Desperado - Michael Contre - E-Book

Desperado E-Book

Michael Contre

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Beschreibung

Ostkongo: Roland Burget, enttäuschter Revolutionär und abgebrannter Abenteurer, zieht das Pech magisch an, wie Scheiße Schmeißfliegen. Aber diesmal will Burget ans große Geld: Er verdingt sich als Frachtpilot bei War Lord und Kriegsverbrecher Bobo Nokoma, um einen gestohlenen Container voll Waffen und Munition zu verscherbeln. Kriegsgerät ist begehrt. Verfeindete Rebellen streiten um die Macht. Es geht um Coltan. Ein Milliardengeschäft. Wen kümmert da Serienvergewaltigung und Massenmord? Dann verwickelt die NGO-Aktivistin Amelie ihn persönlich in den Konflikt, holt die Vergangenheit ihn ein, will Nokoma seinen Kopf. Wieder steckt Burget in der Scheiße und kämpft ums nackte Überleben...

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Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen, besonders solchen der Zeitgeschichte, sind völlig unbeabsichtigt und rein zufällig. Nichts vom Folgenden ist wahr, alles ist frei erfunden.

Für die fünf Millionen, die niemanden interessieren.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

1

Er träumte von Revolution, Ruhm oder Reichtum. Die Revolution geschah wie immer anderswo und ohne ihn, und die Lage war unrühmlich. Was blieb, war der Reichtum. Und den hielt der Mann, der sich Roland Burget nannte, soeben in seiner Hand: zehn Diamanten um die 1,23 Karat, die meisten in der Farbkategorie G und in den Reinheitsstufen VS1 oder VVS2. Geschätzter Wert, in der Währung des Imperiums, über einhunderttausend Dollar. Erlöst bei einer ganz und gar kriminellen Transaktion, die Burget nach langer Durststrecke wieder auf die Beine bringen sollte. Heute waren sie seine eiserne Reserve, an der er ebenso eisern festhielt.

Genau genommen hielt er nicht die Diamanten in der Hand, sondern einen Stöpsel, ein Röhrchen aus hochverdichtetem Kunststoff, in dem diese sich befanden. Zwei Zentimeter im Durchmesser und sieben Zentimeter lang, wog es nur wenige Gramm. Es war garantiert rostfrei und hatte einen praktischen Schraubverschluss mit Gummidichtung und abgerundete Enden. Letztere erhöhten den Tragekomfort. Denn in diesem Augenblick, nach verrichtetem Geschäft, musste der Stöpsel wieder zurück an seinen angestammten Aufbewahrungsort – in den Enddarm von Burget. Gar nicht so einfach, mitten in der Nacht, im stockfinsteren Dschungel und ohne Lampe.

„Du bist ziemlich am Ende, wenn du in Afrika am Arsch bist“, hatte ihm einst ein versoffener Söldner, der 1999 in Sierra Leone marodierenden Westside-Boys entkam, in einer Absteige im Südsudan mit auf den Weg gegeben und bekräftigend einen Gin Tonic gekippt. Vermutlich zur Keimabtötung.

Weise Worte, wie sich herausstellen sollte.

Der Mann, der sich Roland Burget nannte, war nämlich in Afrika, und er war voll am Arsch. Mit dem Gedanken, ziemlich am Ende zu sein, wollte er sich jedoch nicht abfinden. Darum schoss er dem jungen Schwarzen, der plötzlich unmittelbar vor ihm auftauchte, zwei unterschiedliche Flip-Flops an den nackten Füßen, eine zerrissene gelbe Hose um die mageren Beine und ein viel zu weites Lakers-Shirt am dürren Leib, und der genau in diesem Moment ein PK-Maschinengewehr hochriss, in die Brust. Aus drei Metern Entfernung hatte das 7,62x39-mm-Stahlmantel-Projektil, das mit 731 Metern pro Sekunde und einer kinetischen Wucht von 700 Kilogramm den Lauf von Burgets Sturmgewehr verließ, eine verheerende Wirkung.

Der nachfolgende Lärm des Schusses war nicht minder verheerend. Plötzlich starteten Motoren, tauchten Scheinwerfer das Gelände in gleißendes Licht, schrien bewaffnete Rebellen laut durcheinander, während sie wahllos die Magazine ihrer veralteten AK-47-Nachbauten leerfeuerten, und Burget war ziemlich am Ende. Für ihn sprachen dreißig Schuss Munition, jede Menge verzweifelter Entschlossenheit und dass die Rebellen Kindersoldaten waren. Zu Mord, Vergewaltigung und Kannibalismus gezwungen, vollgepumpt mit Drogen und gefährlich wie eine Horde tollwütiger Hyänen. Trotzdem nur Kinder. Querschläger flogen durch die Gegend, durchschlugen Hütten, Tierleiber und wild hin und her rennende Menschen. Um ihn herum herrschten Gebrüll, Stöhnen, Todeskampf.

Auf der Suche nach Deckung robbte Burget über den Waldboden. Maschinengewehrgarben hämmerten rechts und links neben ihm ins Erdreich. Er wurde am Kopf getroffen. Lehm spritzte hoch, fiel prasselnd nieder und begrub ihn unter sich.

2

Der Mann, der sich Roland Burget nannte, hatte sein Leben lang ein besonderes Talent für ausweglose Situationen bewiesen, die er offenbar ebenso magisch anzog wie Scheiße Schmeißfliegen.

Wenige Wochen zuvor, es musste an einem Montag oder Mittwoch um die Mittagszeit gewesen sein, überquerte er vom ruandischen Gyseni aus zu Fuß die Grenze ins benachbarte Goma, die auf fünfzehnhundert Metern Höhe direkt am Kivusee gelegene Hauptstadt der Provinz Nord-Kivu. Kostbare Rohstoffe warteten hier im vulkanischen Boden auf ihre Ausbeutung: Gold, Diamanten, Uran, Kupfer, Kassiterit und natürlich Columbit-Tantalit, afrikanisch verkürzt zu Coltan, das Erz, aus dem Tantal gewonnen wird. Doppelt so dicht wie Stahl, extrem hitze- und korrosionsbeständig, unentbehrlich in der Mikroelektronik. Der Rohstoff des digitalen Zeitalters. Die weltweite Nachfrage war enorm, Coltan selten und darum wertvoll. In der östlichen Provinz der Demokratischen Republik Kongo wurden optimistisch geschätzt zwei Drittel der weltweiten Ressourcen vermutet. Ein riesiges Vermögen.

Auch Burget war gekommen, um sich die Taschen zu füllen. Und er schien es nötig zu haben. Er war ein abgemagerter Weißer, entweder Ende dreißig oder Mitte fünfzig, schwer zu sagen, mit hohlwangigem Gesicht und löcherigem Bart. Die Hose fadenscheinig, das Hemd fleckig und von undefinierbarer Farbe, die Armeejacke verblichen und geflickt. Aber er trug passable Springerstiefel und besaß noch die meisten seiner Zähne. In der Vergangenheit hatte er immer mal wieder Pech gehabt. Doch das würde sich jetzt ändern. Denn hier, in der von Gefechten und Vulkanausbrüchen heimgesuchten, heruntergekommenen Metropole, wimmelte es nur so vor potentiellen Kunden.

Das Visum in seinem Pass stammte offiziell von der kongolesischen Botschaft in London, es galt für einen Monat und erlaubte wiederholtes Einreisen. In London kostete es sechzig US-Dollar, in Nairobi zweihundert. Burget hatte sein Visum in Nairobi erworben, in Europa konnte er sich nicht blicken lassen. Es war ebenso gefälscht wie sein Pass, für den er weitere zweihundert US-Dollar bezahlt hatte.

