonders charmanten Lächeln hob Wotan sein Weinglas. „Auf uns Sieger.“

Sie trank gierig. Heute Vormittag hatte Trixi, die junge L‘Exquisite Vertriebschefin, ihr nach über 20 Jahren den siegreichen Weg gewiesen. Aufgrund der neuen Onlinestrategie gäbe es fortan keine Verwendung mehr für sie. Sie wollte daher nicht länger Beas Zukunft im Wege stehen und bot ihr einen Aufhebungsvertrag an: sofortige Freistellung, sechs Monate Gehaltsfortzahlung, einmalige Sonderprämie on top, dazu Nutzung des Firmenwagens bis Jahresende. Anschließend sagte die verlogene Ziege mit aufgesetzt teilnahmsvoller Miene, dass Bea selbstverständlich 48 Stunden Bedenkzeit bekäme, für eine hoffentlich positive Antwort. Bea wünschte Trixi Feigwarzen an die gepiercten Schamlippen.

Auf dem Großbildschirm ging die Champions-League in die Halbzeitpause. Der Barkeeper schaltete um auf eine Talkshow. „Es geht um eine Rückbesinnung auf die wahren, von den Alt-Parteien verratenen deutschen Werte“, hörte Bea einen Politiker mit gespielter Empörung sagen, den sie schon immer zum Kotzen fand. „Besonders in diesen Zeiten. Wir haben viel zu lange, viel zu viel von unserer nationalen Identität für Brüssel aufgegeben. Und warum?“ Der Moderator schaute interessiert über seine Lesebrille hinweg: „Ja, warum, Herr Dr. Flach, kon–“ … „–trollieren sie den Ball nicht …?“ Zwei Fußballexperten laberten bedeutungsschwanger über das Gekicke. Der Barkeeper hatte wieder auf Sport umgeschaltet.

Haken an den Smalltalk, dachte Bea, leerte ihr Glas Rotwein in einem Zug und schob es von sich.

Zur Getränkekarte blickend fragte er: „Was mögen Sie?“

„Grundsätzlich oder in diesem Moment?“ Verführerisch sah sie ihn an.

Der junge Mann wirkte verunsichert.

„Komm, wir gehen aufs Zimmer“, flüsterte sie ihm ins Ohr und rutschte von der Bank.

„Äh, bist du etwa eine Professionelle?“ Wotan war plötzlich misstrauisch.

Sie zog einen Schmollmund. „Ich stehe auf professionellen Sex, aber ich habe keine finanziellen Interessen.“

Erleichtert hing Wotan sich einen großen Rucksack um und übernahm die Getränkerechnung. Bar, passend abgezählt, ohne Trinkgeld.

Bea ergriff seine Hand. Eilig steuerte sie den Aufzug an.

„Welche Etage?“ Sie drückte den Aufzugknopf.

„Lass uns lieber auf dein Zimmer gehen.“

Seinen Blick haltend sagte sie mit erotischem Timbre in der Stimme: „Ich übernachte nicht in diesem Hotel.“

Ein Klingelton signalisierte das Eintreffen des Aufzugs. Einige Sekunden später öffnete sich rumpelnd die Tür.

„Äh … ich habe auch kein Zimmer hier“, sagte Wotan.

„Hast du wenigstens ein Auto?“

„Also ich … ich leiste einen aktiven Beitrag zur Emissionsverringerung. Genau.“ Wotan versuchte erneut sein besonders charmantes Lächeln. Es missglückte diesmal.

Bea stieß ihn in die Fahrstuhlkabine und drückte auf Tiefgarage. Ihr Firmenwagen bot genügend Platz. Die Frage nach einem Gummi ersparte sie sich. Wollte sie einen zweibeinigen Dildo, dann musste sie sich um jede Kleinigkeit selbst kümmern. Hauptsache, er war schön hart, wollte hinterher nicht kuscheln und stellte vor allem keine Fragen, wie’s für sie war oder ob er’s ihr gut besorgt hätte.

