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Die Glasbläserin, von der niemand wissen darf
Murano, 1895: Schon lange fertigt die schöne Flavia Volpato heimlich an Stelle ihres eher untalentierten Zwillingsbruders das cristallo der Familie an, auch wenn den Frauen Venedigs das Handwerk immer noch untersagt ist. Trotzdem muss sie machtlos mitansehen, wie der Vater schließlich mit dem Erzrivalen Dal Corso fusioniert. Obendrein bekommt sie einen Glaskenner, den adligen John Pomeroy, auf den Hals gehetzt, der im Auftrag von Sibilla Veridiani ihrem gut gehüteten Geheimnis auf der Spur ist. Sollte er die Wahrheit herausfinden, wäre ihre Teilnahme an der Biennale in Gefahr und damit das Schicksal ihrer ganzen Familie besiegelt. Doch Flavia und John kommen sich immer näher. Beherrscht die begabte Glasbläserin das Spiel mit dem Feuer, oder werden ihre Gefühle sie am Ende alles kosten?
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Seitenzahl: 582
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Die schillernde Glaskunst der Volpatos ist weit über die Grenzen Venedigs hinaus bekannt. Nur ahnt niemand, dass in Wahrheit nicht Sohn Jaco der Schöpfer der schönsten Stücke ist, sondern seine Zwillingsschwester Flavia. Seitdem ihre Brüder die Manufaktur fast verloren hätten, steht die Familie vor dem finanziellen Ruin. Jede Nacht arbeitet Flavia daher heimlich in der Werkstatt. Dann taucht plötzlich ein lukrativer neuer Kunde auf. Der englische Glasexperte John Pomeroy lässt seine wertvolle Sammlung von Flavia auf Echtheit prüfen, wobei ihr ein Glas zu Bruch geht. Zur Wiedergutmachung soll Flavia John die Stadt zeigen. Zunächst willigt sie widerstrebend ein, kann ihre Gefühle für den charmanten Briten aber schon bald nicht mehr leugnen. Und auch ihr Talent für die Glasbläserei bleibt ihm nicht verborgen. Er will Flavia helfen, das Erbe ihrer Familie zu retten. Doch auch er hütet ein Geheimnis.
Die Autorin
Jessica Amankona wurde 1987 in Osnabrück geboren, und wuchs in einem Frauenhaushalt mit vier Schwestern und ihrer Mutter auf. An der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster studierte sie spanische und französische Philologie. Neben dem Schreiben führt sie auf Instagram einen wachsenden Buch-Blog, und wenn sie nicht gerade selbst fiktive Welten erschafft, träumt sie sich gerne in ferne Zeiten oder Länder. Für ihre Murano-Saga hat sie akribisch recherchiert, und ist selbst auf den Spuren der Glasbläser durch die Gassen Venedigs gestreift.
Lieferbare Titel
Die Murano-Saga:
Das Vermächtnis von Murano
Das Geheimnis von Murano
JESSICA AMANKONA
ROMAN
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 06/2025
Copyright © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Tamara Rapp
Coverdesign: t.mutzenbach design unter Verwendung von Akg Images (akg-images), Shutterstock.com (kzww, Tama2u, OlgaBegak)
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-29898-2V002
www.heyne.de
Für Maureen, meine Zwillingsschwester und beste Freundin
Flavia hielt die fertige Skizze ihrer nächsten Glasskulptur ein Stück von sich weg, betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf und entschied, dass zehn Flossen für ein Meeresungetüm selbst bei ihrer Fantasie ein paar zu viele waren. Wenn dieses Geschöpf schon die Macht besaß, sie ins Gefängnis zu bringen, nachdem es in seiner vollendeten Form aus dem Kühlofen gekommen war, dann sollte es wenigstens auch beeindrucken und nicht ausgelacht werden.
Den ganzen Morgen schon saß sie in ihrem Arbeitsraum und zeichnete, um sich von ihren eigentlichen Pflichten abzulenken.
Es war ein jetzt in den Wintermonaten zugiger, vom Rest der Glaswerkstatt abgetrennter Anbau, den ihr Vater dem Hinterhof abgetrotzt hatte, nachdem in Flavias Gegenwart seiner Meinung nach zu oft unbedachte Sprüche seitens der Garzonetti gefallen waren. Seine Arbeiter wollten, nur weil eine Frau anwesend war, die angewidert das Gesicht verzog, nicht darauf verzichten, von ihren nächtlichen Eroberungen zu berichten. Dem Argument, dass dies nun einmal ihre Domäne war und unter Kerlen ein derber Ton herrschte, konnte Flavias Vater nichts Sinnvolles entgegensetzen, also hatte er kapituliert und seine Tochter beklommen darum gebeten, sich zwischen Putz und einer nackten Ziegelwand zu entscheiden.
Zuerst hatte sie aufbegehrt und mit den Männern Streit gesucht, nicht bereit, sich aus der Werkhalle vertreiben zu lassen, doch nach der Ermahnung ihres Vaters, sie könnten froh sein, dass überhaupt noch jemand für sie arbeiten wolle, war sie zur Vernunft gekommen und hatte sich sogar auf die kleine Baumaßnahme gefreut. In ihrer Begeisterung hatte sie Marmorino ausgewählt, jenen glänzenden Verputz aus Kalk und Marmorpulver, mit dem schon die prächtigen Palastfassaden am Canal Grande bearbeitet worden waren. Ein paar Tage später, als sie die Schmuckstücke ihrer Mutter, grob in einen Beutel gestopft, auf dem Bürotisch gesehen hatte, war ihr die Bedeutung dieses unüberlegt geäußerten Wunsches mit Übelkeit erregender Heftigkeit klar geworden – und so hatte sie ihrem Vater versichert, dass sie Marmorino doch zu altmodisch fände und sie auf simplen Kalkputz umsteigen sollten.
Der Verzicht schmerzte immer noch, jedoch auf die gute Weise, wie ein lahmer Arm, nachdem man die ganze Nacht die canna geschwungen hatte. Und in der Abgeschiedenheit ihres eigenen kleinen Arbeitsraumes konnte sie sich immerhin der Inspiration hingeben und voll und ganz dem nachgehen, wofür sie wirklich entflammt war: der Glasbläserei.
Inzwischen füllte sie aus eigenem Antrieb die Lücke, die ihre Schwester Orietta mit ihrer aus der Not geborenen Flucht aus Venedig im Familienbetrieb hinterlassen hatte. Und was zunächst aus reiner Hilflosigkeit und einem Schuss Pflichtbewusstsein erwachsen war, entwickelte sich nun mehr und mehr zu Flavias eigenem Herzenswunsch. Leider waren damit nicht alle einverstanden.
Selbst ein Jahr, nachdem sie sich der Geschäfte angenommen hatte, wurde sie bei einem korrigierenden Griff um eine Glaspfeife immer noch irritiert von den Garzonetti angestarrt. Oder wenn sie anstelle ihres Vaters zur Lösung eines Problems herbeieilte. Davor hatte ihre größte Herausforderung darin bestanden, Nonnas selbst gebackenen Kuchen beim Wohltätigkeitsbasar glaubhaft als ihren eigenen auszugeben – so gering waren die Erwartungen, die an sie gestellt wurden. Nun wollte sie den Familienbetrieb wieder auf Kurs bringen. Auch wenn das bedeutete, sich immer öfter zwischen der Verantwortung einer Geschäftsführerin und den Pflichten einer wohlerzogenen jungen Dame aufzureiben.
Ergeben machte sie sich im Büro ihres Vaters an die Arbeit.
Ein Klopfen an der Tür kündigte Enzo an, der sie ohne Umschweife auf eine Unstimmigkeit in seiner Gehaltsabrechnung aufmerksam machte. Als Cousin ihres Vaters war er einer ihrer betriebsältesten Glasfacharbeiter und hatte die Familie entgegen einigen anderen nicht fallen lassen, nur um bei der absatzstärkeren Konkurrenz, den Dal Corsos, anzufangen.
»Unstimmigkeiten? Verstanden. Ich kümmere mich darum«, sagte sie und bedeckte mit dem Unterarm beiläufig ihre Skizze. Ihr Lächeln sollte Enzo eigentlich sanft wieder hinausbegleiten, doch er blieb im Türrahmen stehen. Da begriff sie. »Oh, du meinst jetzt? Natürlich, sicher!« Planlos begann sie in den Schreibtischschubladen nach der Liste mit den Überstunden zu suchen. Dabei spürte sie Enzos ungeduldigen Blick auf sich und hörte das Scharren seiner Füße.
»Mein Fehler. Ich hätte dich vorwarnen sollen«, sagte er schließlich, nachdem er sie fünf Minuten hatte herumkramen lassen. »Aber ich dachte, das wäre im Handumdrehen geklärt.«
Ja, als ihre Schwester noch die Büroarbeiten erledigt hatte, wurde jedes Problem auf der Stelle geklärt. Der Vergleich schien ihm, wie allen Mitarbeitern, seit Orietta fortgegangen war, auf der Zunge zu liegen, sobald Flavia sich den geringsten Fehler erlaubte. Doch er besaß genug Taktgefühl, es in all der Hektik, die sie verbreitete, nicht auszusprechen.
