Azurie 1: Tochter aus Mondlicht und Tränen - Jessica Amankona - E-Book

Azurie 1: Tochter aus Mondlicht und Tränen E-Book

Jessica Amankona

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Beschreibung

»Wir waren zwei verfeindete Tierarten, die jemand absichtlich in denselben Käfig gesperrt hatte.«
Joyas Haut ist weiß, ihre Augen blau – doch nicht nur ihr Aussehen kennzeichnet sie als Rarität. Denn seit dem unerklärlichen Verschwinden ihrer Mutter ist sie das einzige Mädchen in ihrem Stamm, in einem Land, in dem drastischer Frauenmangel herrscht. Ihr letztes bisschen Freiheit büßt sie ein, als ihr Vater sie mit dem Sohn des Stammesoberhauptes verlobt. Patrice ist kühl und grausam, sie sollte fliehen und ihn vergessen. Doch seine Nähe weckt in ihr eine tief verborgene Macht, die ihr und allen Frauen die Freiheit schenken könnte. Joya ist nämlich kein normales Mädchen – sie ist die letzte Azurie!

Der spannende Auftakt zu einer epischen Fantasy-Dilogie von Newcomer-Autorin Jessica Amankona. »Azurie« überzeugt sowohl durch die starke weibliche Hauptfigur und das atmosphärische westafrikanisch inspirierte Setting als auch durch die gesellschaftspolitische Relevanz.


//Dies ist der erste Band der »Azurie«-Reihe. Alle Romane der fantastisch-magischen Liebesgeschichte im Loomlight-Verlag:
-- Band 1: Tochter aus Mondlicht und Tränen
-- Band 2: vss. Januar 2022//

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Das Buch

»Wir waren zwei verfeindete Tierarten, die jemand absichtlich in denselben Käfig gesperrt hatte.«

Joyas Haut ist weiß, ihre Augen blau – doch nicht nur ihr Aussehen kennzeichnet sie als Rarität. Denn seit dem unerklärlichen Verschwinden ihrer Mutter ist sie das einzige Mädchen in ihrem Stamm, in einem Land, in dem drastischer Frauenmangel herrscht. Ihr letztes bisschen Freiheit büßt sie ein, als ihr Vater sie mit dem Sohn des Stammesoberhauptes verlobt. Patrice ist kühl und grausam, sie sollte fliehen und ihn vergessen. Doch seine Nähe weckt in ihr eine tief verborgene Macht, die ihr und allen Frauen die Freiheit schenken könnte. Joya ist nämlich kein normales Mädchen – sie ist die letzte Azurie!

Die Autorin

© Marie-Sophie Adorf

Jessica Amankona, geboren 1987 in Osnabrück, studierte Spanisch und Französisch an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie wuchs in einem verrückten Frauenhaushalt mit vier Schwestern und einer esoterisch versierten Mutter auf. Wenn sie nicht gerade Fantasywelten erschafft und Liebesromane schreibt, gibt sie im Fitnessstudio Gas oder vertreibt sich ihre Zeit auf Bookstagram.

Mehr über die Autorin auf https://www.instagram.com/jessica_amankona/

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Viel Spaß beim Lesen!

Jessica Amankona

AzurieTochter aus Mondlicht und Tränen

Prolog

Im ersten Moment dachte ich, sie würde ein Bündel schmutzige Wäsche in den See drücken und wieder herausziehen.

Das Platschen klang vertraut in meinen Ohren. Neben dem Gezwitscher der Buschvögel durchschnitt es die Schwüle, die in der Luft lag, wie ein Rhythmus. Ein harmloser Rhythmus, den ich kannte, den ich lebte. An jedem zweiten Tag wusch ich Papas Hosen im See, Mamas Röcke, meine eigenen Hosen – auch wenn die Erdflecken von der Feldarbeit nie vollständig herausgingen. Ich kannte das Ganze. Was mich wunderte, war die Brutalität, mit der die Frau am Ufer ihre Wäsche peitschte – als wollte sie den Stoff nicht reinigen, sondern zerfetzen. Sie drosch noch zwei weitere Male darauf ein, bis sie in den Gräsern zusammenbrach.

Ich ließ meine eigenen nassen Kleider fallen. Wusste sofort, dass der Zusammenbruch nicht der Hitze geschuldet war. In Zira lebten wir morgens, mittags und abends in Hitze. Bisher hatte sie noch niemanden umgebracht. Das taten, wie man hörte, andere.

Ich schlug die hüfthohen Gräser beiseite, die mich verborgen hatten, und trat aus den Schatten der mächtigen Mahagonibäume. Ein Salamander flitzte über meinen Fuß in Richtung Dorfmitte davon. Ich sah ihm nach. Die Versuchung, mich ebenfalls wegzustehlen, pikte in meinen Zehen. Aber ich durfte nicht durch den Busch streifen, wenn es zu meinem Vergnügen war. Die Gefahr, einem Mann in die Arme zu laufen, lauerte in der Natur. Dort, wo niemand half, wenn ein Mädchen verschleppt wurde. Ich durfte bloß Arbeiten erledigen. Es waren immer dieselben Arbeiten in einem festgelegten Tagesablauf, der festgelegte Zeiten beinhaltete, zu denen ich vor Mama und Papa erscheinen musste. Wenn der Uluwasu das erste Mal kreischt. Wenn die Flammen des Dorffeuers in den Himmel schlagen.

Wenn, wenn, wenn.

Ich pirschte mich auf Armeslänge an die Frau heran. Sie konnte nur die Frau des Stammesoberhauptes sein. Oder die des Medizinmannes. Oder die meines Vaters. Drei Frauen – der Rest unserer Dorfbevölkerung bestand aus Männern und mir, aber wegen meiner Hosen und der kinnlangen Haare erkannte man mich nicht als kleines Mädchen.

Aus meiner Stimme war ein Piepsen geworden, als ich mich endlich traute zu sprechen: »Madame, brauchen Sie Hilfe?«

Die verhüllte Gestalt fuhr herum. Ihre freiliegenden Augen blitzten orangebraun wie das zähflüssige Palmnussöl, das wir zu Hause zum Kochen benutzten. Erleichtert öffnete ich die Fäuste, die sich unbewusst angespannt hatten. Mama hatte azurblaue Augen, so wie ich. Sie konnte es nicht sein.

»Geht es Ihnen gut?«, flüsterte ich und krümmte die Zehen in den weichen Erdboden. Die Frau starrte mich an, wie jemand, der bei etwas Unangenehmen ertappt worden war. Schnell hustete ich meine antrainierte Jungenstimme hervor, die mir vor dem ersten Satz entglitten war. »Ich möchte helfen …«

»Mein Kind.« Sie kniff die Augen zusammen, verwandelte sich in ein Gemisch aus dunkler Haut, Fältchen und spärlich gesäter Wimpern. Dann brach sie in ohrenbetäubendes Geheul aus. Es klang nach dem schrillen Willkommensruf, den die weiblichen Familienmitglieder einem Neugeborenen entgegenschrien, sobald es die Welt betreten hatte. Ich hatte ihn erst ein Mal bewusst gehört, und zwar als der Sohn des Schutzmannes geboren wurde, nachdem seine Angetraute jahrelang als unfruchtbar gegolten hatte. Hier im Dorf kam es selten zu Geburten, weil ihm langsam, aber sicher die Frauen ausgingen.

Ausgegangen waren, korrigierte ich mich im Geiste. Wenn man dreißig unserer Dorfmänner auf einem Haufen versammelte, fand man darunter nur einen verheirateten, und die Situation verbesserte sich nicht, weil seit Jahren ausschließlich Jungen geboren wurden. Manchmal fragte ich mich, wie es sein konnte, dass ich es auf die Welt geschafft hatte. Das einzige Mädchen im Junggesellendorf. Mamas Antwort darauf war stets ein warmes Lächeln mit Augenzwinkern und den Worten: »Weil wir dich gewollt haben.«

Das Herz in meiner Brust begann zu flattern. Solche Erinnerungen verwandelten es in einen flügelschlagenden Kolibri, der gegen meine Rippen hüpfte, bis ich lächeln musste. Dabei sollte ich mich zusammenreißen. Die Frau zu meinen Füßen war am Verzweifeln und ich schwelgte in Erinnerungen – wie ungezogen!

Ich setzte mich neben sie und schlang die Arme um ihren wippenden Rumpf. Gemeinsam wogen wir uns vor und zurück. Sie weinend, ich schweigend. Ihr Kokosnussduft glich dem meiner Mutter. Sie war Madame Berima, die Frau des Stammesoberhaupts. Nur sie trug dieses Muttermal unter dem linken Auge. Ich mochte sie gern. Wenn ich mich langweilte, konnte ich zu ihr gehen und Nähen lernen.

»Was ist geschehen?« Der Kolibri in meinem Inneren flatterte erneut, diesmal vor Angst.

»Mein Kind!«

»Patrice?«

»Mein Baby!« Die letzte Silbe zog sie schluchzend in die Länge. Ich spürte Ratlosigkeit in mir aufsteigen. Patrice, ihr Sohn, gehörte bereits zum Kreis der Männer, wie jeder Vierzehnjährige, der seinen Initiationsritus erfolgreich abgeschlossenen hatte. Er befand sich weit davon entfernt, als Baby bezeichnet zu werden. Und seit seiner Geburt war Madame Berima nicht mehr schwanger gewesen. Davon musste ich ausgehen, denn das Gesetz erlaubte nur ein Kind pro Paar und bestrafte Verstöße mit vernichtenden Geldsummen.