3

Dejan hetzte zum Toyota Avensis und sprang hinters Lenkrad. Beim Zurücksetzen musste er mitansehen, wie der Bodyguard Jojo mit einem Kopfschuss tötete und dann die Pistole beidhändig haltend auf ihn zu marschierte und dabei ständig abdrückte. Er hätte den Aufpasser wie geplant abknallen sollen. Tief hinter dem Lenkrad liegend, riss Dejan das Steuer herum und zog die Handbremse an. Der Wagen wirbelte 180° um die Längsachse. Projektile durchschlugen die dünne Blechhülle. Er rammte den Vorwärtsgang rein. Der Toyota bockte nach vorn, fuhr schlingernd davon. Die Heckscheibe platzte mit einem lauten Knall, kleine Glassplitter stoben durch den Innenraum. Endlich die Kurve. Im Rückspiegel sah Dejan noch, wie der Bodyguard breitbeinig stehen blieb. Intuitiv schlug er das Lenkrad ein. Der Avensis schleuderte hin und her, beinahe hätte es ihn aus der Kurve getragen. Das Magazin seiner Pistole wechselnd, verschwand der Aufpasser aus dem Rückspiegel.

„Um neun Uhr fahren sie nach Zürich und nehmen das Geld in Empfang“, hatte Dejan auf Jojos Frage geantwortet. „Danach kommen sie direkt zurück. Sechs Stunden hin, vierzig Minuten Aufenthalt, sechs Stunden zurück.“

„Und woher weißt du das?“

„Ich habe es überprüft.“

„Quack, nur weil es letzte Woche so gelaufen ist, heißt das längst nicht –“

„Mensch Jojo, halt die Fresse und hör zu: Genau das heißt es. Morgen ist die zweite Fahrt. Die letzte.“

Verärgert schaute Jojo zur Theke.

Immer das gleiche mit ihm, dachte Dejan. „Jetzt spiel nicht wieder das Sensibelchen.“

„Mann, wenn ich nur daran denke, wie viele Scheine uns durch die Lappen gegangen sind.“

„Erst biste skeptisch und dann kriegste den Hals nicht voll.“

„Ich meine ja nur.“

„Was?“

„Was machen die mit der ganzen Kohle?“

„Waschen.“

„Im Waschsalon?“ Jojo lachte albern.

„Laberkopp. Das ist Kohle, die er beiseite geschafft hat. Schwarzgeld. Und jetzt hat er Muffe, dass sie ihm auf die Schliche kommen. Steuer-CD und so. Jedenfalls muss er’s rausholen und woanders bunkern.“

„Woher weißte das eigentlich alles?“

„Weil ich’s weiß. Reicht das?“

Jojo atmete laut aus.

Dejan machte eine beschwichtigende Geste mit den Händen. „Mir wurde gesteckt, der kauft damit Immobilien. Die kannste bar bezahlen und es interessiert keine Sau. Und wenn’s doch einer meldet, dann ziehen sich die Ermittlungen über Monate, bis dahin ist die Kohle längst weg.“

„Ist der etwa bei der Mafia …? Sag mal, spinnst du? Ich beklaue doch nicht die Mafia!“

„Quatsch. Wer redet denn von Mafia? Nee, der Typ ist einfach nur krumm und muss Spuren verwischen. Keiner darf von dem Schwarzgeld Wind kriegen. Ist schlecht fürs Image. Jetzt hör zu. Die sind nur zu zweit, ein Fahrer und ein Aufpasser. Der ist zwar bewaffnet, aber er rechnet nicht mit uns. Wir greifen wie gesagt die Kohle auf der Waldstraße ab, legen ihre Karre lahm und nehmen ihnen die Handys weg. Bis zum nächsten Ort sind es fünf Kilometer. Perfekt.“

