Azure Black - Sebastian Kielmann - E-Book

Azure Black E-Book

Sebastian Kielmann

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Beschreibung

Azure befürchtet, den Verstand verloren zu haben, als er eines Tages auf einmal bewegende, leuchtende Augen im Schatten erkennt. Dann sprechen sie auch noch mit ihm! Bisher war sein Leben alles andere als einfach: Er ist 14, lebt auf der Straße, kann sich nicht an seine Eltern erinnern und hat kaum Freunde. Auch dass er in der Schule einer der Besten ist, macht ihn nicht beliebter. Aber nun wird es noch komplizierter: Er kann plötzlich Dämonen sehen, außerdem bedroht ein Dämonen-Jäger die Menschen in der Stadt und sein bester Freund ist verschwunden. Doch aus Herausforderungen lernt man am meisten. Azure steht vor schwierigen Entscheidungen: Sind die Dämonen seine echten Feinde oder kommt das Böse aus einer ganz anderen Richtung? Wie kann er die Menschen retten? Ein neuer Krieg zwischen Dämonen, Dämonen-Jägern und Dämonen-Bändigern bahnt sich an.

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Seitenzahl: 366

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Vorwort

In letzter Zeit musste ich viel für meine Firma verreisen und dabei suchte ich immer nach persönlichen Geschenken für meine Kinder, aber so richtig perfekt war keins. Die Geschichte von Azure aber schlummerte währenddessen immer in meinem Kopf. Als ich auf einem Flug nach Singapur nicht schlafen konnte, kein Internet hatte und nichts zum Lesen, begann ich mit der ersten Zeile. Von Satz zu Satz schrieb sich die Geschichte von selbst, und noch vor der Landung waren die ersten zwei Kapitel geschrieben. Falls dir die Geschichte nicht gefällt, musst du dich also bei ihr beschweren und nicht bei mir. Ich hatte nicht so viel Einfluss auf den Ablauf und bei der Auswahl der Charaktere.

Sobald sich die Möglichkeit ergibt, werde ich mal einen richtigen Autor oder jemanden mit mehr Ahnung fragen, ob Geschichten vom Bewusstsein oder Unterbewusstsein geschrieben werden.

Ich veröffentliche meine Erkenntnis dann in einem nächsten Buch im Intro.

Aber zurück zur Geschichte. Im Amazonas gibt es viele Geschichten um Dämonen, auch in den Indianerdörfern, die nicht missioniert wurden. Es scheint ein Universalkonzept zu sein. Ich hab das Thema Dämonen recherchiert, um hier in der Geschichte nur welche zu nennen, die woanders auch schon Erwähnung gefunden haben. Detaillierte Infos zu ihnen gibt es leider nicht so viele, wie ich gedacht hatte. Aber ausreichend.

Da ich persönlich keine langen Intros mag, werde ich mich hier auch kurz halten. Diese Geschichte, die aus drei Teilen bestehen wird, widme ich meinen beiden Großen Kindern, Joceline und Julien. Ihr wurdet mir geschenkt, und wir haben uns explizit füreinander entschieden. Eine Entscheidung, die mein Leben bereichert hat und hoffentlich auch das eure. Ihr fandet die ersten Kapitel spannend, und so hoffe ich, dass auch die nächsten Kapitel euch gefallen werden.

Für alle anderen, denkt schon jetzt dran: viel Macht korrumpiert (schneller).

1

Ich komme schnell zur Sache. Es ist eher ein Mythos, dass gute Geschichten eine lange, sehr detailreiche und erklärende Einleitung brauchen. Wie der entstand? Das weiß ich nicht.

Deshalb überspringen wir die ganze Vorgeschichte. Alles, was relevant und wichtig sein könnte, wird sicher im Laufe der Geschichte erwähnt. Wenn nicht, sorry, dann war es nicht wichtig.

Es begann alles, als die Sonne Azures Augen traf und ihn durch ihre Helligkeit weckte, oder war es weniger romantisch und es war sein Magen, der so laut knurrte, dass Azure davon geweckt wurde? Ich weiß es nicht mehr. Fast jedes Mal, wenn jemand mir seine Geschichte erzählte, war es ein anderer Grund, wieso er aufgewacht war. Jedenfalls war es aber ein Tag wie jeder andere. Die Welt drehte sich genauso wie am Tag davor.

Die Menschen gingen an Azure vorbei und beachteten ihn nicht, wie immer, seit er sich erinnern konnte. Hin und wieder warf ihm jemand eine Münze hin oder legte eine in seinen Becher.

Aber morgens, wenn er aufwachte, war in der Regel nicht so viel im Becher. Nicht ausreichend, um etwas zu essen zu holen.

Azure streckte sich, blinzelte in die Sonne und stand auf.

Er schaute um sich, dann nahm er seinen Becher, packte die wenigen Münzen in seine Hosentasche und setzte seinen Rucksack auf. Es war Zeit, sich was fürs Frühstück zu suchen und sich zu waschen. Ganz in seiner Nähe war ein Fluss und da es Sommer war, müssten dort sicher ein paar Bäume mit Früchten zu finden sein. Im Wasser kann er sich außerdem kurz baden und auch seine Zähne putzen. Während der Schulzeit aber benutzte er meistens die Toiletten im Schulgebäude. Nur im Winter, wenn es zu kalt war, ging Azure nach Schulschuss auf öffentliche Toiletten, um sich zu waschen. Da es aber heute warm war, und er wieder im Freien geschlafen hatte, ging er schlendernd zum Fluss hinunter.

Wenige Minuten später befand er sich schon im Fluss und hielt viele Beeren in seinen Händen, die er sorgfältig wusch. Nur ein paar Augenblicke später hatte er sie auch schon verspeist, sein Magen knurrte nun weniger. Er putzte auch gleich seine Zähne mit einer extrem zerfetzten Zahnbürste, aber die Zahnpaste war ganz neu. Seine Hygiene und Pflege war Azure sehr wichtig. Er hatte schon so viele andere Obdachlose kennengelernt. Einige hatten schlechte Zähne und beschwerten sich über Schmerzen, das wollte Azure unbedingt vermeiden.

Einmal im Jahr ging er auch zu einem Gesundheitscheck, der kostenlos angeboten wurde. Er war immer kerngesund. Nicht einmal an eine Erkältung konnte er sich erinnern. Falk, ein Bekannter von ihm, der auch auf der Straße lebte, aber viele Jahre älter war, betäubte seine Schmerzen meist mit Schnaps oder Wodka. Aber Alkohol oder Drogen waren nichts für Azure. Azure hatte noch Ziele und Träume und tat alles, um diese eines Tages zu verwirklichen.

