Aviel und die Zeitblasen - Sabine Houtrouw - E-Book

Aviel und die Zeitblasen E-Book

Sabine Houtrouw

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Beschreibung

Der zwölfjährige Aviel führt eigentlich ein ganz normales Leben. Er liebt seine Familie, spielt mit seinen Freunden im Fußballverein und interessiert sich für Geschichte. Eines Tages begegnet ihm ein sonderbares Streifenhörnchen mit magischen Seifenblasen. Als ihn eine dieser Blasen umschließt und in einen schillernden Nebel hüllt, wird Aviel durch Zeit und Raum geschickt. Er findet sich im Körper des jungen Friedrich wieder, der gerade seinen Knappenschlag erhalten soll. Im Mittelalter! Doch es soll nicht bei dieser einen Reise bleiben, denn dem kleinen Nager fallen noch allerlei Orte ein, an die es Aviel schicken möchte. Ein turbulentes und abenteuerreiches Jahr beginnt!

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Autorin
Ein ganz besonderer Tag
Knappenschlag im Mittelalter
Antikes Griechenland
Sunrise Zeremonie der Apachen
Piraten, damals und heute.
Kumari, Kindgöttin in Kathmandu
Jungbataillon der französischen Revolution
Die Himba in Namibia
Das Kloster der Shaolin
Das Totem der Innu
Das Fest Liberalia
Opferung bei den Inka
Abschied
Weitere Bücher von Sabine Houtrouw
Impressum

 

 

 

Aviel und die Zeitblasen

 

 

Sabine Houtrouw

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Autorin

Sabine Houtrouw wurde 1980 im Saarland geboren, machte dort ihre Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin und zog 2001 ins Rheinland, wo sie seither mit ihrer Familie lebt. Bereits in jungen Jahren regte sich eine blühende Fantasie in ihr, doch als Legasthenikerin den Mut zu fassen, ihre Ideen in Kinder und Jugendbüchern umzusetzen, gelang ihr erst 2020.

Inzwischen hat sie mehrere Bücher veröffentlicht und eine Ausbildung zur Schreibpädagogin abgeschlossen. Die Themen ihrer Bücher sind dabei so breit gefächert wie die Altersspanne der Zielgruppen. Von Vorlesegeschichten für die Kleinen über Kinderkrimis bis hin zum gesellschafts

kritischen Jugendroman.

Sie verbindet ihr pädagogisches Fachwissen aus über 20 Jahren Berufserfahrung mit der literarischen Arbeit, um Kindern und Jugendlichen, auch solchen mit Förderbedarf, nicht nur Mut zum Lesen, sondern auch zum Schreiben zu machen.

Seit 2022 engagiert sie sich im Verband deutscher Schriftsteller*innen (VS NRW) und ist seit 2024 stellvertretende Landesvorsitzende. Auch die Gesellschaft für Literatur NRW (GfL) unterstützt sie als Teil des Vorstandes.

Ein ganz besonderer Tag

Aviel packte seine Schuhe in die Tasche und zog den Reißverschluss zu. Heute war der große Tag! Das Finale des Fußballturniers, bei dem die besten Mannschaften aus Nordrhein-Westfalen gegeneinander antraten, und ausgerechnet seine kleine Stadtmannschaft spielte nun das alles entscheidende Endspiel gegen ein Team aus Köln. Austragungsort war das heimische Stadion, wenn man es denn so nennen mochte. Vermutlich war es das größte Sportereignis, das hier in den letzten 20 Jahren stattgefunden hatte. Demnach war auch die lokale Presse anwesend und das Spiel wurde im Radio übertragen. Aviel war aufgeregt, aber das lag weniger am Spiel. Als Kapitän seiner Mannschaft sollte er vorher noch ein Interview geben.

Bei so einem Interview wurden immer die Standardfragen gestellt. Erstens: Was ist es für ein Gefühl, plötzlich mit den Großen zu spielen? Dämliche Frage, denn die Jungs auf dem Platz waren ja alle etwa gleich alt und die persönliche Leistung unabhängig vom Geburts- oder Wohnort. Zweitens: Was ist euer Ziel, wenn ihr an das bevorstehende Spiel denkt? Auch nicht besser. Gewinnen! Was auch sonst? Drittens: Ist der Druck für dich als Kapitän höher als für den Rest der Mannschaft? Die Liste dieser Fragen konnte noch um einige erweitert werden.