Immer noch an derselben Stelle im Türrahmen wartend, zuckten seine Finger nun ungeduldig auf dem Türknauf. Einen Fuß im Zimmer, den anderen schon wieder draußen, schien er allmählich zu bereuen, sie überhaupt behelligt zu haben. »Weißt du was? Ich gehe in die Mittagspause und bespreche das später mit deinem Vater. Du hast mit deiner anderen Aufgabe schon genug zu tun.«
»Nein, warte! Ich bin mir sicher, dass ich die Stunden hier abgeheftet habe. Einen Moment noch, ja?« Flavia machte eine flehende Geste mit den Händen und blinzelte sich die verirrten Fransen aus den Augen, die außerhalb des Hauses normalerweise in blonde Löckchen gelegt waren und ihre Stirn rahmten wie eine Spitzengardine, sich nun allerdings ohne die gewohnte Sprungkraft schlaff in ihren Wimpern verfingen. Zwischen Frühstück und Arbeitsbeginn fehlte ihr die Zeit, sich ausgiebig zu frisieren, seit sie beschlossen hatte, jeden Tag diejenige zu sein, die in aller Frühe das Eisenschloss der Glaswerkstatt, der Fornace Volpato, entriegelte, während drüben im Glaswarenladen der Familie, der Vetreria Volpato, der Betrieb erst gegen zehn aufgenommen wurde. Nach dem Feierabend legte sie für gewöhnlich eine kurze Pause ein, und wenn sie zurückkehrte, hatte der lärmende Touristenschwarm schon längst das letzte Vaporetto zurück nach Venedig bestiegen – ein beliebiges Dampfschiff der Linien 4.1 und 4.2, welche in einander entgegengesetzten großen Schleifen alle zwanzig Minuten Passagiere auf einer zweistündigen Rundfahrt zwischen den Inseln hin und her beförderten. Die meisten Glasbläser schliefen, wenn sie wieder vor Ort war und die Glasmasse für den nächsten Tag bei 1200 Grad Celsius einschmolz. Danach erst konnte sie von dem mehrstündigen Prozess ablassen und dem Garzonetto, der für den Nachtdienst abgestellt war, die Aufsicht über die Öfen übertragen.
»Verausgab dich nicht, Mädchen. Das tut auf Dauer nicht gut.« Enzo musterte ihre nicht gerade damenhafte Erscheinung und fügte zögerlich hinzu: »Mit kaltem Tee getränkte Lappen mildern Augenringe, sagt meine Frau. Aber die ersetzen keinen Schlaf, wenn du mich fragst.«
Flavia lächelte müde. Sie schlief ja, nur nicht so ausgiebig wie andere Glasbläsertöchter. »Ohne diese Augenringe würdet ihr mir alle noch weniger zuhören als sowieso schon.« Dass sie sich in Taft, mit Puder und Parfum wohlfühlte, änderte nichts an den unausgesprochenen Regeln der Werkstatt: Nur wer nach harter Arbeit aussah, hatte der rein männlichen Belegschaft der Fornace Volpato auch etwas zu sagen. Und obwohl Flavia diese Auffassung kleingeistig fand – und immer schon gefunden hatte –, musste sie zugeben, dass es ihren Alltag erleichterte, nicht ständig im Spiegel kontrollieren zu müssen, ob die Haare noch saßen.
Doch sosehr sie sich auch bemühte, ihre natürlichen Reize einzudämmen, so fühlte sie sich doch nie ganz von den Männern angenommen und unter ihnen willkommen.
Enzo kam seufzend zu Flavia und zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Brusttasche. »Ich hab eine Strichliste geführt.« Der Auszug seines notdürftigen Arbeitstagebuchs landete auf dem Schreibtisch und verschmolz mit den Dokumenten ihres Vaters, die sie schon vor Tagen hergebracht hatte, um sie zu bearbeiten, und die zunehmend die gesamte Tischplatte unter sich begruben. Ordnung war leider nicht ihre Stärke.
Flavia nahm Enzos Notizen mit zitternden Fingern auf und unterdrückte die Scham darüber, als Tochter des Maestros weniger gut organisiert zu sein als seine Mitarbeiter. Im Grunde war sie trotzdem davon überzeugt, alles im Griff zu haben.
Während sie sich einen Überblick verschaffte und darauf achtete, nicht zu lange an einzelnen Wörtern herumzubuchstabieren – auf keinen Fall länger, als man es von jemandem, der eine grundlegende Schulbildung genossen hatte, erwarten durfte –, krachte Damasio herein. Er war einer ihrer Nachwuchsglasbläser, der dem Betrieb ebenfalls erhalten geblieben war, obwohl er mit seiner Ausbildung überall eine Stelle gefunden hätte. Mit einem vorwurfsvollen »Flavia?!« erlöste er sie von ihrem inneren Kampf mit Enzos Handschrift.
»Ja, bitte?« Sie legte das Blatt dankbar beiseite, was Enzo ein weiteres Stöhnen entlockte. Dennoch trat er vom Schreibtisch zurück und machte für seinen jüngeren Kollegen Platz, der einen leeren Jutesack mit der Aufschrift »Natriumsalz« über den verstreuten Papieren ausschüttelte.
Kein Körnchen rieselte mehr heraus. »Aufgebraucht wie das halbe Lager.« Damasio zog eine entsprechende Grimasse, und für den Fall, dass ihn jemand missverstanden hatte, warf er Flavia die ausgefranste Hülle hin. »Du hast dich um Nachschub gekümmert, hoffe ich.«
»Die Lieferung ist schon unterwegs«, erwiderte sie gelassen, obwohl ein Blick ins Lager genügte, um zu erkennen, wie knapp sie kalkuliert hatte.
In einem Raum im hinteren Teil der Werkstatt speicherten riesige Holzkisten mit Klappdeckeln Barium, Natriumsalz, Kaliumnitrat, Borax und Soda – essenzielle Mineralien für die Glasherstellung, die niemals ausgehen durften. Meistens war es Flavia, die die Zutaten abwog und mischte, den Quarzsand und das Metalloxid dosierte, um die gewünschten Farbtöne zu erzielen. Doch jeder hatte Zugang zu den Rohstoffen und konnte die Bestände einsehen.
»Morgen ist Sonntag, da wird nicht geliefert.« Damasio stieß Enzo mit der Schulter an.
Der verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein eigenes Anliegen schien er vergessen zu haben. »Sonntags keine Warenannahme«, brummte er zustimmend, und seine erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen versetzten Flavia in Nervosität.
»So verfuhr unser alter Lieferant. Unser neuer Handelspartner kennt den Wert der Vetreria Volpato und bietet auch Sonderlieferungen an.«
Die beiden Männer tauschten einen skeptischen Blick. Enzo räusperte sich zuerst. »Während des Gottesdienstes ist die Werkstatt nicht besetzt, wer soll da die Zeit haben, den Wareneingang zu kontrollieren?«
»Ich werde morgen Mittag selbst parat stehen.«
»Flavia, bei allem Respekt, du musst deine Mutter zur Messe begleiten.«
»Und das werde ich auch.« Es war bloß eine Frage der richtigen Taktung. Sie würde das Getuschel der Nachbarinnen ertragen und sich lange genug mit ihnen in eine Bank quetschen, damit keine von ihnen behaupten konnte, sie wäre dem Gottesdienst ferngeblieben. Und wenn es so weit war, reichte eine Notlüge, um die Kirche rechtzeitig wieder zu verlassen.
Enzo schüttelte resigniert den Kopf. »Genauso stur wie der Bruder.« Damit meinte er ihren ältesten Bruder Giovanni, und Flavia spürte, wie sich etwas in ihrem Inneren verschob.
Damasio, der die zehnjährige Ausbildung zum Glasfacharbeiter in seinen letzten Lehrjahren unter Giovannis Kommando absolviert hatte, warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Himmel, da war es ihr lieber, wenn er wie sonst ohne Anklopfen hereinstürmte und sie schamlos anschmachtete, als wäre sie ein freischwebender zwölfarmiger Kronleuchter.
In der Halle läutete jemand die Glocke zur Mittagsstunde, was die Diskussion über die Sonderlieferung auf unbestimmte Zeit vertagte. Die Männer folgten ihrem Hunger und stürzten wie die Tauben auf der Piazza bei ihrer Suche nach Brotkrumen aus dem Büro. Flavia blieb zurück. Endlich allein stieß sie heftig die Luft aus und presste sich die flache Hand auf die Brust. In dem sich um sie drehenden Zimmer suchte sie nach irgendetwas, das sie jetzt beruhigen konnte. Ihr Blick heftete sich auf das Wandbrett, wo die Miniaturskulpturen aus Glas glitzerten, die ihr Vater von seinen Söhnen sammelte. Jahrelang hatte er nicht geahnt, dass das krumme Pferdchen in der Mitte von ihr stammte. Sie war vierzehn gewesen, als sie es heimlich geblasen hatte. Es hier in der Mitte der anderen Figürchen strahlen zu sehen, gab ihr die Bestätigung, die sie brauchte, und ihr Atem beruhigte sich etwas.
Sie zog den Handgelenksbeutel mit ihrer Geldbörse aus dem Papierhaufen, der sich auf dem Schreitisch türmte, und fegte dabei neben Abrechnungen und Auftragsbestätigungen auch die Zeichnung von dem Meeresungetüm herunter – die neue Skizze für ihr Geheimprojekt –, sowie ein paar Entwürfe für den gewöhnlichen Bestand. Obwohl der Vater ihr im schöpferischen Bereich kaum noch dreinredete, wartete sie immer erst seine Freigabe ab, bevor sie ein Glasobjekt in die Herstellung gab. Hatte er sich ihre gegenwärtigen Ideen überhaupt schon angeschaut? Flavia hob alle Blätter auf und schob sie zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Ihr zerknittertes Konzept für eine venezianische Maske aus Glas, die als Wanddekoration dienen sollte, legte sie obenauf, ehe sie die Skizzen in das Büro ihres Vaters brachte und dort auf dem Tisch platzierte. Als sie sich schließlich zum Gehen wandte, versperrte ihr Zwillingsbruder ihr den Weg. »Cicchetti und ein Ombra?«, fragte Jaco, der in lässiger Manier vor ihr stand. Die gerösteten Brotscheiben mit ihrem Belag aus Gemüse, Fisch oder Fleisch waren die übliche Stärkung für zwischendurch. Am Mittag gehörten dann ein kleines Glas Wein und ein Schwatz in einem der schattigen Stehlokale dazu.