Die missmutigen Mienen der Grenzposten auf kongolesischer Seite erhellten sich, als er seinem Einreisewunsch mit drei Zehndollarnoten Nachdruck verlieh. Prompt bekam er den nötigen Stempel in seinen falschen Pass und konnte ungehindert passieren. Unmittelbar hinter dem Grenzübergang verdingte sich ein Bootsy-Collins-Imitator als Geldwechsler. Stilsicher, mit Schlapphut, daran angenähten Rastalocken, strassbesetzter Sonnenbrille und Schlaghosen samt Plateauschuhen, lehnte er an einem klapprigen Holztisch und deutete einladend auf drei regelrechte Geldziegel – zu der Größe eines Schuhkartons zusammengebundene kongolesische Fünfhundertfrancscheine.

„Cash, mon frère?“, sagte der Geldwechsler mit heiserer Stimme. Ein Goldzahn glitzerte.

„Nachher drehst du mir gewöhnliches Papier an“, sagte Burget mit einem Grinsen.

„Papier ordinaire ist viel zu teuer, Mann. Außerdem kennt mich hier jeder. Schau mich an, kann ich‘s mir vielleicht leisten zu betrügen? Du bist bestimmt so ein wichtiger weißer Arsch, Mann. Aber ich, ich bin hier ein Star.“ Wie zur Bekräftigung wippte sein Oberkörper im Rhythmus eines nur für ihn hörbaren Hey-ho.

„Yo, mon frère.“ Burget kratzte seinen wichtigen weißen Arsch und tauschte ein paar seiner letzten US-Dollar gegen einen halben Ziegel ein. Fünfhundert kongolesische Franc entsprachen vielleicht fünfzig Cent. Mit professioneller Geschwindigkeit band der Star-Geldwechsler aus einem großen Ziegel zwei halbe und empfahl seinem Kunden zusätzlich ein paar SIM-Karten fürs Handy.

„Fünftausend pro Karte, Einheiten in Höhe des Kaufpreises inklusive, mon frère“, sagte er und löste die entsprechende Anzahl Scheine gleich aus der Ziegelhälfte seines Kunden.

Burget nahm seinen halben Ziegel, seine SIM-Karten und ein Taxi zum Stadtzentrum.

Dunkelgrau und schwer hing der Himmel über der Stadt. Die unbefestigten, von hölzernen Strommasten mit dicken, schwarzen Kabeln gesäumten Straßen bestanden aus umbrabraunem Lehm und waren voller Schlaglöcher und Steine. Auf ihnen drängten sich verbeulte Pick-ups, Minibusse und Mopeds, dazu zahllose weiße UN-Fahrzeuge, offen oder geschlossen, mit oder ohne bewaffnete Blauhelm-Soldaten. Rechts und links dieser Lehmadern reihten sich niedrige Gebäude und Baracken aneinander. An einigen prangten in fetten Lettern die Markennamen westlicher Unternehmen. Überall waren Menschen. Junge und alte. Männer und Kinder in kurzärmligen Hemden oder grellfarbigen T-Shirts, langen oder kurzen Hosen, Frauen in traditionellen, bunten Kleidern mit ebenso bunten Kopftüchern. Vereinzelte Stände boten Haushaltswaren an, Elektrogeräte, verschiedenste Ersatzteile, Kleidung oder Essbares. Hier und da lagen große, erstarrte Lavabrocken umher, Spuren vom letzten Ausbruch des Nyiragongo-Vulkans vor beinahe zehn Jahren. Kinder hockten in Schrott- und Müllflächen am Straßenrand, auf der Suche nach verwertbarem Metall. Immer wieder warben bunte großformatige Plakatwände für unentbehrliche Produkte aus westlicher Überflussproduktion und versprachen den zahllosen Konsumenten strahlende Haut, schönes, glänzendes Haar oder reine Wäsche. Kleine Feuer, genährt von Müll und dürrem Brennholz, brannten entlang der Route ins Stadtzentrum. Überall stieg Rauch auf. Ein seltsam apokalyptisches Gefühl überkam Burget.

Der Taxifahrer hielt bei einem uniformierten Polizisten und entrichtete unaufgefordert ein Bußgeld für seinen angeblich vergessenen Führerschein. Beim ersten Polizisten beobachtete Burget die Transaktion mit einer gewissen Vorahnung, beim zweiten Polizisten wusste er Bescheid. Bevor der Taxifahrer bei einem dritten Polizisten anhielt, stieg Burget aus. Er zahlte mit einer Handvoll Scheine und setzte sich mit seiner Tasche zu Fuß Richtung Hôtel de Ville in Bewegung.

Vor ihm am Straßenrand ragte eine überdimensionale Werbetafel mehrere Meter in die Höhe. Das Bild war verblasst, an einigen Stellen fehlten ganze Stücke, dennoch konnte man darauf gut gekleidete, volljährige Minenarbeiter erkennen, die fröhlich mit Hämmern und Meißeln Coltanerz aus dem Gestein schlugen. Burget entzifferte den Slogan: „Eine Nation, ein Netzwerk.“ Vom Rohstoff zum Smartphone, gemeinsam für die Wertschöpfung. Und das, wie die lachenden Gesichter auf dem Plakat dem Betrachter zu versichern schienen, mit großer Leidenschaft.

Unvermittelt blieb Burget stehen. Wenige Meter entfernt, auf dem Platz vor dem Hôtel de Ville, drängten sich hunderte hagerer Männer in bunt zusammengewürfelten, zerschlissenen Klamotten. Die Haut dieser Männer schimmerte grau, als ließen sich Staub und Dreck nie ganz abwaschen, ihre Hände waren hornschwielig und rissig. Offensichtlich echte Minenarbeiter und keine grinsenden Art-Director-Phantasien wie auf der überdimensionalen Werbetafel. Sie hielten die Fäuste geballt und die Köpfe gesenkt. Eine beängstigende Stille hing über dem Platz. Die Minenarbeiter hatten seit Tagen nichts gegessen, ihre Familien hungerten, ihre Kinder weinten sich in den Schlaf. Die Minenarbeiter hofften auf die Hilfsorganisationen, auf Maismehl und Erbsen, auf Salz und Öl zum Kochen. Sie forderten ihre Arbeit zurück, die der Staatspräsident im fernen Kinshasa verboten hatte, als er den illegalen Coltanabbau auf Druck der USA mit einem Bann belegte. Augenblicklich jedoch schluckten die Minenarbeiter ihre Wut hinunter. Der Grund waren die zahllosen Soldaten der kongolesischen Armee in grünen Buschuniformen auf der anderen Seite des Platzes. Diese waren schwerbewaffnet, mit Sturmgewehren und RPGs, behängt mit Handgranaten und vollen Patronengurten. Einige posierten cool mit Spiegelglassonnenbrillen, andere starrten bösartig, wieder andere kifften oder inspizierten gelangweilt ihre Gewehre. Die Soldaten warteten ab. Burget lieber nicht. Er war der einzige Weiße auf dem Platz. Als er kehrtmachte, fuhr sein Taxi gerade wieder los. Rufend und winkend rannte er dem Wagen hinterher. Der Fahrer sah in den Rückspiegel. Nach weiteren zwanzig oder dreißig Metern flackerte eines der roten Bremslichter auf. Das Taxi hielt. Die Tasche voraus hechtete Burget auf die Rückbank.

