Autismus - Christiane Arens-Wiebel - E-Book

Autismus E-Book

Christiane Arens-Wiebel

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Beschreibung

Parents are faced with tremendous challenges when their own child is diagnosed with early childhood autism. They have to accept that their child is different, they have to obtain information about appropriate help, and at the same time they also have to cope with everyday life. This book provides parents, as well as schoolteachers and preschool teachers, with basic knowledge about autism, guidance through the jungle of treatment options, and help with everyday educational questions: What is important for the child at what age? What type of support is useful? How can parents and teachers help the child learn? How can they explain problem behaviour and deal with it? The book answers these and many other questions using specific educational situations. Last but not least, it provides a manual for ways of dealing with children in the autism spectrum.

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Die Autorin

Christiane Arens-Wiebel widmet sich der Beratungs-, Schulungs- sowie Fortbildungstätigkeit bei Autismus Bremen e. V. als Fachreferentin. Sie hat unmittelbar nach ihrem Studium der Sozialpädagogik begonnen, mit autistischen Kindern und Jugendlichen im Autismus-Therapiezentrum Bremen therapeutisch zu arbeiten. Wichtige Meilensteine ihrer Berufstätigkeit waren dabei die jahrelange intensive Tätigkeit im Bereich Frühförderung und der Aufbau eines neuen Therapiezentrums. Ihr Interesse und ihr Engagement auf diese besondere Beeinträchtigung bezogen haben nie nachgelassen. Insbesondere die Eltern und Geschwister der autistischen Kinder haben für sie stets eine wichtige Rolle im therapeutischen Prozess eingenommen.

Christiane Arens-Wiebel

Autismus

Was Eltern und Pädagogen wissen müssen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034781-6

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-034782-3

epub:  ISBN 978-3-17-034783-0

mobi:  ISBN 978-3-17-034784-7

Vorwort

 

Dieses Buch habe ich für Eltern geschrieben, deren Kind eine Autismus-Spektrum-Störung hat, bzw. für Pädagogen, die mit einem autistischen Kind zu tun haben. Ich spreche dabei die Bezugspersonen von Kindern mit dem sog. Frühkindlichen Autismus an – das ist die Autismusform, die schon im ersten Lebensjahr zu teilweise gravierenden Auffälligkeiten führt und bereits bei einem Eineinhalbjährigen diagnostiziert werden könnte. Bei diesen Kindern liegt i. d. R. auch eine kognitive Einschränkung vor. Die betroffenen Kinder sind in ihrem Verhalten viel auffälliger und in ihrer Entwicklung deutlich verzögerter als gesunde Kinder bzw. als die mit dem Asperger-Syndrom – eine weitere Autismus-Spektrum-Störung.

Meine erste Begegnung mit dem Thema »Autismus« fand während meiner Schulzeit im Pädagogikunterricht statt. Unsere Pädagogiklehrerin erzählte über Kinder, die keinerlei Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen, nicht sprechen und immer für sich allein wären. Mein Interesse war geweckt. Im Studium konnte ich das Thema vertiefen, und während meines Berufsanerkennungsjahrs in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie lernte ich die ersten betroffenen Kinder kennen, die dort mit diagnostischen und therapeutischen Verfahren behandelt wurden. Eltern waren zu diesem Zeitpunkt nicht in die Behandlung mit einbezogen. Mit 23 Jahren begann ich beim Elternverein Autismus Bremen e. V. meine berufliche Laufbahn als Therapeutin. Mir begegneten in den Therapiezentren seitdem unzählige Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen vom Frühförderalter bis ins Erwachsenenalter, mit einer schweren intellektuellen Beeinträchtigung bis hin zur Normalbegabung. V. a. jedoch hatte ich intensiv mit ihren Eltern zu tun, die vom ersten Kontakt an Fragen über Fragen hatten, auf die sie von mir, der Autismustherapeutin, Antworten wollten. Fragen zu den Ursachen von Autismus, den Entwicklungschancen, der Begründung für problematische autismusspezifische Verhaltensweisen und zum Umgang hiermit. Was sollten sie tun, um das Kind gut zu fördern? Wie könnten sie es schaffen, die immensen Entwicklungsrückstände zumindest ansatzweise aufzuholen? Welcher Kindergarten und welche Schule seien die richtigen, und was könne getan werden, wenn es in der Schule mit dem Kind nicht gut funktioniere? Fragen, bei denen keine Routine aufkommen konnte, denn jede Frage muss bezogen auf das jeweilige Kind und sein Umfeld beantwortet werden.

Dieser Ratgeber kann nicht spezifisch auf jede Frage und individuell für jede Familie antworten. Er nennt auch nicht die diagnostischen Kriterien und die Ursachen von Autismus, d. h., er lässt manche grundlegenden Informationen zu Autismus-Spektrum-Störungen aus. Diese lassen sich an anderen Stellen finden. Dieses Buch ist dafür verfasst, ein Leitfaden, eine Art ›roter Faden‹, für die Begleitung eines autistischen Kindes, Jugendlichen bzw. Heranwachsenden zu sein, um Anhaltspunkte, Denkanstöße und grundlegende Informationen zu bieten. Es gibt Orientierung in dem umfangreichen Angebot von Therapiemethoden und vermittelt Tipps und Anleitungen für den Alltag. Die meisten Ratschläge haben sich in meiner umfangreichen Praxis mit Kindern und Eltern bewährt, erheben jedoch nicht den Anspruch auf Einzigartigkeit. Es gibt immer auch andere Möglichkeiten (Beispiel Toilettentraining). Ich habe eben all das gesammelt, was sich während meiner Berufstätigkeit als besonders effektiv erwiesen und mich bzw. die Eltern und Pädagogen überzeugt hat.