Uns im Dorf gingen die Frauen aus, denen in der Stadt der Platz. Mit dem Gesetz versuchten sie, die Überbevölkerung zu stoppen. Vater hatte es mir erklärt, als mein Gejammer nach einem Geschwisterchen nicht mehr auszuhalten gewesen war. Ich wollte mir nicht ausmalen, dass Madame Berima etwas Falsches getan hatte. Sie wäre nicht unerlaubt schwanger geworden.

»Welches Baby?«

Sie machte sich von mir los, raffte ihre Röcke und stapfte in den See. Über die Schulter rief sie mir zu, dass ich nach Hause laufen sollte. Stattdessen lief ich ihr hinterher. Das warme Seewasser schwappte um mich, während ich tiefer hineinwatete – wie dampfende Suppe um Ziegenfleischstückchen. Bald konnte ich nicht mehr stehen und musste schwimmen, um nicht abgehängt zu werden. Als Madame Berima endlich innehielt, befanden wir uns inmitten des Gewässers. Ich erreichte ihre linke Seite und blickte verständnislos zu ihr hoch. Sie ignorierte mich, schaute konzentriert auf den See, also tat ich dasselbe. Vor uns trieb das Wäschebündel, das sie zuvor durch die Luft geschwungen und immer wieder auf die Wasseroberfläche hatte klatschen lassen. Es musste sich vom Ufer entfernt haben, während wir uns in den Armen gelegen hatten. Ich hielt augenblicklich die Luft an, obwohl ich nicht vorhatte zu tauchen.

Vielleicht wäre Untertauchen das Beste gewesen.

Bei genauerer Betrachtung lugte aus den Stoffresten ein kleiner, runder Kopf hervor. Ein Säuglingskopf. Die schwarzen Härchen, die nicht viel mehr als feuchter Flaum waren, glänzten und ringelten sich. Ich begann zu rudern und um mich zu schlagen, als ich begriff. Der kleine Säugling war tot. Madame Berima hatte ihn erschlagen.

Strampelnd entfernte ich mich von dem Baby und dessen Mörderin. Bei jeder Armlänge, die ich schwamm, fürchtete ich, dass sie meinen Knöchel ergreifen und mich ebenfalls ertränken könnte. Mit klopfendem Puls im Ohr schleppte ich mich ans Ufer. Hustete muffig schmeckendes Wasser aus, bis ich keine Luft mehr bekam. Mit einem Blick über die Schulter sah ich, dass auch sie dem See entstiegen war, an anderer Stelle, eine Baumstammlänge von mir entfernt. Die orangefarbenen Feueraugen geradeaus gerichtet, brachte sie sich und den Säugling in ihren Armen an Land. Der Klang ihrer Tritte raschelte zu mir herüber, als sie zwischen Sträuchern und Büschen verschwand. Ich war dankbar dafür, dass der Busch sie verschluckt hatte. Die Todesangst fiel von mir ab und hinterließ mich als zitterndes Etwas, das sich am liebsten erbrochen hätte.

Wäre ich doch bloß früher aus dem Schutz der Büsche getreten, anstatt Madame Berima zu beobachten. Nein! Entschieden schüttelte ich den Kopf. Das Baby musste schon vor einer Weile aufgehört haben zu atmen. Es hatte nicht gebrüllt oder sonst ein Lebenszeichen von sich gegeben, als es auf die Wasseroberfläche geklatscht worden war. Immer wieder. Ich hatte nicht zu seinem Tod beigetragen.

Das Grauen, das ich in dem Moment fühlte, als ich all die schrecklichen Dinge begriff, durchtränkte mein Gewissen mit juckenden Moskitobissen. Doch meine wahre Schuld bestand darin, dass ich Mama von dem Mord erzählte.

Obwohl zunächst nichts Alarmierendes geschah – Madame Berima führte ihr Leben weiter wie bisher, fütterte ihren dicken Mann und erledigte ihre Arbeiten am See –, hielt ich es nicht mehr aus, Wäsche zu klopfen oder das Haus zu verlassen, aus Angst, ich könnte der Berima oder ihrem Sohn, Patrice, über den Weg laufen. Ich hielt es nicht aus, mich immer wieder fragen zu müssen, warum dieses Baby gestorben war.

Die Antwort darauf folgte irgendwann, als Mama und ich im Obstgarten Früchte ernteten. Mein Nikolausäffchen Paipo saß auf meiner Schulter und rupfte an meinen Haaren, bis er schwarze Strähnen in den Pfoten hielt, während Mama heruntergefallene Mangos einsammelte, die sie eine nach der anderen in ihrer Kleiderschürze verstaute. Da ich wie immer Hosen statt eines Rocks trug, war mir die Aufgabe zugefallen, die Mangos mit einem langen Stock von den Ästen zu schütteln. Ich klemmte die Zungenspitze in meinen Mundwinkel und hieb mit dem Stock auf das grüne Blätterdach ein, bis ein neuer Schwung Früchte auf uns niederprasselte.

»Denkst du, das Kleine ist ohne Grund gestorben?«, begann Mama, hob eine Mango auf und drückte sie zusammen, um deren Reife zu testen.

»Nein. Die Berima wollte bloß nichts bezahlen, falls jemand aus der Stadt von ihrem zweiten Baby erfährt.« Hässliche Worte, die aus meinem Mund sprühten wie die bitteren Kolanüsse aus den Mündern der Männer, wenn sie in einer Runde zusammensaßen, kauten und rauchten.

Mama sah sich misstrauisch um. Dann setzte sie sich auf einen umgestoßenen Holzstamm und klopfte neben sich. Ich warf den Stock beiseite und hüpfte auf einem Bein zu ihr, ohne dabei auf eine der Mangos zu treten. Stolz grinste ich sie an. Mama schien meine Begeisterung nicht zu teilen. Mit bewegungslosem Gesichtsausdruck zupfte sie ihr buntes Kopftuch tiefer in die Stirn, bis ich mich artig setzte und die Hände in den Schoss faltete. So wie sie es von einem Mädchen erwartete, so wie ihre Mutter es damals wohl von ihr erwartet hatte. Ich konnte die Geschichten von anständigem Benehmen und den Pflichten einer Frau im Halbschlaf aufsagen. Doch selbst wenn ich sie gesungen hätte, wären sie dadurch nicht wohlklingender geworden.

Mädchen sollten Mamas Meinung nach vor allem eines: gehorchen. Insbesondere den Männern.

Ein leichtes Grinsen stahl sich auf meine Lippen. Wir beide wussten, im Gehorchen war ich mies.

Mama starrte auf meine abgekauten Fingernägel, gedanklich kilometerweit weg, in Erinnerungen versunken. Ihre Stimme klang träge, als sie murmelte, dass in Wirklichkeit Monsieur Berima für den Tod des Säuglings verantwortlich war.

»Mord, Mama, nicht Tod«, murmelte ich trotzig zurück und erschrak, als sie mich plötzlich ankeifte: »Sag das bloß nie wieder! Babys hören nachts manchmal auf zu atmen.« Zorn flammte in ihren Augen auf. »Nun hat es Familie Berima und ihr kleines Mädchen getroffen.«

Ich klappte den Mund auf, bereit zu protestieren, aber der eindringliche Blick meiner Mutter und die Bedeutung ihrer Worte ließen meine Lippen aufeinanderkleben, als hätte ich zu viel Zuckerrohr auf einmal gegessen.

Madame Berima hatte ein Mädchen geboren? Das kam einem lang ersehnten Wunder gleich. Ein unerwünschtes Baby zu töten war eine Sache. Doch ein Wunder? Da sah der Fall gleich anders aus.

»Monsieur Berima ist unser Stammesoberhaupt«, stieß ich hervor. »Warum sollte er wollen, dass ein Mädchen stirbt? Alle wissen, wie dringend unser Dorf Frauen braucht.«

Mamas blauen Augen flüchteten vor meinen, aber ich ließ sie nicht davonkommen. Ich streckte ihr die rechte Handfläche entgegen und forderte sie zur Wahrheit auf, so wie sie es selbst etliche Male mit der gleichen Geste getan hatte. Es war unser gemeinsames Ritual. Und Mama wusste genau, dass lügen ab diesem Punkt zwecklos war.

»Die Wahrheit also«, seufzte sie und führte ihre Handfläche an meine. Diese raue Haut würde ich auch haben, wenn ich älter war, schoss es mir durch den Kopf. Ich würde genauso aussehen wie sie. Tat es eigentlich jetzt schon, obwohl ich noch ein Kind war. Das Wissen darum rieselte warm durch meinen Körper.

Wir zwei waren uns so ähnlich. Wir waren Verbündete.

»Also, hör zu, Joya!« Ich spitzte die Ohren. »Das Mädchen musste sterben, weil sie weiblich war. Und nur deshalb. Einen Jungen hätte er am Leben gelassen, trotz der Gesetze der Stadt. Er hätte ihn einfach als den Sohn eines anderen ausgegeben, wenn es zu einer Überprüfung gekommen wäre. Erinnerst du dich an das, was ich dir immer gesagt habe?«

»Niemand hilft einem Mädchen, wenn es verschleppt wird.«

»Richtig. Töchter kosten Mühe und Geld. Sie sind zu einem Luxus geworden, der mit einem großen Risiko verbunden ist. Männer von anderen Stämmen kommen, um sich Mädchen zu holen. Ein Junge ist wertvoller.« Als Mama meinen zweifelnden Ausdruck bemerkte, ergänzte sie: »Für die meisten Leute, nicht für uns. Weißt du, ein Sohn bleibt bei der Familie und sorgt für die Eltern, wenn sie alt sind. Mädchen werden verheiratet und zum Teil einer anderen Familie.«

Ich merkte ungewollte Tränen in mir aufsteigen. »Aber ich wurde doch auch nicht entführt!« Eigentlich hatte ich sagen wollen, dass ich niemals Teil einer anderen Familie werden und meine Eltern im Stich lassen würde.