Am Ufer des Flusses waren auch noch andere Menschen, obwohl es noch früh war. Einige beobachteten Azures Treiben, aber die meisten ignorierten ihn. Das zweite war ihm lieber, daran war er eher gewohnt. Manchmal wünschte er sich zwar schon, dass man ihn mehr beachtete und nicht wie Luft behandelte, aber meistens war es ihm recht so. Dann ließ man ihn in Ruhe. Wieso er so wenig auffiel, interessierte ihn nicht wirklich. Er war ziemlich groß für seine 14 Jahre, hatte dunklere Haut als die anderen, da die meisten Menschen in der Stadt eher weiß waren, und er besaß markante blaue Augen. Sie sahen oft aus, als würden sie von innen leuchten.

“Zeit für ein richtiges Frühstück”, dachte Azure, als er sich fertig angezogen hatte, und machte sich auf den Weg in die Innenstadt. Bei einem so schönen Wetter saßen um diese Uhrzeit schon viele Menschen draußen vor den Cafés und lasen ihre Zeitung. Leichte Beute, um ein Croissant oder ein belegtes Brötchen zu entwenden. Stehlen ist so ein hässliches Wort…

Entwenden ist doch viel schöner, oder? Am liebsten würde er ausleihen sagen, aber sowas gibt man ja nicht wieder zurück, wenn man es erst mal gegessen hat.

Alles, was Azure über das Überleben auf der Straße wusste, hatte er von Marco gelernt. Selbst seinen Name hatte er von Marco bekommen. An seinen Eltern konnte Azure sich nicht mehr erinnern, auch nicht daran, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass er auf der Straße lebte. In seiner Erinnerung war er schon immer ein Teil der Straße und obdachlos. Den Namen Azure hatte Marco ihm angeblich wegen seiner auffälligen blauen Augen gegeben. Einen anderen Namen hatte er nie gekannt. Als Azure Marco das erste Mal traf, fragte dieser nach seinem Namen. Azure konnte ihm da aber keinen Namen nennen. “Dann nennen wir dich einfach Azure Black. Wie findest du diesen Namen?” Azure lächelte nur leicht, sagte aber nichts. Und, na ja, seitdem heißt er eben Azure. Dies ist jetzt schon Jahre her, und aus dem kleinen Jungen ist nun ein großer Junge geworden, der gelernt hatte zu Kämpfen und seinen Weg zu gehen. Heute war Azure auch schon viel selbstständiger als damals. So selbstständig, dass er gern die meiste Zeit allein war.

Es war inzwischen aber schon ein paar Tage her, dass Azure Marco das letzte Mal gesehen hat. Wer auf der Straße lebt, gewöhnt sich dran, dass Menschen kommen und gehen, und kommen und gehen. Mal sind sie da, mal nicht. Man sucht sich einen neuen Platz zum Betteln, Schnorren oder Schlafen. Es ist nie einfach. Mal hat man Ärger mit jemandem, versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, und dann taucht man eine Weile unter.

Wieso Marco aber jetzt weg war, das wusste Azure nicht. Er fehlte ihm, da er einer seiner wenigen echten Freunde war. Er war etwas älter als Azure. Wie alt, wusste Marco selbst nicht, aber vom Aussehen her könnte man ihn auf über 20 schätzen.

Nur sieht jeder, der auf der Straße lebt, meist älter aus, als er ist. Zusammen waren sie ein gutes Team. Sie fanden immer einen Weg, ihre Bäuche zu füllen. Mal lenkte Azure den Verkäufer auf dem Markt mit akrobatische Tricks ab, während Marco ein paar Äpfel und Karotten entwendete. Oder Marco spielte den Verrückten, und während alle ihm zusahen, wie er von der Polizei weglief, steckte Azure ein paar belegte Brötchen ein.

Azures Trick war um einiges raffinierter als die von Marco. Er spazierte einfach durch Supermärkte und schaute sich das Verfallsdatum seiner Lieblingsprodukte an. Dann, wenn es so weit war, plünderte er abends die Müllcontainer der Supermärkte. Vor nicht einmal einen Monat hatte einer der größeren Supermärkte sein Sortiment aufgefrischt und alle abgelaufene Produkte weggeschmissen. Es war ein Abend wie im Schlaraffenland. Es gab Essen im Überfluss für Azure und Marco. Sie saßen damals nicht weit vom Fluss, in dem er vorhin gebadet hatte, schauten sich die Glühwürmchen an und stopften alles in sich hinein, was reinpasste. Es gab Salat, Dosen mit Ravioli, Früchte, Joghurts, einige Flaschen Limonade und verschiedene Säfte. Heute war es aber anders. Marco war nicht da, und es gab nichts zu plündern. Aber es gab ja die unaufmerksamen Gäste, die an den Cafés saßen.

Nach dem dritten Brötchen war Azur satt. Zum Glück.

Das letzte Brötchen wäre fast wirklich das letzte gewesen. Als er es vom Teller des Gastes eines Cafés in seine Obhut nahm (auch eine nettere Formulierung als klauen), erwischte ihn der ehemalige Besitzer des Brötchen und rannte ihm hinterher. Um nicht gefasst zu werden, überquerte Azure eine Straße, und nur eine Haaresbreite vor ihm fuhr ein Roller vorbei. Was man nicht alles für ein Brötchen mit Schinken und Käse macht. Aber es war nur ein Brötchen, er hat ja weder eine Brieftasche noch Geld geklaut. So was tat Azure nicht. Immerhin hat er sich geschworen, nichts von hohem Wert zu klauen. Er wollte überleben, aber nicht kriminell werden. Es wurde aber immer schwerer, sich dran zu halten. In der Schule hatten die anderen Kinder so schöne Sachen und leckeres Essen, und er… Er hatte nichts außer seinen Rucksack mit Schulsachen, ein paar Hygieneartikeln wie die Zahnbürste, einer Hose, 2 Unterhosen,2 T-Shirts sowie eine Jacke und einen Pulli. Außerdem war am Rucksack noch eine Isomatte befestigt. Er selbst sah sich als eine Mensch gewordene Schnecke. Nicht, weil er langsam sei, sondern weil er seinen ganzen Haushalt täglich auf seinem Rücken mit sich schleppte.