Manche Kinder und Jugendliche sind mir in den Jahren besonders ans Herz gewachsen, so z. B. Toni (Name geändert), zu dessen Eltern ich nach wie vor einen guten und entspannten Kontakt habe und den ich immer mal mit einer seiner geliebten Glühbirnen überrasche. Danke, Toni, dass du mich so viel an deiner Entwicklung und deiner authentischen und direkten Art teilhaben lässt. Danke auch an deine Eltern und die große Schwester. Die Namen der weiteren Kinder in den veranschaulichenden Fallbeispielen habe ich ebenfalls sämtlich geändert. Ich sehe jedes der Kinder vor mir – an guten und an nicht so guten Tagen. Ich erinnere mich daran, wie die Eltern eines jeden dieser Kinder mit viel Freude, Kraft und Überzeugung an der Förderung ihres Kindes mitgewirkt haben. Ich denke auch an die, denen es irgendwann zu viel wurde, die verzweifelt und erschöpft waren, die jedoch immer zu ihrem besonderen Kind standen und sich für es eingesetzt haben – koste es, was es wolle. Auch mit Blick auf die Geschwister, für die es eine große Anstrengung ist, mit einer autistischen Schwester oder einem autistischen Bruder zusammenzuleben. Ich empfinde Hochachtung dafür, was diese Kinder aushalten, sich aber auch einfallen lassen, um mit dem Geschwister in einem liebevollen Kontakt zu sein. Auch ihnen danke ich dafür, dass ich immer wieder mit ihnen sprechen und arbeiten durfte.

Wichtig ist mir noch zu sagen, dass die im Text sprachlich verwendeten weiblichen und männlichen Formen überwiegend austauschbar sind, wenn sie sich nicht auf ein tatsächliches Beispiel beziehen. Das Buch ist im Übrigen nicht nur für Familienkonstellationen geschrieben, in denen Mutter und Vater vorkommen, sondern auch alleinerziehende Eltern können sich selbstverständlich darin wiederfinden.

So unterschiedlich die Mädchen und Jungen mit Autismus und ihre Familien sind, so kreativ, fantasievoll und vielfältig sich therapeutische Angebote, Erziehungsmittel und Materialien darstellen und so umfangreich die theoretischen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen sind, so viel muss noch getan werden, um den autistischen Menschen ein zufriedenes und gelungenes Leben zu verschaffen. Hier gibt es überall noch großen Bedarf an Fachlichkeit, auch die Ausbildung von Pädagogen und Psychologen betreffend, und viele Wünsche und Anforderungen an eine bessere personelle und räumliche Ausstattung. Mir persönlich erscheint es auch wichtig, das erhebliche Problem der ›Andersartigkeit‹ in unserer Gesellschaft deutlicher zu machen und für mehr Akzeptanz beeinträchtigter Menschen zu sorgen. Das insbesondere unter dem Gesichtspunkt des berechtigten, aber bisher nur unzureichend umgesetzten Wunschs nach inklusiver bzw. integrativer Tagesbetreuung und Beschulung.

 

Bremen, im Jahr 2019

Christiane Arens-Wiebel

Inhalt

 

Vorwort

1          Statt einer Einleitung

2          Die Autismusdiagnose

2.1       Diagnosestellung

2.2       Neuorientierung und Bewältigung der Diagnose

2.3       Verwandtschafts- und Freundeskreis

2.4       Organisation familiärer bzw. naher Hilfen im Umfeld

2.5       Entwicklungsmöglichkeiten

3          Förderung in der Familie

3.1       Organisation professioneller Hilfen

3.2       Autismusspezifische, entwicklungsfördernde Bedingungen im häuslichen Umfeld

3.3       Notwendige Erziehungsaufgaben und Förderung

4          Kindergartenzeit

4.1       Auswahl und Organisation einer geeigneten Tagesbetreuung

4.2       Vorbereitungen des Kindergartenbesuchs

4.3       Verhalten im Kindergarten und die Situation der anderen Kinder

4.4       Strukturen, Rituale und Begleitung im Kindergarten

4.5       Frühförderung und Autismustherapie

4.6       Wichtigste Lernziele im Kindergartenalter

4.7       Umgang mit autismusspezifischen Problemen

4.8       Was Pädagogen wissen müssen

5          Schulzeit

5.1       Organisation der Schulzeit

5.2       Die Rollen von Lehrern, Sonderpädagogen und Schulassistenzen

5.3       Die häusliche Situation im Zusammenleben mit einem autistischen Schulkind

5.4       Entwicklungsziele in der Schulzeit

5.5       Situation der Familie, Eltern und Geschwister

5.6       Therapeutische Unterstützung

5.7       Umgang mit Verhaltensproblemen

5.8       Was Pädagogen wissen müssen

6          Teenagerzeit

6.1       Identität und Selbstgestaltung

6.2       Pubertät und Sexualerziehung

6.3       Arztbesuche

6.4       Akzeptanz der Beeinträchtigung in der Familie

6.5       Selbstständigkeit

6.6       Umgang mit autismusspezifischen Verhaltensweisen

6.7       Was Pädagogen wissen müssen

7          Das Kind wird erwachsen

8          Schlussbemerkung

Literatur

1          Statt einer Einleitung

 