Doch es gab auch Fragen, die anders waren. Woher kommt der Name Aviel? Tja, das war der erste Moment, in dem er ausholen musste und gleichzeitig wusste, dass es die meisten Reporter gar nicht interessierte. Zudem wurde der Name oft genug falsch ausgesprochen. Richtig wäre vom Klang Aviell, mit der Betonung auf dem E und einem schnellen L. Der Name war hebräisch und bedeutete: Gott ist mein Vater. Aviel war allerdings christlich getauft und seine Eltern hießen Peter und Luise. Den Namen hatte er bekommen, weil sein Vater es im letzten Moment geschafft hatte, im Kreißsaal zu erscheinen, bevor er geboren wurde. Die Rückreise von der Ausgrabung in Israel hatte wesentlich länger gedauert als geplant. Seine Eltern hatten beschlossen, jedem ihrer Kinder einen Namen aus dem Land zu geben, in dem ihr Vater zuletzt gearbeitet hatte. Sein großer Bruder hieß Aiden, eine verniedlichte Form des Namens des keltischen Sonnengottes. Seine kleine Schwester hatte den Namen der ägyptischen Göttin der Schöpfung bekommen und hieß Neeth. Derzeit war Aviels Mutter schwanger und sein Vater in Indien unterwegs. Also würde das neue Baby einen indischen Namen erhalten.

Prinzipiell fand Aviel die Sache mit den Namen echt cool, denn sie waren alle etwas Besonderes, aber sie passten nicht so recht zu der optischen Erscheinung, die die Leute beim Hören dieser außergewöhnlichen Namen erwarteten. Alle Geschwister hatten hellblonde Haare und grüne Augen. Neeths Gesicht war übersäht mit feinen Sommersprossen, diese hatte Aviel zum Glück nicht. Laut seiner Oma hatte er die großen Augen und die vollen Lippen seiner Mutter und das markante Kinn seines Vaters. Zudem lächelte er fast ständig. Nicht, dass das Leben immer zum Lachen wäre. Er fand jedoch nichts schlimmer als hängende Mundwinkel. Bei manchen Leuten sah es so aus, als müsste man sie auf den Kopf stellen, damit sie lächelten. Zudem kam man lachend einfacher durchs Leben und manchmal konnte er andere damit anstecken. Aviel war für sein Alter groß gewachsen, recht muskulös und trotzdem wendig. Damit war er der ideale Torwart. Den Posten als Kapitän hatte er wegen seiner Art bekommen, das Team auf dem Platz zu motivieren. Egal, ob sie in Führung lagen oder nicht: Er wusste, wie er jeden Einzelnen neu antreiben konnte. Das machte doch eine Mannschaft aus! Jeden für das loben und anerkennen, was er zum Spiel beitragen konnte. Genau damit hatten sie es geschafft, im Turnier so weit zu kommen. Sie ließen sich nicht ins Bockshorn jagen, nur weil die Gegner aus großen Städten kamen. Dem Gewinner des Turniers winkte eine Woche Mannschaftstraining bei einem ehemaligen Trainer der Bundesliga. Das war der Traum eines jeden Jungen, der bei diesem Event mitmachte, und eine Möglichkeit, von einem Talentcoach entdeckt zu werden. Aviels Mannschaft war nur noch einen Sieg von diesem Traum entfernt, und damit wäre auch die letzte Frage im Interview klar: Ist es dein Ziel, ein berühmter Torhüter zu werden? Vielleicht einmal in der Reihe der Großen zu stehen? Oliver Kahn, Jens Lehmann, Manuel Neuer und dann Aviel Mertens? Ist es das, was du anstrebst? Die ehrliche Antwort wäre: Nein.

Die wenigsten 12-Jährigen wussten genau, was sie werden wollten, aber Aviel schwankte nur noch zwischen zwei Berufen: Entweder würde er ein Archäologe werden wie sein Vater oder Schriftsteller. Er liebte die Geschichten, die sein Vater erzählte, wenn er von seinen Reisen zurückkam. Es gab kaum etwas Schöneres als die Zeiten, in denen die ganze Familie zusammensaß und seinen Erzählungen lauschte. Aviel hatte ihn schon oft gefragt, ob er nicht ein Buch schreiben wolle, über alles, was er erlebt hatte. Jedes Mal schüttelte sein Vater den Kopf und meinte: »Aviel, jeder Stein, jede Scherbe und jeder Knochen, den ich finde, erzählt seine eigene Geschichte. Ich bin gesegnet, dass ich sie hören darf, dass ich sie erleben darf. Wer wäre ich, würde ich sie in schlechter Qualität zwischen zwei Buchrücken packen?« Damit war für ihn die Sache erledigt, aber Aviel sah das anders. In seinen Augen war es eine Verschwendung, sie nicht niederzuschreiben. Wenn er selbst Schriftsteller sein würde, dann könnte er jedes Wort für die Nachwelt erhalten, aber es wären immer die Geschichten aus zweiter Hand. Wie war es wohl, eine Mumie zu untersuchen und ihre Vergangenheit selbst zu ergründen? Sein Vater arbeitete für ein großes Museum, wodurch er zu verschiedenen Ausgrabungsorten reisen konnte, um die Arbeiten vor Ort in Augenschein zu nehmen. Irland, Amerika, Ägypten, Israel und jetzt Indien. Er hatte so viele Orte bereist und seinen Kindern unzählige Bilder mitgebracht. Das war aber nicht das Gleiche! In seinen Träumen war auch Aviel an all diesen Orten gewesen. Irgendwann wollte er sie mit eigenen Augen sehen und vielleicht eigene große Entdeckungen machen.