Falls es noch nicht aufgefallen ist: Ja, Azure ging zur Schule, obwohl ihn niemand dazu zwang. Wieso? Weil er irgendwann aufwachen und sein Essen aus einem Kühlschrank holen wollte, anstelle es sich vom Tisch eines Cafés stibitzen zu müssen. Er wollte auch mal was anziehen, was nicht schon viele vor ihm anhatten, und er wollte nicht den Rest seines Lebens beim Schlafen Angst haben, dass es stark Regnen würde und er ertrinkt, oder dass man ihm das Letzte, was er noch hat, klaut (wenn andere es tun, darf es ruhig hässlich klingen). Ach, und indem er zur Schule ging, hatte er Zugang zur Bibliothek, Toilette und zum Computerraum. Alles gute Orte, wenn es draußen kalt war. Es gibt so viele schöne Geschichten, die man in der Bibliothek lesen kann, und es ist warm dort. Aber heute war Sonntag. Die Bibliothek war geschlossen sowie die Schule auch. Hausaufgaben hatte er keine. Also ging er zum Park, um sich dort auf die Wiese zu legen und das schöne Wetter zu genießen.

Lautes Lachen weckte Azure aus seinem Mittagsschlaf. Als er eben am Park ankam, war er noch so ziemlich allein dort.

Aber nun, bei gutem Wetter, war es mal wieder extrem voll. Überall waren Familien und kleinere Gruppen, die grillten, miteinander spielten oder Sport machten. Azure lag unter einem Baum, um sich etwas von der Sonne zu schützen und die leichte Brise zu genießen. Dazu kam, dass der Baum gespickt von reifen Früchten war. Verhungern würde er jetzt nicht, aber sich nur mit den Früchten zu ernähren war eher eintönig.

Azure setzte sich und schaute, was die Menschen so im Park machten. Wie ist es, wenn man eine Familie hat und mit seinen Geschwistern oder Eltern Ballfangen spielt oder auf einer Decke sitzt und Leckereien schlemmt? Sie lachten alle, sie freuten sich und genossen das schöne Wetter. Genießen sie auch das Zusammensein? Wissen sie, was sie haben? Statt sich mit negativen Gedanken zu beschäftigen und von etwas zu träumen, das er wohl nie haben würde, beendete er seine Gedanken damit, dass er sich für die anderen freute.

“Hey”, hörte Azure jemanden rufen. Er reagierte nicht darauf, wahrscheinlich war er eh nicht gemeint. Erst als die Stimme lauter wurde, drehte er sich in die Richtung um, aus der der Ruf kam, und sah einen blonden Jungen, der direkt auf ihn zukam.

“Hey, wie sieht’s aus? Lust etwas Frisbee zu spielen beziehungsweise zu werfen?”, fragte ihn der unbekannte Junge.

So eine Frage war Azure überhaupt nicht gewohnt. Als eine Art Aussätziger war er selbst in der Schule meistens der Letzte, den man in die Teams wählte, er saß in den Pausen meistens allein (außer wenn jemand aus der Klasse Hilfe brauchte, da er zu den besseren Schülern gehörte) und auf Feiern oder zum Spielen wurde er nie eingeladen. So reagierte er ziemlich spät auf die Frage, aber dann kam ein Lächeln über sein Gesicht und er zeigte perfekte, weiße Zähne.

“Gern”, antwortete er zögerlich, aber mit einer riesigen Freude im Bauch.

Sie warfen den Frisbee hin und her. Der Junge war locker einen Kopf kleiner als Azure, was kein Wunder war, das waren ja die meisten. Er war im gleichen Alter, hatte blondes Haar und grüne Augen. Ihm fehlte ein kleines Stück am vordersten linken Schneidezahn. Das kam wohl durch einen kleinen Unfall beim Fußballspielen, meinte er, als ihm auffiel, dass Azure drauf schielte.

“Wie unhöflich von mir, da so hinzustarren”, dachte Azure in dem Moment und lächelte nur, ohne was dazu zu sagen.

Nach einiger Zeit nahm der Junge den Frisbee und kam zu Azure herüber.

“Hey, wie heißt du überhaupt?”, fragte er, als er direkt vor Azure stand und streckte ihn die Hand zum Handschlag entgegen.

“Azure, und du?”, antwortete Azure, während er seine Hand nahm und kurz schüttelte.

“Jasper. Sag mal, bist du allein hier im Park oder auch mit deiner Familie?”, schoss gleich die nächste Frage hinterher.

“Allein”, antwortete Azure erneut ohne Weiteres. Sein Lächeln verschwand.

“Okay. Dann komm mit. Ich hab Durst. Du sicher auch, oder hast du was mit? Komm, da drüben sitzen meine Eltern und meine kleine Schwester. Die warten sicher schon auf mich.

Falls du Hunger hast, haben wir auch einige Sandwiches. Meine Mutter macht immer ganz viele, viel zu viele. Und bevor ich mich jetzt die nächsten zwei Tage nur von ihren Sandwiches ernähren muss, wäre es toll, wenn du mir dabei helfen könntest, die zu vernichten”, plapperte Jasper vor sich hin, während er Azure in Richtung seiner Familie zerrte.

In der Tat hatte die Mutter viel zu viele gemacht. Und so eine Einladung würde Azure doch nicht ausschlagen. Er fühlte sich wohl bei dieser Familie. Die Sandwiches waren extrem lecker und wohl mit viel Liebe gemacht. Die Eltern stellten tatsächlich nur zwei Fragen. Wie er heißt (und staunten etwas über seinen ungewöhnlichen Namen) und wo seine Eltern sind.

Als er auf die zweite Frage mit “Weiß ich nicht” antwortete und seinen Blick zum Boden richtete, schauten sie sich an. Dann unterhielten sie sich weiter und ließen Azure in Ruhe. Marie, die kleine Schwester, hatte da viel weniger Taktgefühl.

“Du bist niemals so alt wie mein Bruder. Du bist ja viel zu groß. Sicher bist du doppelt so groß wie ich. Wo sind denn nun deine Eltern? Lassen die dich einfach so allein durch die Gegend laufen? Hast du nichts zu essen mitgebracht oder etwas zu trinken? Oh Mann… Meine Eltern würden mich nie allein zum Park lassen, glaub ich. Oder?”, bombardierte sie Azure und schaute zum Schluss die Eltern fragend an, aber die reagierten nicht auf ihre Tochter. Sie lächelten nur. Azure kam gar nicht dazu, etwas zu beantworten, das war ihm auch ganz recht, denn schon holte sie Luft und legte diesmal mit nur einer Frage nach:

“Wo gehst du zur Schule?”

“Lipper Gymnasium.”

Marie grinste.