»Du isst lieber mit mir als mit deinen Jungs? Habt ihr euch wegen einer Frau verkracht?«
Er verpasste ihr prompt einen Klaps auf die Schulter, den sie mit ihrem in seine Richtung schwingenden Geldbeutel quittierte. »Es geht um keine Frau, sondern um die Bibliothek.«
Sofort wurde sie hellhörig. »Hast du einen Weg gefunden, wie ich an die Aufzeichnungen komme?«
»Wir brechen da ein.«
»Was? Wir dürfen auf keinen Fall Aufsehen erregen, schon gar nicht bei der Polizei!«
»Scht. Ich habe einen Plan. Den erfährst du, wenn es so weit ist.« Er deutete hinter sich in die Werkhalle, die zwar dabei war, sich zu leeren, wobei aber immer noch die Gefahr bestand, dass jemand zufällig mithörte. Von ihren dreißig Mitarbeitern standen ein paar schwatzend zusammen, ehe sie sich auf ihre wohlverdiente Pause besannen und lachend in den Hinterhof oder hinaus auf die Straße strömten. »Jetzt gehen wir erst mal ins Lokal, und du erzählst mir nebenbei von deinem Geheimprojekt. Wie ist der aktuelle Stand der Dinge?«
Flavia hätte lieber die Einzelheiten seines sogenannten Plans besprochen, dennoch wusste sie, dass sie aus ihrem Bruder nichts herauskriegen würde, bis er es für angebracht hielt. Also durchquerte sie mit ihm die Halle und berichtete ihm von dem mehrflossigen Seeungeheuer. Doch beim Anblick der verlassenen Garderobe versiegte ihre Stimme. Nur einige wenige Lederschürzen hingen noch an den Haken, dazwischen klafften unverkennbare Lücken, und in den Lichtsäulen der Sonne, die durch die Reihe Fenster und Oberlichter brach, tanzte der Staub. Die meisten Ecken der Halle beherbergten bunten Glasbruch, zu funkelnden Pyramiden aufgeschichtet. Schubkarren, die seit Tagen nicht von der Stelle bewegt worden waren, standen trostlos daneben. Einst hatte die Fornace Volpato vor Geschäftigkeit gesummt, hatte das Geheimnis, welches das Handwerk umgab, Flavia angelockt wie die Abnormitätenschauen auf den Jahrmärkten neugierige Kinder – das schlechte Gewissen mahnte, dass man nicht dort sein durfte, und doch war man gleichzeitig zu neugierig, um dem verbotenen Ort fernzubleiben. Nun hingegen, wo sie selbst als viel beäugtes Objekt in der Manege stand, fühlte sie sich in ihrer Rolle als provisorische Geschäftsführerin gefangen. Aber egal, was sie empfand, sie musste weiterlächeln, denn das Publikum bestand auf der Vorstellung.
Draußen in der frischen Winterluft zündete sich Jaco einen Zigarillo an und streckte seine Glieder, die, von den immer gleichen Arbeitsabläufen beansprucht, stets bald anfingen zu schmerzen. Sie gingen die Calle Dietro Gli Orti entlang, passierten ein Spiegelgeschäft, mehrere Glasfachhandlungen und einen Modeschmuckladen, bevor sie ihr Ziel, die Osteria Dedolo, erreichten, die sich auf der Fondamenta dei Vetrai direkt am Wasser befand und die besten Cicchetti machte. Leider stellte der Gehweg entlang des Kanals auch die meistfrequentierte Straße der Insel dar, da sie an die Hauptanlegestelle Colonna grenzte, die halbstündlich von den Vaporetti aus Venedig angefahren wurde.
Zwischen den ersten Touristenströmen vom Morgen und Mittag wurden vor den Ladeneingängen in aller Ruhe Markisen abgeklopft oder das Pflaster gekehrt. Viele Besucher kamen nur, um zu gucken. Man kannte das Spiel und wusste, wann es sich lohnte, einem Kunden nicht bloß zuzulächeln, sondern ihn anzusprechen. Die wohlhabenden Glasliebhaber aus dem Ausland sowie die Vertreter der feinen italienischen Gesellschaft schickten ihre Einkäufer dann am frühen Abend her, wenn die Erschöpfung eines langen Tages hinter dem Kassentresen den Biss bei Preisverhandlungen abmilderte.
»I Gemelli, buongiorno!« Man hatte sie und Jaco entdeckt. In der Glasbläserzunft waren sie als »die Zwillinge« bekannt und wurden von den meisten auch so gerufen, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Und obwohl Flavia dank Jaco weniger Aufmerksamkeit als sonst ausgesetzt war, richteten sich einige Blicke zuerst auf sie, bevor sie zum Wunderkind der Glasbläserfamilie Volpato wanderten. Bei dem angeschlagenen Ruf der Familie sollte sie vielleicht froh sein, dass sie überhaupt noch zur Kenntnis genommen wurde. Doch da das Interesse ohnehin nur ihrem Äußeren galt, hätte sie lieber darauf verzichtet. »Guten Tag, Signor Dutti, Donna Violanda!«, erwiderte sie mit einem aufgesetzten Strahlen.
»Du scheinst die Tanzbälle auszulassen«, bemerkte Donna Violanda, eine enge Bekannte ihrer Mutter, und drehte die Glasklunker an ihrem Hals zwischen den Fingern. Genauso wie letztes Jahr, schwang unausgesprochen in ihren Worten mit. »Muss ich es also nicht persönlich nehmen, dass du diese Saison noch keinen Schmuck bei mir gekauft hast?«
»Ich habe die Suche nach einem Adeligen aufgegeben.« Flavia zwinkerte ihr zu.
Die Schmuckhändlerin sprang sofort darauf an. »Wenn dich die Grafen und Herzöge langweilen: Ich habe einen tüchtigen Sohn in deinem Alter.«
Wieder einmal weckten Flavias konventionelle Schönheit und das Handwerk ihrer Familie die Hoffnung, sie als Schwiegertochter zu gewinnen. Ja, sie war schon immer das Aushängeschild der Volpatos gewesen. Die erste Glasperle auf der Schnur. Ihre goldblonde, gewellte Haarpracht, die bis zur Brust reichte, die großen blauen Augen, ihr üppiger und doch wohlgeformter Körper – all das waren bedeutende Vorzüge innerhalb einer Gesellschaft, die sich immer stärker zwischen der Landwirtschaft im Süden und der Industrialisierung des Nordens aufrieb. Doch bei aller Modernität, die im Norden herrschte und dafür gesorgt hatte, dass sich die Rolle der Frau veränderte, kämpfte man auch in Venedig noch gegen rückständige Gedanken. Auch innerhalb ihrer Familie waren Flavias neue Freiheiten noch nicht ganz etabliert. Einen Sieg – den wichtigsten –, hatte sie bereits errungen: die Erlaubnis, weiterhin das Glas der Vetreria zu blasen. Wenn auch heimlich, wie sie es, schon seitdem sie vierzehn war, im Einvernehmen mit ihrem Zwillingsbruder tat. Frauen war die Glasbläserei schließlich offiziell verboten. Und sie konnte sich nicht einfach über das Gesetz erheben. Denn dann würde man sie festnehmen und ihren Eltern den Betrieb aberkennen.
»Hör nicht auf diese Elster! In der diesjährigen Ballsaison sind angeblich ein paar britische Lords auf Brautschau. Angele dir lieber einen von denen!«, mischte sich Signor Dutti überraschend ein, der selbst keinen unverheirateten Sohn besaß und eigentlich nie mehr als einen Gruß für Flavia übrig gehabt hatte. Als stärkster Exporteur von Muranoglas mit Verkäufen bis nach Amerika war er eine feste Größe im internationalen Glashandel, und ihre Familie durfte sich glücklich schätzen, dass er hin und wieder Geschäfte für sie abwickelte – auch wenn die Nachfrage immer weiter nachließ.
»Murano für einen verregneten Landsitz verlassen?« Flavia tat, als würde sie erschaudern.
Das löste bei Donna Violanda begeistertes Kopfnicken aus, und auch Signor Dutti lächelte stolz, als hätte sie gar keine bessere Antwort geben können. »Nur weil man ein Privileg besitzt, muss man es nicht auch nutzen. Unsere Signorina darf einen Adeligen heiraten, verpflichtet ist sie dazu noch lange nicht!«
»Es nicht zu tun, wäre aber verdammt unklug.« Jaco, der schweigend der Unterhaltung gefolgt war, stieß einen letzten Rauchschwall aus, dann drückte er seinen Zigarillo an der nächstbesten Hauswand aus und ließ den Stummel in seiner verrußten Gesäßtasche verschwinden. Flavia versetzte ihm einen dezenten Stoß in die Seite, doch hier auf der Straße des Glases, der Lebenslinie Muranos, verschafften ihm seine graue Jacke und die Arbeiterhose, seine Schiebermütze und das geschwärzte Hemd einen Respekt, der ihm über kleine Fehltritte hinweghalf, und Signor Dutti lächelte bloß.
Denn wie das Wasser die angelaufenen Fundamente der Bauten am Kanal verfärbte, stärkte die Glasbläserkluft Jacos Ansehen und machte ihn zu einem über jeden Zweifel erhabenen Helden – ein Bild, dessen Anforderungen er nur leider nicht gerecht wurde.
»Gelästert wird später«, zischte Flavia durch ihre zusammengebissenen Zähne. »Jetzt heißt es, freundlich sein.« Ihr Bruder zuckte die Achseln, und einen Moment lang packte sie der pure Neid. Eine peinliche Eifersucht darauf, dass er die Kleidung ihrer Zunft am helllichten Tag und mit einem Schulterzucken tragen konnte, während sie keine eigene Montur besaß und außerhalb der Werkstatt noch nicht einmal mit der Lederschürze gesehen werden durfte. Dass er zu Respektpersonen frech sein durfte und noch ein Lächeln dafür erntete. Doch dann drängte die Hilflosigkeit, die sie dieser Tage immer deutlicher verspürte, ihren Wunsch nach Anerkennung zurück und hinterließ bloß ein taubes Gefühl in ihren Fingern.