Jojo schaukelte unruhig hin und her. „Aber irgendwann kommen die an ein Telefon und dann haben wir sie an den Hacken. So einer hat nicht nur einen Kerl mit ‘ner Knarre.“

„Und wenn schon. Niemand kennt uns. Es gibt keine Verbindung zwischen dem reichen Sack und uns. Was soll er denn machen? Den Bullen erklären, dass man ihm Schwarzgeld geklaut hat? Kann er nicht. Außerdem habe ich unseren Abgang in die Sonne arrangiert. Wir werden spurlos verschwinden.“

„Wir sollten trotzdem beide kaltmachen. Sicher ist sicher.“

„Meinetwegen, wenn du dich dann besser fühlst.“

„Sag du mir, wie man sich dann fühlt?“

„Zu Anfang kickt’s mächtig, später weniger.“

„Was interessiert mich später?“

„Dann mach sie kalt, wenn wir die Kohle haben.“

„Nicht ich. Du und ich“, sagte Jojo, „jeder einen.“

„In Ordnung, dann legt eben jeder einen um.“

„Abgemacht?“

Sie schlugen ein.

Jojo grinste wieder. „Haste schon überlegt, was du mit dem ganzen Geld anstellen willst?“

Im Fahren stellte Dejan die Zahlenkombination der beiden Schlösser ein. Es war das Geburtsdatum des Besitzers, wie sie gesagt hatte. Was für’n Billigheimer. Er öffnete den Koffer und fingerte durch den Inhalt: 200er, 100er und 50er. So fühlten sich also rund zehn Millionen Euro in Cash an. Mehr Geld, als er jemals in seinem Leben gesehen hatte. Geschafft. Die schlechten Zeiten waren endgültig vorbei. Nie wieder Scheiße fressen.

Immer schneller raste der Toyota durch die Nacht. Dejan schaltete das Fernlicht ein. Langen Leuchtlanzen gleich ragten die Scheinwerfer hinaus in die Dunkelheit. Er begann zu schwitzen, fühlte sich auf einmal matt, spürte, dass seine linke Bauchseite klebrig-nass war. Blut. „Sveto sranje!“ Der Aufpasser hatte ihn erwischt. Ihm wurde schwindelig, seine Sicht verschwamm. Der Toyota geriet ins Schlingern. Den Fuß vom Gas nehmend stabilisierte Dejan mühsam das Fahrzeug. Seine rechte Hand tastete nach dem Handy. Der Monitor war ein grelles, unscharfes Rechteck. Er blinzelte, versuchte die Namen im Register zu erkennen, fand endlich die gesuchte Person und drückte auf das Anrufsymbol.

4

Hinterher fragte Wotan nicht nach seiner Performance, er verlieh sich selbst eine 2+, sondern ob Bea ihn mitnehmen könnte, er hätte den letzten Bus verpasst.

Sie hatte ihn in den Beifahrersitz ihres Passat geschubst, ihm ein pinkes Kondom übergestreift und sich dann rittlings daraufgesetzt. Beide Hände in die Kopfstütze gekrallt, bewegte sie sich auf und nieder. Wehrlos ließ Wotan ihre Attacke über sich ergehen. Ab und zu stöhnte er laut. Es war heiß und beengt in ihrem Firmenwagen. Sie rieb sich an ihm, dachte wieder an dunkelgelockte, jungenhafte Unterwäsche-Models und begann zu hecheln. Dazu bewegte sie sich immer schneller. Nach einigen Minuten durchfuhren kleine Schauer ihren Körper. Bea wimmerte, verharrte regungslos, die Hände erhoben, die Finger ausgestreckt. Grunzend umklammerte Wotan ihre Hüften und stieß nun seinerseits heftig in sie hinein.

„Hör auf, hör auf …“, brachte sie hervor.

Sein eiliger Orgasmus glich einem unterdrückten Protestruf. Er presste die Lippen zusammen und sank zurück in den Sitz. Nur sein keuchender Atem war zu vernehmen.