In einem großen Einkaufszentrum läuft ein Kind, ungefähr zwei Jahre alt, mitten zwischen den anderen Menschen unbeirrt auf den gradlinig angebrachten Bodenfliesen entlang. Es bewegt sich mit seltsam anmutenden flatternden Bewegungen der Arme und gibt brummende und quietschende Laute von sich. Es läuft, ohne auf seine Mitmenschen zu achten oder sich nach seinen Eltern umzusehen. Die Mutter ruft es von Weitem bei seinem Namen, es scheint sie nicht zu hören, denn es ist sehr versunken in seine Tätigkeit. Sie geht hinter ihm her, kommt näher und ruft es wieder, diesmal lauter und eindringlicher. Das Kind reagiert nicht. Schließlich erreicht die Mutter es und greift nach seiner Hand. Das Kind erstarrt und fängt unverzüglich an zu schreien. Es versucht die Mutter zu beißen und sich ihrem Griff zu entziehen. Es ist mühevoll, es nicht entwischen zu lassen, aber die Mutter ist stärker. Sie kniet sich zu dem Kind nieder und redet beruhigend auf es ein. Man hört Sprachfetzen wie »es dauert nicht mehr lange«, »nachher kaufen wir dir Pommes« und »hör auf, so zu schreien«. Das Kind jedoch schreit unvermindert weiter. Es hat sich auf den Boden geworfen, und der ganze kleine Körper ist in Bewegung und Abwehrhaltung.

Menschen bleiben stehen und kommentieren die Situation. Schließlich greift der Vater nach dem Kind und nimmt es auf den Arm. Er hält es ganz fest, trotzdem hat er Mühe, des schreienden Bündels Herr zu werden. Die Eltern verlassen eilig das Einkaufszentrum. Die Mutter sieht verzweifelt aus, und man könnte meinen, sie würde sich schämen. Der Vater wirkt wütend, aber auch sehr hilflos, er ist ganz blass geworden und versucht schnell wegzukommen. Als die Familie das Auto erreicht hat, setzt der Vater das Kind in seinen Kindersitz und gibt ihm eine Trinkflasche in die Hand. Das Schreien hört augenblicklich auf. Der Einkaufsbummel wird nicht fortgesetzt.

Die Eltern machen sich schon lange Sorgen, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmen könnte. Es hat noch kein einziges Wort gesagt, obwohl sie ihm immer wieder etwas vorsprechen. Es schaut die Eltern fast nie an, hört nicht auf seinen Namen. Sie haben noch nie gesehen, dass es wie andere Kinder mit einem Teddy oder einem Auto gespielt hätte. Es wirft vielmehr seine Spielsachen im Zimmer umher, reißt alles aus den Schränken und lässt sich dabei nicht stoppen. Es ist immens schwierig, ihm die Zähne oder die Nase zu putzen, es will sich nur an einer bestimmten Stelle in der Wohnung wickeln lassen, lehnt verschiedene Kleidungsstücke ab. Schwierig finden die Eltern, dass es nur ein paar ausgewählte Lebensmittel isst, die immer dieselbe Temperatur und Konsistenz haben müssen. Wenn wenigstens die Nächte nicht wären, in denen sich Eltern und Kind eigentlich ausruhen sollten! Das Kind macht immer wieder die Nacht zum Tag und will spielen, dabei müssen alle Lampen an sein, sodass kein Familienmitglied schlafen kann. Tagsüber ist das Kind jedoch auch nicht besonders müde und schläft nur, wenn die Mutter mit ihm mit dem Buggy umherfährt.

Großeltern, Freunde und Nachbarn erteilen gut gemeinte Ratschläge, die das elterliche Erziehungsverhalten betreffen, die haben jedoch bisher nicht geholfen und machen die Situation für die Eltern noch schwieriger. Wenn wenigstens der Kinderarzt Verständnis hätte! Der vertröstet die Eltern von Mal zu Mal und versichert ihnen, das Kind sei eben ein »Spätentwickler« und man müsse nur lange genug warten und ihm »eine Chance geben«, dann würde es schon werden.

Am Abend des Einkaufbummels sitzen die Eltern noch zusammen und sprechen über die schwierige und nervenaufreibende Situation während des Einkaufs. Sie sind sich jetzt einig: So kann es nicht weitergehen, es muss etwas passieren. Gleich Montag werden sie beim Kinderarzt anrufen und ihn um die Überweisung zu einem Spezialisten bitten.