“Siehst du, Jasper, es wird sicher nicht so schlimm dort. Wir sind gerade erst angekommen, und schon haben wir einen ersten Freund. Dann sehen wir uns ja jeden Tag in der Schule.

Sind alle so nett wie du?”

Noch bevor Azure antworten konnte, stellte sich Jasper dazwischen und sah ihn an: “Du musst ihr nicht antworten. Sie ist eine Quasselstrippe. Wenn du jedes Mal auf ihre Fragen reagierst, wirst du nie Ruhe haben. In welche Klasse gehst du denn?”

”Ich bin in der 8b.”

“Ich auch.” Jasper lächelte.

“Hoffentlich, muss ich nicht viel nachholen. In meiner letzten Schule war alles relativ einfach. Aber dann hat Papa hier einen neuen Job bekommen, und so sind wir jetzt hierher gezogen. Ab Montag geht es zu dir in die Schule. Das ist das erste Mal, dass ich der NEUE bin.”

“Immerhin kennst du mich jetzt schon. Wenn was ist, kannst mich ja immer fragen”, sagte Azure.

Azure bedankte sich dann bei Jaspers Familie für die schöne Zeit, das Essen und Trinken und verabschiedete sich.

Und zu Jasper sowie zu Marie sagte er noch: “Bis morgen!” Dann ging er los. Er war schon ein paar Schritte gegangen, als er Maries Stimme hörte, die nach ihm rief. Er drehte sich um und sah, wie sie zu ihm gerannt kam. Sie hielt eine kleine Tüte.

“Nimmst du die Sandwiches noch mit? Mama sagt, dann müssen wir nicht so viel zurücktragen.” Sie kicherte, als sie das sagte. Azure nahm alles dankend an, lächelte sie an und ging weiter. Marie wäre fast geschmolzen. Sie dachte den ganzen Abend noch an sein süßes Lächeln.

Azure war sehr froh, dass er noch ein Päckchen zum Mitnehmen bekommen hatte. Diese Nacht würde er satt sein und fürs Frühstück hätte er sicher auch noch etwas übrig. Nun war es Zeit, einen Schlafplatz zu finden. Am anderen Ende der Stadt gab es ein Heim für Obdachlose, aber da mochte er nicht hin. Es war ja nicht kalt, es regnete nicht und es sah aus, als würde das Wetter auch so bleiben. Also ging er auf die andere Seite des Parks. Dort gab es ein verlassenes Haus. Er hatte dort schon zwei- oder dreimal geschlafen. Meist eher etwas unruhig, und es war auch schon etwas länger her. Heute müsste es aber ausreichen. Er könnte so auch etwas Fußweg zur Schule sparen, da das Haus nicht weit von ihr entfernt war. “Ab zur Bruchbunden Residenz”, dachte Azure, als er hinging und lachte innerlich dabei. Es war ein toller Tag gewesen. Heute könnte nichts seine Laune und seinen Tag mehr verderben. Er hatte jetzt ein richtigen Freund in seinem Alter.

Kurz bevor es wirklich dunkel wurde, kam Azure an der alten Villa an. Bruchbuden Residenz nannte Azure das Gebäude, denn es war ein riesiges Haus. Es hatte drei Etagen mit mehreren Zimmern und war sogar noch etwas möbliert. Die Möbel waren sicher schon mehrere Epochen aus der Mode geraten und in keins der Betten würde Azure sich hinlegen, da diese im Laufe der ganzen Jahren von einer relativ dicken Decke aus Staub belegt waren. Deshalb suchte er sich eher eine Stelle, in der er einen guten Blick auf die Tür hätte. Es ist immer gut zu wissen, wer reinkommt, wenn man sich irgendwo befindet, wo man nicht unbedingt sein sollte. Niemand hat Azure eingeladen, also sollte er auf der Hut sein.

Er aß noch zwei Sandwiches, die er geschenkt bekommen hatte, bevor er sich ein Plätzchen zum Schlafen vorbereitete. Bei der Hitze reichte eine Iso-Matte ohne Decke. Er schloss die Augen und ging den wundervollen Tag erneut in Gedanken durch. Er erinnerte sich an fast alle Details, da er ein gutes Gedächtnis besaß. Ein gutes Gedächtnis war sehr wertvoll und brachte einen riesigen Vorteil, wenn man obdachlos war.

Langsam fielen seine Augen zu und alle Geräusche klangen immer weiter entfernt. Sogar das kratzenähnliche Geräusch irgendwo im Haus.

Doch plötzlich wurde Azure bewusst, dass er aus dem Nebenzimmer Geräusche hörte. Woher kamen diese? Er hatte doch alles durchgesehen, bevor es Dunkel wurde, und hatte nichts Außergewöhnliches und auch keine Menschen gesehen.

Hatte er etwas übersehen? Nein. Er hielt den Atem an, um besser hören zu können. Doch dann war es wieder still. Hatte er es sich nur eingebildet? Es muss eine Einbildung gewesen sein. Er begann wieder zu atmen und schloss langsam seine Augen. Aber er schaffte es nicht, sich ganz zu beruhigen. Was, wenn jemand durch eines der Fenster reingekrochen war? Aber alle Fenster waren, so weit möglich, zu und nur ganz oben waren die Fenster kaputt. Wenn jemand durch die Tür reingekommen wäre, hätte Azure ihn gesehen oder zumindestens seine Schritte gehört.

“Schritte!” Er hielt erneut seinen Atem an. Diesmal verschwanden die Geräusche nicht. Da ging jemand. Der alte Holzboden knirschte bei jedem Schritt. Das war an sich zu erwarten bei einem so alten Haus. Aber es klang, als würde derjenige, von dem die Schritte kamen, eine Tonne wiegen. Sie waren sehr laut und näherten sich. Azure kroch tiefer unter den Tisch, unter dem er es sich gemütlich gemacht hatte, und hoffte, dass er ungesehen blieb.

Die Schritte wurden immer lauter. Bald müsste er sehen, wer da entlangging. Aber er sah nichts. Das Knirschen des Holzbodens klang so, als würde es aus dem Flur kommen, auf dem Azure einen direkten Blick werfen konnte. Aber er sah nichts. Doch dann, beim nächsten knirschenden Schritt, sah er, wie das Holz der Fußbodendielen tief nach unten gedrückt wurde. Nur sah er auf den ersten Blick niemanden. Erst beim zweiten Blick fiel ihm etwas auf. Es war nur ein Schatten. Ein großer Schatten. Ein großer Schatten mit großen Augen. Ein großer Schatten mit großen roten Augen und langen Zähnen.