Sie kippte vornüber. Mit geschlossenen Augen, ihre Stirn gegen die Kopfstütze gelehnt, gab sie sich dem ersehnten Moment befreiender Leere hin. Flüchtiger Lohn für einen hastigen Fick. Wotan küsste ihr Dekolleté, dann ihren Mund. Die Unterwäsche-Models verschwanden augenblicklich. Bea drückte sich von ihm ab und rutschte auf den Fahrersitz. Wenigstens roch sein Atem nicht säuerlich.

In der Tiefgarage ging das Licht an. Stimmen waren zu vernehmen, vereinzeltes Gelächter, Geschäftsleute, die lautstark über das Fußballspiel diskutierten, liefen zu ihren Autos. Sie konnten Bea und Wotan nicht sehen. Der Firmenwagen stand in der hintersten Ecke, halb von einem Stützpfeiler verborgen. Die beiden verhielten sich dennoch absolut still. Die Stimmen wurden leiser. Sie hörten Türen schlagen und Motoren starten.

Bea zog ihren Slip wieder an und richtete ihren Rock.

Nacheinander fuhren drei, vier Fahrzeuge davon. Als sie die Kurve zur Ausfahrt nahmen, quietschten ihre Reifen auf dem glatten Boden der Tiefgarage.

Wotan streifte sich vorsichtig das Kondom ab und begann seine Hose hochzuziehen.

Bea knöpfte ihre Bluse zu, prüfte Haare und Make-up in dem kleinen Spiegel in der Sonnenblende. Sie steckte ihren Lippenstift weg. „Es war schön mit dir.“

„Ja, es war echt schön.“ Erneut versuchte er sie zu küssen.

Sie blockte ihn ab. „Mein Make-up.“

„Wohin fährst du jetzt?“

„Pass auf und nimm’s nicht persönlich. Ich habe kein Interesse daran, dich wiederzusehen. Okay?“

Er nickte verständnisvoll und fragte, ob sie ihn trotzdem mitnehmen könnte.

„Ich soll dich nach Hause bringen?“ Ein ungläubiger Ton lag in ihrer Stimme.

„Nein, das nicht. Aber wir haben den gleichen Weg. Ich habe in Frankfurt einen Termin.“

„Heute Nacht?“

„Morgen früh um zehn.“

„Dann nimm den Zug.“

„Ich muss mit meinem Geld haushalten.“ Wotan deutete auf seinen Rucksack. „Ich hab das Nötigste für eine Übernachtung dabei. Eigentlich wollte ich in der Jugendherberge pennen, aber dafür ist es jetzt zu spät. Bitte, Bea.“

5

Dejan hatte zu Uhl gesagt: „Ich brauche einen Fahrer.”

„Für wann?“

„Für heute Nacht.“

„Fällt dir ja reichlich früh ein.“

„Ich würde dich nicht fragen, wenn ich eine Alternative hätte. Du bist der Einzige, auf den ich jetzt noch zählen kann.“

Was er genau vorhatte, sagte er nicht.

Sie saßen im Komasaufen, einer ehemaligen Eckkneipe, in der aggressiver Rock dröhnte. Es war elf Uhr vormittags. Uhl trank seinen zweiten Kaffee, Dejan nuckelte an einer Cola Zero. Außer ihnen verloren sich hier ein paar Alkoholiker, um ihren Tatterigen zu besänftigten. Der neue Pächter bezeichnete seinen Laden als Eiterbeule gegen die Gentrifizierung im Viertel. Igor hatte das schäbige Mobiliar behalten, die Wände rot übergeschmiert und blaue Lampen angeschraubt. Das Loch hätte eine komplette Renovierung bitter nötig gehabt, noch besser einen Abriss. Die Szene schiss drauf. Hier war der Sprit billig, dazu gab’s die Bundesliga live auf Teletext und an den Wochenenden lärmten Underground-Bands. Heute war Dienstag, von der Playlist brüllte Lemmy gerade: „Stay out of jail.“

Uhl sagte: „Hör auf Lemmy.“

„Ist nicht so leicht. Digger –“

„Digger mich nicht.“

„Is’ ja gut“, sagte Dejan.