Flavia verabschiedete sich höflich. Jaco zog sie wie einen sperrigen Karton mit sich, bis er sie mit einem brüderlichen Schubs abschüttelte und aus eigenem Antrieb die Osteria ansteuerte.
Drinnen herrschte eine ganz andere Atmosphäre als auf den morgendlichen Gassen Muranos. Die schummerige Dunkelheit der Kneipe offenbarte die bekannten Gesichter aus den verschiedenen Glaswerkstätten der Nachbarschaft, und die Gespräche drehten sich nicht länger um die Ballsaison und mögliche Heiratskandidaten, sondern um den bevorstehenden Kunstwettbewerb, die Prima Esposizione Internazionale d’Arte della Città Venezia, für die alle Glasbläser aufgerufen waren, sich mit einem Beitrag zu bewerben. Ein Auswahlkomitee würde drei Künstler ernennen, die ihre Glaskunst stellvertretend für Murano in einem Pavillon während des mehrtägigen Fests präsentieren durften. Doch zuerst wurde unter den Bewerbern ein Vorentscheid getroffen. Und natürlich hoffte jeder, der schon einmal ein Eisen in der Hand gehalten hatte, zu den Auserwählten zu gehören.
Don Gregorio hinter dem Tresen erhob zur Begrüßung das Glas auf Jaco: »Auf dass ihr den ersten Platz macht!«
»Hört, hört!« Pfiffe ertönten, verhaltener Applaus brandete auf, manche fühlten sich dazu berufen, Jaco auf die Schulter zu klopfen. Sich deutlich unwohl fühlend, ignorierte er die vorschnellen Gratulationen und widmete sich der Bestellung ihrer Cicchetti.
»Gut so. Weiterlächeln …« Flavia tat, als würde sie sein Unbehagen nicht teilen und warf ein gönnerhaftes Lächeln in die Runde. Sie setzte sich auf den Stuhl, der wortlos von seinem Besitzer für sie geräumt worden war. Einen kurzen Blick in die aufgeschlagene Zeitung erhaschte sie noch, dann klemmte der Mann, der vorher dort gesessen hatte, sie sich eilig unter den Arm, und Flavia konnte die Schlagzeile nur mehr zur Hälfte lesen. Es war um den Wettbewerb und die Favoritenliste gegangen.
»Welches Meisterwerk wirst du auf der Kunstausstellung denn präsentieren?«, fragte ihr linker Sitznachbar über ihren Kopf hinweg, als wäre sie ein störender Baum, der zwischen ihm und Jaco wuchs. Ihr Bruder schwieg. »He, Wunderkind! Ihr werdet euch doch für die Ausstellung qualifizieren? Antwortest du, oder muss ich jetzt schon ›Maestro Volpato‹ sagen? Man hört, Don Emilio schwächelt in letzter Zeit.«
»Nicht darauf eingehen«, murmelte Flavia aus dem Mundwinkel, doch die Mischung aus Spott und Stichelei sowie die irrige Annahme, jedes dahergelaufene Großmaul könnte sie vertraulich ansprechen, nur weil er ebenfalls Glas blies, schürten auch ihre Wut.
»Ich setze auf euch. Mir egal, was die Leute reden. Den Dal Corsos reicht ihr allemal das Wasser. Ich meine, Giovanni wird doch pünktlich zurückkehren, oder?« Der kaum den Kinderschuhen entwachsene Glasfacharbeiter stammte aus einer dubiosen Werkstatt, die sich keine Hoffnung auf eine Teilnahme machen durfte und mit dem sie in den Gassen kaum mehr als ein flüchtiges Buongiorno austauschten. Nichts an ihm wirkte aufrichtig. Seine laute Art zu reden und die ausladenden Handbewegungen zeugten eher davon, dass er nur Staub aufwirbeln wollte.
Flavia bremste ihn mit einem bösen Blick und reichte zugleich Jaco unauffällig ihre Geldbörse. »Was willst du von uns? Deine Unterstützung bekunden oder Gerüchte für den Schaukasten sammeln? Zuspruch sieht anders aus.«
Vor ihrem anklagenden Zeigefinger fuhr er mit dem Oberkörper zurück, als hätte sie ein glühendes Eisenrohr gezückt. Dann fing er sich und setzte ein triumphierendes Lächeln auf, das alle Töne zwischen »Nun hab dich nicht so« und »So einfach ist es also, deine Aufmerksamkeit zu erhaschen« umfasste.
»Nur weil unsere Vetreria zu den erfolgreichsten Muranos gehört, bedeutet das noch lange nicht, dass unsere Angelegenheiten öffentlich zur Diskussion stehen.« Flavia starrte ihn nieder.
»Ich wollte euch Mut machen, nachdem die großen Aufträge ausbleiben, wie man hört …«
»Du weißt nichts über unsere Auftragslage. Wer was anderes behauptet, lügt. Und jetzt geh und kümmere dich um deine Massenware, von der jeder weiß, dass sie nur eingekaufter Schund à la façon venise ist. Wir in der Vetreria Volpato widmen uns derweil dem echten Muranoglas.«
Mit einem Schlag war der Geräuschpegel um sie herum gesunken, und wo man vorher kaum seinen eigenen Namen verstanden hatte, war nun selbst das Rascheln von Kleidung deutlich zu hören. Doch davon ließ sich der Garzonetto nicht beirren. Er sprach einfach direkt in Flavias Ohr: »Ja, fürs Blasen bist du zuständig – aber nicht für das von Glas.«
Vor Empörung stockte ihr der Atem. Krampfhaft suchte sie nach einer passenden Erwiderung, doch auch wenn ihr unzählige Möglichkeiten durch den Kopf schossen, brachte sie kein Wort heraus. Jaco hatte die Beleidigung nicht gehört, sonst hätte er sie sofort mit fliegenden Fäusten verteidigt, anstatt nur ungeduldig darauf zu warten, dass das Brett mit Cicchetti und Wein zu ihnen herüberwanderte.
Während ihr Kinn bebte und sie ihren Körper überdeutlich spürte, kamen die Gespräche im Hintergrund wieder schleppend in Gang.
Der Garzonetto tippte sich an seine Schirmmütze. »Die Vetreria Fratelli Toffolo empfiehlt sich.«
»Wir verschwinden.« Flavia erhob sich, bevor er ihr den Rücken kehren konnte. Mit einem vernichtenden Blick stopfte sie sich eine Scheibe Brot in den Mund und spülte mit dem Ombra nach – ein Zug, und das Glas war leer. Verdutzt, aber ohne Fragen zu stellen, kippte Jaco sich ebenfalls den Wein in den Rachen und raffte die Häppchen in seinem Schwitztuch zusammen. Nonna hatte es mit seinem Namen bestickt, und es lugte immer aus seiner Gesäßtasche hervor.
»Grüße an Giovanni!«, rief ihnen der Garzonetto noch nach, doch die einzige Antwort, die er erhielt, war der Tritt, mit dem Flavia die Tür hinter sich ins Schloss beförderte.
»Ganz ruhig. Iss ein bisschen was«, murmelte Jaco.
Als ob sich ihre Wut mit Essen besänftigen lassen würde. Als ob sie auch nur irgendetwas annehmen würde, das in sein Schwitztuch eingewickelt gewesen war!
»Was hat er dir zugeflüstert?«
Es war ihr unangenehm, die Worte zu wiederholen, doch Flavia hatte keine Geheimnisse vor ihrem Zwillingsbruder, also sagte sie es ihm. »Dieser Hund!« Jaco machte auf dem Absatz kehrt, sobald er die Beleidigung gehört hatte, bereit, die ganze Osteria in Trümmer zu legen, doch Flavia ergriff fest seinen Arm.
»Wir zeigen es ihm auf andere Weise. Nämlich indem wir diesen verdammten Wettbewerb gewinnen!« Sie gab sich souverän und plapperte auf dem Rückweg irgendwelche Belanglosigkeiten, dennoch verfolgte sie die Scham, so erniedrigt worden zu sein, bis zurück in die Werkstatt. Ihre Hände zitterten, als sie die Tür zur Halle aufdrückte und Jaco sich postwendend an den Ofen stellte, um Dampf abzulassen. Auf Damasios Nachfrage, ob etwas vorgefallen sei, bedeutete sie ihm mit einem Augenrollen, dass ihr Bruder sich wie so oft umsonst aufregte.
»Zweifelt wohl auch an der Sonderlieferung morgen, hm?«
Flavia klopfte ihm gegen die Brust. »Jaco hat Cicchetti mitgebracht. Vielleicht kannst du ihm eins abschwatzen.« Und damit war sie ihn los.
Kaum hatte sie sich ins Bett gelegt und nach einem langen Arbeitstag die Augen geschlossen, war die Nacht auch schon wieder vorbei, und die Kirchenglocken des kleinen Campanile von Murano läuteten zum Gottesdienst.
Flavia schlurfte mit ihrer Mutter in einer Menschentraube aus dunklen Anzügen und hochgeschlossenen Kleidern auf die Basilica dei Santi Maria e Donato zu, die an diesem Morgen gar nicht schnell genug näherrücken konnte. Weiße Wölkchen standen ihnen bei jedem Atemzug vor dem Mund, so kalt umgab sie die Luft. Von außen betrachtet waren Flavia und ihre Mutter ein fester Teil der Gemeinde, doch in Wirklichkeit zwei Ausgestoßene in einer eingeschworenen Gemeinschaft. Keine der herausgeputzten Frauen hielt mit ihnen Schritt, um lockere Konversation zu betreiben, und wenn doch eine Nachbarin unverhofft auf ihrer Höhe ging, ließ sie sich mit dem entschuldigenden Blick einer Mutter, die ihr Kind suchte, zurückfallen. Der ausgelassene Nachwuchs trieb wie Fettaugen auf einer erkalteten Hühnersuppe zwischen den Erwachsenen umher, wandte sich gegen den Strom oder blickte verzaubert aufs offene Meer, sodass die Väter nach ihrer gescheiterten Drohung mit dem Gehstock schließlich umkehren und die ungehorsame Brut an der Hand vom Ufer wegzerren mussten. Die vertraute Szene erinnerte Flavia daran, dass sie ein junges Mädchen gewesen war, das die Füße in kleinen vornehmen Schritten neben die ihrer Mutter gesetzt hatte und dem man auf dem Weg zur Sonntagsmesse nicht erst durch einen festen Griff um den Oberarm das richtige Benehmen eintrichtern musste. Natürlich wussten auch diese Kinder sehr wohl, welches Verhalten sich schickte, nur durchschauten sie die Heuchelei ihrer Eltern und entschieden sich regelmäßig dafür, bei dem Schauspiel nicht mitzuwirken. Denn nur die wenigsten Kirchgänger waren im Geiste bei der heiligen Mutter Gottes, vielmehr sinnierten sie über die Gerüchte, die bei Tagesanbruch im Schaukasten auf dem Campo San Bernardo prangten.