Mama schwieg. Ihr starrer Blick vermittelte mir ein stummes »Noch nicht«. Es widersprach der rauen Hand, die zur Beschwichtigung meine Wange streichelte.

»Keine Angst, Joya solange wir die Anzahl der Mädchen im Dorf niedrig halten, werden die Banden nicht auf uns aufmerksam werden.« Es klang wie ein Echo von Vater, dem Staatsoberhaupt, der übrigen Männer.

Ich schauderte.

War mich zu schützen ihre Rechtfertigung dafür, weibliche Säuglinge zu ermorden? War ich ihre Rechtfertigung?

»Ich will nicht das einzige Mädchen im Dorf bleiben.« Meine Stimme stolperte. Den Kopf hatte ich längst an Mamas Brust vergraben und damit mein Äffchen verscheucht.

»Nur so bist du sicher.«

Ich schaute auf, blickte durch den Tränenschleier auf eine verschwommene Welt. »Und wie stellt ihr euch das alle vor? Wen sollen die Jungs einmal heiraten, die ihr großzieht?«

»Joya!« Mama wollte mich mit meinem Namen zur Vernunft rufen. Aber vernünftig war ich schon längst. So wie ich das sah, gab es nur eine Person, die geheiratet werden konnte. Und das war ich selbst.

Die Erkenntnis schlug mir ins Gesicht. Plötzlich fühlte ich mich kalt und benutzt, wie eine abgestumpfte Messerklinge. Erfroren, trotz der prallen Sonne über unserem Dorf.

»Und? Wie wollt ihr entscheiden, wer mich bekommt? Der Größte? Der Stärkste? Der –«

»Still jetzt, Joya!«

»Der Reichste.« Ich war von selbst auf die Lösung gekommen. Der Satz: »Weil wir dich gewollt haben« erlangte mit einem Mal eine ganz andere Bedeutung. Meine Eltern hatten meine Entführung riskiert, nur um später großzügig für ihre Waghalsigkeit entlohnt zu werden – und ich dachte, sie hätten mich aus Liebe behalten.

Schwindel überkam mich. Die Wärme, die von Mamas Körper auf mich abstrahlte, schien mich zu verbrennen. Sie drang durch die Haut in mein Inneres und verklumpte mein Herz zu einem glühenden Lavabrocken. Alles, was ich geglaubt hatte, verpuffte schneller, als ich es begreifen konnte. Nicht nur, dass meine Eltern mich belogen hatten – damit wäre ich vielleicht noch fertiggeworden, nein, sie hatten mich verraten.

»Lass mich los!«, schluchzte ich und stürzte blind vor Tränen auf die Beine. Auch Mama fuhr hoch, bekam mich aber nicht an den Schultern zu packen, weil ich zur Seite wich. Sie machte keinen zweiten Versuch.

»Wir haben dich behalten, weil wir dich so sehr liebten, dass wir dich nicht gehen lassen konnten. Du weißt nicht, was ich tun musste, damit …«

»Ihr wollt mich bloß verkaufen!«, schrie ich.

»Nein!« Auch Mama schrie. Dann begann sie zu weinen. Ein Teil von mir wollte zu ihr hinlaufen und sich in ihre Umarmung werfen, aber jetzt, da ich es besser wusste, war so etwas nicht mehr möglich. Meine Enttäuschung überschüttete mich in gleichmäßigen Wellen mit kalter Wut, sodass ich standhaft blieb.

»Ich hasse euch!«

Mamas buntes Tuch, dessen Muster an die Haut einer Giraffe erinnerte, verrutschte, als sie den Kopf senkte. Warum schrie sie mich nicht an? Zwang mich dazu, bei ihr zu bleiben und mich zu entschuldigen? Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich ab und ging.

Ich sah sie nie wieder.

Kapitel 1

6 Jahre später

Vater schloss den obersten Knopf meines Rüschenkleides und bedachte mich mit seinem Pflanzenblick. Ich konnte ihm nicht lange in die Augen sehen, wenn er das tat, mich musterte, als sei ich eine verkümmerte Blütenknospe, die nicht zur rechten Zeit aufgegangen war. Oder gar, als sei ich nicht die Blüte, die er erwartet hatte. Mir fiel darauf nie etwas anderes ein, als zu schweigen.

Wortlos ließ ich mich von ihm mal nach links, mal nach rechts drehen. Kam mir dabei vor wie der Deckenventilator über meinem Kopf, der es trotz seiner Mühe nicht schaffte, die Schwüle aus unserem Haus zu vertreiben.

Sich die stumme Anprobe als eine Art Tanz vorzustellen, half, genau wie den grünen Busch durch das Stubenfenster zu beobachten oder an mein Nikolausäffchen Paipo zu denken. Trotzdem umspülte mich warme Erleichterung, als Vater endlich nickte und »fast fertig« murmelte. Ohne hinzusehen, angelte er ein rotes Seidenband vom Tisch. Ich verfolgte die raupenähnliche Bewegung, als es über die Rillen der zusammengeleimten Zuckerrohrstäbe floss, um in der Faust meines Vaters zu verschwinden, betrachtete die behaarten Handrücken, die sich meiner Taille näherten, Millimeter für Millimeter.

An diesem Morgen nahm ich die Welt um mich herum wahr, wie jemand, der wusste, dass er sie gerade ein letztes Mal so sah. Als würde ich den Kleinigkeiten plötzlich eine große Bedeutung beimessen. Dabei war ich morgens verschlafen von der Bastmatte gekrochen, wie immer. Vater hatte mich gebeten, in das weiße Kleid zu schlüpfen, wie immer. Und gleich würde er mir meine Tagesaufgaben diktieren und sich selbst in Richtung Felder aufmachen – wie immer. So bedrückend sein Schweigen mir gegenüber auch war, ich hatte nicht vor, ihn jemals zu verlassen. Schon gar nicht für einen Ehemann, der mich bloß bekam, weil er die höchste Summe bot.

Vater zurrte das Seidenband für die Schleife in meinem Rücken enger zusammen und ich zog den Bauch ein. Viel Spielraum gestattete mir die Korsage nicht. Beinahe luftdicht verschnürt, war sie aus gutem Grund der Teil an jenem Rüschenkleid, den ich am meisten hasste. Schlimmer schien mir bloß die Tatsache, dass es sich um das Kleid meiner verstorbenen Mutter handelte. Um ihr wunderschönes weißes Brautkleid. Aber welche Tochter hätte sich in so einem Erbstück wohlgefühlt? Wenn sie für den Tod der Mutter verantwortlich war.

Ich kam mir darin vor wie ein Finger, über den man einen zu kleinen Ring gestülpt hatte: eingequetscht und gefangen. Der Ring würde niemals hübsch aussehen an meiner Hand, er würde bloß an seine rechtmäßige Eigentümerin erinnern, die ich nicht war und an die ich nie heranreichen könnte: Mama. Doch ich hatte jetzt keine Zeit, mich zu schämen. Vater wollte, dass ich mich vor den Wandspiegel stellte.

Ich ließ gehorsam ein Lächeln aufblitzen, als ich meine Reflexion in der zerkratzten Scheibe erblickte. Das Lächeln vertiefte sich, je länger ich mich betrachtete. Gestern noch ein Dorfjunge, heute eine Frau.

»Das Hochzeitskleid deiner Mutter«, erklärte Vater stolz. »Es stammt aus der Cité.« Und war, soweit ich wusste, extra für Mama genäht worden. Sie musste damals meine Figur gehabt haben. Ich passte hinein, was jedoch nicht bedeutete, dass ich etwas von solchen Kleidern verstand. Wenn ich es trug, ging ich nicht darin, sondern schwankte. Um den mit Tüll unterfütterten Rock aus Spitze zu raffen, musste ich beide Arme ausstrecken, und selbst dann fühlten sich meine Finger den Stoffmassen nicht gewachsen. Doch wenigstens reichte der Rock nicht ganz bis auf den Boden. Sein Saum wäre in meiner Obhut bloß dreckig geworden, die Spitze zerrissen.

»Du hast jetzt dasselbe Alter.« Vaters Feststellung holte mich aus meinen Gedanken zurück. Weil sie falsch war, vor allem aber, weil ich sie nicht hören wollte. Noch nicht.

»Mama war damals siebzehn?«, fragte ich unschuldig.

»Nein.«

»Sondern?« Zweiundzwanzig. Das hatte sie mir selbst gesagt. Aber ich wollte, dass Vater es aussprach.

»Sie war so alt wie du. Reif genug, ihr Elternhaus aufzugeben.« Er zog die Stirn in tiefe Falten, die auch dann nicht verschwanden, als er seine Mimik entspannte. Über Vergangenes zu reden, hatte ihn im Zeitraffer altern lassen. Vielleicht war auch die stechende Sonne über den Kakaofeldern, auf denen er schuftete, daran schuld. Oder ich.

»Jetzt dreh dich mal und lass den Rock schwingen.« Ich kreiste um meine eigene Achse, damit er zufrieden war. Vater grunzte. Ich hoffte, nicht aus Missbilligung. »Hm-mh. Damit kannst du auf dem Dorfplatz ein paar schöne Mangos verkaufen.«

Unsicher, ob er einen Scherz gemacht hatte, stieß ich ein nervöses Lachen aus. Seit Mamas Tod hatten wir uns mit jedem Atemzug weiter voneinander entfernt, bis diese Distanz zwischen uns entstanden war, die ein langes Beieinandersein unerträglich machte. Ich war froh, wenn ich in den Busch durfte, um Wäsche zu waschen. Jede Art von Arbeit war mir recht, um Vaters unausgesprochenen Anklagen zu entgehen.