Er stammte ursprünglich aus Bosnien. Seit Uhl ihm einmal den Hals gerettet hatte, hielt Dejan ihn für einen Freund. Uhl hielt ihn für reichlich gestört.

Dejan lehnte sich über den Tisch. „Du übernimmst doch solche Jobs, wo also ist das Problem?”

„Wenn du mir sagst, worum es geht, vielleicht.“

„Warum willst du dich damit belasten?“

„Warum wohl?“ Uhl lehnte sich zurück und wartete.

Dejan war elf, als die Familie vom Bürgerkrieg überrascht wurde. Seine Großmutter väterlicherseits stammte aus Sarajewo. Die alte Dame wurde 70 und weigerte sich trotz der wachsenden Spannungen, ihre Heimatstadt zu verlassen. Also ließen seine Eltern in dem kleinen Dorf in Westfalen die Jalousien runter, stellten Wasser und Strom ab und fuhren mit ihren zwei Söhnen in einem alten Mercedes 200 D die 1300 Kilometer lange Strecke in die bosnische Heimat. Sie wollten nur sieben Tage bleiben. Dann kesselten serbische Milizen die Stadt ein. Der Belagerungszustand währte drei Jahre. Tagtäglicher Granatenbeschuss, wahllos tötende Scharfschützen, Plünderungen und ethnische Säuberungen traumatisierten den Jungen. Er neigte zur Gewalttätigkeit, wurde kriminell und pendelte zwischen Knastaufenthalten und erfolglosen Besserungsversuchen hin und her.

„Mensch, Uhl, ich will meine soziale Stellung verbessern. Genau wie du. Was denn sonst?“

Dejan trug einen eleganten, engen Anzug mit Krawatte und glänzenden Schuhen. Er machte einen optimistischen, beinahe euphorischen Eindruck und wog locker zehn Kilo weniger.

„Mit der Verkleidung haste’s schon geschafft.“ Das Posen ging Uhl mächtig auf den Geist.

„Ein anständiger Anzug macht selbst aus ‘nem unverbesserlichen Krawallo wie dir einen neuen Menschen. Ist nicht mal teuer. Kauf was einigermaßen Passendes von der Stange und ich connecte dich mit meiner Änderungsschneiderin. Sag ja, mein Freund, und du kannst dir sogar einen S 100 Maßanzug leisten.“

„Nachher darf ich wieder deinen Arsch retten.“

„Darin hast du ja Übung. Im Ernst, du kennst die Regeln, wenn ich konkret werde, hängst du mit drin.“

Uhl war doppelt so breit wie Dejan. Früher war er die Macht der Straße, hatte den Ruf eines kompromisslosen Vollstreckers. Dann kriegten sie ihn für sieben Jahre wegen Raubes dran. Fünf davon verbrachte er bis zum 25. Januar Eisen stemmend und philosophische Schriften studierend in Osterfelde. Die restlichen zwei Jahre wurden überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Gerüchteweise benötigte man seinen Schlafplatz. 45 Monate noch durfte er sich keinen Fehltritt erlauben.

„Dann viel Erfolg.” Uhl rutschte mit seinem Stuhl zurück.

„Mein Fahrer fällt aus. Ein unglücklicher Autounfall.“

„Wie unglücklich genau?“

„Er ist bei ‘ner Verkehrskontrolle vor den Bullen abgehauen. Nach 400 Metern stoppte ihn frontal ein Bierwagen. Jetzt liegt er auf Intensiv.“

„Die Kiste war geklaut.“

Dejan machte eine vage Handbewegung.