Der Hauptplatz von Murano war für sein gläsernes Postfach in der Ecke bekannt, wo jeder anonym eine Notiz hineinhängen konnte. Doch neben dem Klatsch galt er auch als erste Anlaufstelle für die spannenden Neuigkeiten aus Venedig. Nicht zuletzt war es jener Schaukasten, der damals den schicksalhaften Maskenball der Veridiani angekündigt hatte, einen Ball, der eine fulminante Saison lang die ganze Stadt in seinen Bann gezogen, allerdings auch schreckliche Geschehnisse in Gang gesetzt hatte, die Flavias Familie bis heute zerrütteten. Seither machte sie mit ihrer Mutter stets einen weiten Bogen um diesen Ort, doch spätestens beim wöchentlichen Kirchgang holte der Tratsch sie immer ein.
Hier und da hörten sie nun denselben Angst einflößenden Namen: Sibilla Veridiani. Die international bekannte Salondame war vor zwei Jahren mit ihrem literarischen Zirkel für einen Sommeraufenthalt von Rom nach Venedig übergesiedelt. Doch gleichzeitig hatte sie einen verwerflichen Plan verfolgt, der den Familienbetrieb der Volpatos zerstören sollte, wenn sie sich weigerten zu kooperieren. Und auch wenn es ihr letztendlich nicht gelungen war, hatte sich Flavias Leben wegen einer einzigen Person für immer verändert.
* * *
Nachdem die Gemeinde zum Hauptgeläut in die Kirche geströmt war, pferchten sich Flavia und ihre Mutter neben den parfümierten Glasbläserfrauen der Nachbarschaft in eine Bank. Es dauerte weniger als eine halbe Stunde, bis sie es leid war, mitansehen zu müssen, wie die Schwätzerinnen ihr einstiges strahlendes Zentrum, Angelica Volpato, mit Missachtung straften. Selbst hier, an einem so heiligen Ort wie der Kirche. Ohne Scham vor der Gestalt Marias, die in der goldenen Halbkuppel des Altarraumes aufragte, während zu ihren Füßen in einem Marmorsarkophag die Reliquien des heiligen Donatus von Evorea ruhten, behandelten sie sie wie Luft. Ständig wandte Donna Lucia ihnen während der Predigt den Rücken zu und steckte den Kopf mit Clarissima Dal Corso zusammen, um dieser zuzuflüstern und albern mit ihr zu kichern. Prudentia, Flavias ehemalige beste Freundin und zugleich Donna Clarissimas Tochter, saß daneben und amüsierte sich ebenfalls köstlich. Oder sie war vielleicht in dem Hühnerhaufen die Einzige, die nur so tat.
Damals, als die Welt noch in Ordnung gewesen war, hatte sie es nicht erwarten können, sich in der Kirche an Flavias Seite zu flüchten, um dem Klatsch der älteren Damen zu entgehen. Ganz von ihrer eigenen kleinen Welt beseelt, wollte sie sich jedes Mal über ihren aktuellen Schwarm auslassen und all die unaussprechlichen Dinge beschreiben, die er in ihren Träumen mit ihr anstellte. Heute hingegen wandte sie rasch den Kopf ab, als Flavias Blick den ihren kreuzte.
Nach dem, was Giovanni ihr angetan hatte, hätte Flavia es ihr wahrscheinlich nicht verübeln sollen, trotzdem raunte sie ihrer Mutter aus dem Mundwinkel zu: »Was für eingebildete Ziegen!«
Zur Antwort erhielt sie die Anweisung, still zu sein. Einzig das Drehen und Wenden des weißen Spitzentuchs, das ihre Mutter mit ihrem von den heißen Kohlen rauchenden Handwärmer – dem scaldino – auf dem Schoß hielt, verriet, dass diese gerade Ähnliches gedacht hatte. Die Erfahrung, von ihren langjährigen Freundinnen geschnitten zu werden, wog schwerer als der eigene Drang zu lästern. Und auch wenn sie Donna Clarissima und Konsortinnen ganz sicher für einen ebenso großen Haufen eingebildeter Ziegen hielt, wollte sie wohl lieber erfahren, über wen gerade getratscht wurde. »Was war das, meine Liebe?«, fragte sie mit vorgetäuschter Leichtigkeit und stupste Donna Lucia in die Seite. Sie sprach gerade laut genug, dass ihre Sitznachbarin sie hörte, ihre Frage den Priester jedoch nicht unterbrach. »Wer ist in die Stadt gekommen?«
»Ach, niemand.«
Flavias Mutter öffnete den Mund und schloss ihn resigniert wieder. Schließlich ließ sich die einen Platz weiter sitzende Donna Clarissima zu einem Blick herab, der besagte, dass sie die Frage zur Kenntnis genommen hatte und gleich darauf eingehen würde. Und während Flavias Mutter entschuldigend lächelte, flammte in Flavia eine bedrohliche Mischung aus Unglauben und Wut auf. Um Beherrschung bemüht, ergriff sie das aufgeschlagene Gesangbuch auf der Ablage vor sich und umklammerte es so fest, dass ihre Finger schmerzten. An irgendetwas musste sie ihren inneren Druck einfach auslassen, wenn schon ihr empörter Blick an der stoischen Fassade ihrer Mutter abprallte, die so viel vermittelte wie: Wir haben Wichtigeres zu tun als zu tuscheln, beispielsweise dem Gottesdienst aufmerksam zu folgen. Also richtete Flavia das Gesicht wieder nach vorn und stattete die Kirche in ihrer Fantasie mit ein paar prunkvollen gläsernen Kronleuchtern aus. Das war zumindest spannender als der Sermon des Priesters.
Es wurden zwei Lieder gesungen, zu denen sie bloß lautlos die Lippen bewegte. Während sie in Gedanken versank, schwang sich die Lobpreisung der Gläubigen die weiß getünchten Wände und Säulen hinauf, kroch in die roten Backsteinbögen der Fenster und verhallte im dunkelbraunen Holzgebälk der Kuppel. Bei all der Kälte, die noch in der Kirche herrschte und sich in jedes Stück entblößter Haut biss – obwohl nach einem eisigen Januar draußen langsam die Temperaturen steigen sollten, froren die meisten Damen in ihren feinen Festtagsmänteln trotz der glühenden Handwärmer. Flavia wünschte, sie hätte sich zusätzlich den Überwurf umgelegt, zu dem ihre Mutter ihr geraten hatte, doch der hätte die Puffärmel ihrer lachsfarbenen langen Jacke verdeckt, und die stammte von Doucet, einem aufstrebenden jungen Modeausstatter, für den Flavia warb. Diesen Freundschaftsdienst hatte sie von Orietta übernommen, ohne ausdrücklich darum gebeten werden zu müssen. Denn nicht nur hatte Doucet Orietta damals ein für Furore sorgendes rotes Kleid auf den Leib geschneidert, er hatte sie nach dem ersten Maskenball auch weiterhin ausgestattet, als sie sich die Bezahlung schon nicht mehr leisten konnte. Seine aktuelle Kreation musste also gesehen werden. Darüber hinaus lief Flavia regelmäßig auf den Modeschauen seines Lehrmeisters, des stadtbekannten Damenausstatters Masin, der stur darauf bestand, ihre Tätigkeit mit einem kleinen Gehalt zu vergüten. Doch auch er war ihr nichts schuldig, immerhin hatte er Orietta damals mit den Papieren seiner verstorbenen Frau zur Flucht verholfen.
Ein drittes Lied wurde ausgehaucht, und Pater Consiglio steigerte sich nun so inbrünstig in seine Predigt über den Glauben, der Berge versetzen konnte, hinein, dass er die immer lauter werdenden Damen in der dritten Bank links ohne Weiteres ausblendete. Aus anfänglichem Getuschel war inzwischen fast ein richtiges Gespräch geworden. Doch im Gegensatz zu den Vorzeigekatholikinnen hinter ihnen, die zischend um Ruhe baten, wollte Flavia sich nicht beschweren. Sie würde bald ebenfalls den Gottesdienst stören, nämlich indem sie aufstand und die Kirche frühzeitig verließ. Sie durfte die Sonderlieferung auf keinen Fall verpassen!
Mit einem angespannten Blick auf ihre grazile Armbanduhr lauschte Flavia eine Weile den aufgeregten Worten ihrer Sitznachbarinnen über die laufende Ballsaison. Sechs Repräsentanten des britischen Königshauses, welche die Festivitäten begleiten sollten, waren gestern Mittag angeblich mehr als herzlich auf der Piazza empfangen worden.