Als er still blieb, anstatt in mein Lachen einzustimmen, hörte ich damit auf, Lockerheit zu mimen. Ich löste die rote Schleife in meinem Rücken und arbeitete mich die Knopfleiste wieder herunter.

»Was tust du denn?«

»Mich umziehen. Ich muss zum Markt.«

»Und warum nicht in diesem Kleid?«

Weil man Mangos nicht in Brautgewändern verschacherte. Weil ich mich darin unwohler fühlte als ein Lamm am Spieß. Weil er selbst mir vor Jahren eingebläut hatte, mich wie ein Junge zu verhalten. Es gab unzählige Gründe.

Vater wartete auf eine Antwort, also sagte ich, dass ich nichts beschädigen wollte. Er nickte vertrauensselig, doch die folgenden Worte waren wie ein harter Schlag auf meine Fingerspitzen: »Du hast jetzt das richtige Alter, um in der Öffentlichkeit Kleider zu tragen. Du lässt es an.«

Ich fuhr mir durch die hüftlangen Haare, um das Ziepen in meinen Händen zu vertreiben. Mit zwölf hatte ich das letzte Mal die scharfe Klinge des Buschmessers spüren dürfen, das durch meine schwarzen Strähnen schnitt. Danach hatte Vater mir befohlen, sie lang wachsen zu lassen. Ich hatte zu dem Seidentuch, das meinen Schopf außerhalb des Hauses bedeckte, wohl eine engere Bindung aufgebaut als zu sonst wem. Es machte mir regelrecht Angst, mich unter Menschen aufzuhalten. Unter Männern. Vielleicht, weil ich zu der einzigen Frau im Dorf geworden war.

Madame Berima lebte nicht mehr, genau wie Mama und die Frau des Schutzmannes. Die Frau des Medizinmannes war seit jeher verschollen. Niemand sprach es aus, aber ich ahnte, dass eine der Banden sie geholt haben musste, wahrscheinlich als sie den Busch nach Heilpflanzen durchstreift hatte.

Seit ich vor drei Jahren zum einzigen weiblichen Wesen im Dorf mutiert war, hatte sich die allgemeine Stimmung verschlechtert. Ich fühlte die Blicke der Alten auf Stellen meines Körpers, die nur ich selbst nackt zu Gesicht bekommen sollte. Spürte, wie die Jüngeren um mich schlichen, Wetten auf mich abschlossen. Taio und Jerim verfolgten mich regelmäßig zum See. Einer in meinem Alter, der andere noch ein Kind. Mit angespannter Miene starrten sie mich dann an. Sie wussten, sie würden nie die nötigen Mittel aufbringen, um mich zu kaufen.

Zu arm für eine Frau. Wenn sie im Dorf blieben, würden sie als ewige Junggesellen sterben. Manchmal wunderte ich mich, dass sie überhaupt Abstand hielten. Ich an ihrer Stelle hätte mich längst auf mich gestürzt und mir das genommen, wonach einem jungen Mann verlangte.

Aber vielleicht wollte ich mich mit solchen Gedanken nur selbst bestrafen.

»Vater, ich errege Aufsehen in diesem … Aufzug.«

»So verkaufst du mehr Mangos.«

Ich ließ den Kopf hängen, nachdem ich begriffen hatte, dass ich kein gutes Argument entgegnen konnte. Natürlich war das Kleid dazu gedacht, Aufsehen zu erregen. Es ging gar nicht um Mangos. In Wirklichkeit lief bereits meine Versteigerung und sie sollten alle vorgeführt bekommen, wie begehrenswert ich war. Damit sie um mich wetteiferten wie die Paviane. Den Preis in die Höhe katapultierten.

Ich zitterte bei dem Gedanken daran, unserem Stammesoberhaupt zugesprochen zu werden. Soweit ich wusste, besaß er die meisten Woka. Gleichzeitig aber auch einen Sohn, den es zu verheiraten galt. Sosehr Patrice mir zuwider war, ich würde ihn in jedem Fall seinem Alten vorziehen. Leider war mir klar, dass Geld gierig machte. Also stellte ich meine Hoffnungen ein und versuchte, mich mit seinem Vater, dem faltigen stinkreichen Berima abzufinden.

»Du verkaufst die Kochbananen, Mangos und Yams. Dafür erstehst du Fleisch von der Antilope, die Gérard heute Morgen geschossen hat.«

»Warum nicht Ziege? Die wird er tauschen.«

Vater hob überrascht die Brauen, entweder weil ich etwas Kluges gesagt hatte – oder weil ich Widerworte gab. »Entschuldigung, Mademoiselle, aber wer hat die Früchte angebaut, die dich ernähren?«

»Du, Vater.« Resignation stieg in mir hoch.

»Wer also sollte, deiner Meinung nach, die Einnahmen verwalten, die meine Früchte abwerfen?«

»Du.«

Er stieß einen langen Strom Luft durch die Nase aus, als hätte ihn die kleine Machtdemonstration Unmengen an Kraft gekostet. Seine Erschöpfung war mir gleichgültig. Da, wo einmal mein Herz gesessen hatte, existierte nur noch ein kalter Haufen Asche. Vater gelang es, ihn von Zeit zu Zeit aufzuwirbeln – mehr nicht.

»Wenn du mit dem Markt fertig bist, bringst du unserem Stammesoberhaupt einen Strauß Frangipaniblüten und lädst ihn für morgen zum Abendessen ein. Sprich auch eine Einladung an seinen Sohn aus.«

Ich richtete mein Kleid und schaute in den Spiegel, um mein Haar aufzulockern. Die Teilnahmslosigkeit täuschte ich nur vor, in mir drin stob die Asche in alle Richtungen auf. Frangipani. Das war mein Duft. Die anderen Frauen hatten zur Hautpflege Kokosnussbutter verwendet, ich rieb mich mit selbst gepresstem Frangipaniöl ein. Der Strauß, den ich Berima bringen sollte, stellte eine Botschaft dar.

»Sag ihm, dass die Knospe aufgegangen ist«, schloss Vater seine Anweisungen und stand von dem angenagten Holzhocker auf.

Ich nickte und hätte es bei einem Nicken belassen können, aber meine Wut war schneller als meine Vernunft. »Vielleicht sage ich ihm dann auch, er kann mich gleich hier und jetzt bespringen. Ab morgen bin ich sowieso seine Frau.«

Vaters große Hand schoss hervor und traf mich auf die rechte Wange. Mir war, als hätte er stattdessen meinen Schädel zertrümmert. Ich stürzte orientierungslos zu Boden, presste meine brennende Gesichtshälfte auf die kühlen Steinfliesen und wartete darauf, dass der Schmerz verging. Aber er wurde nur schlimmer.

»Reden wie ein Mann, aber heulen wie ein Mädchen. Eine feine Frau bist du. Das Ebenbild deiner Mutter!« Er stampfte aus der Tür und es gab nichts, das ich ihm hätte hinterherschreien wollen. Zu sehr hatte mich sein zynischer Vergleich mit Mama getroffen. Er hatte mich mehr verletzt als die heftige Ohrfeige oder die Tatsache, dass mein Vater mich nach siebzehn Jahren zum ersten Mal geschlagen hatte.

Ich musste zu einer erdrückenden Last herangewachsen sein.

Konnte ich es ihm übel nehmen, dass er mich so schnell wie möglich loswerden und dabei die lohnendste Summe herausschlagen wollte? Wohl eher nicht.

Es knackte, knirschte und zischelte um mich herum. Im grünen Geflecht des Busches eingewoben, wanderte ich auf den langen Wasserfall zu, der irgendwo hinter Bäumen und Büschen verborgen lag. Sein Rauschen brachte die Umgebung bereits zum Trommeln. Beinahe genoss ich das Gefühl, ganz in der Natur aufzugehen, doch die Erkenntnisse des Tages schoben sich immer wieder in mein Bewusstsein.

Frangipani. Frangipani. Fran. Gi. Pani.

Ich wiederholte das Wort wie ein Gebet, um aufsteigende Bilder an Unerwünschtes fernzuhalten. Ich wollte Berimas Gesicht vermeiden. An das von Patrice konnte ich mich schon nicht mehr erinnern. Seit sechs Jahren war ich ihm ausgewichen, um ihm nicht sagen zu müssen, dass er von einer kaltblütigen Mörderin abstammte und dass sein einziges Glück darin lag, mit einem Gemächt zwischen den Beinen geboren worden zu sein. Morgen Abend könnte es mir möglicherweise herausrutschen. Wie so vieles, das ich für mich behielt.

Ich setzte meinen Weg fort, indem ich die riesigen Blätter, die von den Bananenbäumen herunterbaumelten und mir die Sicht verstellten, mit der Machete entzweiteilte. Ich hackte und ging, hackte und ging. Die gleichförmige Bewegung hätte mich normalerweise beruhigt. Stattdessen steigerte ich mich immer weiter in den Albtraum meiner bevorstehenden Hochzeit hinein.

Ob die Machete unter das Kleid passte?

Wenn ich sie geschickt genug verbarg, konnte ich Berima ein Auge ausstechen oder den Schädel abschlagen, sobald er mich entkleidete. Am besten, ihn gleich seiner Manneskraft berauben.

Mit voller Kraft hackte ich den nächsten Schwung Blätter aus dem Weg. Nicht gerade erfreut stellte ich fest, dass ich schon an meinem Ziel angekommen war. Ich ließ die Machete zu Boden gleiten und sah mich genauer um.