2          Die Autismusdiagnose

 

2.1       Diagnosestellung

Mit der Überweisung des Kinderarztes gehen die Eltern mit dem Kind zum Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ). Im Vorfeld haben sie bereits Fragebögen zur Vorgeschichte (Anamnese) ausgefüllt und aufgeschrieben, was ihnen Sorgen macht. Im SPZ werden die Eltern und das Kind freundlich begrüßt und sie werden in einen großen Untersuchungsraum mit motorischen Angeboten, einem Kindertischchen und ein paar Spielsachen geführt. Das Kind entdeckt eine mit bunten Bällen gefüllte Badewanne und fängt sogleich an, die Bälle dort herauszuholen und im Raum umherzuwerfen. Nun bemühen sich eine Krankengymnastin und eine Logopädin darum, Zugang zu dem Kind zu finden, d. h. mit ihm zu spielen und ihm Spaß im Kontakt zu verschaffen. Parallel dazu berichten die Eltern der anwesenden Psychologin, wie die Entwicklung des Kindes bis zum derzeitigen Zeitpunkt verlaufen ist und worüber sie sich Sorgen machen.

Die Familien sind i. d. R. insgesamt für zwei bis drei Termine im SPZ. Beim letzten Termin wird ihnen eine Diagnose bzw. ein Verdacht mitgeteilt. Die Berichte von Eltern über den Verlauf der Untersuchungen im SPZ sind sehr unterschiedlich. Manche Eltern berichten über eine sehr lange Zeit, in der sich das SPZ nicht auf eine Diagnose habe festlegen wollen, sodass sie viel zu spät gestellt worden sei. Jahre später habe bspw. ein Kinder- und Jugendpsychiater oder die Ärztin des Gesundheitsamts die Autismusdiagnose ausgesprochen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist eine lange Zeit ohne eine behinderungsspezifische Förderung vergangen. Anderen Eltern dagegen konnte sofort geholfen werden. In jedem Fall ergibt sich hieraus der wichtige Rat an Eltern, sich nicht ›abwimmeln‹ zu lassen, sondern ggf. eine andere Diagnostikeinrichtung aufzusuchen, z. B. das SPZ in der Nachbarstadt.

Wenn die Eltern mit dem dringenden Verdacht oder der sicheren Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung, d. h. einem Frühkindlichen Autismus, nach Hause geschickt werden, wird ihnen geraten, unbedingt so schnell wie möglich eine Frühförderung zu initiieren, am besten durch einen autismusspezifischen Anbieter.

Nun ist eine Diagnose gestellt, und die Eltern fühlen sich erschlagen von dem, was sie schon lange befürchtet haben. Eine schwere Behinderung bei ihrem ersehnten und geliebten Kind. Sie erhalten noch umfangreiche Informationen zu ihren Rechten als Eltern eines derart beeinträchtigten Kindes wie Pflegegrad und Pflegehilfsmittel, Schwerbehinderung, Steuerentlastungen usw. und werden gebeten, in einem halben Jahr wiederzukommen. Die Adresse der Frühförderstelle wird ihnen ausgehändigt und ein Bericht an den Kinderarzt angekündigt.

Viele Eltern berichten, dass sie sich in den ersten Wochen nach der Diagnosestellung in einer Phase tiefer Traurigkeit und Verzweiflung befunden hätten. In ihnen hätten sich starke Gefühle von Wut (»Warum gerade wir?«), Hilflosigkeit (»Wie sollen wir das nur schaffen?«), Angst (»Wie wird unsere Zukunft und die unseres Kindes aussehen?«) und Mutlosigkeit (»Damit können wir nicht zurechtkommen, damit haben wir ja gar keine Erfahrungen!«) breit gemacht. Viele von ihnen fühlten sich in den ersten Wochen nicht dazu in der Lage, mit Freunden oder Familie darüber zu sprechen, auch weil sie sich schämten und sich überfordert und ratlos fühlten.

Die Mutter von Toni berichtet: Wir kamen mit dem Kind nach Hause mit dieser belastenden neuen Diagnose. Plötzlich ist alles anders, wir hatten die Wahrheit gehört und mitgebracht. Was nicht anders ist, das sind das Zuhause, die größere Tochter, die Familienangehörigen, die Räume, die Alltagsrituale, die Verpflichtungen. Das Kind ist nicht weniger anstrengend als vorher, das andere Kind muss pünktlich zur Schule gehen und bei den Hausaufgaben unterstützt werden, die Schmutzwäsche wartet und eingekauft werden muss auch noch. Aber nun ist da diese Diagnose, und wir müssen uns überlegen, wie es weitergehen kann. Dabei ist doch alles andere schon so anstrengend.

Zu den Zweifeln und der inneren Krise der Eltern kommt, dass sie sich Vorwürfe machen, selbst eine Schuld an der Diagnose bzw. dieser speziellen Behinderung zu haben. Man hat ihnen im SPZ etwas von Genetik gesagt – wer aus der Familie hat diese Veranlagung vererbt? Gibt es noch einen oder mehrere andere Gründe? Hat sich die Mutter in der Schwangerschaft nicht optimal ernährt? Hat es ein Ereignis gegeben, das zu der Autismus-Spektrum-Störung geführt haben könnte? Ein Erschrecken beim Kirmesbesuch, eine Infektion der Mutter, die vielleicht bagatellisiert wurde, ein Ereignis bei der Geburt, vielleicht völlig unbemerkt? Dass Eltern sich diese Fragen stellen, ist ganz normal, es geht immer darum, zu verstehen und sich erklären zu können, was passiert ist.