Also stimmte es, was Signor Dutti behauptet hatte. Bei einem der Lords handelte es sich wohl sogar um den Earl of Sunderland, was ihn, auch wenn man nichts Näheres über ihn wusste, bereits zur hervorragenden Partie erklärte. Ein so angesehener Adelstitel bedeutete in der Regel Ländereien, Vermögen und Einfluss. Und welche Familie würde das nicht für sich wollen? Sein Rang entsprach dem eines italienischen Grafen, und das war mehr, als sich selbst die kühnste Glasbläsertochter erhoffen durfte. Schon die Heirat mit einem einfachen Lord ohne Titel wäre ein wahrer Glücksgriff. Donna Clarissima genoss es sichtlich, mit ihren Zuhörerinnen zu spielen und ihnen all den Tratsch häppchenweise zu füttern. »In einer flammenden Rede hat Sibilla Veridiani versprochen, der Earl würde Venedig mit Erfahrung und Tatkraft zur Seite stehen. Seine Anwesenheit ist uns also auf allen Tanzbällen gewiss, meine Damen. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, hinter welchem der sechs feinen Herren er sich verbirgt. Man hört, sie erlauben sich ein kleines Verwirrspiel. Demnach könnte jeder von ihnen der Earl sein.«
»Aber warum sollten sie seine Identität geheim halten?«, fragte Donna Lucia. »Winkt etwa eine Einladung zum Tanz, wenn man richtig tippt?«
»Ich nehme an, der wahre Earl sucht in Venedig nach einer Frau, die ihn um seiner selbst willen liebt und nicht auf seinen Status aus ist«, erwiderte Donna Clarissima mit einem amüsierten Schnauben, als wäre das Streben nach Aufrichtigkeit ein geradezu absurdes Unterfangen.
Flavia konnte sich dem aufgeregten Fächeln, das nun unter den Damen ausbrach, nicht anschließen. Sie dachte nicht an Bankette und Champagner, geschweige denn an Verwirrspiele und Rätselraten. Im Gegenteil! Sie fürchtete Veridianis Rache. Nach einem Jahr hatte die Salondame immer noch nicht zurückgeschlagen, sondern sich fast gänzlich aus dem Stadtgeschehen zurückgezogen. Schon in der Folgesaison hatte das Parkett im Palazzo Zenobio nicht mehr gequietscht, die gläsernen Kronleuchter zitterten nicht mehr, und auch die Gondeln hatten nicht mehr an der einst beliebten Anlegestelle gehalten. Der gefeierte Literaturkreis war sang- und klanglos in der Versenkung verschwunden. Keine Paraden mehr, keine Feste – nicht eine einzige Schlagzeile, ohne eine Erklärung, warum. Die Gerüchteküche propagierte eine vorübergehende Krankheit. Böse Zungen behaupteten allerdings, die Mitglieder des Literarischen Zirkels hätten sich zerstritten, und die Salondame habe noch keinen Ersatz gefunden, schließlich müsse sie, um sich treu zu bleiben, die Ballsaison vom letzten Mal mit einem noch größeren Spektakel übertrumpfen. Die ganze Wahrheit kannten allerdings nur die Beteiligten.
Orietta war, um die Papiere der Glaswerkstatt zurückzuerlangen, auf einen Handel mit der Veridiani eingegangen, der sie zur Leihmutterschaft verpflichten sollte. Doch als sie feststellte, dass sie von ihrem Geliebten, Salem, schwanger war und nicht von Attilio Veridiani, wie von der Salondame gewünscht, brach sie die Abmachung und floh nach Konstantinopel. Gut möglich, dass die Salondame abgetaucht war, um ihre Wunden zu lecken, nachdem ihr das lang ersehnte Enkelkind verwehrt worden war. Doch Flavia ahnte, dass sie eher im Stillen ihren Gegenschlag vorbereitet hatte. Die Zeitung hatte jedenfalls schon damals geschrieben, dass die Veridiani eine Glaswerkstatt erworben und damit den Einstieg in die Glaskunstbranche vollzogen hätte. Doch bis heute wusste niemand auf Murano, um welchen Betrieb es sich dabei handeln sollte, geschweige denn, dass irgendwer die stolze neue Besitzerin wieder auf der Insel gesichtet hatte. Es schien ganz so, als hätte sich Veridianis Interesse am Glaskunsthandwerk mit Oriettas Weggang in Luft aufgelöst.
Donna Clarissima holte Flavia mit einem Blick wieder in den Gottesdienst zurück. Immer noch ging es um die Heiratspläne des Earls, was die ehemalige Busenfreundin ihrer Mutter dazu bewog, sie mit unverhohlener Geringschätzung zu mustern, als würde sie sich den Earl und Flavia gerade unfreiwillig als Paar vorstellen.
Donna Vittoria, die auf Prudentias anderer Seite saß und am hingebungsvollsten an Donna Clarissimas Lippen hing, beugte sich vor. »Glauben Sie wirklich, dass der Earl in Venedig nach einer Heiratskandidatin Ausschau hält? Von wem haben Sie das gehört?« In Gedanken war die Glasbläsergattin wohl bei ihrer einzigen Tochter, die in diesem Frühjahr achtzehn geworden war, und mit ihr lauerten alle anwesenden Mütter Muranos, die sich eine gute Partie für ihren Nachwuchs wünschten, auf die Antwort.
»Ich habe meine Quellen. Aber nun gut … später beim Wohltätigkeitsbasar kann ich vielleicht noch weitere Details verraten.« Jetzt war es Flavias Mutter, die von Donna Clarissima taxiert wurde. »Schließlich haben wir alle eine Anwärterin im heiratsfähigen Alter zu Hause.«
Prudentia strich sich die Stirnlocken ihres mattbraunen Haares hinter die hervorlugenden Ohren, während sie errötend tiefer in die Bank rutschte. Während Flavia früher davon überzeugt gewesen wäre, dass sich ihre Freundin genierte, konnte sie nun nicht mehr mit Gewissheit sagen, ob nicht gerade eher Verärgerung aus ihr sprach – Verärgerung darüber, dass andere vermeintlich hübschere Mädchen als sie nun auch an die kostbaren Informationen gelangen würden, wie man sich einen Repräsentanten des Adels angelte. Schließlich hatte sie Flavia beim Wettstreit um die Einladungskarte zu Veridianis Maskenball schon damals absichtlich falsche Informationen zugespielt.
»Schätzchen, wir müssen an Angelica denken«, sagte Donna Clarissima nun gedämpft, als wäre die Bemerkung wirklich nur an Prudentia gerichtet, doch ihr wölfisches Lächeln bezeugte ihre wahre Absicht: nämlich alle den Seitenhieb mitanhören zu lassen. Und als würde es ihr vor lauter Sorge selbst gar nicht auffallen, ließ sie bei der Erwähnung ihrer ehemaligen Freundin Angelica das »Donna« vor deren Namen weg. Die informelle Anrede löste Gemurmel aus, doch man erhielt keine Gelegenheit, lange dabei zu verweilen, denn schon sprach sie weiter, diesmal ausdrücklich an die ganze Gruppe gewandt: »Die Volpatos haben eine schwere Zeit hinter sich. Sie müssen nun ihre gesamte Hoffnung in Flavia setzen. Diese ist zwar, wie wir alle sehen, sehr schön, kann aber – und das ist bekannt – bei Weitem nicht mit dem Intellekt ihrer älteren Schwester mithalten …« Zustimmung sowie ein paar Seufzer wurden laut. »Und wenn selbst Oriettas Geschichte trotz ihrer vielversprechenden Gaben so tragisch geendet hat, welche Erwartungen dürfen wir dann noch für Flavia hegen?«
Flavia erstarrte, als das vorgetäuschte – und vereinzelt vielleicht sogar echte – Mitleid sie von allen Seiten traf. Fehlte nur noch, dass die Damen eine Schweigeminute für sie einlegten! Als wäre sie im Schlachthof zur Beschau freigegeben, unterzog man sie einer Musterung, der die junge Frau in der engen Kirchenbank hilflos ausgeliefert war. Die forschenden Blicke verrieten, dass Donna Clarissimas Worte gerade auf ihre Richtigkeit überprüft wurden.
Natürlich, wieder einmal hielt man sie bei aller Schönheit – oder gerade deswegen – für ausgesprochen dumm!
Scham gepaart mit Wut brodelte unter Flavias Haut und breitete sich in ihrem gesamten Körper aus, während sie nach einer eloquenten Erwiderung suchte, die sie wie so oft auf die Schnelle nicht fand. Sie war Orietta in der Tat intellektuell unterlegen, und bis auf ein paar rüde Beleidigungen, die ihr durch den Kopf schossen wie Gewehrkugeln auf der vergeblichen Suche nach einem Ziel, blieb es dort alarmierend leer.
Sie versuchte tief durchzuatmen. Das alles brauchte sie doch gar nicht zu kümmern. Sie hatte Wichtigeres zu tun: pünktlich zur Warenlieferung in der Werkstatt zu sein beispielsweise. Innerlich machte sie sich bereit für ihren Abgang, während ihre Mutter wie immer ihre Verteidigung übernahm.
»Wir wissen eure Besorgnis zu schätzen.« Beiläufig drückte sie Flavias Hand. Durch die ledernen Handschuhe übertrug sich eine tröstliche Wärme, die zwar das Gesagte nicht rückgängig machen konnte, jedoch die Sehnsucht nach der fehlenden Schwester erlöschen ließ. »Allerdings sollten wir die kostbaren Ratschläge auf nachher verlegen, meine Teuerste, nämlich dann, wenn der Kuchenverkauf beginnt und das letzte Amen gesprochen wurde.« Der Appell wirkte tatsächlich, und der Großteil der Damen wandte sich betreten wieder dem Pfarrer vor dem Altar zu. Nur Donna Clarissima selbst hielt noch den Blickkontakt. Und in dem verborgenen Austausch eisiger Anklagen wurde Flavia deutlich, dass die Bemühungen ihrer Mutter um Wiederaufnahme in den Nachbarschaftskreis nicht fruchten würden, jedenfalls keineswegs so rasch wie erhofft.
Sie wartete nicht länger und duckte sich aus der Bank.