Hinter ihnen, auf dem Platz vor dem Hôtel de Ville, verlangte unterdessen ein erster Minenarbeiter lautstark, zurück in den Stollen zu dürfen. Wie sollte er sonst Geld verdienen? Er brauchte das Geld. Vereinzelt hoben sich Köpfe, wanderten Blicke hin und her. Weitere Minenarbeiter fielen mit ein, riefen, man sollte sie doch gleich abknallen. Fäuste reckten sich in die Luft. Harte Fäuste. Dann schrien immer mehr Minenarbeiter aus tiefen Kehlen ihre Wut hinaus.

Zu diesem Zeitpunkt war das Taxi längst in die Avenue de la Paix abgebogen. Drei Lastwagen der Armee kamen ihm entgegen, sie fuhren Richtung Hôtel de Ville. Die beiden Insassen des Taxis schauten lieber nicht zurück. Einige Minuten darauf fielen auf dem Platz die ersten Schüsse. Diesmal ging der obligatorische Bußgeldstopp bei einem uniformierten Polizisten auf Burget. Der Taxifahrer revanchierte sich mit einem Schluck kongolesischen Maiswhiskey. Sein Fahrgast trank, ohne die Flaschenöffnung abzuwischen. So gewann man Freunde.

„Karibu katika Goma.“ Der Taxifahrer strahlte.

Willkommen in Goma, das stand auch auf der Bretterwand des Boardinghauses, wo Burget ein Zimmer mietete. Neben dem Eingang saßen zwei kleine Jungs auf Stühlen aus weißem Plastik. Sie starrten konzentriert in einen Röhrenfernseher, der auf einer zusammengenagelten Holzkiste stand, und hämmerten unablässig auf ihre Spielkonsolen ein. „Stop Playstation“ hatte jemand in weißen Blockbuchstaben auf die Holzkiste geschrieben. Ob es als Protest oder als Einladung zu verstehen war, blieb unklar.

3

Die nächsten paar Tage verbrachte Burget damit, die komplizierte Lage in Goma zu sondieren und möglichst unauffällig Kontakte zu knüpfen. Am Abend des vierten Tages lernte er in der Kivu-Bar einen gewissen Mike kennen. Groß, blond, Schwede vielleicht oder Norweger, seinem Akzent und jovialen Optimismus nach eher ein US-Amerikaner. Der Typ war in den Vierzigern, sah aber älter aus. Konnte am Klima liegen, ebenso gut am Alkohol.

Er deutete durch die offene Tür nach draußen und sagte: „Mein Fahrer und Bodyguard.“

Burgets Blick folgte der Geste. Vor dem Eingang parkte ein weißer Land Cruiser mit schwarzen UN-Insignien an den Seiten. Hinter dem Steuer hockte regungslos ein Schwarzer, der seine Augen hinter einer Spiegelglassonnenbrille verbarg.

„Passt er auf, oder pennt er?“ Mike schien unsicher zu sein, er kniff die Augen zusammen.

„Von hier aus schwer zu sagen.“ Burget klebte die Zunge am Gaumen. Er hatte Durst. Wäre er kein Weißer, hätte er die Bar in seinen abgerissenen Klamotten nicht betreten dürfen. Sein Gegenüber jedoch schien Äußerlichkeiten zu ignorieren.

„Ich hatte in letzter Zeit ein bisschen Pech“, sagte Burget und zuckte mit den Achseln, „Schicksal.“

„Jetzt willst du dein Schicksal ändern, was?“ Mikes Augen funkelten spöttisch. „Ausgerechnet in Goma?“

„Du musst nehmen, was zu dir kommt, sagt man das hier nicht?“ Burget verbreitete die Zuversicht eines Desperados.

Sie tranken, und Mike fing an vom Krieg zu erzählen. Manche Männer erzählten andauernd vom Krieg.

„Die Scheiße begann vor achtzehn Jahren in Ruanda. Die Hutus wollten die Tutsis ausrotten. Angeblich hatten sie die Sache von langer Hand geplant, die Bevölkerung mit Hetzreden aufgewiegelt, Macheten, Knüppel und was weiß ich noch ins Land geschafft. Aber es klappte nicht, also flohen viele der Hutu-Schlächter über die Grenze.“

„Und versteckten sich hier in den Kivus?“ Burget hörte aufmerksam zu.

„Mehr noch, um zurückzuschlagen gründeten sie eine Miliz, die sie FDLR, Demokratische Kräfte für die Befreiung Ruandas, tauften. Klingt gut, was? Aber anstatt die Tutsis abzuschlachten, gewannen diese nun endgültig den Bürgerkrieg und übernahmen in Ruanda das Ruder, und sie wollten Rache. Nur fisten ist schöner, kannste dir vorstellen. Jedenfalls schickten sie ihre Kämpfer über die Grenze, Hutus jagen. Die Tutsi-Miliz nannte sich CDNP, Nationaler Kongress für die Verteidigung des Volkes. Inzwischen wankte im fernen Kinshasa Mobutu, und Laurent Kabila, der sich seit den Sechzigern mit seiner Rebellenbande hier im Osten herumtrieb und vom Viehdiebstahl lebte, sah endlich seine Chance gekommen, den kranken Diktator zu stürzen.“

Mike schwieg. Burget sah ihn erwartungsvoll an.

„Im ersten Kongokrieg, von '96 bis '97, unterlagen Mobutus Soldaten“, sagte Mike, „der geschasste Machthaber verpisste sich ins Exil und Kabila übernahm. Leider glich sein Regime verdächtig dem seines Vorgängers. Keine zwölf Monate später brach der zweite Kongokrieg aus.“

„Der Große Afrikanische Krieg?“, fragte Burget.

Mike nickte, nahm einen Schluck und spann seinen Faden weiter: „Kabila rief die Nachbarstaaten um Hilfe an. Bereitwillig folgten alle dem Ruf und schickten Truppen. Neun Armeen und zwanzig Rebellenmilizen kämpften auf kongolesischem Boden um die Macht. Laurent Kabila wurde 2001 von einem Bodyguard ermordet, sein Ziehsohn Joseph beerbte ihn. Zwei Jahre später war dann offiziell Kriegsende.“

„Aber kein Frieden“, sagte Burget, „und seitdem ist die MONUC hier?“

„Wir heißen jetzt MONUSCO, Mission de l'Organisation des Nations Unies en République démocratique du Congo“, sagte Mike, er mochte offensichtlich Details, „zwanzigtausend Mann. Soldaten, Polizisten, Administratoren und Helfer. Bunt zusammengewürfelt, aus afrikanischen, südamerikanischen und asiatischen Staaten. Schon wegen des Klimas. Wir sorgen für Ruhe und Ordnung.“

„Ich habe gehört, deine Blauhelme kontrollieren im Wesentlichen die eigenen Quartiere und dazu ein paar Hauptstraßen und Kreuzungen, die zu euren Quartieren führen“, sagte Burget.

„Gerüchte, musst nicht alles glauben, was so erzählt wird.“

„Und was machen die Rebellenmilizen?“

Mike verzog spöttisch das Gesicht.

„Ich meine, Kinshasas ist weit“, sagte Burget.