Manche Pädagogen versuchen, die Eltern davon abzuhalten, sich diese Gedanken zu machen mit dem Ratschlag, die Autismusdiagnose anzunehmen und damit so gut wie möglich zu leben. Das jedoch ist nicht so einfach. Fachleute sagen, dass es mehrere Phasen der Verarbeitung von Trauer gibt, wenn Eltern mit einer solchen Diagnose konfrontiert werden. Diese Phasen laufen niemals linear ab, sondern in unterschiedlicher Art und Weise. Jedoch sind immer Gefühle von Trauer, Verzweiflung und Wut vorhanden und es vergeht Zeit, bis die Diagnose akzeptiert werden kann. Dann schaffen es die Eltern, sich Gedanken zu machen, wie es weitergehen kann. Manche Eltern brauchen hierfür sehr lange und verfallen zunächst in eine tiefe Depressivität, bei anderen tritt die Fähigkeit, in Handlung und Aktivität zu gehen, schon viel früher ein. Es gibt kein ›richtig‹ oder ›falsch‹. Es ist nur wichtig, dass irgendwann etwas passiert, also Schritte für eine Förderung initiiert werden. Schwierige Lebensphasen, in denen nochmals Zweifel, Angst, Trauer, Wut oder Scham entstehen, kann es immer wieder geben und jedes Mal bedeuten sie eine schwere emotionale Zeit für die Eltern.

Ein anderer belastender Moment, über den immer wieder von Müttern autistischer Kinder berichtet wird, ist, dass manche Väter besonders große Probleme haben, die Autismusdiagnose zu akzeptieren. Mit der Geburt bzw. der Diagnose einer Behinderung wird das Selbstbild des Vaters als Mann gefährdet. Die veränderte Lebenssituation zwingt viele Väter und Mütter von persönlichen Lebensentwürfen, Träumen und Zielen Abschied zu nehmen. Zunächst einmal trifft das beide Elternteile gleichermaßen. Seine Berufstätigkeit erschwert dem Vater allerdings die Auseinandersetzung mit der Behinderung, da er häufig der Haupterwerbstätige der Familie ist. Er muss ›einen kühlen Kopf bewahren‹ und finanziell für die Familie sorgen, da liegt es nahe, die Arbeit qualitativ und quantitativ zu intensivieren, auch um nicht in dem Ausmaß mit der häuslichen Situation konfrontiert zu werden wie seine Partnerin. Die Geschlechterrolle verlangt darüber hinaus Sachlichkeit und Selbstkontrolle. Der Vater bewältigt die Behinderung des Kindes rationaler und hält seine Gefühle zurück, obwohl ihn die Erkenntnis, dass sein Kind nie normal sein wird und vielleicht niemals seine Wunschvorstellung von einem Sohn oder einer Tochter erfüllt sein wird, sehr trifft. Auch wenn seine Partnerin den Eindruck hat, dass er scheinbar ohne Gefühle auf die Behinderung reagiert oder diese sogar leugnet, kann es sein, dass in seinem Innersten eine sehr große Kränkung stattgefunden hat, die verhindert, dass er sich mit der Behinderung seines Kindes bewusst auseinandersetzt. Das ist kein aktives Leugnen, sondern eine Art der Verdrängung und ein Zeichen für einen großen Schmerz. Zusätzlich haben die Väter auch heute noch Angst vor sozialer Diskriminierung, weil sie befürchten, dass Kollegen oder Freunde geringschätzend auf sie herabblicken, weil sie ein behindertes Kind bekommen haben. Sie wollen vermeiden, dass sie für weniger leistungsfähig gehalten werden, weil es zu Hause ein Problem gibt, und versuchen, das mit erhöhter Leistungsbereitschaft wettzumachen. Allerdings birgt das die Gefahr der Überbelastung der Mütter und verhindert oft auch deren Möglichkeiten, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das führt vielfach dazu, dass die Mutter die Haupt-Bezugsperson des Kindes ist, und die Vater-Rolle durch diese Rollenteilung zwischen Mutter und Vater zusätzlich eingeschränkt wird. Die Mutter wird quasi zur Expertin der Behinderung des Kindes und der Vater wird in seiner Rolle eher als nebensächlich oder auch weniger kompetent angesehen. Es ist aber davon auszugehen, dass für die Entwicklung und das Wachsen in eine Geschlechterrolle für das Kind zwei positive Rollenvorbilder, nämlich Vater und Mutter, eine große Bedeutung haben.