So viel Spaß er auch am Fußballspielen hatte, er würde nicht sein Leben lang darauf warten, einen Ball im richtigen Moment abwehren zu können. Das war die Wahrheit, doch für das Interview wäre es angebrachter, die Frage mit einem knappen Ja zu beantworten. Er griff nach seiner Sporttasche und seufzte. »Ich bin dann mal los!«, rief er in Richtung Küche, aus der einen Moment später seine Mutter erschien.

»Bist du wirklich sicher, dass ich dich nicht begleiten soll? Es ist doch so ein wichtiges Spiel.« Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Allerdings hatte sie bei der letzten Schwangerschaft eine Fehlgeburt erlitten. Ihr Arzt riet daher dringend von allem ab, was sie zu sehr anstrengen würde. Das dichte Gedränge im Fußballstadion wäre definitiv nicht das Richtige, auch wenn Aviel sie gerne dabeigehabt hätte.

»Nein, Mama, lass mal besser. Aiden holt Neeth vom Ballett ab und sie kommen zum Anfeuern. Wir werden dir später alles haarklein erzählen. Ruh dich aus und genieß einen sturmfreien Nachmittag.«

»Und du hältst deinen Kasten sauber! Versprochen?« Aviel schmunzelte, weil seine Mutter liebend gerne die Formulierungen übernahm, die sie von den Fußballkommentatoren im Fernsehen hörte. Er stellte seine Tasche noch mal kurz ab und gab seiner Mutter einen dicken Kuss auf die Wange.

»Versprochen!« Dann war es höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen.

 

Knappenschlag im Mittelalter

Auf dem Weg zum Stadion musste Aviel durch den großen Park laufen. Die Stadtverwaltung hatte zu wenig Geld für eine ordentliche Pflege des Geländes, wodurch es viele verwilderte Bereiche gab. Aviel kannte jeden Winkel des Parks, denn für die Kinder war es eher ein Vorteil, dass alles wild wucherte. Früher war hier ihr Zauberwald gewesen, also für seinen großen Bruder und ihn. Jetzt war es ein geheimnisvolles Feenreich für Neeth, die mit ihren fünf Jahren eine wahrlich blühende Fantasie hatte. Aviel spielte wesentlich lieber mit ihr hier im Park als zu Hause mit der ganzen Armee an Feen und Einhörnern, die sie in allen Größen und Farben besaß. Aiden war bereits 15 Jahre alt. Seit einem halben Jahr war er in sein neues Zimmer im Keller gezogen und seitdem hatte auch Aviel sein eigenes Reich. Doch oft genug vermisste er die Geräusche seines Bruders in der Nacht. Die beiden waren wie Pech und Schwefel, doch seit Aiden seine neue Freundin Nadine hatte, wollte er sich ungestört mit ihr in seinem Zimmer aufhalten können. Die Räume im Haus waren neu aufgeteilt worden. Das große Zimmer von Aviel und Aiden grenzte nun an Neeths Zimmer und das des Babys, auch wenn dieses erst in einem halben Jahr geboren werden würde. Aviel hatte dafür ihr Zimmer bekommen und Aiden Papas ehemaliges Büro im Keller übernommen. Er hatte es ohnehin nie wirklich genutzt, denn entweder war er unterwegs oder er arbeitete in seinem Büro im Museum.

Jetzt, Anfang August, war der Park besonders schön. Die Bäume spendeten ausreichend Schatten und boten viele Möglichkeiten, um sich zwischen den Büschen zu verstecken. Manche Arten begannen schon, sich leicht zu färben, und in wenigen Wochen würde alles in den herrlichsten Farben leuchten. Dann hatte der Park wirklich etwas von Feenreich und Zauberwald. Aviel würde mit seinen Geschwistern Drachen basteln und steigen lassen. Es war egal, ob die gekauften Lenkdrachen besser flogen. Das Gefühl, einen selbstgebauten Drachen steigen zu lassen, war etwas Besonderes. Aviel blickte in den Himmel und entdeckte etwas, das ihn innehalten ließ. Es war eine einzelne Seifenblase, die schillernd durch die Luft schwebte. Aviel schaute sich um, aber er konnte keine weiteren Blasen entdecken. Er beobachtete diese eine Blase. Sie hielt ungewöhnlich lange und selbst am Schluss, bevor sie zerplatzte, verlor sie ihre Farbenpracht nicht. Erst jetzt, als die erste Blase verschwunden war, entdeckte er eine zweite. Sie schien vom Boden aufzusteigen, bis sie auf Höhe seines Gesichts schwebte – und zersprang. Aviel sah sich verwirrt um. Er war alleine im Park. Nirgends war ein Kind zu sehen. Zudem hätte es auf dem Boden liegen und pusten müssen. Langsam ging Aviel auf das Gebüsch zu, vor dem nun eine weitere Seifenblase schillernd durch die Luft flog. Er stellte seine Tasche ab und ging auf die Knie. Nun stiegen die Blasen schneller auf. Nacheinander kamen sie zwischen den Ästen hervor. Eine von ihnen schwebte so zielgerichtet auf ihn zu, dass er den Kopf wegziehen musste, damit sie ihm nicht an der Nasenspitze zerplatzte. Aviel verlor den Halt und saß nun auf dem Hintern. Aus dem Grün kam ein Streifenhörnchen heraus. Er hatte hier noch nie ein wildes Streifenhörnchen gesehen und erst recht keines, das auf den Hinterbeinen lief und in den Vorderpfoten eine kleine, hölzerne Flasche hielt. Aber genau das sah er jetzt, egal, wie oft er blinzelte, um den Blick wieder klar und streifenhörnchenfrei zu bekommen. Das kleine Tierchen kam zielstrebig auf ihn zu, und Aviel wusste nicht, ob er die Hand nach ihm ausstrecken und es streicheln oder lieber flüchten sollte. Plötzlich blieb es stehen und grinste Aviel regelrecht an. Es führte den Stab mit dem kleinen Holzring zum Mund und pustete. Immer weiter blies es Luft hindurch und die Seifenblase wurde größer und größer. Nun rückte Aviel doch zurück, aber nicht schnell genug. Die Seifenblase traf ihn, doch sie zerplatzte nicht. Sie hüllte ihn ein und Aviel sah das Schillern in allen Regenbogenfarben nun aus dem Inneren der Blase. Es roch nicht nach Seife, sondern nach frischgeschnittenem Gras und Morgentau. Auf seiner Haut spürte er eine kühle Feuchtigkeit, als würde er in einem Nebel sitzen, nur dass dieser Nebel langsam dichter wurde und in allen Farben schimmerte. Es war wunderschön!