„Genau das dachte sich auch CDNP-General Makellos“, sagte Mike nach einem Moment, „der Typ trat immer in perfekt gebügeltem Grünzeug, grünen Kampfstiefeln mit polierten Kappen auf, musst du wissen, und, und das ist das Beste, immer mit einer weißen Ziege. Die war nämlich sein Glücksbringer. General Makellos ließ sich gern fotografieren, tätschelte zärtlich sein meckerndes Maskottchen und versprach großzügig, die Menschen im Kongo zu befreien.“

„Hat er auch gesagt, von was?“

„Na wovon schon? Not, Elend, Ausbeutung, Fremdherrschaft. Such dir was aus“, sagte Mike, „das geleckte Arschloch setzte seine sogenannte Befreiungstruppe in Marsch. Woraufhin meine Combo, also die Blauhelme, sich zunächst einmal taktisch weit zurückzog. Ich schäme mich nicht, das offen zu sagen.“

„Um die Lage zu sondieren?“

Sein Gegenüber machte eine abfällige Geste. „Eine Viertelmillion Menschen verließen ihre Dörfer und folgte unseren Soldaten Richtung Süden. Bis hier nach Goma. Die Kämpfe hatten zivile Unruhen und eine massive Lebensmittelknappheit zur Folge. Wie sagte mein Freund Pascal so schön, der ist Sprecher von unserem UN-Haufen, eine humanitäre Krise katastrophalen Ausmaßes. Schließlich schossen meine Blauhelme zurück und die Armee der Demokratischen Republik Kongo schoss endlich mit. Alle gemeinsam gegen General Makellos. Sogar Mai-Mai-Milizen hielten ordentlich drauf.“

„Der Feind ihres Feindes ist auch ihr Feind?“ Burget nahm einen Schluck Gin Tonic.

Mike atmete schwer. Er dachte wohl einen Moment über vertrackte Zweckbündnisse und sich ständig verschiebende Loyalitäten nach.

„Diese Mai-Mai sind echte Menschenfresser“, sagte er im vertraulichen Ton, „die nahmen ihre Waffenbrüder in der kongolesischen Armee gerne mit Maschinengewehren, wahlweise auch RPGs unter Feuer. Besonders bei übereiltem Rückzug. Das kann die kongolesische Armee nämlich richtig gut, rennen wie die Hasen, meine ich.“

Er schien plötzlich amüsiert.

Burget fragte nicht, warum.

„Geschätzte dreitausend Kinder, vielleicht auch vier- oder fünftausend, wurden sofort als Soldaten rekrutiert oder re-rekrutiert“, fuhr Mike fort, „dazu tägliche Scharmützel, Beschuss aus dem Hinterhalt. Meistens waren die Schwarzen mit Vergewaltigen und Plündern beschäftigt. Auf allen Seiten. Ausnahmslos. Und wir Vereinte Nationen mittendrin. Impartiality. Keine Seite bevorzugen, dazwischengehen, befrieden, Not lindern. Die volle Nummer.“

Er redete sich in Rage: „Für die Versorgung der Bevölkerung wurde ein humanitärer Korridor gebildet. Und den haben die Rebellen dann eifrig unter Feuer genommen. Die Lager quollen über. Allein in den Kibati-Camps, unmittelbar an der Frontlinie, drängten sich sechzigtausend Menschen. Die hockten alle mit dem Arsch im Dreck, wenn ihnen die Kugeln über die Köpfe pfiffen. Manchmal pfiffen auch Granaten. Stundenlang. Besonders an den Festtagen. Schöne Weihnachten, kannst du dir vorstellen. In nur einem Monat krepierten fünfundvierzigtausend Menschen. Die meisten aber nicht an den Kugeln oder Granaten, sondern an Unterernährung und Krankheiten ...“

Mike starrte ins Leere.

Burgets Mund bildete eine dünne Linie.

„Wann war das, vor zwei Jahren?“, fragte er nach einer Minute des Schweigens.

„Achtzehn Monate. Die Friedensverhandlungen schleppten sich. Keine Partei traute der anderen. Nach drei Monaten Waffengang entmachtete und beerbte ein bis dato loyaler CDNP-Gefolgsmann eigenmächtig seinen kriegstreibenden General Makellos. Die Kämpfe endeten kurz darauf. Kaum überschritt der abgesetzte General die Grenze nach Ruanda, wurde er festgenommen. Anscheinend verließ ihn das Glück, als er in einem Anflug von Übermut seine Ziege röstete. Kabila jr. suchte das Gespräch mit Kagame. Und was Wunder, kurz darauf schloss die CDNP mit Kinshasa einen Friedensvertrag und mutierte zur politischen Partei.“

„Keiner wurde wegen Kriegsverbrechen angeklagt?“

„Wozu? Der Frieden ging vor. Immer nach vorne schauen. Kennste bestimmt.“

Offiziell koordinierte Mike den Einsatz von Hilfsgütern zwischen NGOs und UN und gab den ernüchterten Engagierten. Inoffiziell koordinierte er bestimmt als Field Agent die Aktivitäten der CIA und mischte kräftigt mit, mutmaßte Burget. Er kannte solche Typen, scheinheilig ohne Ende. Die dreckige CIA, überall die Finger drin, von Anfang an, seit der Unabhängigkeit des Kongos 1960. Die Ermordung des ersten frei gewählten Premierministers, Patrice Lumumba, der als Kommunist galt, weil er sein Land nicht weiter von den weißen Ex-Kolonialherren ausbeuten lassen wollte, ging ebenso auf das Konto des US-Geheimdienstes wie fünf Jahre später die Installierung des neuen starken Mannes, Joseph-Desiré Mobutu. Der schwang sich zum Diktator auf, tauschte seine Feldwebel-Mütze gegen einen Hut aus Leopardenfell, nannte sich Mobutu Sese Seko Nkuku Ngbendu Wa Za Banga, was so viel wie „Der allmächtige Krieger, der aufgrund seiner Ausdauer und Unbeugsamkeit von Eroberung zu Eroberung zieht und eine Feuerschneise hinterlässt“ bedeutet, und taufte die Republik Kongo in Zaire um. Über dreißig Jahre knechtete der treue Freund der USA Land und Leute und transferierte bis zu seinem Abgang als Lohn der Ausbeutung angeblich vier Milliarden Dollar auf seine Privatkonten ins Ausland.

Burget war verwundert, warum gab der CIA-Mann sich so mitteilsam, spielte ihm die ganze gefühlsduselige Klaviatur vor? Was wollte er von ihm? Einfach nur reden bestimmt nicht. Auf einmal hasste er sein Gegenüber, aber der kannte sich aus und war spendabel. Und noch hatte Burget nicht erfahren, was er wissen wollte. Also spülte er auf Mikes Kosten seine Wut mit Gin Tonic runter, was dessen keimtötende Wirkung bestimmt nicht minderte, und ließ Mr. Mitteilsam weiterquaken.

„Hast du von den Ausradierern gehört?“

Hatte Burget nicht.

„Die betrieben gezielt Genozid, um ganze Landstriche zu entvölkern und so die internationalen Minengesellschaften beschleunigt ins Land zu locken. Die Ausradierer deckten ihren Proteinbedarf bevorzugt aus Pygmäenfleisch. Eine Praxis, bei der keiner der rivalisierenden Stämme nachstehen wollte, wie man sich vorstellen kann.“

„Null Waldbewohner, null Ansprüche?“, fragte Burget.

„Ganz im Sinne der Minengesellschaften. Außerdem gelten Pygmäen weithin als Untermenschen. Ihre Geschlechtsorgane bringen angeblich Glück, besonders kleingehackt und getrocknet. Pygmäen sollen durchaus wohlschmeckend sein. Ich wurde noch nie zum Essen eingeladen. Schade eigentlich.“ Es klang beinahe, als würde Mike es wirklich bedauern.

Burget verzog die Lippen zu einer Art Grinsen. Mike bestellte noch zwei Gin Tonic. Er soff wie ein englischer Offizier in den Romanen von Rider Haggard, konsequent und mit einer viktorianischen Kolonialherrlichkeit, die Burget zeitweilig an seiner CIA-Theorie zweifeln ließ.