Häufig ist es so, dass speziell die Väter bei bestimmten Aktivitäten vom Kind eindeutig bevorzugt werden, weil sie bspw. sehr gern sportlich sind, Tobespiele mögen oder die Kinder in handwerkliche oder draußen stattfindende Aktionen einbinden. Hier kann nur zugeraten werden, da es für das Kind und den Vater wichtig ist, eine Beziehung zueinander aufzubauen, und zwar so, wie sie für die beiden gut ist. Der Vater wird selbst herausfinden, wo die ›Schnittmengen‹ zwischen ihm und seinem Kind sind. Auch, wenn er sich vielleicht manchmal weniger konsequent oder pädagogisch korrekt verhält, kann er viel bewirken, indem er seiner Partnerin etwas von der Belastung abnimmt, seine eigenen Erfahrungen im Umgang mit seinem Kind macht und erfährt, was dieses besondere Kind für ihn bedeutet. Hier müssen auch die Mütter manchmal loslassen und ihren Partnern vertrauen, dass sie gut für das Kind sind, egal wie sie es anstellen.

Wenn man mit Eltern heranwachsender oder erwachsener Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen spricht, hört man heraus, dass die erste Zeit eine schwere Zeit war. Es gab viele schwierige Situationen und immer wieder habe man sich gefragt, ob man alles richtigmache und was man hätte besser machen können. Die Eltern berichten, dass sie immer unter Druck gestanden hätten, umzusetzen, was Pädagogen, Lehrer und Therapeuten gesagt hätten und sich Vorwürfe gemacht hätten, wenn das nicht möglich gewesen sei. Es sei häufig eine Art ›Spießrutenlaufen‹ gewesen. Es sei auch eine schwierige Sache gewesen, sich vor Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn erklären und rechtfertigen zu müssen. Bei gesunden Kindern wird längst nicht so kritisch hingeschaut, wie konsequent oder fundiert die erzieherischen Maßnahmen sind, hier hält sich das Umfeld eher zurück. Bei einem Kind mit Beeinträchtigung möchten viele gute Ratschläge geben und den Eltern sagen, was zu tun ist. Außerdem werden ihnen Prognosen in Aussicht gestellt, die jeder sachlichen Grundlage entbehren wie »aus dem wird ja doch nichts« oder »der wird irgendwann sprechen lernen«.

»Können Nichtbetroffene sich eigentlich vorstellen, was eine solche innere Auseinandersetzung bedeutet? Tiefgreifender dürften Sinnkrisen im Leben wohl kaum sein. Mir sind keine Eltern bekannt, die diesen Prozess nicht zutiefst und mit bleibenden seelischen Narben durchlitten hätten.« (Krebs 1997, S. 389)

Eltern erzählen, dass auch durch die Großeltern des Kindes immer wieder Druck entstehen würde, weil sie die Diagnose anzweifeln würden oder mit den Erziehungsmethoden der Eltern nicht einverstanden seien.

»Meine Schwiegereltern meinten immer, sie könnten mit Micha besser umgehen als wir. Erst als sie eine Woche lang auf ihn aufgepasst haben, weil ich mit seiner Schwester ins Krankenhaus musste, haben sie verstanden, wie schwierig es mit Micha ist. Plötzlich waren sie viel verständnisvoller mit uns.«

Empfohlen wird, dass Großeltern sich in die Situation der Familie hineinversetzen und Unterstützung anbieten, möglicherweise auch für die Geschwisterkinder. Großeltern sollten nicht fragen, ob sie helfen können, sondern wie sie helfen können. Für das autistische Enkelkind sollten die Großeltern feste Zeiten einplanen, in denen sie sich um es kümmern. Das Enkelkind benötigt Rituale und Routinen und freut sich, wenn die Großeltern sich bspw. mit ihm zusammen einen ganzen Tag um sein Lieblingsthema (Dampflok fahren, Klettern, Schwimmen etc.) kümmern.

2.2       Neuorientierung und Bewältigung der Diagnose

Irgendwann ist der Moment gekommen, wo bei den Eltern der Wunsch aufkommt, jetzt etwas zu tun. Gefühle von Trauer treten in den Hintergrund, und die Eltern beginnen, sich über Förderung und Erziehung Gedanken zu machen. Sie stellen sich die Frage, was für ihr Kind gut sein könnte, und wie sie das ermöglichen können. Sie fangen an, sich Informationen bspw. im Internet zu besorgen und kommen mit anderen Eltern ins Gespräch. Sie suchen sich Menschen, die ihnen möglicherweise sagen können, wie die Prognose für das Kind ist, also welche Schule es eines Tages besuchen wird, ob es je sprechen lernen wird und wann man weiß, ob es geistig behindert ist. In dieser Phase sind die Eltern sehr empfänglich für Ratschläge von außen und neigen dazu, möglichst viele Ideen hören zu wollen und sich zu überlegen, wie sie sie umsetzen können. Sie geraten in eine Art ›Aktionismus‹, ohne zu wissen, wie sie all diese Pläne jemals werden umsetzen können.