Aviel sah nichts mehr vom Park. Um ihn herum begann der bunte Nebel zu wirbeln, und ihm wurde schwindelig. Er wollte die Augen schließen, doch das änderte nichts. Alles um ihn herum drehte sich, und auch er selbst schien plötzlich zu schweben und zu kreisen. Immer und immer schneller, bis mit einem Mal die Blase platzte. Das Streifenhörnchen war wie vom Erdboden verschluckt und die Seifenblasen auch. Dummerweise war auch der gesamte Park verschwunden. Er sah sich um und erkannte dicke, steinerne Wände, ein Fenster mit schweren Vorhängen und einen Kamin, in dem ein wärmendes Feuer flackerte. Er saß auf einem riesigen Bett in einem ihm fremden Zimmer. Neben ihm auf einem hölzernen Schemel stand ein Tablett mit einer Kanne und einer Schüssel. Er stellte den Krug und die Schüssel beiseite und griff nach dem Tablett. Mit dem Ärmel seines beigen Hemdes rieb er über die Oberfläche, bis diese glänzte und er sie als Spiegel benutzen konnte. Das Gesicht, welches ihm entgegenblickte, war ihm unbekannt! War das ein Traum? Aviel sah an sich herab. Er trug ein langes Nachthemd aus grobem Stoff und sonst nichts. Es fühlte sich seltsam an, aber das lag nicht nur an dem Hemd. Der ganze Körper war ihm fremd, so fremd wie das Gesicht. Wieder betrachtete er das Spiegelbild. Dunkle Augen blickten ihn an und die braunen Haare waren mit einem Streifen Stoff zusammengebunden. Auf seinem Gesicht war ein leichter Bartwuchs zu erkennen. Der Junge war offensichtlich älter als Aviel selbst. Die Gesichtszüge wirkten streng und auf der Stirn hatte er eine deutlich sichtbare Narbe. Er legte das Tablett beiseite und erhob sich vom Bett. Die Ausstattung des Zimmers war schlicht. Es gab einen einfachen Tisch und einen Stuhl dazu. Auf dem Tisch stand ein kleines Gefäß mit Tinte, daneben lag eine Schreibfeder. Über den Stuhl waren Kleidungsstücke gelegt, die er teilweise gar nicht kannte. Er erinnerte sich an ein Freilichtmuseum, das er mit seiner Familie besucht hatte. War er jetzt auch in einem solchen Museum? Aber warum sah er selbst dann ganz anders aus? Er schob die schweren Vorhänge zurück und stieß die hölzernen Fensterläden weit auf. Ein eiskalter Wind blies ihm entgegen, trotzdem lehnte Aviel sich weit aus dem Fenster. Er blickte auf einen großen Innenhof, in dem ein geschäftiges Treiben herrschte. Es wirkte wie das Set zu einem Film über das Mittelalter, aber es gab keine Kameras. Er musste träumen, denn anders konnte Aviel sich das alles wirklich nicht erklären. Aber warum sollte er jetzt schlafen? Er war doch auf dem Weg zum Spiel gewesen.

Hinter ihm öffnete sich die Tür und Aviel drehte sich um. Ein Mädchen betrat das Zimmer und Aviel wurde sich schlagartig der Tatsache bewusst, dass er keine Unterhose trug. Hastig trat er vom Fenster weg und zum Tisch. Er griff sich das erste Kleidungsstück vom Stuhl und hielt es sich vor. Himmel, war ihm das peinlich! Wer war dieses Mädchen?