„Man munkelt, die Minengesellschaften hätten die Ausradierer erst auf die Idee gebracht. Sie quasi angeheuert“, sagte Mike.

„Über fünf Millionen Tote.“ Burget schaute hinaus zu dem Fahrer. Der hatte sich die ganze Zeit über nicht bewegt. War der etwa auch tot?

„Schrecklich.“ Mike lallte mittlerweile. Seinem Gesicht nach hatte er wohl zu lange in menschliche Abgründe gestarrt. Er schien einen Augenblick angestrengt zu überlegen, bevor er sagte: „Fünf Millionen sind nicht mal ein Promille der geschätzten 23 Billionen Dollar Rohstoffe hier im kongolesischen Boden.“

„Ein Menschenleben kostet also umgerechnet weniger als ein Tausendstel Cent“, sagte Burget, „unglaublich.“

„Alles ist relativ, was? Und nachdem ich mir alles schön von der Seele labern durfte, willst du bestimmt wissen, wie ein abgerissener Weißer hier zu Geld kommen kann?“ Der angebliche Hilfsgüterkoordinator blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

Burget zuckte mit den Achseln. Offensichtlich.

„Willst reich werden.“

„Was zu essen, neue Klamotten, ein sauberes Bett reichen fürs Erste.“

„Hör auf. Erzähl mir nichts. Ich kenne Typen wie dich“, sagte Mike, „ihr kriegt alle den Hals nicht voll.“

An ihrem Tisch kehrte Stille ein.

Der Barkeeper, ein Schwarzer mit einer schmalen eckigen Lesebrille, wie sie in westlichen Drogerieketten verkauft wurden, lehnte an der Theke und las murmelnd in einem kleinen Buch. Der Luftzug trug seine kaum hörbaren Worte herüber: „Doch zwischen Panthern, Schakalen und Hunden, in der Skorpionen, Schlangen, Affen Welt, die kriecht und schleicht und heult und kläfft und bellt.“

„Zwei Gin Tonic!“ Mike schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

Der Barkeeper brachte zwei volle Gläser.

„Das schlimmste, schmutzigste von allen Dingen“, sagte Burget und sah zu dem Barkeeper hoch. Der Schwarze setzte die beiden Gläser Gin Tonic vorsichtig ab und ging, ohne etwas zu erwidern.

„Bildung verdirbt den Charakter“, sagte Mike und griff nach einem Glas.

„An der Welt zu leiden ist Luxusscheiße.“ Burget rührte seinen Gin Tonic nicht an, sondern blickte zur Theke.

„Die Qual, die nicht Gebärde hat noch Schrei“, las der Barkeeper mit rauer Stimme. Danach formten seine Lippen tonlos die weiteren Klageworte.

„Und doch die Erde macht zur Wüstenei“, vollendete Burget laut.

Mike leerte sein Glas in einem Zug, es entglitt ihm, fiel zu Boden, ohne zu zerbrechen. Schwer drückte sich der angebliche Hilfsgüterkoordinator vom Tisch hoch. Schließlich stand er kerzengerade. Er griff nach Burgets Glas, hob es zu einem Salut.

„Wohlstand für alle“, sagte Mike laut in den Raum und an Burget gewandt, „was biste noch mal?“

4

„Un pilote?“

Der Directeur de Comptoir sah genauso aus, wie Mike ihn beschrieben hatte, wie ein Collegeboy: goldgerahmte Brille, hellblaues Hemd, beige Bundfaltenhose, rosa Sweater über den Schultern. Dazu war Olivier-Claude Kyugami überraschend jung. Seine Familie stammte aus Ruanda. Er hatte in Frankreich studiert und war seit einiger Zeit wieder zurück. Mit seinem eigenen Fünfjahresplan: im großen Stil Coltan zu handeln und die Gewinne in Zukunftsindustrien zu investieren, wie in das große Methangas-Kraftwerk auf dem Kivusee, das entweder den dramatisch wachsenden Strombedarf Ruandas und sogar den seiner Nachbarn decken oder alles Leben um den See herum vergasen würde. Die Meinungen der Experten waren je nach Interessen ihrer Geldgeber geteilt.

Olivier empfing Burget in seinem Büro im Zentrum Gomas. Das niedrige Gebäude, hinter hohen Mauern und verriegelten Toren verborgen, bestand aus zwei Räumen zu ebener Erde. Einem größeren, länglichen Vorderraum, in dem Comptoirs Coltanerzbrocken, welche die Négociants von den Minen aufgekauft hatten, auf ihren Reinheitsgehalt schätzten und anschließend diejenigen Brocken zermahlten, die höchste Reinheit versprachen, um ihren Coltangehalt genauer zu ermitteln. Dazu einem kleineren Raum im hinteren Teil, in den ein Laufbursche die Werte brachte, damit der an seinem Schreibtisch thronende Olivier per Laptop online die aktuellen Preise für Coltan und Kassiterit an den internationalen Handelsplätzen einsah. In den Zeiten vor dem Internet wurden die Preise lediglich geschätzt. Das Ankarren des Coltanerzes, das Einschätzen des Reinheitsgehalts, das Feilschen mit den Négociants war seit Jahrzehnten unverändert geblieben.

In diesem Moment verschränkte Olivier die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich in seinem gepolsterten Drehsessel zurück.

Burget saß ihm gegenüber. Er blickte durch die offene Tür in den großen Vorderraum, mit der langen Reihe grob gezimmerter zerkratzter Tische, den altertümlichen Waagen mit ihren großen Waagschalen, die dazugehörigen Gewichte, ordentlich nach Größe sortiert, und den niedrigen Hockern der Comptoirs. Licht quoll durch die Ritzen der geschlossenen Läden vor den Fenstern und Türen. Staub zirkulierte in der Luft. Staub lag dünn auf Tischplatten, Waagen, Gewichten und Hockern. Von draußen drang gedämpft der Alltag zu ihnen herein. Heute war Mittwoch und helllichter Tag, und der Vorderraum war menschenleer. Niemand arbeitete. Olivier starrte an die Decke.

„Ich bin jetzt ein Jahr hier. Goma geht vor die Hunde. Es gibt hunderte kleiner Comptoirs. Die meisten haben ihre Büros inzwischen vernagelt. Kein Coltan, kein Geld. Für niemanden. Nicht für die Minenarbeiter, nicht für die Reparaturshops und nicht für die Garküchen. Alles wie ausgestorben. Die Stände der kleinen Händler, die Ämter, leer. Transportfahrer haben nichts zu transportieren, Polizisten haben nichts zu kassieren. Die Regionalverwaltung ist pleite und zahlt keine Gehälter mehr aus“, sagte Olivier und lächelte unwillkürlich, „nicht dass die vorher regelmäßig Gehälter ausgezahlt hätten, aber jetzt?“

Das amerikanische Gesetz, hatte Burget auf der Straße aufgeschnappt, stärkte im Gegenzug die öffentliche Moral. Sogar das Vatikan, ein richtiges Dreckloch von Kneipe und Kontakthof, war neuerdings eine nuttenfreie Zone.

„Das amerikanische Gesetz“, sagte Olivier, „die Amis haben ein Embargo für das, was sie Blut-Coltan nennen, verhängt. Präsident Kabila packte noch einen allgemeinen Mineralienbann drauf. In seinem Machtbereich baut niemand mehr Erz ab. Wer erwischt wird, kommt ins Gefängnis.“

„Gegen eure Gefängnisse ist Abu Ghraib ein Kurort“, sagte Burget.