»Hiergeblieben, junge Dame!« Prompt ertönte ein warnendes Zischen ihrer Mutter, doch Flavia blieb nicht stehen und schaute sich auch nicht mehr nach ihr um. Mit hoch erhobenem Kopf und betont vorwurfsvoller Miene steuerte Flavia auf den Seitenausgang zu. So sündigte sie zwar immer noch – und manch eine fragte sich bestimmt, welcher Dämon sie ritt, den Gottesdienst einfach zu verlassen –, doch wenigstens konnte sie nun einen Teil der Schuld auf die Dal Corsos schieben.
Alle hatten die Bemerkung über ihren Intellekt gehört, und auch wenn die frömmelnden Kirchgängerinnen ihre Flucht sicher nicht guthießen, so konnten sie Flavias Gründe dafür sicherlich verstehen. Wenn sie die gütigen Katholikinnen waren, die sie vorgaben zu sein, dann würden sie an dieser Stelle ein wenig Nachsicht walten lassen und nicht auf Angelica herumhacken.
Flavia atmete auf, als die Tür in ihrem Rücken zufiel und die – im Vergleich mit der Eiseskälte drinnen – laue Luft sachte um ihre Nase strich. Die Anspannung, die sie in der Kirche aufrecht gehalten hatte, verließ sie, und nun war es nur noch ihr Korsett, das ihr den Anschein einer aufrechten Haltung verlieh. Innerlich schrumpfte Flavia angesichts der harschen Kritik und der verächtlichen Blicke. Sie war sich sicher: Die nächste Attacke von Donna Clarissima würde ihren Selbstwert endgültig zu Staub zermahlen.
Mit gesenktem Kopf entfernte sie sich von der Kirche und war kaum zehn Schritte weit gekommen, als sie gegen eine Art nachgiebige Mauer prallte, so heftig, dass sie es in den Zähnen spürte. Sie keuchte auf, dann stolperte sie einen Schritt zurück. Vor ihr stand ein Mann mit ungekämmten dunkelblonden Haaren und einem abgetragenen Havelock-Mantel – dem typischen Herrenumhang ohne Ärmel, dafür mit Pelerine, die bis über seine Ellbogen reichte.
Während Flavia aus der Kirche schlich, hatte er wohl beabsichtigt, durch den Seiteneingang hineinzuschlüpfen und war ebenso kopflos vorwärtsgestürmt wie sie. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Der Umstand, dass er weder wusste, wo sich der Haupteingang befand, noch wann die Messe begann, und dass er auch nicht die verrußte Kleidung eines Zunftbruders trug, ließ bloß einen Schluss zu: Er konnte von überall her stammen, nur nicht aus Murano.
»Ich mag zwar duften wie ein Kissen und zuweilen entsprechend anschmiegsam aussehen«, sagte er jetzt, »doch ich versichere Ihnen, ich bin weit davon entfernt, eines zu sein. Sie hätten sich nicht mit voller Wucht auf mich stürzen dürfen. Was, wenn ich nun verletzt bin?« Er rieb sich mit gespielter Leidensmiene die Seite. Sein heller Teint war für die arbeitende Klasse untypisch, und das machte ihn zum reichen Sohn eines noch reicheren Staatsdieners oder bestenfalls zu einem orientierungslosen Studenten. Da sie Ersteres für wahrscheinlicher hielt, ließ ihre Sympathie für ihn schlagartig nach.
»Sind Sie denn verletzt?«, fragte sie.
Er schenkte ihr ein hintergründiges Lächeln, langte hoch zu ihrer Schulter und richtete mit leichter Hand den Kragen ihrer langen Jacke. Überrumpelt von so viel als liebenswürdige Geste getarnter Dreistigkeit, ließ sie es geschehen, doch als ihr dämmerte, auf was für Unterstellungen zufällige Zeugen dieser Szene kommen mochten – Unterstellungen, die nirgends so voreilig wie in Murano gemacht wurden –, wischte sie seine Finger ärgerlich fort.
»Sie sind also nicht verletzt«, sagte sie tonlos.
»Und Sie?«, entgegnete er sanft.
»Mir geht es gut.« Trotz ihres aufkeimenden Widerwillens antwortete sie ihm höflich, bevor sie sich dazu entschloss weiterzueilen. Doch er verstellte ihr immer noch den Weg, und das Aufleuchten seiner dunkelblauen Augen sagte ihr, dass er aus irgendeinem Grund nicht vorhatte, sie so bald entkommen zu lassen.
»Wenn Sie so freundlich wären?« Sie wollte an ihm vorüber, doch er rührte sich kein Stück.
»Ich suche eine Glasbläserei.«
»Herzlichen Glückwunsch. Hier haben Sie die Qual der Wahl.« Ohne ein Lächeln drückte sie sich energisch an ihm vorbei.
»Ich meine, ich suche eine bestimmte. Die beste Glasbläserei von Murano.« Seine Aussprache klang angelernt, nichts Ungewöhnliches in einer Stadt wie Venedig mit ihren verschiedenen am Hafen verwurzelten Handelshäusern. Die Deutschen hatten ihr eigenes großes Warenlager, genau wie die türkischen Händler einst und die Holländer, sie alle verliehen der Weltstadt ein Stück ihrer unvergleichlichen Aura. Dieser Mann hier klang allerdings eindeutig nach einem Briten. Unwillkürlich fragte sie sich, ob er wohl der besagte Earl sein mochte. Doch sein heruntergekommenes Äußeres sowie der Mangel an Manieren ließen sie den Gedanken gleich wieder verwerfen. Außerdem, was sollte der Earl auf Murano wollen? Die Ballsaison fand in Venedig statt. Vermutlich war er ein Tourist, der von der Kunstausstellung Wind bekommen hatte.
Und worüber zerbrach sie sich da eigentlich den Kopf? Die Warenannahme stand kurz bevor, ihr rannte die Zeit davon …
Dennoch konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, mit ihm über das Traditionshandwerk ihrer Familie zu sprechen.
Der Mann grinste, als wüsste er genau, dass sie angebissen hatte. So schnell?, schienen seine Augen amüsiert zu fragen. Und das ärgerte sie noch mehr.
»Hat man Ihnen in der Stadt keine Adresse genannt?«, erkundigte sie sich grimmig und in der Hoffnung, dass es weiterhin die Vetreria Volpato war, auf die bei einer solchen Frage verwiesen wurde.
Er schüttelte den Kopf.
»Wenigstens ein paar Empfehlungen?« Ihr Puls regte sich, während er nachdachte und sich dabei durchs Haar strich. Die weizenblonden Strähnen waren nicht gescheitelt, frei von Pomade und sahen dem Anschein nach nur in unregelmäßigen Abständen eine Schere. Seine Jünglingshaut, die statt Sonnenschein tagein, tagaus nur dem Deckenfresko desselben verstaubten Palazzos begegnete, schimmerte ebenmäßig, an Kinn und Kiefer zeichnete sich ein Bartschatten ab, aber er trug keinen Schnurrbart.
Falls sie danebenlag und er doch nicht zu den Vornehmtuern gehörte, die nun in den kurzen Wochen vor der ersten internationalen Kunstausstellung des Landes nach Venedig strömten, um ihre Kunstkenntnis unter Beweis zu stellen, dann war er sicherlich ein verliebter Reisender auf der Suche nach einem gläsernen Andenken für seine Verlobte. In seinem Alter und mit seinem Aussehen hatte er vielleicht sogar schon geheiratet. Nicht dass es sie etwas anging, doch bei dieser Überlegung fielen ihr die hübschen Broschen ein, die sie zum Auftakt der Ballsaison in die Auslagen ihres Schaufensters gelegt hatten – das perfekte Souvenir.
»Keine Adresse, keine Empfehlungen«, sagte er, während sie im Kopf bereits die Reihenfolge durchging, in der sie ihm die Schmuckstücke präsentieren würde. »Offen gestanden habe ich auch nicht großartig nachgefragt. Meist ist es besser, die Dinge vor Ort zu erkunden. Und als der Glückspilz, der ich nun mal bin, bin ich ja auch gleich auf Sie gestoßen …« Er ließ den Satz in der Luft hängen, und sie befürchtete schon, dass er sie mit einer peinlichen Schmeichelei beglücken würde, wie die meisten Schürzenjäger, sobald sich der Moment bot, doch er neigte sich herab und endete schlicht mit: »Eine selbstbestimmte junge Dame, die den Gottesdienst schwänzt.«
Zugegebenermaßen angenehm überrascht, hob Flavia ihm spielerisch das Kinn entgegen. »Ich schwänze nicht.«
»Ach nein? Und wie würden Sie das sonst nennen, was Sie hier gerade tun?«
»Ich … weise einem verirrten Gentleman den Weg.«
»Oh, ist mein Italienisch so schlecht? Well, you got me there!« Er lachte. »Die Lüge kam Ihnen übrigens ziemlich glatt über die Lippen. Erfahrung darin?«
Unwillkürlich begannen ihre Wangen zu prickeln. »Manchmal muss man die Regeln brechen, um zu schützen, was man liebt. Und einige von uns brechen sie eben öfter als andere.«
»Aber was ist mit: Du sollst nicht lügen? Darf diese Regel auch gebrochen werden?« Er verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. »Wie würden die da drinnen das wohl finden?«
Flavia schnaubte. »Das ist mir herzlich egal.«
»Warum gleich so gereizt?« Er lachte unbefangen. »Stehen Sie mit der Gemeinde auf Kriegsfuß? Dann hätten Sie gar nicht erst zum Gottesdienst erscheinen sollen.«
Sie kniff die Augen zusammen. »So einfach ist das nicht. Ich habe Erwartungen zu erfüllen.«
»Woran Sie gerade kläglich scheitern.« Mit einem Wink seines Kinns verwies er auf die Basilika hinter ihr.
»Vielleicht wurde mir ein guter Vorwand geliefert, um aus der Kirche zu stürmen?«
»Hat man Ihnen etwa die Oblate verwehrt?« Er grinste und musste sich unheimlich schlau vorkommen, doch Flavia ließ sich von seiner Spitzfindigkeit nicht beirren.