»Friedrich, was ist mit dir? Du siehst aus, als sähest du einen Geist und nicht deine Schwester. Sieht mein neues Festgewand denn so furchtbar aus?« Das Mädchen lachte und schüttelte den Kopf. »Ich finde, die Stickereien sind mir gut geglückt. Was meinst du?« Mit diesen Worten drehte sie sich einmal im Kreis. Sie sah wunderschön aus mit ihren langen, dunklen Haaren, die kunstvoll zu einem Zopf geflochten waren. Sie trug ein langes Kleid aus demselben Stoff wie sein Hemd und darüber ein grünes Gewand mit bunten Blumenstickereien. Jetzt fiel Aviel wieder etwas ein. Wurde dieses Kleid nicht als Höllenfenster bezeichnet? Der Name klang so gruselig, dass Aviel ihn sich gemerkt hatte. Das Mädchen hatte ihn Friedrich genannt, aber wie hieß sie? Wenn sie seine Schwester war, dann sollte er sich doch an ihren Namen erinnern können! Irgendetwas musste er zu ihr sagen. »Ich hatte einen sehr merkwürdigen Traum.«

»Ja, danach schaust du aus«, erwiderte sie lachend. »Du solltest dich schnell ankleiden. Immerhin ist heute der große Tag! Mutter hat dir alles bereitgelegt. Du wirst sehr stattlich aussehen bei der Zeremonie. Ich bin so stolz auf dich. Mein großer Bruder erhält den Knappenschlag! Beeil dich und komm in die große Halle, sonst ist vom Frühstück nicht mehr viel da.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zur Tür hinaus.

»Danke, Barbara.« Barbara! Wieso hatte er das gesagt? Woher kam der Name plötzlich? Doch an ihrem strahlenden Lächeln, als sie ihm kurz zunickte, erkannte er, dass er damit richtig gelegen hatte. Knappenschlag? Aviel überlegte, was er darüber wusste. Wie jedes Kind hatte er Bücher über Ritter gelesen. Ein Ritter begann seine Laufbahn als Page. Mit etwa 14 Jahren wurde er zum Knappen und begann damit seine Ausbildung im Umgang mit Schwert und Schild, im Turnierkampf und Ähnlichem. Am Ende wurde er dann von seinem Ritter, der ihn ausgebildet hatte, selbst zum Ritter geschlagen. Über diese Zeremonie stand in seinen Büchern genug, doch was war der Knappenschlag? Was erwartete man von ihm und was würde passieren, wenn jemand merkte, dass er nicht Friedrich war? Seufzend griff er nach den Kleidern auf dem Stuhl und begann, sich anzuziehen. Erst die Bruche, die eine Art mittelalterliche Unterhose war. Dann die Beinkleider, Tunika, Gürtel und zuletzt die Stiefel. Er zog sich an, als hätte er nie etwas anderes getragen, und die Begriffe tauchten wie von selbst in seinem Gedächtnis auf. Wie Erinnerungsfetzen, die langsam wiederkehrten. Waren das seine Erinnerungen? War er in Wirklichkeit Friedrich und Aviel nur ein Traum? Nein, definitiv nicht! Er wusste alles über seine Familie, seine Zeit und sein Zuhause. Doch in seinem Kopf tauchten auch Stück für Stück die Erinnerungen an Friedrichs Leben auf. Es gab nur eine Möglichkeit, um herauszufinden, was hier vor sich ging. Er band sich die Haare frisch zusammen und verließ sein Zimmer, um sich auf den Weg zur großen Halle zu machen.