Man erkannte ihn nur, wenn man genau hinsah. Alles sah eher leicht durchsichtig aus, als würde man durch eine dreckige Brille gucken. Azures Herz raste so schnell und laut, dass er sich sicher war, dass man ihn hören könnte. Egal, was das war, es hat ihn sicher gehört.

Die Schritte gingen an dem Zimmer vorbei, in dem Azure lag. Sie gingen weiter und weiter. Wurden leiser und leiser, bis sie ganz verschwunden waren. Azure traute sich nur zögerlich, wieder zu atmen, aber wollte sich auf keinem Fall bewegen, bis die Sonne aufging. Zum Glück war es schon Sommer, so würde die Sonne vor dem Schulbeginn aufgehen. Wäre es im Winter, würde er wohl niemals wieder aufstehen. Er blieb lange wach, aber irgendwann überkam ihn dann doch die Müdigkeit, ihm fielen die Augen zu und er schlief ein.

Azure wachte ein paar Stunden später auf. Es war zwar noch dunkel, aber seine Blase meldete sich. “Verdammt, was war das vorhin?”, dachte er und überlegte, ob es eine gute Idee sei, aufzustehen und Pipi machen zu gehen. Er konnte ja schlecht da urinieren, wo er schlief. So was machen nicht mal Tiere, wenn sie eine andere Möglichkeit haben. Aber nach ein paar Minuten des

Überlegens merkte er, dass es nicht anders ging. Er musste. Somit stand er auf, sammelte seinen Mut und ging zum Flur, in dem er vor ein paar Stunden noch glaubte, einen Schatten in Form eines Monsters gesehen zu haben. Oder war es ein Monster, der wie ein Schatten aussah? Egal. Es war gruselig, also beeilte er sich auf dem Weg zur Toilette. Die war nur zwei Räume weiter. Er kam dort unversehrt an und erleichterte sich. Leider war sowohl Strom wie auch Wasser im Haus abgestellt, sodass er nicht spülen konnte.

Er atmete tief ein, als er fertig war, um noch leiser wieder zurückgehen zu können und keine schlafende Monster zu wecken. Wenn es überhaupt Monster gab und alles nicht nur eine Einbildung war. Mit jeder Minute, die verging, traute er seiner Erinnerung immer weniger und glaubte immer mehr, dass es vielleicht doch nur ein doofer Traum war. Der war aber so real gewesen. Angekommen an seinem Plätzchen, legte er sich wieder hin.

Kaum waren seine Augen geschlossen, hörte er die Schritte erneut. Er riss die Augen wieder auf, denn diesmal waren die Schritte nicht langsam, sondern schnell, nicht weit weg, sondern ganz nah und gingen nicht vorbei, sondern direkt auf ihn zu. Azure war wie gelähmt und wollte noch überlegen, was er jetzt tun könnte, doch dann war es schon zu spät. Das Monster war im Zimmer. Es war ganz in der Nähe, und es suchte nach ihm. Es kam immer näher. Und plötzlich griff es nach dem Tisch, unter dem Azure lag, und riss ihn weg. Nun sahen sie sich von Angesicht zu Angesicht. Azure schaute in tief rote Augen, die durchsichtig waren. Ein Schatten konnte doch nicht atmen und schnaufen, oder? Was war das? Es war so nah und seine Zähne so real.

Azure sprang mit aller Kraft zur Seite, als die Zähne auf ihn zukamen und drehte sich schnell um, um zu sehen, wo die Kreatur war. Er konnte sie kaum sehen, da sie ja nur ein Schatten war. Ein Schatten, der dabei war, die Möbel durch die Gegend zu werfen und der hinter Azure her war. Azure rannte zur offenen Tür, die in den Flur führte. Er hörte das Poltern der Möbel und die schweren Tritte der Kreatur hinter sich. “Links oder rechts?”, überlegte er kurz, entschied sich dann für links, wo auch der Ausgang war. Er wollte dorthin rennen, doch etwas hielt sein Bein fest. Das Monster hatte ihn eingeholt. Es war so viel schneller als Azure. Es war kein Tier oder Mensch und hielt ihn am Bein fest. Es zog ihn wieder ins Zimmer, indem es Azure am Boden entlangschleifte. Im Zimmer angekommen, hob es Azure am Bein hoch, sodass er kopfüber etwa einen Meter über dem Boden hing. Es sah aus, als würde nur die Dunkelheit Azure angreifen und ihn in der Luft pendeln lassen. Doch die roten Augen sahen ihn wieder an, und die großen Zähne kamen näher.

“Lass mich los! Lass mich runter! Sofort!”, schrie Azure die Kreatur mit letzter Kraft an. Ganz unerwartet ließ sie Azure los. Er fiel unsanft auf den Boden. Azure war sehr überrascht, und es sah aus, als wäre die Kreatur das auch. Die roten Augen sahen Azure fragend an. Die Zähne waren nicht zu sehen, aber die Augen betrachteten Azure diesmal anders. Nicht gierig oder hungrig, sondern fragend und verdutzt. Beide starrten sich an und verstanden nicht, was passiert war. Azure kam alles so skurril vor, da ein Geschöpf aus dem Schatten mit roten Augen und riesigen Zähnen vor ihm stand. Die Kreatur wiederum konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Opfer einfach so losgelassen zu haben. Was war passiert?

Aus dem Schnaufen der Kreatur war ein leichtes und dumpfes Kichern geworden, bis es kurz drauf in ein hysterisches Lachen ausartete. Laut. Sehr laut. Azure, der noch sehr verängstigt war und die Situation nicht verstand, kroch wieder zurück zur Stelle, wo seine Sachen waren. Was würde als Nächstes passieren? Was war das für ein Wesen? Was wollte es?

“Wer bist du?”, fragte die Kreatur mit einer unmenschlich tiefen Stimme.

“Azure, heiße ich. Wer oder was bist du?”

“Ein Dämon mit vielen Namen”, antwortete die Kreatur und lachte erneut.

“Ich glaube es ja nicht. So viele Jahren sind vergangen, seit ich das letzte Mal einen Bändiger getroffen hab. Ich dachte, ihr seid ausgestorben. Da hab ich mich wohl geirrt. Seid ihr auf der Jagd?”, fragte der Dämon Azure, der nichts davon verstand,

“Du weißt nicht, wovon ich spreche, oder?”

“Nein.”

”Gut.”