Als die Mutter von Fabian sich von dem ersten Schock erholt hat, der die Autismusdiagnose in ihr ausgelöst hatte, fährt sie mit ihm in einen großen Spielzeugladen und kauft einen ganzen Einkaufswagen voll mit Lernspielen wie Puzzles, Farbzuordnungen, Lottospielen, Buntstiften, Malbüchern u. v. m. Zu Hause befüllt sie die Regale im Kinderzimmer damit und freut sich, dass es dort jetzt so bunt und vielfältig aussieht. Nun hat Fabian doch alle Chancen, etwas Neues auszuprobieren und neue Erfahrungen zu machen. Bisher wurden ihm so viele Stofftiere geschenkt oder auch Bälle und Spielzeuge, die Geräusche machen und glitzern. Nun wird ihm etwas angeboten, was ihn zum Lernen anregen wird. Die Verwandten haben auch schon gefragt, was er noch gebrauchen kann, und sie hat viele Ideen weitergegeben. Im Verlauf der darauffolgenden Wochen merkt die Mutter, dass Fabian überfordert ist mit der Vielzahl an Spielen und Angeboten, und sie beginnt, Spiele zunächst wegzustellen und ihm nur eine begrenzte Auswahl zur Verfügung zu stellen.

2.3       Verwandtschafts- und Freundeskreis

»Mein Kind ist autistisch.« »Bei Toni wurde Autismus festgestellt.« »Die Ärzte vom Sozialpädiatrischen Zentrum haben gesagt, dass Fabian Autismus hat.« So oder ähnlich wird die Diagnose weitererzählt. Verwandte und Freunde haben sich schon länger Sorgen gemacht, was mit dem Kind los ist, weil es so anders ist. Vielleicht hat auch schon jemand diesen Begriff ausgesprochen, weil er über Autismus etwas gelesen oder einen Film dazu gesehen hat. Nun ist die Bestätigung da. Der eine betont, das habe er sich ja schon gedacht, der nächste stellt die Korrektheit der Diagnose in Zweifel, noch jemand wirft den Eltern vor, das sei eine »Modediagnose« und die Probleme lägen nur im Erziehungsverhalten der Eltern begründet. Die beste Freundin nimmt einen in den Arm, tröstet und verspricht Unterstützung.

Für die Eltern beginnt die Auseinandersetzung damit, wer von der Familie und im Umfeld von dieser Diagnose erfahren darf und wem man das lieber nicht erzählt. Ein Problem ist, dass das autistische Kind völlig normal aussieht, sich aber eben ganz anders verhält. Es gibt von mehreren Seiten gut gemeinte Ratschläge, die aber nicht umzusetzen sind bzw. nicht funktionieren. Mitmenschen vermitteln den Eltern, das Kind sei schlecht erzogen. Eltern berichten von dem Verhalten ihrer Kinder in der Öffentlichkeit, dass es manchmal wie ein ›Spießrutenlaufen‹ sei, mit dem Kind irgendwo hinzugehen. Schreien beim Einkauf und Unruhe beim Straßenbahnfahren gehörten zur Tagesordnung, das Kind lasse sich nicht richtig lenken, ignoriere offensichtlich Gebote und Verbote und benehme sich häufig nicht angemessen. Für die Eltern wird das nach einiger Zeit zur Gewohnheit, sie lassen sich ab irgendeinem Zeitpunkt hiervon nicht mehr beirren und kaufen einfach weiter ein. Sie berichten jedoch auch davon, dass sie sich immer wieder im Erklärungsnotstand für das Verhalten des Kindes befänden und die Blicke der Mitmenschen auf sich und das Kind spüren würden, und das sei manchmal eine sehr belastende Situation.

Arne ist mit einem besonderen T-Shirt bekleidet, wenn die Eltern mit ihm bspw. essen gehen oder an einer Veranstaltung teilnehmen. Auf dem T-Shirt steht: »Ich bin Autist und was ist Ihr Problem?« Wenn er sich mit diesem T-Shirt bekleidet auffällig verhält, schmunzeln die Menschen eher, als dass sie sich aufregen, und manchmal kommt es zu freundlichen, kurzen Gesprächen.

Eltern sagen aus ihrer Erfahrung, dass es ein Unterschied sei, wem man von der Diagnose erzähle und wem nicht. Im größeren Verwandtschafts- und Freundeskreis hat es sich bewährt zu warten, bis Fragen gestellt werden. Wenn jemand fragt, wie es denn mit dem Kind sei, wie es sich entwickelt und warum es sich manchmal so ungewöhnlich verhält, kann man erzählen, was mit dem Kind los ist.

Praxistipp

Wenn man Verwandten, Freunden oder Nachbarn erklären will, was Autismus bedeutet, kann folgende Auflistung hilfreich sein:

♦  »Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken« (Autismus Deutschland e. V. 2018).

♦  Autismus hat genetische Ursachen, aber die Genetik allein reicht nicht zur Erklärung aus. Es muss etwas anderes dazu gekommen sein, wie eine Komplikation bei der Geburt oder eine Infektion (bei Mutter oder Kind), oder eine Schädigung im Gehirn.

♦  Keiner ist schuld am Autismus. Autistisches Verhalten liegt nicht an einer fehlerhaften Erziehung, an falscher Ernährung oder daran, dass das Kind nicht so sein ›will‹ wie andere Kinder.