Der Directeur de Comptoir lachte nicht. Es war auch nicht als Witz gemeint. Olivier strich mit einem langen Zeigefinger prüfend über die Schreibtischkante. Sie schien staubfrei.

„Fragt sich nur, wie weit die Macht des Präsidenten reicht.“ Oliver verzog keine Miene.

„Offensichtlich bis hierher“, sagte Burget.

Über so viel gespielte Naivität konnte Olivier sehr herzlich lachen.

Am ruandischen Völkermordgedenktag saßen Burget und Olivier wie Schuljungen nebeneinander auf einer kleinen Bank vor der Terrasse des Hotels Karibu, beaufsichtigt von zwei Bodyguards in der Uniform der kongolesischen Armee, und warteten. Weißes Hemd, helle Stoffhose, schwarze Lederschuhe, Burget war rasiert und sauber. Präsentabel für General Bobo Nokoma, wie Olivier zufrieden befand.

Der General hatte sich seinen Kampfnamen „Der Endlöser“ hart erarbeitet, wie Burget inzwischen in Erfahrung bringen konnte. Diese Auffassung teilte auch der Ankläger beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Der verfasste eine Klageschrift wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen und verlangte seine Auslieferung. Das lag schon einige Jahre zurück. Nichts geschah, trotz regelmäßiger Appelle des ICC, Protesten diverser Menschenrechtsorganisationen und eindringlicher Forderungen der UN. General Nokoma residierte einen Steinwurf von der ruandischen Grenze entfernt in Goma und wusste sich unantastbar. Er war jener loyale Gefolgsmann, von dem CIA-Mike sprach, der General Makellos absägte, nachdem dieser die Geschäfte derart gestört hatte, dass die Machthaber in Kigali die Geduld verloren. Und weil Nokoma nach dem sogenannten Friedensschluss und der offiziellen Legitimierung der CDNP seine Kämpfer in die kongolesische Armee überführte, wurde er zum Dank in den Generalsrang befördert. Statt steifer Uniform mit engem Kragen, Schulterklappen und Goldkordel bevorzugte er heute jedoch türkis- oder rosafarbige Polohemden, wie es hieß, kombiniert mit weißen Shorts und Slippern, wahlweise auch Cowboystiefeln, und war seinen Kindern ein guter Vater. Er kümmerte sich lieber um seine Geschäfte als ums Abschlachten. Sein Kampfname wurde höchstens noch geflüstert und auch nur, wenn ganz sicher niemand Verdächtiges in Hörweite war.

Der General ließ seinen Besuch warten. Er hatte sich zunächst auf dem Tennisplatz dieser Luxusoase inmitten elender Armut verausgabt, danach beim Lunch gestärkt und regenerierte in diesem Moment wahrscheinlich bei einem Nickerchen. Drei Stunden später platzte Nokoma förmlich vor Energie, als er auf die Terrasse hinaustänzelte. Burget und Olivier erhoben sich. Auf ein Zeichen hin ließen die Bodyguards sie vortreten. Der General streckte ihnen seine Hand entgegen. In gebührendem Abstand beugte Burget sich vor, ergriff die große, weiche Pranke mit den manikürten Fingernägeln und schüttelte sie leicht. Dabei legte er seine linke Hand an seinen rechten Unterarm und vermied den direkten Augenkontakt. Eine Respektbezeugung gegenüber Ranghöheren, wie Olivier ihm zuvor eingeschärft hatte. Der General goutierte die Geste mit dem Selbstverständnis eines absolutistischen Herrschers.

Olivier begrüßte Nokoma mit der gleichen zur Schau gestellten Demut wie Burget und sagte dazu: „Muroho. Hallo, lange nicht gesehen“ und „was gibt‘s Neues? Amakuru?“

Der General bestätigte mit überraschend hoher Stimme, dass es ihm bestens gehe. Sie nahmen Platz. Die Schwarzen plauderten von Tutsi zu Tutsi miteinander. Olivier lauschte aufmerksam den Ausführungen Nokomas, der wiederum die Schilderungen des Directeurs de Comptoir mit kleinen, ruckartigen Kopfbewegungen zur Seite und skeptischen Ehs kommentierte. Beide lachten. Burget bemühte sich gar nicht erst, dem Gespräch zu folgen. Diese Phase nannten erfahrene Verkäufer Anwärmen, um Ansatzpunkte für den Verkaufspitch zu erkennen. Der Verkaufsgegenstand war Burget selbst.

Der Endlöser wandte sich ruckartig von Olivier ab und deutete mit dem Kinn Richtung Burget.

„Du kannst also fliegen?“

Nokomas Französisch hatte den harten, abgehackten Akzent eines Mannes, der es durch Skrupellosigkeit und Gerissenheit ganz nach oben geschafft hatte. Vielleicht bildete Burget sich dies auch nur ein. Auf seinem hellen Hemd breiteten sich dunkle Flecken aus. Olivier beobachtete den Piloten mit einem gefrorenen Dauerlächeln.

„Fünf Jahre habe ich Frachtflugzeuge kreuz und quer über den afrikanischen Kontinent geflogen. In der Regel eine Hercules C-130, mon général, aber auch Transall und die üblichen Cessnas, einmotorig und zweimotorig, meistens von den Emiraten aus und Kenia, aber auch Uganda und Sudan“, sagte Burget. Er sah seinem Gegenüber dabei nicht direkt in die Augen und hob vielsagend die Hände, als wüsste der General schon, was er meinte.

Nokoma machte ein schmatzendes Geräusch.

Daraufhin neigte Burget sich leicht vor und präsentierte dem General mit beiden Händen seinen belgischen Pilotenschein mit der Nummer 99-0045. Laut diesem war der Inhaber, wohnhaft in 2320 Hoogstraten, Zuikerplein 3b, ein Air Transport Pilot, ATP, und berechtigt, mehrmotorige Flugzeuge nach Instrumenten über Land und Wasser zu fliegen. Die Lizenz war vor drei Wochen abgelaufen.

„Très bon“, sagte Nokoma, ohne überhaupt einen Blick auf den Lappen zu werfen. Das brauchte er anscheinend nicht, denn er sagte mit einem wissenden Lächeln „expiré“.

Abgelaufen. Auf Burgets Stirn erschienen prompt hunderte kleine Schweißperlen.

Jetzt warf Olivier den Kopf mit kleinen, ruckartigen Bewegungen zur Seite und kommentierte skeptisch „Eh“.

Aber Nokoma meinte den bisherigen Piloten.

5

Die über 30 Jahre alte Hercules C-130H startete kurz vor Mittag auf einer unbefestigten Piste in der Nähe von Goma. Burget hatte Oliviers Zielkoordinaten in das GPS eingetippt. Mit an Bord waren ein dicker Comptoir und drei Soldaten der kongolesischen Armee, bewaffnet mit AKs und Maschinengewehren. Zusätzlich hatten sie Patronengurte von zwei Metern Länge um ihre Körper geschlungen. Genügend Munition für einen Blitzkrieg. Burget trank Kaffee aus einer Thermoskanne und kaute einen Kaugummi mit Himbeergeschmack. Im Co-Pilotensitz döste der Comptoir, den die Soldaten George nannten. Seine Fettwülste spannten das beige Hemd. Er schwitzte und schnaufte wie ein Nilpferd. Die Soldaten hockten auf schmalen Sitzen hinter ihnen und kauten ebenfalls Kaugummi mit Himbeergeschmack. Als sie ihre Flughöhe erreichten, streifte Burget den Kopfhörer ab und lehnte sich entspannt zurück. In diesem Moment ließ George laut einen fahren. Er hatte die Augen geschlossen, konnte aber nur mühsam ein Grinsen unterdrücken. Die Soldaten lachten und wedelten mit den Händen nach Frischluft.