Der Dämon war plötzlich still. Dann sah Azure nur, wie er ein Stück Holz von den zerbrochenen Möbeln nahm. Dann holte der Dämon aus, und noch bevor Azure sich ducken konnte, traf er ihn am Kopf. Alles wurde schwarz und alle Geräusche waren weg.

2

Azure öffnete seine Augen. Es war noch nicht hell. Was war passiert? Sein Kopf brummte fürchterlich. An seiner Stirn spürte er eine enorme Beule. Eine alte Uhr an der Zimmerwand, zeigte fünf Uhr fünfundvierzig. Erstaunlicherweise funktionierte diese Uhr noch, obwohl alles andere im Haus veraltet und kaputt war. In einer halben Stunde müsste er sich für die Schule fertig machen. Er sah sich um. Alles war an seinem Platz. Er lag noch unter dem Tisch. Wurde dieser nicht durchs Zimmer geworfen? Wurden die anderen Möbel nicht auch herumgewirbelt? War alles nur ein Traum?

Woher kam die Beule? Vielleicht hatte er im Schlaf seinen Kopf gegen den Tisch gestoßen. Das muss es gewesen sein, dachte er und nahm einen der übriggebliebenen Sandwiches und frühstückte, bevor er aufstand, sich mit dem Wasser aus seiner Putzwasserflasche die Zähne putzte und zur Schule ging.

Auf dem Weg dorthin plagte ihn immer wieder der gleiche Gedanken. Waren die Ereignisse in der Nacht real oder doch nur ein Traum gewesen? Er war so sehr in seinen Gedanken versunken, dass er nicht mal bemerkte, wie die Zeit verging und er schon bei der Schule ankam. Er hörte eine Stimme, die nach ihm rief, aber sie klang sehr weit weg. Sie bohrte sich nur langsam bis zu seinem Bewusstsein. Als sie dort ankamen, erkannte Azure die Stimme und drehte sich um. Es war Jasper und neben ihm ging auch Marie, die er an der Hand hielt.

“Guten Morgen. Bist du gut zu Hause angekommen? Hast du gut geschlafen?", schoss Marie gleich wieder mit ihren Fragen heraus.

“Ach du Kacke, was ist mit dir passiert?”, fragte Jasper, als er Azure ins Gesicht schaute. Die Beule war wohl nicht zu übersehen.

“Bin in der Nacht auf dem Weg zur Toilette gegen eine Tür gelaufen”, antwortete Azure trocken und ohne eine Miene zu verziehen.

Sie gingen zusammen in die Schule. Marie verabschiedete sich mit einem “Bis später, Jungs” und machte sich auf die Suche nach ihrer Klasse, während Azure Jasper den Weg zu ihrer Klasse zeigte. Dort setzte sich Azure an seinen üblichen Platz, während Jasper sich zuerst der Klassenlehrerin vorstellte, einen Zettel überreichte und dann zu Azure kam.

“Sitzt niemand neben dir?”, fragte er.

“Nein, bin nicht grad beliebt, und es gibt so ein Gerücht, dass ich stinke oder ansteckend krank bin.”

“Wow, du scheinst echt viele Freunde hier zu haben”, sagte Jasper mit einem riesigen Grinsen im Gesicht und nahm neben ihm Platz. Azure lächelte leicht:

“Scheint, als wäre ich ein Glückspilz. Immerhin hab ich so seit Jahren Platz für dich neben mir freigehalten.”

Beide lachten und wurden vom Rest der Klasse inklusive der Lehrerin, die gleich darauf um Ruhe bat, etwas schräg angesehen.

In Azures Kopf schwebten aber immer nur die Gedanken über seine letzte Nacht. Er verstand es nicht und wollte sich gerade dafür entscheiden, dass alles doch nur ein Traum war, als er etwas Komisches bemerkte. Der Schatten hinter der Lehrerin bewegte sich nicht ganz synchron mit ihr. Er schaute ganz genau hin und plötzlich schauten zwei rote Augen zurück. Beinahe wäre er ausgerastet, aber er riss sich stark zusammen, damit niemand etwas merkte. Vielleicht wurde er langsam verrückt. Er schaute weiter hin, und die Augen guckten direkt zu ihm herüber. Dann erschienen die weißen Zähne wieder, aber es sah wie ein Lächeln aus.

Azure schaute zu Jasper und zu den anderen Schülern. Alle schienen sich auf das, was die Lehrerin sagte, zu konzentrieren und die Fratze nicht zu bemerken, die sich im Schatten der Lehrerin gebildet hatte. Azure schaute wieder zu Jasper, dann zum Schatten, dann zurück zu Jasper.

“Hey, sag mal, fällt dir etwas Komisches beim Schatten der Lehrerin auf?”, flüsterte Azure Jasper fragend zu.

“Pssssst. Nein”, kam nur schnell als Antwort.

Mal bewegte sich der Schatten passend zur Lehrerin, mal nicht. Die Augen waren mal da, mal nicht. Wenn die Augen da waren, sah Azure auch das Lächeln. Doch dann war es auf einmal weg und erschien nicht mehr.

Die ersten Stunden gingen danach sogar schnell rum. Die erste Pause kam pünktlich wie immer, und alle rannten raus. Im Pausenhof angekommen, setzte sich Azure auf eine Treppenstufe, während Jasper sich zu anderen Kindern gesellte, die Fußball spielten und ihn gerufen hatten. Er wollte Azure noch dazurufen, aber die den anderen Jungs hielten ihn davon ab und erzählten ihm irgendetwas. Danach spielte er mit ihnen. Azure bemerkte das nur nebenbei, denn er war mehr mit dem beschäftigt, was er gesehen hatte, und war somit froh, dass man ihn in Ruhe ließ.

Er schaute den anderen zu, ohne sie wirklich zu bemerken, da er so in seinen Gedanken versunken war. Doch dann sah er die Augen wieder, diesmal in seinem eigenen Schatten, und erkannte sogar ein leichtes Lächeln darin. Azure war wie angewurzelt. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte aufspringen und wegrennen, doch ihm fehlte die Kraft dazu.

“Sie können mich nicht sehen und hören”, flüsterte die Stimme, die jetzt wie ein leichter Wind klang. Azure sprang er auf und schrie: “Lass mich in Ruhe.”

Der Schatten lachte laut, und als Azure sich umdrehte, bemerkte er, dass alle ihn ansahen. Die Schüler und die Lehrer. Er war schon nicht besonders beliebt, jetzt würde er sicher auch noch der verrückte aus der Schule werden.

“Wie gesagt, sie hören und sehen mich nicht, aber dich.