In dem Moment, als Aviel die Tür hinter sich schloss, fiel ihm der Weg ein, den er gehen musste. Und nicht nur das. Er befand sich in der Burg Wolframs von Hohenberg, wo er seit einigen Jahren lebte. Seine Eltern waren vor wenigen Tagen angereist, um den heutigen Tag miterleben zu können. Bilder von ihren Gesichtern tauchten in Aviels Gedanken auf und er wusste, dass er sie in der Halle erkennen würde. Die Kammer, in der er diese Nacht geschlafen hatte, war ihm neu zugeteilt worden. Vorher hatte er mit dem Gesinde in einem großen Schlafraum genächtigt. Als Knappe hatte er jetzt jedoch einen anderen Stand und neue Privilegien. Sein Weg durch die Burg war lang, und er spürte, wie der Wind durch die Ritzen der Mauern pfiff. Es war kalt und Aviel war dankbar für die vielen Schichten an Kleidung, die ihn warmhielten. Bevor er jedoch zum Essen gehen wollte, musste er noch zum Abort, also zum Klo. Aviel schritt durch den Innenhof und sah sich um. Knechte und Mägde gingen ihrer Arbeit nach. Der Schmied war gerade dabei, ein Pferd neu zu beschlagen. Sein Pferd! Ritter Wolfram hatte es gemeinsam mit ihm ausgesucht. Morgen würde er beginnen, auf diesem Pferd das Tjosten, oder auch Lanzenstechen genannt, zu lernen. Aviel spürte einen Stolz in sich aufsteigen, der nicht sein eigener war. Also war Friedrich bei ihm. Teilten sie sich gerade seinen Körper? In Gedanken rief er nach Friedrich, doch es kam keine Antwort. Aviel spürte lediglich ein Gefühl innerer Wärme. Wenn dem also so war, dann war Friedrich ihm zumindest nicht böse. Aviel fühlte sich erleichtert, denn die ganze Situation war schon verwirrend genug, auch ohne einen wütenden zweiten Geist in seinem Körper zu haben. Na ja, eigentlich war er selbst ja der fremde Geist in Friedrichs Körper! Irgendwie musste er einen Weg finden, wieder in sein eigenes Leben zu kommen. Aber das hatte Zeit bis nach dem Knappenschlag. Eine solche Gelegenheit würde er wohl nicht noch einmal bekommen. Und falls doch alles nur ein Traum war, so konnte er ohnehin nicht beeinflussen, wann er aufwachen würde. Allerdings konnte er sehr wohl dafür sorgen, dass er noch später zum Essen erscheinen würde, wenn er weiter so trödelte. Also eilte er zur Toilette und anschließend zur großen Halle. Als er eintrat, verschlug es ihm fast den Atem.

Zum einen war die Luft hier eine Mischung aus Gerüchen, die Aviel in dieser Form noch nie gerochen hatte und auch nie hätte riechen wollen: der Duft von Hafergrütze, offenem Feuer, schlecht gewaschenen Menschen, Stroh und noch vielem mehr. Wer das nicht gewohnt war, dem könnte sich wirklich der Magen umdrehen. Zum anderen herrschte hier ein Gewimmel, wie Aviel es nicht erwartet hatte. Das alte Stroh am Boden wurde beisammengekehrt und ein Karren mit frischem Stroh stand schon bereit. Bänke und Tische wurden umgestellt und ordentlich blankgeschrubbt. Auch hier waren die Mägde unermüdlich bei der Arbeit. Am Rande der Halle sah Aviel seine Eltern mit ein paar Bewohnern der Burg an einem kleinen Tisch sitzen. Man schien ihn dringend erwartet zu haben, denn seine Mutter erhob sich bei seinem Anblick und eilte auf ihn zu. Friedrichs Mutter, korrigierte Aviel sich in Gedanken. »Da bist du endlich! Dass du ausgerechnet heute so trödeln musst! Ziemt sich das etwa für einen angehenden Knappen?« Sie sah ihn streng an und Aviel errötete.

»Tut mir leid, Mama. Ich war in Gedanken bei all den Aufgaben und der Verantwortung, die jetzt auf mich zukommen werden. Da habe ich wohl die Zeit aus den Augen verloren.«

»Mama?« Der verwirrte Blick von Friedrichs Mutter zeigte ihm deutlich, dass diese Form der Ansprache im Mittelalter eher nicht geläufig war. Er würde sich höllisch zusammenreißen müssen, um nicht von einem Fettnäpfchen ins nächste zu springen. Am besten wäre, er würde so wenig wie möglich sprechen. Das konnte er immerhin auf die Aufregung schieben. Sie sprach zum Glück einfach weiter, womit diese kleine Panne fürs Erste überstanden war. »Sei´s drum. Du wirst bei deiner Wacht in der Kapelle genug Zeit zum Denken haben. Jetzt stehen dringlichere Aufgaben an. Bis zum Fest müssen wir aus dem Knaben vor mir einen stattlichen Mann machen, und dafür benötigst du ein Bad, eine Rasur und einen Haarschnitt. Auf, auf!« Mit diesen Worten schob sie ihn wieder Richtung Ausgang und Aviel konnte lediglich einen sehnsüchtigen Blick auf die Speisen am Tisch werfen. Seine Schwester lief ihnen hinterher und steckte Aviel ein zusammengefaltetes Stück Stoff und einen Apfel zu. Das würde bis zum Fest reichen müssen. Der Gedanke daran, dass all dies für ihn gemacht wurde, erfüllte Aviel mit Stolz. Aber ein leichtes Schuldgefühl erinnerte ihn auch daran, dass dies eigentlich Friedrichs großer Tag war. Aviel war fest entschlossen, alles dafür zu tun, dass er ihn nicht verderben würde.

Seine Mutter brachte ihn in eine kleine Kammer, in der ein hölzerner Badezuber stand. Er war gefüllt mit dampfendem, klarem Wasser. Natürlich, so etwas wie Badezusatz gab es in dieser Zeit nicht. Auffordernd sah sie ihn an, und mit einem kleinen Schreck verstand Aviel, dass sie den Raum wohl nicht verlassen würde, damit er sich ausziehen konnte. »Äh, könntest du dich wohl bitte umdrehen?«, fragte er kleinlaut, und sie folgte der Bitte mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. So schnell er konnte, legte er seine Kleider ab und stieg in die Wanne. Himmel, war das Wasser heiß! Hatte Friedrichs Mutter vor, jeglichen Schmutz von seinem Körper abzukochen? »Heiß!«, stieß er hervor, worauf seine Mutter einen Eimer mit kaltem Wasser nahm und es ihm lachend über den Kopf goss.