Der Wasserfall thronte hoch oben bei den Wolken und donnerte einen Klippenvorsprung hinab in die Tiefe. Unten bauschte sich sein irisierendes Wasser in einer türkisfarbenen Lagune. Ringsum blühten Pflanzen verschiedenster Farben: blaue und pinkfarbene Orchideen, scharlachroter Hibiskus, die gelb-weißen, alles überstrahlenden Frangipani. Sie fügten sich in die saftig grüne Blätterlandschaft ein, die den Ort wie ein in sich geschlossenes Paradies wirken ließ. Die einzige Öffnung stammte von mir und meiner Machete. Eine unscheinbare Lücke in der mich großzügig umrundenden, grünen Mauer.

Wie kam es, dass der Boden hier nicht bewuchert war? Die Büsche und Sträucher alle im selben Abstand zur Lagune nach hinten wichen? Als käme jemand regelmäßig hierher und würde die Auswüchse der Natur zurückstutzen.

Der Ort hatte sich verändert. Ich erinnerte mich, dass hier zu früheren Zeiten kein Durchkommen gewesen war. Ein Grund, weshalb niemand das kühle Wasser zum Baden nutzte. Die Anstrengung und der Zeitaufwand, einen Weg durch das Pflanzengeflecht suchen zu müssen, schreckten jeden ab. Nicht mal ich kam oft her, dabei verging ich an normalen Tagen vor Langeweile. Schließlich hockte ich nicht mit Gleichgesinnten am Feuer, rauchte und kaute bei unterhaltsamen Geschichten Kolanüsse. Ich ging auch nicht jagen oder fuhr in die Cité, um mit Waren zu handeln. Mir blieben der Markt alle zwei Tage, die Wäsche und mein Äffchen. Bloß, mit Paipo konnte ich nicht das tun, was ich am meisten brauchte: mich austauschen. Mit niemandem konnte ich das, weil für mich kein Gleichgesinnter existierte.

Ein Leben in Stille, die nicht wirklich eine war. Denn was meine Gedanken brüllten, vor allem die düsteren, brachte mich an schwächeren Tagen zum Weinen.

Ich schloss die Augen und sog den Geruch der feuchten Luft bis in die äußersten Winkel meiner Lunge ein. Süß und schwer umtanzten die in ihr enthaltenen Blütendüfte meine Nasenspitze. Als ich die Lider wieder öffnete, verspürte ich den Drang, mich auf einen der Felsen zu setzen, die aus der Wasseroberfläche hervorragten. Ich tauchte gerade mit der Fußspitze ein, da schoss weiter hinten im Wasser eine Fontäne in die Höhe. Reflexartig schirmte ich mein Gesicht mit den Armen ab. Sobald der Sprühregen aufgehört hatte, erkannte ich dessen Ursache. Taio. Nur sein Kopf schaute heraus, der Rest befand sich unter der türkisfarbenen Decke, die ihn in kleinen Wellen umspülte. Das Rauschen des Wasserfalls hatte mich taub gemacht für unwichtige Geräusche, nur deswegen war mir sein Sprung in die Lagune nicht aufgefallen.

Wie lange er wohl schon hier schwamm? Hatte er nur darauf gewartet, dass ich die Augen schloss, damit er mich erschrecken konnte?

»Glotz nicht so!«

Ich zuckte zusammen. Erstens glotzte ich nicht und zweitens sprach Taio nie mit mir. Und mit nie meine ich, dass ich bis gerade nicht einmal gewusst hatte, wie seine Stimme klang. Er schüttelte sein schwarzes kinnlanges Haar, das ihm danach kreuz und quer im Gesicht klebte, und schwamm auf mich zu. Ich scharrte mit der nassen Fußsohle über ein Büschel Gras. Höchste Zeit, dass ich die gelben Blüten pflückte und nach Hause ging!

Nachdem ich mich einige Schritte entfernt hatte, rief er meinem Rücken einen weiteren dummen Spruch zu. Ich ignorierte ihn und streckte meine Hand nach einem Frangipanibusch aus. Der schwere Rock des Kleides schien mich auf den Boden zurückzuziehen. Ich musste mehrere Male hochhüpfen, damit ich einen der Äste zu fassen bekam – kein gutes Gefühl mit dem geifernden Taio im Rücken.

Als ich es geschafft hatte, schnitt ich die schönsten Blüten ab und legte sie in meine Lederumhängetasche. Der milchige Saft, der dabei meine Finger benetzte, war angeblich giftig. Kurz dachte ich darüber nach, mir die Kuppen in den Mund zu stecken, in der Hoffnung, daraufhin tot umzufallen. Doch ich bezweifelte, dass die Tropfen ausgereicht hätten, um mich umzubringen.

»Hey!« Taios Stimme wieder. Frischer Zorn begann in mir zu brodeln. Ich wollte ihn nicht in meiner Nähe haben.

Verärgert fuhr ich zu ihm herum. Der Ast, nicht länger in meiner Hand, peitschte hoch. »Was?«, keifte ich.

»Du siehst aus wie ein Mädchen.« Seine schwarzen Augen blitzten, als er die Arme vor der Brust verschränkte, ein Grinsen wagte.

»Und du wie ein Pavian.«

Jetzt lachte er. Scheinbar amüsiert, trat er näher. »Gibt es einen Grund für das Rüschending, in dem du steckst?«

Ich wollte ihn fragen, woher er überhaupt wusste, was Rüschen waren, als mir einfiel, dass er mit einer Mutter aufgewachsen war, genau wie Patrice und Jerim – wie ich. Eigentlich waren er und Patrice die einzigen Männer im Dorf, die sich in einem für mich akzeptablem Alter befanden. Beide um die zwanzig und nicht schon mit einem Bein unter der Erde, so wie Berima oder die anderen Alten.

»Das ist mein Hochzeitskleid«, giftete ich, ohne mir dessen sicher zu sein. Vater würde mir bestimmt eines besorgen, das noch aufsehenerregender war und noch enger saß. Der schon jetzt gut sichtbare Spalt zwischen meinen zusammengedrückten Brüsten reichte ihm nicht als Lockmittel.

»Hochzeit.« Ein Lachen schlich sich aus Taios Mundwinkeln, die Kiefermuskeln zuckten. »Und wer hat die Ehre?«

»Berima.«

Er ließ die Arme sinken. Seine dunkelbraune Brust wölbte sich zu tiefen Atemzügen. »Findest du ihn etwa scharf?«

Absurder Gedanke. Es gab niemanden, den ich scharf fand. »Er könnte mein Vater sein!« Um meine Entrüstung zu unterstreichen, verzog ich angewidert das Gesicht.

»Oh.«

»Ja. Oh.«

Nachdem er begriffen hatte, dass nicht Patrice, sondern der Alte gemeint war, sahen wir uns einen Augenblick stumm an. Ich bemerkte wieder den fordernden Ausdruck, der in seiner schwarzen Iris lag.

»Tja, Pech für dich«, sagte ich. Taio entließ mich aus seinem Blick und bewegte die Lippen zu einer Antwort. Ich musste näher an ihn heran, um sein Murmeln zu verstehen. Merkte erst jetzt, wie sehr ich die ganze Zeit gegen das Tosen des Wasserfalls hatte anschreien müssen. Schließlich stand ich so dicht vor ihm, dass der Abstand unserer beiden Körper die Länge meiner Hand maß. In dem Moment ging mir wie schon oft durch den Kopf, dass es vielleicht besser wäre, von einer Bande geraubt zu werden, als mich meinem Schicksal zu ergeben.

Taio könnte meine Bande sein.

»Ich werde niemals in meinem Leben eine Frau berühren«, sagte er und zog den linken Mundwinkel hoch. Er klang traurig, wütend. Ich konnte das Durcheinander in seinem Inneren spüren. Seine Hoffnungslosigkeit warf sich über mich wie ein schweres Gewand. Taios Tage waren genauso vorgezeichnet wie meine.

»Dafür wirst du immer frei sein.«

»Und wenn ich etwas anderes will?«

»Dann bekommst du eine Ohrfeige.«

Er hob die Brauen. Sein Blick schoss zu meiner geschundenen Wange. »Falls ich ihn für dich töten soll …?«

»Meinen Vater?«

Wir lächelten beide.

»Ich könnte Berima Gift unterschieben. Mein alter Herr ist Medizinmann.«

Ich wusste nicht, warum, aber mir traten heiße Tränen in die Augen. Wie konnte es sein, dass mich ein fremder Junge, mit dem ich nie ein Wort gewechselt hatte, besser verstand als mein eigener Vater?

»Du könntest mich berühren. Ich bin eine Frau«, stieß ich hervor. Ohne zu ahnen, was ich wirklich vorhatte, ergriff ich seine Hand und führte sie an meine Wange. Dort blieb sie nur kurz. Taio schob mir das Tuch vom Kopf und versenkte seine Finger in meinem Haar, als hätte er nur auf die Möglichkeit dazu gewartet. Wanderte den Nacken hinab, erkundete mein Schlüsselbein. Erschrocken stellte ich fest, dass ich ihm soeben meine Erlaubnis zu was auch immer gegeben hatte. Aber vielleicht hatte ich das auch schon in dem Moment, als ich seine Hand an meine Wange gepresst hatte.

Taio machte einen halben Schritt auf mich zu, den letzten, der noch zwischen uns lag. Den Kopf geneigt drückte er sein Gesicht gegen meines. Ich spürte seine Nasenspitze in meiner Halsbeuge, stand verkrampft da, in dem vergeblichen Versuch, die Hitze abzuwehren, die in mir hinaufkroch, während er meinen Duft tief einatmete und dabei eine prickelnde Spur auf meiner Haut hinterließ. Als er mich an der Taille packte und an sich zog, entflammte er damit jeden Winkel meines Körpers. Unmöglich, seinem männlichen Geruch auszuweichen, den nassen Haarspitzen. Sie sandten Tropfen aus Feuer auf meine Haut.