Schwere Regenwolken türmten sich über dem Urwald. Immer wieder ragten einzelne Bäume mit ihren großen, breiten Blättern über die undurchdringlich scheinende Laubdecke hinaus. Übersteher, Hartholzriesen von sechzig Metern Höhe und Stammumfängen von mehr als zehn Metern. Zwei Etagen tiefer lag das eigentliche Baumkronendach. Eng beieinander stehende Stämme bildeten ein dichtes Wirrwarr verschlungener Äste, Blätter und Lianen und filterten das grelle Sonnenlicht. Nach unten nahm die Helligkeit stetig ab, wurde die Vegetation spärlicher. Niedrigere Baumarten und Sträucher, die Höhen von bis zu fünf Metern erreichten, bildeten Unterholz und Gestrüpp. Auf dem Waldboden schließlich gab es nur langsam wachsende Pflanzen, Farne, Pilze und Mikroben. Es wimmelte vor Ameisen und Aaskäfern. Hier unten, wo es selbst am Tage dunkel war, herrschte ewige Fäulnis und Verwesung. Von den tausenden bekannten und unbekannten Tierarten des Dschungels waren kaum welche zu sehen und nur die wenigsten zu hören, die Rufe von Zikaden, Fröschen, Vögeln und Affen ertönten. Und gelegentlich ein dunkles Grollen. Ein Leopard vielleicht oder ein Brüllaffe. Immer lauter werdende menschliche Stimmen mischten sich dazu. Schließlich waren schwere Tritte zu vernehmen.

Kaum erkennbar wand sich der Pfad zwischen Bäumen, Farnen und Gestrüpp hindurch. Ein Soldat erschien. In Grünzeug, Stiefel, Cargohosen, das Hemd offen, darunter ein blaues T-Shirt, um den Hals mehrere Amulette, auf dem Kopf ein Barett. Seine linke Hand umschloss eine Machete, seine rechte lag schussbereit am Abzug einer AK, die an einem kurzen Schulterriemen diagonal vor seiner Brust hing. Dem Soldaten folgten zwei ungefähr zwölfjährige Jungen, Kadogos, in zu weiten Uniformjacken, mit zu großen Gewehren. In jedem steckte ein gebogenes Magazin, an das mit Klebeband spiegelverkehrt ein zweites Magazin befestigt war. Ein improvisiertes Wendemagazin. Ein Griff, ein Dreh, einrasten, weiterballern. Die Blicke der Kadogos wanderten zwischen dem Pfad und dem dichten Gestrüpp rechts und links davon hin und her. Nach den Kindersoldaten kamen die Träger, kräftigere Jugendliche und junge Männer, bekleidet mit dünnen Jacken, T-Shirts oder Unterhemden mit Aufdrucken wie „Obama - change we can believe in“, „50 Cents“ und „Halloween IV“, manche in Shorts, andere in langen, löchrigen Hosen, an den Füßen Flip-Flops oder Gummistiefel. Jeder von ihnen trug einen großen Sack Coltanerz auf dem Rücken. Jeder Sack wurde von einem dicken Tragegurt gehalten und war fünfzig Kilogramm schwer. Den Tragegurt gegen die Stirn gepresst, stemmten sich die Träger vorwärts. Knochenarbeit. Nur die kräftigsten wurden dafür ausgewählt. Sie bekamen pro Tag ein paar Dollar mehr Lohn als ein gewöhnlicher Minenarbeiter. Hier schleppten neunzig Träger, zehn davon Reserve, insgesamt viertausend Kilogramm Coltanerz. Zwölf Soldaten sicherten den Zug. Seit beinahe zwei Tagen waren sie auf engen, verschlungenen Pfaden wie diesem unterwegs. Ihr Ziel war eine schmale gerodete Piste mitten im Dschungel. Ihre letzte Rast lag eine halbe Stunde zurück. Trotzdem stolperten einige der Träger mehr vorwärts, als dass sie gingen. Die Angst hielt sie auf den Beinen. Nur nicht umfallen. Immer den Blick auf die Beine des Vordermanns gerichtet, mühte sich der Tross der Träger wie ein riesiger Tausendfüßler voran.

Großblättrige Farne wurden vom Anführer zur Seite geschoben. Gräser, Wurzeln, Gestrüpp, wenn nötig mit der Machete bearbeitet. Weiter hinten heulte jemand auf, dann folgte das dumpfe Geräusch eines Sackes, der in weichen Boden fiel. Gestein knirschte. Der Anführer hielt. Der ganze Tross geriet ins Stocken. Die beiden Kindersoldaten richteten ihre Gewehre auf das Gebüsch um sie herum. Aufgeregte Worte in Swahili liefen durch die Reihe und erreichten den Anführer. Die Träger setzten ihre Last ab, verschnauften. Der Anführer drängte an ihnen vorbei, bis zu einem Jungen, der auf der Erde lag. Der Sack mit einem Zentner Coltanerz lag neben ihm. Der Anführer fragte etwas. Ein Wortschwall ergoss sich aus dem Mund des Jungen, er hatte panische Angst. Der Anführer bellte einen Befehl. Der Junge versuchte aufzustehen. Er schaffte es nicht. Der Anführer packte grob an, zog ihn auf die Füße, sofort knickte der Träger wieder ein. Er konnte nicht weiter. Die Mienen der anderen Träger in der Nähe waren ernst. Der Anführer blickte böse. Sie vermieden Augenkontakt. Einer der Kadogos schob einen Jungen in T-Shirt mit dem Aufdruck „Badass“ zu dem Anführer. Ohne einen Befehl abzuwarten, hob Badass den Sack des Gestrauchelten auf seinen Rücken. Das war seine Aufgabe. Der Kindersoldat zerrte den verletzten Träger ein paar Schritte abseits des Pfades und ließ ihn liegen. Der Anführer gab laut einen Befehl. Die Träger nahmen ihre Last wieder auf. Badass berührte scheu den Anführer am Arm, der fuhr herum.

„Was ist mit Nbola?“ Badass wagte es nicht, den Blick zu heben.

„Weiter“, befahl der Anführer und schob sich an dem Träger vorbei Richtung Zugspitze.

„Weiter“, rief der Anführer erneut, und dann sagte er leise etwas zu einem Kadogo. Der Kindersoldat nickte bekräftigend und machte Platz. Langsam bewegte sich der Tross voran. Der Kindersoldat marschierte zu der Stelle, wo der verletzte Träger gelegen hatte. Der Junge war weg. Der Blick des Kadogos suchte die Umgebung ab. Er sah nur Farne, Gräser, Wurzeln, Gestrüpp, Baumstämme. Unter seiner olivgrünen Kappe war ein rundes Gesicht mit großen Augen und einem noch größeren Mund. Es musste viel Mühe gekostet haben, dem Jungen das Lachen auszutreiben. Um seinen Hals hingen mehrere bunte Ketten, schmale und breite, und ein Anhänger aus gefaltetem Leder, mit dunklem Stoff und Bast umwickelt. Ein Talisman. Risasi na maji. Sein Zauber machte unzerstörbar, anfliegende Geschosse würden am Körper des Kadogos zerlaufen wie Wassertropfen an der Windschutzscheibe eines rasenden Autos. Aus dem Augenwinkel bemerkte der Kindersoldat ein Rascheln unter einem Farn, erschrak, drückte den Abzug seines Gewehrs durch und rotzte ein halbes Magazin raus. Die Geschosse zerfetzten den Farn, rissen Rinde von den Bäumen, bohrten sich ins Erdreich und in den Körper des verletzten Trägers. Nbola fehlten Teile des Unterkiefers und des Halses. Er war sofort tot. Kalt, beinahe feindselig musterte ihn der Kindersoldat, schulterte sein Gewehr und ging. Niemand im Tross gab einen Laut von sich. Badass biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten. Entlang der Dschungelpfade starben täglich Träger, die wenigsten durch Kugeln, die meisten vor Erschöpfung oder Auszehrung. Viele der Toten wurden begraben. Zahllose Gräber säumten diese Pfade. Beinahe ganze Friedhöfe.