Das muss ja peinlich sein. Du machst dich total zum Clown.

Beruhige dich. Ich lasse dich auch erst mal in Ruhe, aber du musst heute Abend wieder ins Haus kommen. Es gibt viel, das du wissen willst, und einiges, dass ich dir erzählen werde.”

Bei den letzten Worten verschwand der Schatten.

Als die Pause vorbei war, gingen alle wieder rein, und der Unterricht ging weiter. Azure gab sich alle Mühe aufzupassen. Er war ein guter Schüler und wollte dies nicht aufs Spiel setzten, aber er konnte nicht aufhören zu überlegen, ob das Treffen eine Falle war, in die der Dämon ihn locken wollte. Das würde er nur erfahren, wenn er zum Haus ging. Was blieb ihm sonst noch übrig?

Am Ende der letzten Stunde war Azure wieder besser konzentriert und hatte sogar mehr aufgepasst als an Dämonen gedacht.

“Sag mal, hast du alles verstanden?”, fragte Jasper Azure, als die letzte Stunde zu Ende war.

“Fast alles, wieso?”

“Das ist gut, ihr seid viel weiter als wir in meiner alten Schule waren. Hättest du vielleicht Zeit, mir heute etwas zu helfen? Wir könnten bei mir Mittagessen und dann zusammen an den Hausaufgaben arbeiten. Was meinst du? Das würde mir wirklich helfen.” Azure dachte kurz nach, aber nichts sprach dagegen, also sagte er zu.

Vor der Klassentür wartete Marie, die zusammen mit den beiden Jungs nach Hause spazierte und den ganzen Weg nur zum Luftholen mit dem Reden aufhörte. Doch keiner nahm es ihr übel. Sie hörten ihr zu und gaben ihre Kommentare. Azure kannte niemanden aus Maries Klasse. Er erzählte auch Geschichten über die Schüler aus seiner Klasse, sodass Jasper ein besseres Verständnis über die einzelnen Klassenkameraden bekam.

Jasper wusste ja schon, dass sie alle Azure nicht mochten. Sie hatten ihm in der Pause erzählt, dass er ein Straßenkind sei, das keine Eltern hat und stinkt und stehlen würde. Jasper hatte aber schon bemerkt, dass das nicht stimmte. In der letzten Schule war er auch nicht der beliebteste gewesen, weil er weder sportlich und noch groß war. Da hatte er sich schon nicht wohlgefühlt, weil er nicht sehr beliebt war, wie sollte Azure sich bloß fühlen, der wie ein Aussätziger behandelt wurde? Aus diesem Grund hatte sich Jasper entschlossen, seine eigene Meinung zu bilden, statt auf das Gequassel anderer zu hören.

Sie kamen ziemlich rasch bei Jasper an. Die Mutter hatte gekocht und freute sich, dass Azure auch dabei war. Sie stellte immer noch keine Fragen und zeigte nur Freude über seinen Besuch. Sie aßen und machten danach zu dritt ihre Hausaufgaben im Wohnzimmer. Azure half Jasper und Marie.

Zum Teil musste er weiter ausholen, um alles zu erklären, aber das machte ihm Spaß und der Eistee von Jaspers Mama war so mega lecker, dass er schon deswegen nicht gehen wollte. Doch irgendwann wurde es später und dunkler. Azure bedankte sich, entschuldigte sich, dass er nicht zum Abendessen bleiben konnte, obwohl er auch dazu eingeladen wurde. Dann ging er im Dunkeln direkt zur Bruchbunden Residenz.

Es dauerte nicht lange, und Azure stand vor der Tür des alten Hauses. Er überlegte ein paar Mal, ob er wirklich hineingehen sollte. Er war sich einfach sehr unsicher, ob es eine gute Idee sei. Würde doch jedem so gehen, wenn er von einem Dämon in ein altes Haus eingeladen werden würde. Ein bisschen Skepsis ist da schon angebracht, oder?

Doch welche Wahl hatte er schon? Weggehen. Allerdings war seine Neugierde viel zu groß, und er hatte den Dämon heute ja schon oft gesehen. Würde er nicht hineingehen, würde der Dämon ihn am nächsten Tag sicher erneut auflauern. Also holte er tief Luft und ging durch die Tür ins dunkle Haus.

Kaum war er drin, sah er die Augen des Dämons, die mal hier, mal dort erschienen. Die Stimme vom Vormittag, die so leise wie ein Flüstern war, sprach zu Azure.

“Du bist ja doch gekommen. Ich hab sogar ein bisschen daran gezweifelt, dass du auftauchen würdest. Du bist aber wohl ein ganz mutiges Kerlchen, was? Willkommen!” Mal waren die Augen hier, mal waren sie dort. Mal kam die Stimme von weit weg, mal klang sie so, als spräche sie direkt neben Azures Ohren.

“Was willst du von mir? Wieso sollte ich herkommen?”

“Nimm erst mal Platz im Wohnzimmer. Wir haben viel zu besprechen und zu erzählen. Wo sind deine Eltern?”

“Ich weiß es nicht. Ich kenne meine Eltern nicht”, antwortete Azure.

“Oh, ein Waise. Pech gehabt. Setzt dich erst mal hin, Junge.” Azure setzte sich in einen Sessel im Wohnzimmer, oder in einem Raum, der im Licht der Straßenlaternen, das durch die Fenster fiel, aussah wie ein Wohnzimmer. Es war der gleiche Raum, in dem Azure am Abend zuvor geschlafen hatte.

“Du heißt also Azure?”

“Ja, und du?”

“Obwohl ich viele Namen hab, nenn mich Botis. So werde ich seit Jahrhunderten von Menschen genannt. Wieso warst du gestern hier?”

“Ich suchte einen Platz zum Übernachten. Ich wollte euch nicht stören.”

“Das hast du nicht. Du bist hier willkommen. Wenn du kein Zuhause hast, sollte dies dein neues Zuhause sein. Es wohnten schon viele hier, die so waren wie du, und ich wohne schon seit vielen Jahrzehnten in diesem Haus. Wenn du willst, kann es auch dein Zuhause werden.” Azure wusste nicht, was er davon halten sollte. Er wollte schon immer ein Zuhause haben, aber dies mit einem Dämon als Mitbewohner?

“Du müsstest aber hier alles etwas aufräumen und auf Vordermann bringen”, sagte der Dämon und lachte.

“Danke.”

“Es ist schon so viele Jahre her, dass ich einen Dämonen-Bändiger getroffen hab. Und ich hab noch nie einen so jungen Bändiger gesehen. Wie alt bist du?”