»Ich will dich küssen.« Seine Stimme schien dunkler geworden zu sein, rauer. Ich musste mich an ihn klammern, um nicht den Halt zu verlieren.

Wenn ich jetzt Nein sagte, würde er das akzeptieren? Könnte er das überhaupt? Nachdem ich ihm in Aussicht gestellt hatte, was er unter normalen Umständen nie besitzen würde.

»Joya«, drängte er.

Unsere Blicke begegneten sich. Auch er stellte mir etwas in Aussicht.

Ich würde niemals den Wunsch empfinden können, Berima zu küssen. Die Feuersbrunst in mir stammte von Taio. Dies war unser Moment. Eine einmalige Flucht aus den Schlingen, die von Geburt an um unsere Hälse gelegt worden waren.

Ich öffnete die Lippen, ohne ein Wort zu sagen. Taios Mund stieß hart auf meinen. Unsere Zungen berührten sich und ließen die feuchte Hitze zwischen uns tanzen. Wo ich vorher Asche vermutet hatte, sprühten nun Funken eines außer Kontrolle geratenen Brandes. Mein Herz klopfte wild und hart, immer schneller, wie ein Krieger auf der Flucht. In meinen Ohren dröhnte es, der Boden unter mir schien sich zu verflüssigen.

Taio zerrte mit einer Hand an den Bändern meiner Korsage, mit der anderen hatte er meinen Rock bis auf Hüfthöhe gerafft. So leicht, so schnell. Ich wusste, was er wollte. In seinen Augen loderte es klar und deutlich. Aber ich konnte nicht ausblenden, dass ich ihm dieses Geschenk nicht machen durfte. Es war einzig und allein meinem zukünftigen Ehemann vorbehalten, selbst wenn dieser Monsieur Berima heißen sollte.

Schwer atmend riss ich mich von Taio los. »Das reicht«, keuchte ich.

Er nahm Abstand von mir, schnaufend, taumelte drei Schritte zurück. Die Wangen und Lippen gerötet, fuhr er sich durch die verstrubbelten schwarzen Locken. »Wann ist deine Hochzeit?«

Ich blinzelte. »Morgen voraussichtlich.«

Taios Gesichtsausdruck verdunkelte sich. Genau wie meine Laune. »Man hat mich nicht gefragt, ob ich kommen möchte …«, wandte er ein. Als wäre dieser Umstand ein Beweis dafür, dass es keine Hochzeit geben konnte. Eine Braue erhoben wartete er darauf, dass ich ihm den Gegenbeweis lieferte.

»Mich hat auch niemand gefragt«, murmelte ich schließlich, und sagte damit alles.

Den Weg zurück ins Dorf brachte ich rennend hinter mich. Ich hatte das Gefühl, dem geheimen Paradies, das Taio geschaffen hatte, so schnell wie möglich entfliehen zu müssen. Mittlerweile war ich davon überzeugt, dass er derjenige war, der sich die Arbeit gemacht und den idyllischen Platz um den Wasserfall freigelegt hatte. Warum sonst war er dort aufgetaucht? Ihn hatte man bestimmt nicht gebeten, einen Strauß Frangipani zu pflücken.

Meine Hand schoss an die Ledertasche, die auf meine Hüfte klatschte, während ich über Stolpersteine hinwegsetzte. Ich wollte ihren Inhalt nicht hergeben, nicht an Berimas Tür klopfen. Wie sollte ich ihm in die Augen sehen, während Taios Kuss noch in mir nachbebte? Sein Kuss. Fast fühlte ich mich hintergangen, als wäre ich in eine Falle gelockt worden, die er vorbereitet hatte. Sein Netz aus Hoffnung und Sehnsucht hielt mich in der Luft gefangen, doch nicht ohne Löcher darin. Irgendwann würde es reißen und ich auf dem harten Boden darunter aufschlagen.

Während ich den Dorfeingang passierte, versprach ich mir selbst, Taio und die Empfindungen, die ich mit ihm verband, zu vergessen.

Ich steuerte Berimas Haus an, ohne dem Geschehen um mich herum sichtbare Beachtung zu schenken. Der Qualm des ständig brennenden Lagerfeuers drang in meine Nase, Gesprächsfetzen wanderten an mein Ohr. Die Alten unterhielten sich über mich. Über mein Kleid, mein langes Haar, meinen Gang. Ich versuchte, weniger mit den Hüften zu schwingen, aber das hielt ihr Getratsche nicht auf. Schließlich gab es noch meine einzigartigen blauen Augen, den anziehenden Mund, meinen betörenden Duft.

Während ich den Worten lauschte, verstummte das Beben in meinem Inneren und machte Platz für die Angst, die ich normalerweise in so einer Situation empfand. Ich beschleunigte meine Schritte, stierte noch eindringlicher geradeaus. Dann brach der Platzregen los. Zur Regenzeit konnte er einen jeden Moment überraschen. So schnell er einen überfiel, so schnell verflüchtigte er sich auch wieder. Dennoch versetzte mich das laute Prasseln in plötzliche Orientierungslosigkeit. Die Alten nicht mehr zu hören, bedeutete, nicht zu wissen, was sie gerade taten. Und das hieß: Sie konnten mich jeden Augenblick anfallen und hinter einen Busch ziehen.

Angsterfüllt wirbelte ich herum. Der Platz hinter mir war leer. Sie hatten sich in ihre Hütten zurückgezogen. Trotzdem war mir zum Heulen zumute. Lautlos schluchzend kämpfte ich mich durch die roten Rinnsale, die der Regen auf der sonst so staubigen Erde hinterließ, weiter vorwärts. Er spülte die Tränen von meinem Gesicht und durchnässte das wertvolle Kleid, das meinen Körper nicht mehr anständig verhüllen würde. Mit zitternden Fingern klopfte ich an Berimas Tür, hoffte gleichzeitig, dass sie verschlossen blieb.

Anders als wir, wohnte unser Stammesoberhaupt in einem großen Sandsteinhaus mit Innenhof und Gartenanlage. Er besaß ein Gefährt mit vier Rädern und moderne elektrische Geräte – wir nur ein Radio. Den Fernseher stellte er uns zu besonderen Anlässen zur Verfügung. Jedes Mal, wenn er es tat, versammelten sich die Männer dankbar auf dem Dorfplatz und genossen die Ablenkung, die er ihnen bot. Ich war nie dabei, hockte meistens weiter weg in den Ästen eines Baumes und versuchte auf dem Bildschirm Umrisse zu erkennen.

Berimas Reichtum weckte keinen Neid in mir, bloß Neugier. Wie war es möglich, dass ein Mann so viel wohlhabender war als alle anderen im Dorf? Ich wusste, dass er in die Cité fuhr und dort Handel betrieb, aber von Vater kam zu diesem Thema nur das Wort »Geldgeschäfte« über die Lippen.

Für einen Moment wünschte ich mir, er könnte ebenfalls in der Stadt Geschäfte machen, dann hätte er es vielleicht nicht nötig, seine Tochter zu verkaufen.

Mein Schluchzen wurde heftiger. Die Hand, die eben noch gegen Berimas Tür geklopft hatte, presste ich jetzt auf meinen Mund. Ich sah mich nach einem vom Regen verschonten Fleck um, wo ich die Frangipani hinterlegen konnte, fand aber nichts als Matsch. Ich lief in den Garten und stieß auf das mechanische Zweirad seines Sohnes. Hätte ich die geringste Ahnung davon gehabt, wie man so ein Gefährt bedient, wäre ich davongefahren. So blieb mir nichts anderes übrig, als es anzuschmachten und weiterzusuchen.

Mir kam die Idee, durch ein Fenster zu klettern. Die riesigen scheibenlosen Vierecke reichten fast bis zum Boden. Mit gerafftem Rock sollte es mir möglich sein, ein Bein über den Rand zu schwingen. Seufzend hievte ich mich hoch und plumpste auf der anderen Seite der Hauswand auf den Steinboden. Irgendeiner meiner Wirbel hatte bei der Landung geknackt, leider handelte es sich um nichts Tödliches.

Schnaufend blickte ich mich um. Ich war im Wohnzimmer angelangt. Zwei mit durchsichtigen Plastikplanen bedeckte Polstersofas hießen mich willkommen. In ihrer Mitte stand ein leerer Tisch, der ideale Ort, um Blumen loszuwerden. Ich zerrte den gelben Strauß aus meiner Ledertasche und warf ihn auf die Tischplatte. Dann folgte ich meinen Füßen ins nächste Zimmer, in dem ein Doppelbett und ein breiter Kleiderschrank auf mich warteten. Der mit dem Wohnzimmer verglichen kleine Raum lag fast im Dunkeln. Ich spähte durch eines der beiden Fenster nach draußen und stellte mit Unbehagen fest, dass der Himmel schwarz geworden war. Der Zeitpunkt der schlagartig einsetzenden Nacht saß mir für gewöhnlich im Gefühl, doch heute hatte ich ungewollt Dinge in meine Gefühlswelt eingeladen, die einen großen Teil meiner Aufmerksamkeit beanspruchten.