Richtig vermutet. „Und er hatte keinen Führerschein.“

„Zweimal Treffer. Warum frage ich dich wohl?“

„Fahr mit dem Bus.“

Dejan stand auf und schaute sich suchend um.

„Hinten rechts. Ich würde mich nicht draufsetzen.“

„100.000 auf die Hand, Uhl, und keine Fragen. Denk drüber nach, solange ich meine Cola wegbringe.“ Damit verschwand er in die gewiesene Richtung.

Natürlich kannte Dejan seine Lage genau. Uhl war völlig abgebrannt und brauchte dringend eine ordentliche Arbeit, wie ihm sein Bewährungshelfer unmissverständlich klar gemacht hatte. Er hauste in Kallis altem Wohnwagen mit ausrangiertem chemischen Klo und einer Art winterfestem Vorzelt, der ganzjährig auf einem Campingplatz stand. Der Stellplatz kostete 100 Euro im Monat, Kanalanschluss, Gemeinschaftswaschräume und -toiletten inklusive. Strom kostete extra, WiFi-Zugang auch. Der Platzwart betrieb nebenbei einen Kiosk, wo er seinen Campern die nötigsten Waren anbot, sogar weniger überteuert als in einem dieser Tankstellenshops.

Uhl war nicht der einzige Dauermieter. Immer mehr Leute verlegten ihren ständigen Wohnsitz an Orte wie diesen. Nebenan lebte eine alleinerziehende Mutter mit einem 450-Euro-Job, gegenüber ein Fliesenleger, der nach Scheidung und Suff sich langsam wieder berappelte, auf dem Eckplatz ein altes Ehepaar, bei dem nach 50 Jahren Arbeit die gemeinsame Rente für mehr nicht reichte. Mit einigen Einschränkungen und regelmäßigen Lebensmittelrationen von „Die Tafel“ kamen sie alle geradeso zurecht. Vor ein paar Wochen tauchten Kanaillen vom Ordnungsamt auf. Das Gerücht von der Räumung machte die Runde. Unmut machte sich breit, Widerstand begann sich zu formieren. Irgendjemand hing Protestbanner an den Zaun. Neuerdings fuhren ständig die Bullen vor. Der Campingplatz wurde allmählich zu brenzlig. Uhl durfte nicht auffallen und brauchte eine andere Bleibe, wofür er locker 1000 Chips benötigte, die er nicht besaß. Dejan bot ihm 100.000.

Uhl stieß die Tür zur Herrentoilette auf. Ein dunkles Loch mit Graffiti an den Wänden. Ein Spiegel fehlte ebenso wie Seife oder Handtücher. Nur eine der Kabinen war besetzt.

„Wie viele Lines willst du dir noch reinziehen?“

Er bekam keine Antwort. Mit einer 20-Centmünze öffnete Uhl den Drehriegel. Dejan hing auf der Klobrille, den Bauch frei, Sakko und Hemd unters Kinn geklemmt, in der Hand eine Einwegspritze mit dünner, kurzer Nadel.

„Scheiße, Uhl, verpiss dich“, sagte er hochschauend.

„Dein Anblick lädt nicht zum Verweilen ein.“

„Das ist Insulin, du Arsch. Darf ich mir dreimal täglich setzen. Zufrieden? Mach die Tür zu, oder willste Krankenschwester spielen?“

Uhl machte die Kabinentür von außen zu.