»Besser so?«, fragte sie und Aviel erkannte, dass Friedrich und seine Mutter eine ganz besondere Beziehung zueinander hatten. Rau, aber trotzdem herzlich. Zudem sorgte das kalte Wasser für einen klaren Kopf und die Temperatur im Bad war jetzt auch angenehmer. »Nun, darf ich jetzt wieder zu dir schauen oder soll ich dir blind die Haare waschen und schneiden?«

Aviel entschied sich für die erste Variante, worauf er ein Stück Seife bekam, um sich den Körper zu waschen und seine Mutter sich um seine langen Haare kümmerte. War es zu dieser Zeit üblich, dass Knaben lange Haare trugen und sie an diesem Tag geschnitten wurden? Er konnte sich nicht daran erinnern, in den Büchern etwas über die Frisuren der damaligen Zeit gelesen zu haben. Als Friedrichs Mutter mit seinen Haaren fertig war, ließ sie ihn aus der Wanne steigen und seine Kleidung für das Fest anlegen. Anschließend fragte sie: »Soll ich dir den Bart rasieren oder möchtest du das selbst tun?« Aviel dachte einen Moment darüber nach. Er hatte sich selbst noch nie rasiert und war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee wäre, hier mit scharfer Klinge und ohne Spiegel den ersten Testlauf zu machen. Daher antwortete er schlicht: »Es wäre schön, wenn du das machst.« Sie rasierte ihn nicht glatt, sondern brachte den leichten Bart in eine ordentliche Form. Als sie Aviel ein spiegelndes Tablett vorhielt, in dem er sich betrachten konnte, sah er tatsächlich einen stattlichen jungen Mann vor sich. Aviel hatte jegliches Zeitgefühl verloren. War es schon Mittag oder Nachmittag? Wie würde der weitere Tag verlaufen? Die Antwort gab ihm seine Mutter auch ohne, dass er gefragt hatte. »Friedrich, geh nun in die Kapelle und warte dort. Dein Vater wird dich zu gegebener Zeit holen. Du sollst wissen, dass wir unglaublich stolz sind auf den Sohn, den Gott uns schenkte. Den Apfel kannst du unterwegs noch essen, aber trödle nicht wieder.«

»Mach ich, oder eher mach ich nicht. Ach egal, ich werde mich beeilen.« Damit verließ Aviel das Bad und schlug den Weg in Richtung Kapelle ein. Sie befand sich in einem kleinen Raum, der strahlte vor so vielen Kerzen, die hier brannten. War das immer so oder nur für besondere Anlässe? Er sah sich im Raum um und betrachtete die Malereien an den Wänden und die Verzierungen des Altars. Er erkannte viele Szenen aus der Bibel, die bis ins kleinste Detail in den großen Stein geschlagen waren. Ihm fiel das Päckchen wieder ein, das Barbara ihm gegeben hatte, und er zog es aus seiner Tasche. Es war ein kleines, hölzernes Kreuz an einem dünnen Lederband. Ein Glücksbringer, vermutlich von ihr selbstgeschnitzt. Er knotete sich das Band um den Hals und verbarg das kleine Kreuz unter seinem Hemd. Aviel kniete sich vor den Altar und betete. Er dachte dabei an Friedrich, der heute einen großen und entscheidenden Tag hatte, der sein Leben grundlegend verändern und ihm eine feste Richtung geben würde. Er dachte an Friedrichs Familie, die ihn in die Obhut eines Fremden gegeben hatte, um ihm diese Laufbahn ermöglichen zu können. Aber er dachte auch an seine eigene Familie, die er inzwischen sehr vermisste. Wann und wie würde er nach Hause kommen? Hatte er in seinem Leben das Spiel verpasst? Was hätte das für Folgen? Suchte man schon nach ihm? Oder würde er wieder in dem Augenblick zurückkommen, an den er sich als Letztes erinnern konnte? Bei dem Streifenhörnchen mit den Seifenblasen.

Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, wie Friedrichs Vater die Kapelle betrat. »Friedrich?«, hörte er eine warme, tiefe Stimme hinter sich und drehte sich um. Da er nicht wusste, was er sagen sollte, überließ er das Reden Friedrichs Vater. »Mein Sohn, ich bin sehr stolz auf dich. Du hast all unsere Erwartungen und Hoffnungen erfüllt. Du hast deine Jahre als Page genutzt, um zu reifen und zu lernen. Nun ist es so weit, dass du ein Mann wirst, ein Knappe. Du trägst eine große Verantwortung, das weißt du doch?« Aviel war sich dessen nicht bewusst, da er sich bis zum heutigen Tag nie Gedanken darüber hatte machen müssen. Natürlich hatte er auch zu Hause für manches Verantwortung zu tragen: für seine Schulsachen, dass er pünktlich zum Training kam, dass er sich um seine Eidechse kümmerte und solche Sachen. Die Verantwortung, die Friedrich tragen würde, und das mit 14 Jahren, war allerdings eine ganz andere! In sich spürte er aber, dass Friedrich bereit dafür war, und so nickte er. »Gut, dann komm nun. In der Halle wartet man bereits auf dich.« Aviel spürte die starke Hand des Vaters auf seiner Schulter, als sie gemeinsam den Weg zur großen Halle gingen. In seinen Gedanken blitzten Erinnerungen an das auf, was Friedrich gelernt hatte. Grob wusste er nun, was ihn erwartete, und das nahm ihm die Angst davor, etwas völlig Falsches zu tun.

In der großen Halle hatten alle sich versammelt. Die Tische waren U-förmig aufgestellt und im hinteren Bereich standen Ritter Wolfram von Hohenberg und der Priester Gottfried. Alle Augen waren auf Aviel beziehungsweise Friedrich gerichtet. Der Geruch in der Halle war jetzt ein ganz anderer. Er war nicht der Einzige, der ein gründliches Bad genommen hatte. Zudem war die Luft vom Duft verräucherter Kräuter erfüllt. Aviel schritt die Halle entlang, bis er vor seinem Ritter und dem Priester stehen blieb. Hinter sich hörte er Friedrichs Vater sprechen: »Ritter Wolfram, vor wenigen Jahren gab ich Euch meinen kleinen Knaben, auf dass Ihr ihn zum Manne erzieht. Nun gebe ich Euch diesen Mann voller Demut, damit Ihr ihn zum Ritter formen könnt. Euch, Pater Gottfried, erbitte ich um Gottes Beistand, damit er nie vom rechten Weg abkomme und stets die Lehren des Herrn im Herzen trage.« Anschließend nahm er seine Hand von Aviels Schulter und setzte sich auf den Platz neben seine Frau und seine Tochter. Aviel fühlte eine Mischung aus Unsicherheit, Nervosität und Angst, aber auch Gottvertrauen und Stolz. Friedrich war bei ihm, und das erleichterte Aviel sehr.

Der Priester trat einen Schritt beiseite und gab den Blick auf einen kleinen geschmückten Tisch frei, auf dem ein Kurzschwert lag. Daneben standen ein kleines Gefäß, aus dem Weihrauch aufstieg, und eine Schale mit Weihwasser. Auch ohne die lateinischen Worte zu verstehen, wusste Aviel, dass der Priester nun das Schwert segnete. Im Raum herrschte absolute Stille, wodurch die Worte des Priesters bis in den letzten Winkel hallten. Als er fertig war, begann Ritter Wolfram zu sprechen: »Friedrich, du warst mir in den letzten Jahren ein treuer und loyaler Page. Du hast deine Aufgaben stets zuverlässig erfüllt und dich als würdig erwiesen, den Knappenschlag zu erhalten. Mit dem heutigen Tage beginnt deine Ausbildung zum Ritter. Du wirst viel lernen und du wirst hart lernen. Du wirst gehorchen und jede Lektion in Demut annehmen. Es ist ein großes Privileg und eine große Verantwortung.«

Ich muss stillstehen, ging es Aviel durch den Kopf, und einen Moment später traf ihn ein Schlag von Ritter Wolfram ins Gesicht. »Das ist dafür, dass du es nie vergisst.« Völlig verblüfft und mit schmerzender Wange stand Aviel da und rührte sich nicht. Sein Ritter machte dem Priester Platz, der ihm, unter feierlichen Gesängen in Latein, das Kurzschwert überreichte. Anschließend schloss Ritter Wolfram ihn in die Arme, und ein tosender Jubel erfüllte die Halle. Die Zeremonie war beendet und das Fest sollte beginnen. Aviel erhielt eine Schwertscheide, in die er sein neues Schwert steckte und es anschließend auf den Tisch legte. Jeder im Raum konnte es sehen. Anschließend nahmen auch sie ihre Plätze an der Tafel ein und das Festessen wurde aufgetischt. Als Gemüse, frisches Brot, deftiger Eintopf und gegrilltes Fleisch auf den Tischen standen, lief Aviel das Wasser im Mund zusammen und sein Bauch brummte laut. Kein Wunder, außer dem Apfel hatte er heute noch nichts gegessen. Er tat sich von allem etwas auf seinen Teller. Reis und Kartoffeln suchte er vergeblich. Natürlich! Diese Lebensmittel gab es zur damaligen Zeit in Europa noch nicht. Das Essen war ganz anders gewürzt, als er es von zu Hause kannte, aber das meiste schmeckte ihm sehr gut. Salz und Pfeffer fehlten, dafür wurden viele Kräuter verwendet. Zu trinken gab es Wein und Bier. Heute durfte er den Wein unverdünnt trinken, aber eigentlich hätte er darauf liebend gerne verzichtet.

---ENDE DER LESEPROBE---