Inzwischen waren die Wolken aufgerissen. Unter ihnen erstreckte sich der Regenwald bis zum Horizont. George schnarchte mit offenem Mund. Die Soldaten schauten stoisch an die Kabinenwand. Burget checkte seine Koordinaten und blickte aus dem Seitenfenster. Er konnte nichts erkennen. Er schob den Steuerknüppel nach links und betätigte die Querruder. Die Hercules neigte sich leicht zur Seite. Schließlich entdeckte Burget einen schmalen gerodeten Streifen hinten im Laubmeer. Ihr Ziel, die Piste in der Nähe von Walikale.

Die Hercules flog eine große Kurve und sank schnell auf unter hundert Meter hinab. Sie glitt über die grün gescheckte Baumkronendecke hinweg. Burget sah, wie unregelmäßig, ja gebrochen, das Blätterdickicht in Wirklichkeit war. Einige der weit hinausragenden Übersteher schienen den Rumpf des Transportflugzeuges beinahe zu streifen. Dann wurde der Wald lichter. Zwischen niedrigen Bäumen befanden sich Felder mit mannshohem Gras und wildem Mais.

Burget stieß George an. Der dicke Comptoir schmatzte, blinzelte, rieb sich die Augen. Angestrengt blickte er aus dem Seitenfenster. Das schmale Rechteck vor ihnen wurde schnell größer. Er konnte sich nicht vorstellen, wie die alte Hercules auf dem dünnen Streifen zwischen den Bäumen landen sollte. Er meinte unbeschadet.

„Kinderspiel“, Burget hob den Daumen und sagte, „wir machen einen kontrollierten Absturz.“

George schloss lieber die Augen.

Kaum hatten sie den Waldrand überflogen, zog Burget die Nase der Hercules hoch, erhöhte den Anstellwinkel und verringerte stark die Geschwindigkeit. Der Vogel sackte durch. Den Restauftrieb regelte Burget mit dem Höhenruder.

Die Bahn war so kurz, dass er die Hercules förmlich runterdrücken musste. Das Flugzeug setzte hart auf der unebenen Erde auf, schoss bockig die Piste hinab und kam zum Stehen. George öffnete die Augen wieder. Die Soldaten lachten und klatschten sich ab. Sie sagten etwas in Richtung des dicken Comptoir, das wie Schisser auf Swahili klang.

Als die Propeller zum Stillstand gekommen waren, stieg George aus. Ein Mann in Hemd und Stoffhose trat aus einer Hütte abseits der Start- und Landebahn. Das war der Négociant. Er kaufte das Coltanerz von den Schichtbossen der Minen und bündelte die Lieferungen zu mehreren Tonnen, bevor er sie einem Comptoir anbot. Der Mann eilte dem Großhändler entgegen, die rechte Hand ausgesteckt, wobei er die andere Hand Respekt bekundend an den rechten Unterarm legte. George griff mit beiden Händen zu. Die drei Soldaten blieben bei der Hercules. Burget stieg aus, vertrat sich die Beine, liess dabei seinen Blick über das Flugfeld schweifen. Neben der Hütte befand sich ein Unterstand. Unter dem Dach lagerten einhundertsechzig mit Coltanerz gefüllte Säcke, insgesamt achttausend Kilogramm. Eine Gruppe Soldaten lungerte am Rande des Waldes, die Gewehre umgehängt oder neben sich liegend. Ihre hellgrün-dunkeloliv gescheckten Tarnklamotten verschmolzen mit dem hohen Gras und den Blättern der Büsche und Bäume. Einzig das Messing der Patronen in ihren Munitionsgurten funkelte wie poliert in der Sonne. Ein Stück entfernt kauerten über hundert schlanke Jugendliche und junge Männer in knallbunten T-Shirts, Trägerhemden und Shorts. Die Träger waren ungetarnt und unbewaffnet. Die beiden Gruppen vermischten sich nicht.

Sie würden zwölf Tonnen Coltanerz aufnehmen, die Wochenproduktion der illegalen Mine, hatte Olivier vor dem Abflug gesagt. Augenblicklich erklärte der Négociant dem Comptoir etwas und machte dabei keinen glücklichen Eindruck. Er wartete noch auf eine weitere Lieferung. George hatte im Voraus bezahlt. Misstrauisch blickte er zu der Gruppe Soldaten am Waldrand hinüber und dann zu seinen eigenen drei Soldaten, die sich wie Türsteher neben der Heckklappe der Hercules aufgebaut hatten. Der Négociant zuckte mit den Achseln. George auch. Auf ein Zeichen hin erhoben sich die Träger aus dem Gras, gingen in einer Reihe zu dem Unterstand und begannen die Säcke aufzuladen und zum Flugzeug zu tragen. Burget fuhr die Heckklappe herunter. Der dicke Comptoir und der Négociant standen an der Ladeluke und zählten die eintreffenden Säcke, bevor diese im Bauch der Hercules verschwanden. Gelegentlich öffnete George einen Sack und prüfte das Erz. Der Négociant nahm das gleichgültig hin. In diesem Geschäft betrog niemand.

Als die Träger ungefähr die Hälfte des Coltanerzes vom Unterstand verladen hatten, tauchte am anderen Ende der Piste ein Soldat mit einer Machete und einer AK vor der Brust auf. Ihm folgten zwei Kindersoldaten und schließlich eine lange Reihe von Trägern, beladen mit Säcken. Der Négociant stieß einen erleichterten Pfiff aus. Zwanzig Meter vor dem Flugzeug hob der Anführer seine Machete. Die Träger stoppten und setzten ihre Säcke ab. Einige kippten gleich mit ins Gras. Andere lockerten Schultern und Nacken. Der Négociant rief seinen eigenen Trägern etwas zu. Sie begannen sich zu beeilen. Keiner der Soldaten rührte auch nur einen Finger. Burget trank den Rest Kaffee aus seiner Thermoskanne, als ein Junge, auf dessen T-Shirt „Badass“ stand, einen Sack Coltanerz an ihm vorbei zum Heck der Hercules schleppte. Seine Augen starrten geradeaus. Er wirkte mehr erbost als erschöpft. Er war höchstens sechzehn Jahre alt. Burget wandte den Blick ab.

Zwei Stunden später steckte Burget den Kopf aus dem Cockpit und fragte, ob sie starten könnten. George hob den Daumen. Burget warf Netze über die Säcke und verzurrte sie. Zwei seiner Türsteher halfen ihm. Die Heckklappe schloss sich surrend. Die Motoren starteten. Die Propeller begannen zu rotieren. Der dicke Comptoir winkte dem Négociant aus dem Cockpit, als die Hercules zum Ende der Piste schaukelte, dort nahezu auf der Stelle drehte und zum Start rollte. Die Turbopropmotoren zogen mächtig an. Der Vogel nahm Fahrt auf, raste an Unterstand und Hütte vorbei und stieg knapp vor dem Ende der gerodeten Fläche steil in die Höhe.