Nachdem Dejan seine Hände gewaschen hatte, blickte er sich nach Handtüchern um. „Was für’n Loch. An deiner Stelle würde ich mir’n anderen Stammladen suchen.“ Schließlich trocknete er seine Hände mit Klopapier ab. „Seit gestern muss ich das Zeug spritzen. Tabletten helfen nicht mehr. Zum Kotzen, sag ich dir.“

„Willst du Mitleid?“

„Für meinen Diabetes kannst du nichts. Also, biste dabei?“

„Schieß los.“

„Das deute ich als Zustimmung.“

Uhl zuckte mit den Schultern. „Kommt drauf an.“

„Digger, bist du echt anstrengend. Okay, weil du’s bist. Du wartest mit einem Wagen auf einem Parkplatz. Mein Kollege und ich steigen bei dir ein. Du fährst uns beide nach Spanien.“

„Unbeschadet und ohne Polizeikontrollen?“

„100 von 100 möglichen Punkten.“

„Fahrzeug und Route ist meine Sache?“

„Korrekt.“

„Irgendwelche Zwischenstopps, weitere Mitfahrer?“

„Nope.“

Er sollte den Fahrer und Leibwächter nach einer Abzocke oder einem Raubüberfall geben, überlegte Uhl, große Mengen Bargeld befördern, mögliche Verfolger abhängen, Bullen vermeiden und die Päckchen am Leben erhalten. Der Job verstieß gegen sämtliche Bewährungsauflagen und jegliche Vernunft.

„Ich habe nachher’n Termin bei meinem Bewährungshelfer. Soll ich Fritz fragen, ob er das als ordentliche Arbeit durchgehen lässt?”

„Auf dich haben sie im Berufscenter nur gewartet.“

„Okay, Dejan. 50 jetzt. 50 nach Ablieferung in Spanien.“

„Nix jetzt. Weil du’s bist, 120 nach Leistung.“

„Ohne Anzahlung kein Auftrag.“

„Aus Prinzip?“

„Aus Gewohnheit.“

Nach dreißig oder mehr Sekunden holte Dejan einen Geldclip mit gefalteten 50ern und 100ern aus der Hosentasche. Er zählte fünf 100er ab. Weil Uhl das angebotene Geld ignorierte, warf er ihm den kompletten Clip zu.

Uhl steckte alle Scheine ein. Schätzungsweise 1000 Euro. Den Clip reichte er zurück. „Wann soll ich wo sein?“

Dejan umarmte Uhl und ließ ihn nicht los. „Danke, Mann. Ehrlich. Ich sag dir was. Wenn alles klappt, kriegst du mehr als 120, dann kriegste’n fetten Anteil. Versprochen.“

„Dazu muss es erst mal klappen.“

„Wenn nicht, musste mich rächen.“

6

Als der Schlitten zum zweiten Mal arretierte, weil das Magazin wieder leer war, verstummten auch die Schreie des Bodyguards. Er machte kehrt und lief zu dem weiter oben auf der Straße liegenden Chauffeur. Der blutete am Arm, ein lächerlicher Streifschuss.

„Wie schlimm ist es? Sag die Wahrheit, Cordt, muss ich etwa sterben?“

„Hör auf zu wimmern“, herrschte der Bodyguard ihn an und überlegte: Spuren beseitigen, Verfolgung aufnehmen, herausfinden, wer dahinter steckt … Er bestellte über sein Smartphone Geron und Ali her. Dann hakte er die Leiche des bulligen Räubers unter und zog sie rückwärtsgehend in die Büsche. Er half dem Chauffeur auf die Beine, setzte ihn auf die Rückbank der Limousine, sagte, er würde ihn sofort verbinden, und lief zum Renault, der die Fahrbahn blockierte, um ihn an den rechten Straßenrand zu fahren. Für den Mercedes benötigte Cordt den Ersatzschlüssel.

Die beiden Räuber wussten genau, welchen Weg die Limousine fahren würde, dachte er. Sie wählten gezielt die Stelle, wo der Chauffeur immer die Abkürzung durch den Wald nahm. Auf der schmalen Waldstraße war so gut wie nie Verkehr, vor allem nachts um diese Uhrzeit nicht. Sie stellten den Renault mit geöffneter Fahrertür quer zur Straße. Einen Schwerverletzten mimend legte der Bullige sich davor und …