Ich machte kehrt und wusste plötzlich nicht mehr, wo ich mich befand. Die Düsternis warf Schatten und schaffte Schemen, die mich verwirrten. Ich tastete mich mit einer Hand an der Wand den Flur hinunter, in der Hoffnung, wieder ins Wohnzimmer und zu dem Fenster zu finden, durch das ich hereingekommen war. Der Gang endete, doch die Nacht hatte mir jede Sicht genommen. Ich erspähte nicht einmal die Sofas. Das war ein schlechtes Zeichen.

Gänsehaut kroch auf meine Arme, verdichtete sich, in meinem Hals nistete sich ein fester Kloß ein, der mich am Schlucken hinderte. Ängstlich lief ich los, durch einen Raum, der keine Begrenzung zu haben schien. Ich stolperte, fiel, rappelte mich auf. Hörte meinen eigenen Atem unnatürlich laut in meinem Ohr. Dann prallte ich gegen etwas Weiches, das mich mit sich zu Boden riss. Mein Schrei zerschnitt die Luft und zerschlug den letzten Rest Mut, den ich aufgebracht hatte. Ich strampelte, rollte mich von dem Etwas herunter und wollte auf die Beine kommen. In dem Moment, als ich mit rasendem Herzen festen Boden unter den Fußsohlen spürte, erklang ein Geräusch: »Schscht.«

Mein Keuchen wurde heftiger. »Wer ist da?« Ich konnte es mir denken: Patrice. Oder der alte Berima. »Ich soll nur eine Einladung aussprechen«, rief ich hastig. »Morgen, zum Abendessen. Mein Vater schickt Frangipaniblüten, sie liegen auf dem Tisch.« Noch während ich sprach, nahm ich die auf mich zustrebende Körperwärme wahr. Ich schüttelte den Kopf, wollte das alles nicht. Ein verzweifeltes Wimmern brach aus meiner Kehle hervor. Er würde mich doch morgen sowieso für sich haben! Warum wollte er mich jetzt? Warum tat er mir das vor der Hochzeit an?

Finger gruben sich schmerzhaft in meine Schultern und rissen mich in eine verzweifelte Umarmung. »Komm mit«, hauchte eine Stimme unmittelbar an meinem Ohr.

Das war zu viel für mich. Ich fing lautstark an zu weinen, zu betteln, zu flehen, er solle mich in Ruhe lassen. Mit letzter Kraft stieß ich mich von ihm ab, doch es war keine harte Männerbrust, von der ich mich loskämpfte. Die Brust meines Gegenübers fühlte sich an wie meine: rund und weich. Ich verstummte. Dann krachte in meinem Rücken eine Tür zu. Oder flog sie auf? Das Geräusch stammte nicht aus dem Haus, dazu war es zu weit entfernt gewesen. Es musste sich um die Autotür handeln.

Näher kommende Schritte. Stimmengewirr.

»Warte«, hauchte ich ins Nichts. »Wer bist du?« Statt eine Antwort zu erhalten, wurde ich von grellem Licht geblendet.

Ich kniff die Augen zusammen, und als ich sie wieder öffnete, sah ich in Berimas faltiges Gesicht.

Kapitel 2

»Joya.« Seine hinterhältige Schlangenstimme sprach meinen Namen nicht mit Überraschung aus. Das war das Erste, was mir auffiel. Als Nächstes bemerkte ich unter der grellen Deckenbeleuchtung, dass er jemanden bei sich hatte. Mein Blick glitt über das hohlwangige Gesicht zu Berimas Linken. Der Mund darin war geschlossen, lief in lange strichartige Winkel aus, obwohl er nicht lächelte. Die gerade Nase zuckte, als hätte er sie kurz gerümpft. Als ich bei den Augen angelangte, fuhr ich innerlich zusammen.

Zähflüssiges Palmnussöl. Orangefarbenes Feuer.

Es war, als sei Madame Berima von den Toten zurückgekehrt, um sich in Patrice’ Augen niederzulassen. Nur dass sein Blick nichts Verzweifeltes an sich hatte. Wie es sich für den Sohn einer Mörderin gehörte, stierte er mich böse an. Er neigte die Stirn nach vorn und drückte die arrogant gebogenen Brauen so sehr nieder, dass seine Wimpernspitzen dagegen stießen. Ich schaute weg von dem bronzefarbenen Gesicht, das ich sechs Jahre lang zu vergessen versucht hatte.

Wenn man mir beim Bräutigam die Wahl ließe, schoss es mir plötzlich durch den Kopf, würde ich doch den Alten nehmen.

Welche Wahl, Joya?

»Du besuchst uns und das hat einen Grund«, stellte Berima schmunzelnd fest, seine Aufmerksamkeit galt dem triefnassen Brautkleid, in dem ich steckte. »Du bist gekommen, um mir eine Mitteilung zu machen.«

Meine Zunge löste sich vom Gaumen, doch die Kiefer wollten zum Sprechen nicht auseinanderfahren. Außer der kleinen Schweißperlen, die sich über meiner Oberlippe tummelten, regte sich nichts in meinem Gesicht. Ausdruckslos sah ich die zwei Gestalten vor mir an. Zwei hungrige Krokodile, die nach ihrer Beute schnappten.

»So schüchtern?« Mit langsam gesetzten Schritten schlich Berima auf mich zu, sein dicker Bauch voraus. Damit nahm er mir die Möglichkeit, seinen Sohn und ihn gleichzeitig im  Auge zu behalten. Ich flüchtete auf eines der Sofas in meinem Rücken, damit der Wanst des Alten mich ja nicht berührte. Der Plastikbezug knisterte unter dem raschelnden Stoff meines Kleides, als ich auf das Polster sank.

»Fühl dich ganz wie zu Hause.«

Bald würde ich sowieso hier eingesperrt sein. Wollte er das damit sagen? Ich wies Berimas Lächeln und seinen Kommentar mit zusammengepressten Lippen ab – noch gehörte ich ihm nicht. Zugleich war mir klar, dass ich nicht unendlich würde schweigen können.

»Das ist Joya Treori.« Er redete mit seinem Sohn und schwenkte dabei den Arm auf mich. Seine Hand führte er auf und ab, als präsentierte er eine besonders schöne Ziege. »Du erinnerst dich an sie?«

Mein Blick flog zu Patrice. Er musterte mich flüchtig und ohne Interesse. »Kaum. Wir sind uns seit Jahren nicht begegnet. In meiner Erinnerung ist sie ein kleiner Junge«, sagte er.

»Und nun sitzt sie vor dir als erwachsene Frau. In dem schönen weißen Kleid ihrer Mutter.«

Patrice musterte mich nun genauer. Meine Kehle schien sich auf der Stelle zu verengen, bis nicht mehr genug Luft hineindrang und ich das Gefühl hatte, ersticken zu müssen.

»Ihre Mutter kommt aus der Cité, stammt jedoch als eine der Letzten von den Azurien ab. Daher die blauen Augen und die helle Haut.«

»Aha.« Patrice wandte sich ab.

Ich widerstand dem Drang, an mir herunterzublicken. Die Information über Mamas Herkunft stupste meine Neugierde an, bis ich kurz davor war, mich nach weiteren Details zu erkundigen. Dabei hätte ich mir vor wenigen Minuten noch die Zunge abgebissen, nur um nicht mit Berima reden zu müssen. Jetzt brannte ich darauf, dass er mit seinem Report fortfuhr.

»Joya, was darf ich dir zu trinken anbieten?«

Ich hatte nur eine Art von Durst: Wissensdurst. Aber über Mamas Vergangenheit würde ich von ihm nichts mehr erfahren.

»Wie wär’s stattdessen mit einem Handtuch?«, fragte Patrice. Seine Worte forderten gar keine Antwort. Sie waren eine sarkastische Feststellung – eine, die mich treffen sollte.

Meine Hand schoss zu den nassen Haarsträhnen, die sich ineinander verwirrt hatten und auf meinem Hals und in meinem Ausschnitt klebten. Am liebsten hätte ich die Unterarme vor die Brust gepresst, um meinen Körper zumindest ein Stück weit zu verhüllen. Die weiße Seide des Kleides war in nassem Zustand genauso durchsichtig wie die Tischplatte vor mir – was mich erzittern ließ, andererseits wollte ich keine unnötige Aufmerksamkeit auf meine Brüste lenken.

»Ein Handtuch. Ja!« Berima verließ entgegen meiner Erwartung, und ohne Patrice um den Gefallen zu bitten, das Zimmer. Vielleicht weil er ahnte, dass sein Sohn für mich nicht den Finger krumm machen würde. Vielleicht, weil er auf die Idee gekommen war, Patrice und mich eine Weile allein zu lassen.

Das Polster neben mir sank ein, als er sich behäbig setzte. Mein Puls kletterte in die Höhe. Ich kratzte mich an der Schläfe, baute mit meinem Arm auf diese Weise eine winzige Barriere zu seinem Körper auf, doch das rettete mich nicht. Jeden Moment würde er etwas sagen oder mir die Hand aufs Knie legen – falls er dieses unter dem ganzen Tüll überhaupt fand.

Patrice blieb still. Obwohl ich merkte, dass er sich bewegte, konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihn anzusehen. Nicht einmal einen Seitenblick erlaubte ich mir. Ich wollte bloß aus diesem Haus. Oder nein, eigentlich wollte ich die Stimme wiederfinden, der ich vorhin im Dunkeln begegnet war und die ich durch Berimas Ablenkung ganz verdrängt hatte.

Sie gehörte zu einem Frauenkörper, eindeutig.

Wie konnte es sein, dass Mama mir jahrelang erzählt hatte, ich sei das einzige Mädchen im Dorf? Hatte sie mich belogen? Oder belogen mich meine durcheinandergewirbelten Sinne? Den Ereignissen des Tages nach zu urteilen – Vaters Ohrfeige, der Auftrag in Bezug auf Berima, Taios Kuss –, war es gut möglich, dass ich mir den weiblichen Klang eben bloß eingebildet hatte.