»Man hat mich auf weitaus schmerzhaftere Weise beleidigt.«
»Was könnte es denn an Ihnen zu beleidigen geben?« In der Gewissheit, keinen Makel an ihr zu finden, glitt sein Blick über ihren Körper. »Ich finde Ihre Kurven ganz reizend.«
»Wie bitte?«
»Verzeihung.« Er hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe nur versucht zu ergründen, was die an Ihnen nicht mögen.«
»Offenbar stehe ich im Schatten meiner scharfsinnigen Schwester.«
Er tat schockiert. »Von Ihrer Sorte gibt es zwei?«
»Nein, wir sind uns ganz und gar nicht ähnlich.«
»Wenn das so ist: Wo ist sie? Ich bräuchte eine scharfsinnige Beratung.«
Unschlüssig, ob sie lachen oder ihm gegen den Arm schlagen sollte, behalf sie sich mit einem spöttischen Prusten. »Sie weilt in Konstantinopel, tut mir leid. Da müssen Sie wohl weiterhin mit mir vorliebnehmen.«
»Einer Lügnerin und Sünderin?« Dramatisch fasste er sich an die Stirn, ihr dagegen blieb der Mund offen stehen.
Hin- und hergerissen zwischen Faszination und Verdrossenheit schlug sie schließlich den Weg ein, den sie kannte und der ihr bisher noch jeden dreisten Mann vom Hals gehalten hatte: »Oh, bitte. Wenn mein Laster das Lügen sein soll, dann ist Ihres wohl die Neugier – beides der Bibel nach Sünden. Wie wäre es also, von Sünderin zu Sünder, wenn Sie sich nun Ihren eigenen Angelegenheiten zuwenden würden und mir aus dem Weg träten? Der Beichtstuhl steht Ihnen offen.« Und damit drängte sie sich endgültig an ihm vorbei.
»Warten Sie!« Wenn sie mit einer Retourkutsche gerechnet hatte, musste sie nun feststellen, dass er beschwingt über ihren Ausbruch hinwegging, ganz so, als hätte er nie stattgefunden. »Auch auf die Gefahr hin, dass ich dank Ihnen geradewegs in die Hölle fahre, möchte ich in der Sache dennoch gern Ihre Meinung hören. Welche Vetreria empfehlen Sie mir?«
An einem gewöhnlichen Tag hätte sie ihn spätestens jetzt wortlos stehen lassen, doch Donna Clarissimas Gemeinheiten von vorhin wühlten sie immer noch auf. »Die Qualität, die ich empfehle, können Sie sich nicht leisten, sparen wir uns also die Mühe«, erwiderte sie schroff, in einem letzten Versuch, ihn loszuwerden, doch natürlich steckte er den Seitenhieb ungerührt weg.
»Auf welcher Grundlage haben Sie denn diese Einschätzung getroffen?« Er lachte und fuhr sich mit seiner großen Hand über den Nacken.
Nun, auf leidige Fragen gab es bekanntermaßen leidige Antworten. Flavia ließ ihren Blick vielsagend von seinem vor Tagen zuletzt rasierten Gesicht über die in Halstuch und Weste gehüllte Brustpartie unter dem Havelock-Mantel gleiten, über seine schlichte Hose, bis hinab zu seinen Stiefeln. Allesamt Kleidungsstücke, von denen jedes für sich allein genommen passabel gewesen wäre, doch er hatte die Farben auf so scheußliche Weise miteinander kombiniert, dass es wirkte, als hätte er seine Garderobe von der Wohlfahrt erhalten. Was war bloß aus gediegenem Schwarz geworden? Mussten es denn wirklich Rot und Senfgelb im Zusammenspiel sein? Nun, da sie ihn so eingehend betrachtete, fragte sie sich außerdem, wo er Hut und Gehstock gelassen hatte. Ohne diese Accessoires galt ein Mann doch als halb nackt. Und tatsächlich schauderte er ein wenig, als würde er frieren.
»Gefällt Ihnen, was Sie sehen?«, erkundigte er sich mit einem selbstsicheren Lächeln.
Was für ein Gockel! Mit verschränkten Armen blickte er auf sie hinab. Seine schmalen Augen, die etwas Wölfisches an sich hatten, schimmerten in diesem seltenen Tizianblau. Am liebsten hätte Flavia ihm eine gepfefferte Antwort gegeben, doch dummerweise fand sie ihn tatsächlich … anziehend. Wie ärgerlich! Sie beschloss, sich diesem albernen Spiel nicht länger auszuliefern. »Ich fürchte, ich kann Ihre Frage nicht beantworten, ohne erneut die Regeln zu brechen«, erwiderte sie so nüchtern wie möglich.
Er zog den Mundwinkel hoch und wischte damit beiseite, was immer sie ihm noch hatte sagen wollen. »Habe ich Sie etwa schon entwaffnet? Fällt Ihnen keine passende Erwiderung ein?«
Sie lächelte kühl. »Ich wiederhole: Sparen wir uns die Mühe.« Ihr Auftrag war es schließlich nicht, einen nervtötenden Touristen bei Laune zu halten, sondern pünktlich in der Glaswerkstatt zu erscheinen, um die Lieferung anzunehmen und zu prüfen. Gott, wenn sie noch länger trödelte, wäre ihre Mutter mit dem Kuchenbasar durch, ehe Flavia die Werkstatt betreten hatte!
Entschlossen marschierte sie an dem Störenfried vorbei und schlüpfte in die nächste Gasse.
»Sind Sie vielleicht gar nicht so schlagfertig, wie es der erste Eindruck versprach?« Er eilte ihr nach und passte seinen Schritt an ihre Geschwindigkeit an, bis sie auf gleicher Höhe nebeneinanderher liefen.
»Und hat Ihnen nie jemand gesagt, dass Sie zu viel reden?«, konterte sie und bog um die nächste Ecke. Der Verbindungsweg war, wie sie wusste, so schmal, dass sich ihr aufdringlicher Begleiter hinter ihr einreihen musste, um auf demselben Pfad zu bleiben. Sollte sie ihm jetzt vielleicht auch noch eine kostenlose Stadtführung spendieren?
»Ich würde mich nicht als Vielredner, sondern als aufgeschlossen bezeichnen«, sagte er. Sie ignorierte ihn. »Eine wertvolle Eigenschaft, die Ihnen offenbar nicht in die Wiege gelegt wurde.«
Seine Bemerkung stach, wo sie stechen sollte, und führte Flavia vor Augen, wie sehr sie sich über die Monate verändert hatte. Früher war sie sehr wohl aufgeschlossen gewesen, hatte mit Begeisterung an glanzvollen Bällen und Banketten teilgenommen, hatte sich ins Vergnügen gestürzt, keine Möglichkeit ausgelassen, Neues kennenzulernen. Doch wenn Oriettas Abwesenheit sie eines gelehrt hatte, dann dass es gefährlich war, seine Empfindungen zu sehr nach außen zu tragen.
Man wusste schließlich nie, wann sie wieder gegen einen verwendet wurden.
Und sosehr sie ihre Wesensveränderung auch bedauerte, sosehr half sie doch auch, dass Flavia nun abweisend und hart bleiben konnte, während sie noch Monate zuvor während Masins Modenschau bei ihrem Auftritt gestürzt war, weil sie vor lauter Tränen den Laufsteg nicht mehr gesehen hatte.
»Seien Sie nicht so gierig«, entgegnete sie knapp. »Sie erhalten hier gerade einen erschwinglichen Rundgang durch Murano. Von einem Begleitkommentar war keine Rede.«
»Aber soweit ich weiß, gehört zu solchen Aktivitäten immer ein Kommentar.« Nacheinander verließen sie die enge Gasse, und sofort war er wieder an ihrer Seite. »Sehen Sie hier …« Er räusperte sich und imitierte die näselnde Stimme eines Stadtführers. »Der Dogenpalast in all seiner Pracht. Und dort: die endlosen Bögen der Prokuratien.« Sein ausgestreckter Arm zerschnitt vor ihrer Nase die Luft, als sie den weitläufigen Campo San Bernardo überquerten und er auf die Kneipenzeile deutete. Flavia schob ihn ungeduldig beiseite, woraufhin er leise lachte.
»Und dort: Was ist das für eine Menschenansammlung, die sich in der hintersten Ecke auf einem Haufen drängt?«
Nun hatte er sie doch fast zum Lachen gebracht. »Hören Sie schon auf«, sagte sie.
»Nein, im Ernst. Warum drücken sich die Leute auf einem Fleck herum, als würde der Ausverkauf des Jahres stattfinden?«
Sie seufzte. »Darf ich vorstellen: unser Gerüchteschaukasten.« Der Schlund, in dessen Tiefen jeder stürzen konnte, der sich zu nahe an ihn heranwagte. Momentan betrafen die üblen Klatschgeschichten vor allem Flavias Familie. Und das versammelte Volk wollte nichts lieber, als mehr über die in Ungnade gefallenen Volpatos mit der geflohenen Tochter und ihrem getürmten Bräutigam zu lesen.
Trotz des Versuchs, die Menge zu ignorieren, entging ihr nicht, dass der Platz selbst heute am Sonntag nicht wie erhofft ausgestorben dalag. Und es entging ihr auch nicht, dass ein paar der Mädchen unter den Schaulustigen waren, mit denen sie für Masin Kleider vorführte. Bekanntschaften, die sie eigentlich liebgewonnen hatte.
»Offenbar kennen die Leute keine schönere Beschäftigung, als zu schwätzen«, bemerkte sie mit aufgesetzter Gleichgültigkeit. »Oh, aber da haben die alle ja eine Gemeinsamkeit mit Ihnen!«
»Nicht nur abgebrannt, sondern auch noch geschwätzig«, fasste er ihren Eindruck von ihm trocken zusammen. »Ob ich bei diesem Urteil noch Ihrer Empfehlung für die beste Glasbläserei trauen kann? Denn Sie irren sich natürlich, was mich betrifft.«