“Vierzehn”

“Oh, das ist ja noch viel jünger, als ich erwartet hatte. Ich dachte immer, dass Dämonen-Bändiger erst ab ihrem 16. Lebensjahr Dämonen sehen können. Beeindruckend. Ich hab dich auch nicht gespürt. Wärst du nicht mitten in der Nacht im Haus herumspaziert, hätte ich dich übersehen. Wenn einer erst zum Bändiger geworden ist, sehen sie uns, und wir bemerken sie. Hast du schon andere Dämonen gesehen?”

“Nein.” Azure verstand nicht alles, was der Dämon sagte. Bändiger? Andere Dämonen? “Ich verstehe nicht ganz, was du da sagst. Du bist ein Dämon. Wieso bist du nicht…”

“Gemein? Böse? So wie es gefallene Engel gibt, gibt es auch aufgestiegene Dämonen. Gefallene Engel landen in der Hölle und werden zu Dämonen. Aufgestiegene Dämonen dürfen aber nicht in den Himmel, wir existieren dann auf der Erde, in einem Zwischenraum zwischen Hölle und Himmel, und müssen uns im Schatten und in der Dunkelheit bewegen.”

Azure nickte Botis zu als Zeichen, dass er das verstanden hatte.

“Vor vielen, vielen Jahren, einigen Jahrhunderten, entschied ich mich, nicht mehr als Dämon Menschen zu verführen und zu quälen.”

“Aber du hast versucht, mich gestern zu fressen.”

“Ja. Aber ich dachte, du seist ein Angreifer. Du hast mich gesehen, aber ich konnte dich nicht spüren. Sowas kenne ich nur von Dämonen-Jägern.”

“Bändiger? Jäger? Dämonen? Ich verstehe das alles nicht.” So viel Neues, so viel Information, und doch konnte er es nicht begreifen.

“Jäger jagen Dämonen. Bändiger sind in der Lage, Dämonen zu befehlen, was sie tun sollen. So wie es dir gestern gelang, dass ich dich losließ. Das hattest du mir befohlen.”

Azure machte große Augen. Er konnte Dämonen Befehle geben?

“Gibt es viele Bändiger?”

“Es gibt keine mehr. Ich dachte, sie seien ausgestorben, bis ich dich gestern getroffen habe.”

“Und Jäger?”

“Das weiß ich nicht. Ich habe lange keine gesehen und hoffe, auch weiterhin keine zu sehen. Ihre Aufgabe ist es, Dämonen wie mich zu jagen und zu vernichten. Normale Dämonen können sich in die Hölle verkriechen, aufgestiegenen Dämonen, wie ich einer bin, ist das nicht möglich. Daher bleibt uns nur der Kampf gegen die Jäger. Ich bin froh, wenn ich keine sehe. Dann habe ich meine Ruhe.”

“Mögen Jäger denn die Bändiger? Oder jagen sie die auch?”

“Schwere Frage. Meistens mögen Jäger keine Bändiger, denn Bändiger sind oft nicht gerade die GUTEN. Macht korrumpiert und Bändiger können ganze Armeen von Dämonen befehligen. Sie können sehr mächtig werden, und da sie mit den Dämonen zusammenarbeiten, sind Jäger nicht gerade froh, wenn sie einen Bändiger antreffen und noch weniger, wenn dieser schon Dämonen steuert.”

“Und Dämonen mögen Bändiger auch nicht… Wer mag denn Bändiger? Ich bin ja jetzt schon sehr unbeliebt, und so wie es aussieht, wird es nicht besser.”

Botis lachte so laut, dass Azure sich die Ohren zuhalten musste. Wenn ihn jemand hier beobachten würde, würde das sicher komisch aussehen: in der Nacht in einem alten Haus allein zu sein und sich dann die Ohren zuhalten. Anscheinend kann ja nur er Botis sehen.

Als Botis mit dem Lachen zu Ende war, verschwanden die roten Augen und aus dem Schatten erschien ein in Weiß gekleideter Mann mit einem Schwert. Am auffälligsten waren aber die großen Zähne, die er hatte. Es war Botis in Menschenform. Er kam zu Azure herüber und setzte sich auf den Sessel gegenüber von ihm.

“Du hast sehr viel Glück, Azure, auch wenn es dir noch nicht bewusst ist. Alle Bändiger, die ich bisher getroffen habe, haben erst ab dem 16. Lebensjahr erkannt, dass sie Bändiger sind. Meist dadurch, dass sie von Dämonen gejagt wurden. Dämonen wollen ja keine Befehle von Menschen aufgezwungen bekommen, deshalb jagen sie Bändiger. Wenn ein Bändiger von seinen Kräften noch nichts weiß, ist dieser schnell weg vom Fenster. Du weißt, was ich meine, oder? Dämonen spüren Bändiger, sobald sie älter als 16 sind. Wieso das so ist, weiß ich nicht. Und wenn ein Jäger sieht, dass viele Dämonen jemanden verfolgen und dieser sich als Bändiger zur Wehr setzt, wird der auch von Jägern gejagt.”

“Das ist nicht aufmunternd”, sagte Azure leise und legte seinen Kopf in seine Hände.

“Du siehst nicht, was für einen Vorteil du hast.”

“Welchen denn? Dass mich jetzt schon alle hassen, und wenn ich 16 werde, werde ich auch noch von Dämonen und irgendwelchen Jägern gejagt?”

“Na, dass du erst 14 bist und jetzt schon die Gabe eines Bändigers hast.”

“Und?”

“Das sind zwei Jahre Vorsprung, die sonst bisher kein Bändiger, von dem ich gehört hab, hatte.”

“Was soll ich denn in der Zeit machen?”

“Du übersiehst den zweiten Vorteil, den du hast”

Azure hob seinen Kopf, schaute Botis an. “Dieser wäre?”

“Mich”

“Dich?”

“Ja. Kein Bändiger hatte bisher einen Dämon, der ihm alles in Ruhe beibringen konnte, bevor er 16 wurde. Du musst nur drei simplen Regeln folgen.”

Azures Augen wurden größer und seine Laune verbesserte sich, als er fragte: ”Diese wären?”

“Wenn du einen Dämon siehst, musst du so tun, als würdest du ihn nicht sehen. Sonst bemerkt der, dass du ihn sehen kannst, so wie ich gestern. Selbst wenn ein Dämon genau vor dir stehen sollte und dich ansieht, schau durch ihn durch. Beachte ihn auf keinen Fall.”

“Was noch?”