Und die Brüste?

Ich biss auf die Innenseite meiner Unterlippe, um nicht aufschluchzen zu müssen. So etwas konnte ich mir unmöglich eingebildet haben.

»Wie alt bist du jetzt?«

»Siebzehn.«

»Noch unberührt?«

Ich schnappte nach Luft, während mir das Blut in die Wangen strömte. Schweigend rang ich um Fassung.

»Also nicht.«

Ich drehte ihm den Hinterkopf zu, verschränkte nun doch die Arme vor der Brust. Er schnaubte abfällig. Sein respektloses Verhalten weckte meine Wut. Wer gab ihm das Recht, über mich zu urteilen?

»Mein Vater lädt euch für morgen zum Abendessen ein«, brachte ich einigermaßen gefasst heraus. »Und die Knospe ist aufgegangen. Da liegt ein Strauß Frangipani. Sag das deinem Vater!« Botschaft übermittelt. Mit einem Ruck stand ich auf.

»Und was gibt es morgen Abend bei euch? Eine Handvoll Reis?«

Die Anspielung auf unser einfaches Leben traf mich, obwohl ich immer geglaubt hatte, Geld gegenüber gleichgültig zu sein. »Wir werden genug dahaben, um wenigstens dein Maul zu stopfen. Verlass dich darauf!«

Ein Satz und auch er war auf den Beinen. Ich nahm meinen Mut zusammen, mehr als ein kleines Häufchen war es nicht. Doch wenn ich die Ohrfeige meines Vaters überlebt hatte, würde ich auch eine zweite, die von Patrice, überstehen. Tapfer wandte ich mich zu ihm um. Sobald sich unsere Blicke kreuzten, ließ er seine Attacke los: »Dann hoffe ich wenigstens, dass ich einen eigenen Teller bekomme und mir mein Essen nicht mit irgendeinem Bastard teilen muss!«

Eine Ahnung in mir flüsterte, dass er Taio meinte. Doch wie hätte er davon wissen sollen? Beim Wasserfall hatte ich niemanden entdeckt. Außerdem war er mit seinem Vater und dem Stadt-Ding unterwegs gewesen. Oder nicht? Sie mussten in der Cité gewesen sein. Alleine der Hinweg umfasste einen Tagesmarsch. Mit dem Auto dauerte es vielleicht halb so lange. Wenn er folglich niemand Speziellen im Auge haben konnte, regte er sich vielleicht über seine Annahme auf, dass ich nicht mehr unberührt war.

Ein Mädchen mit Ehre hätte die Sache innerhalb von Sekunden klargestellt, ihren Ruf gerettet. Meine Ehre würden sie mir jedoch spätestens nach der Hochzeit nehmen. Ich hatte keinen Grund, Patrice von meiner Jungfräulichkeit zu überzeugen, auch wenn ich abgesehen von dem Kuss so rein war wie das weiße Kleid, das ich trug. Im Gegenteil! Die Wut in mir gierte danach, meinen Ruf zu zerstören. Vielleicht würden sie mich dann alle endlich in Ruhe lassen.

»Lieber einen Bastard«, zischte ich, »als den Sohn einer Mörderin.« Patrice’ Maske aus Zorn und Abscheu schmolz. »Ja, genau. Du weißt, wovon ich spreche.« Mein Flüstern ging im Klacken Berimas glänzender Mokassins unter. Er war zurückgekehrt und marschierte mit schnellen Schritten auf uns zu. Wie jemand, der erst dann eintraf, wenn die Katastrophe schon in vollem Gang war.

»Das Handtuch«, sagte er verständnislos und reichte es mir, während sein Blick zwischen mir und seinem Sohn hin und her sprang.

Ich rubbelte meine tropfenden Haarspitzen trocken – so gut es innerhalb von zwei Atemzügen eben ging. Dann knüllte ich es zusammen und drückte Patrice das Knäuel vor die Brust. »Ich muss gehen.«

»Schon?« Berima schien überrascht und gleichzeitig nicht erfreut darüber. Wollte sich seine Braut wohl noch länger begaffen.

»Bis morgen, Monsieur Berima. Patrice.«

Patrice starrte mich aus verengten Augen an. Mit dem nassen Knäuel hatte er große Ähnlichkeit zu seiner Mutter und ihrem Bündel, als sie aus dem See gestiegen war. Ich erschauerte. Tief in mir erwiderte ich seinen Hass bis auf den letzten Rest. Ich konnte es mir nur nicht leisten, ihn zu offenbaren.

»Joya, Teuerste, bis morgen Abend.« Berima legte die Hand zwischen meine Schulterblätter und geleitete mich zur Tür.

Ich spürte seinen dicken Bauch bei jedem Schritt gegen meinen Po wippen. Am Ausgang angelangt, schaute ich über meine Schulter zurück, nur um sein fleischiges Gesicht ganz nah bei meinem zu finden. Als hätte er zuvor an meinem Haar gerochen.

Ich verschloss von innen die Nase vor seinem austretenden Dunst und überflog den Raum. Dort, wo Patrice gestanden hatte, lag nur noch das zerknüllte Handtuch auf dem Boden. Ich hatte mit einem letzten Schwall grimmiger Verachtung aus seinen Mörderaugen gerechnet. Dass er so schnell den Raum verlassen hatte, vielleicht sogar hinausgestürmt war, verdeutlichte mir, wie sehr ich ihn verärgert haben musste.

Wollte ich Patrice Berima zum Feind?

Bei meiner Position als einzigem Mädchen im Dorf lautete die Frage wohl eher: Machte mir ein zusätzlicher Feind noch etwas aus?

Auf wackeligen Beinen verließ ich das Grundstück der Berimas. Sobald ich genügend Abstand zwischen mich und das verhasste Haus gebracht hatte, spürte ich wieder Taios Atem auf meinen Lippen, hörte seine tröstenden Worte: Falls ich ihn für dich töten soll? Ich könnte Berima Gift unterschieben. Mein alter Herr ist Medizinmann.

Ich streifte durch die Nacht wie eine Gejagte. Und hätte Vater nicht schnarchend auf seiner Matte gelegen, hätte er mich mit der Machete tatsächlich quer durch den Busch gejagt – bei meinen Plänen.

Lautlos bewegte ich mich vorwärts, eine Petroleumlampe in der Hand und meine Ledertasche über der Schulter. Sie klirrte verräterisch im Takt meiner Schritte. Der Gesang meiner Ersparnisse. Ich hatte das Geld für die Zeit beiseitegelegt, wenn Vater alt sein würde, nicht für mich. Doch nun brauchte ich die Münzen. Niemand erfüllte einem seine Wünsche ohne Gegenleistung. Und mir erst recht nicht.

Der schmale Trampelpfad, der mich durch dichte Sträucher und Gräser geführt hatte, brach unvermittelt ab. Ich blickte mich nach den Lehmhütten mit ihren Strohdächern um, die ich zuletzt vor Jahren gesehen hatte, als mich meine Mutter wegen eines Fiebers hierhergebracht hatte. Sie waren mir damals wie ein eigenes kleines Dorf im Dorf erschienen. Als ich sie nun wiederentdeckte, in unregelmäßigen Abständen auf der flachen Ebene verteilt, kamen sie mir vor wie fünf schutzlose Elefantenkälber, die ihre Herde verloren hatten. In keiner von ihnen brannte Licht. Aber wunderte mich das? Ich war schließlich mitten in der Nacht davongeschlichen. Trotzdem hatte ich darauf gesetzt, dass man mich mit Lagerfeuer und offenen Armen empfangen würde. Doch das einzige Feuer weit und breit züngelte hinter dem Glasgehäuse meiner Petroleumlampe. Und offene Arme? Vielleicht hätte man sie tatsächlich für mich ausgebreitet – wenn jemand hier gewesen wäre.

In der tiefschwarzen Stille gab es nur mich und den Klang meines nervösen Atems.

Ohne darüber nachzudenken, wählte ich eine der fünf Hütten aus. In der Hoffnung, dass Taio und sein Vater gerne aus dem Schlaf aufgeschreckt wurden, trommelte ich mit dem Handballen gegen die Tür, immer wieder einen Blick über meine Schulter zurückwerfend. Als niemand öffnete, machte ich mich zur nächsten Hütte auf, die vielleicht zwanzig Schritte entfernt lag. Dort kam ich erst gar nicht zum Klopfen. Näher wallende Geräusche hinter mir hielten mich davon ab.

Ich drehte mich um und erspähte ein Licht, das auf mich zuhüpfte. Panisch löschte ich mein eigenes und beobachtete den Trupp dunkler Gestalten, ohne dass er mich beobachten konnte.

Schritte. Vielstimmiges Keuchen. Mindestens zwei. Vielleicht mehr. Ein dumpfer Lichtkegel breitete sich auf dem Boden aus, erfasste meine Zehen und riss mich aus der Verborgenheit. Mit Mühe widerstand ich dem Impuls zurückzuweichen.

»Joya!« Taio keuchte meinen Namen, als er mich entdeckt hatte. Auf seinen Lippen blitzte ein Lächeln auf, das im Widerspruch zu seinem vor Anstrengung verzerrten Gesicht stand und mein Inneres zum Kribbeln brachte.

»Hey, du.« Ich grinste, bis Taios Vater mich ohne Begrüßung aus dem Weg stieß. Er und Taio stützten einen mir Unbekannten, der sich kaum auf den Beinen halten konnte.

»Tür auf! Junge, einen Eimer kaltes Wasser, schnell!«