♦  Autismus ist eine Störung der Wahrnehmungsverarbeitung. D. h., dass das Kind hören, sehen, fühlen usw. kann. Die Reize können jedoch nicht wie bei gesunden Menschen im Gehirn verarbeitet werden. Es entwickeln sich dadurch Ängste, Stereotypien und Wahrnehmungsauffälligkeiten. Manchmal mutet das Verhalten der Kinder bizarr oder skurril an. Wahrnehmungsprobleme können auch zu impulsivem Verhalten wie z. B. Schreien, Hauen oder Weglaufen führen.

♦  Autismus ist bei jedem Menschen anders. Es gibt Autisten, die niemals sprechen lernen, andere, die verbale Fortschritte machen und sich gut entwickeln. Manche bleiben ihr Leben lang unselbstständig, andere können ein einigermaßen selbstständiges Leben führen. Jeder autistische Mensch ist anders, es gibt keine zwei gleichen Autisten – so wie das auch bei anderen Menschen ist.

Als Toni zweidreiviertel war, erzählte die Mutter: »Seit einiger Zeit wird es immer schlimmer mit ihm. Wir können ihn kaum noch anfassen, weil er dann ganz laut schreit. Alle Körperpflege funktioniert nur mit Gewalt, ob wickeln, Zähne putzen oder an- und ausziehen. Sobald man ihm ein Kleidungsstück auszieht, es also über seine Hände oder Füße gezogen wird, schreit er erbärmlich. Manchmal beißt er sich dann in die Hände oder schlägt mit dem Kopf auf den Boden. Die Nase zu putzen ist unmöglich. Beim Füttern wischt er nach jedem Löffel den Mund mit dem Ärmel ab, isst immer von einem bestimmten Plastiklöffel und nur, wenn das Essen lauwarm und püriert ist und sich im vorderen Drittel des Löffels befindet. Sobald er ein Stückchen im Essen ertastet, isst er bei dieser Mahlzeit nicht weiter.«

2.4       Organisation familiärer bzw. naher Hilfen im Umfeld

Es ist wichtig, dass es Menschen im Umfeld gibt, die den Eltern etwas abnehmen, da der Alltag mit einem autistischen Kind häufig anstrengend und kräftezehrend ist. Das kann die Großmutter sein, die das Kind einmal in der Woche den ganzen Nachmittag mitnimmt und den Eltern so eine Verschnaufpause schenkt. Die Nachbarin bringt etwas vom Einkaufen mit. Die Freundin nimmt das Geschwisterkind mit ins Schwimmbad. Wichtig ist, dass die Eltern diese Hilfsangebote annehmen. Sie sollten hier keine falsche Bescheidenheit an den Tag legen, sondern die Unterstützung wirklich in Anspruch nehmen. Auch wenn Mutter oder Vater meinen, der größte Experte für ihr eigenes Kind zu sein und alles selbst schaffen zu können, ist es gut und richtig, das Kind manchmal einer anderen, vertrauten Person zu überlassen. Eine Mutter, die einen Nachmittag lang in Ruhe Einkäufe tätigen, Schlaf nachholen oder sich um das Geschwisterkind kümmern kann, kann noch besser für das autistische Kind da sein als die, die alles allein schaffen will.

2.5       Entwicklungsmöglichkeiten

Wenn Eltern neu mit der Autismusdiagnose konfrontiert werden, fragen sie häufig nach den Entwicklungsmöglichkeiten für das Kind. Es ist nicht möglich, Prognosen zu stellen, also vorherzusagen, wie das Kind sich entwickeln wird. Die Entwicklung bei autistischen Kindern verläuft oft sehr unregelmäßig, und kein seriöser Therapeut oder Arzt kann sagen, wie weit das Kind kommen wird. Die Auswirkungen, die aus der Autismus-Spektrum-Störung resultieren, können mithilfe von entsprechender Förderung und Unterstützung zwar gemildert werden. Autismus ist jedoch keinesfalls heilbar, sondern eine schwere, lebenslange Beeinträchtigung. Wichtig ist es, die Kinder möglichst früh zu fördern und günstige Bedingungen in ihrem Umfeld zu schaffen. Das ist es, was die Eltern für ihr Kind tun sollten, und was den größten Effekt haben wird. Ein fördernder Umgang und eine gute therapeutische Versorgung sind die wichtigsten Bausteine für die bestmögliche Entwicklung eines autistischen Kindes. Die Beteiligung der Eltern sowie deren Bereitschaft, die Förderung des Kindes im häuslichen Umfeld zu unterstützen, sind hierbei entscheidende und elementare Voraussetzungen. Ebenfalls notwendig ist die intensive Zusammenarbeit zwischen Eltern, Frühförderern, Ärzten usw. Sie sollte eine Kooperation ›auf Augenhöhe‹ mit besonderer Beachtung der Kompetenzen und Wünsche der Eltern des betroffenen Kindes sein.

Emilia erhielt Autismustherapie erstmals mit vier Jahren. Die ersten Fragen der Eltern beim Aufnahmegespräch waren: »Wird Emilia sprechen lernen? Wird sie je eine normale Schule besuchen können? Einen Schulabschluss schaffen? Kann sie allein leben, wenn sie erwachsen ist? Eine Beziehung haben und vielleicht eigene Kinder bekommen? Wird sie selbstständig sein oder immer auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sein?«