Babel-17 - Samuel R. Delany - E-Book

Babel-17 E-Book

Samuel R. Delany

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Beschreibung

In ferner Zukunft hat sich die menschliche Zivilisation in der ganzen Galaxis ausgebreitet. Dabei kommt es zum Kontakt mit Außerirdischen, die fremdartiger nicht sein könnten – und nicht alle sind den Menschen friedlich gesonnen. Einer der außerirdischen Spezies scheint es gelungen zu sein, ihre Sprache im interstellaren Krieg als Waffe einzusetzen. Rydra Wong, Linguistin, Dichterin und Telepathin, erhält den Auftrag, das Geheimnis dieser Sprache zu entschlüsseln. Gemeinsam mit einer Gruppe sternenfahrender Abenteurer unternimmt sie eine Reise ins Ungewisse … Als Auftakte der Werkausgabe: Das erste der drei frühen Meisterwerke von Samuel R. Delany, ein intellektuelles Lesevergnügen ersten Ranges.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 325

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Aus dem

amerikanischen Englisch

neu übersetzt von

Jakob Schmidt

Impressum

Titel der Originalausgabe: Babel-17

Erstmals erschienen 1966 bei Ace Books in New York

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text

wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

© 1966 by Samuel R. Delany, erneuert 1994

© der Übersetzung 2023 by Jakob Schmidt

© dieser Ausgabe 2023 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, Inc., Armonk, New York, U.S.A. // Die deutsche Erstausgabe erschien, übersetzt von Walter Brumm, 1975 als TERRA TASCHENBUCH 260 bei Pabel in Rastatt // Eine Neuübersetzung von Barbara Heidkamp erschien 1982 bei Bastei Lübbe in Bergisch Gladbach und wurde 1997 bei Goldmann in München neu aufgelegt // Die vorliegende Übersetzung folgt der 2001 bei Vintage Books in New York erschienenen, vom Autor durchgesehenen Ausgabe // Alle Motti in Babel-17 entstammen den Gedichten von Marilyn Hacker; die meisten davon wurden später in ihre Sammlungen Presentation Pieces (New York: Viking Press, 1974) und Separations (New York: Alfred A. Knopf, 1976) aufgenommen; einige Verse sind hier in früheren Fassungen abgedruckt als jene, die sich in den Sammelbänden finden // Verlag und Übersetzer danken dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Förderung

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: Hannes Riffel

Redaktion: Kai U. Jürgens

Korrektorat: Christian W. Winkelmann

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-02-5 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-03-2 (E-Book)

– Dieses Buch ist nun endlich für Bob Folsom,

um zumindest einen kleinen Teil

des vergangenen Jahres zu erklären –

Teil 1

Rydra Wong

… Dies ist die Nabe der Ambiguität.

Elektrische Spektren ergießen sich über die Straße.

Mehrdeutigkeit verknotet die verschatteten Gesichter

von Jungen, die keine Jungen sind; eine Laune der Dunkelheit

lässt einen vollen Mund zu Senilität verschrumpeln

oder rasiermesserscharf hervortreten, gießt Säure

über eine bernsteinfarbene Wange, greift

in einen Schritt oder zertrümmert einen Beckengürtel

und lässt dunkel Geronnenes aus einem Brustkorb quellen,

durch eine Bewegung zerstreut oder durch ein aufblitzendes Licht,

das die Lippen schwellen lässt und sie beträufelt mit Blut.

Es heißt, die Strichjungen malen ihre Lippen an mit Blut.

Es heißt, die gleiche Menschenmasse strömt die Straße hinauf

und wieder hinab, wie Treibholz, das

die Gezeiten ans Ufer und wieder aufs Meer tragen,

nur damit sie erneut auf den Sand klatschen

und erneut trudelnd davongerissen werden.

Treibholz; die schmalen Hüften, die feuchten Augen,

die ausladenden Schultern und die rauen Hände,

Schakale, die mit grauen Gesichtern vor ihrer Beute knien.

Die Farben verschwinden bei Tagesanbruch,

wenn die Nachzügler, unterwegs zum westlichen Flusshafen,

auf junge Seeleute treffen, die schiffwärts dahinschlendern …

Aus Prisma und Linse

1

Es ist eine Hafenstadt.

Hier rostet der Himmel, dachte der General. Industrieabgase ließen den Abend erglühen: orange-, lachs- und purpurfarben, mit zu viel Rot darin. Im Westen wurden die Wolken von aufsteigenden und herabsinkenden Fähren zerstoben, die mit ihrer Fracht zwischen Stellarzentren und Trabanten pendelten. Und eine verdammt arme Stadt ist es, dachte der General und bog auf dem von Abfall übersäten Gehsteig um die Ecke.

Seit der Invasion hatten sechs ruinöse Embargos dieser Stadt, deren Herz der interstellare Handel war, monatelang die Luft abgedrückt. Wie sollte diese Stadt, abgeschnitten von der Außenwelt, fortbestehen? Sechsmal hatte er sich diese Frage innerhalb von zwanzig Jahren bereits gestellt. Und die Antwort? Es war unmöglich.

Panik, Unruhen, Brände, in zwei Fällen Kannibalismus …

Der Blick des Generals glitt vom Schattenriss der Ladetürme, die hinter der klapprigen Magnetbahn aufragten, zu den heruntergekommenen Gebäuden. Die Straßen wurden schmaler, und hier drängten sich Transportarbeiter, Schauerleute und ein paar Sternenfahrer in grünen Uniformen neben der Masse blasser, anständiger Männer und Frauen, die sich um das vertrackte Gewebe der Zollverwaltung kümmerten. Jetzt sind sie still, wollen nur nach Hause oder zur Arbeit, dachte der General. Und doch haben all diese Menschen zwei Jahrzehnte lang im Schatten der Invasion gelebt. Während der Embargos haben sie gehungert, haben Fenster eingeschlagen, Geschäfte geplündert, sind schreiend vor Wasserwerfern davongelaufen und haben mit verkümmerten Zähnen Fleisch aus dem Arm einer Leiche gerissen.

Wer ist dieses Tier namens Mensch? Er stellte sich diese abstrakte Frage, um seine Erinnerungen zu verwischen. Für einen General war es leichter, über das »Tier namens Mensch« nachzudenken, als über die Frau, die während des letzten Embargos mitten auf dem Gehsteig gesessen und ihr knochendürres Kind an einem Bein festgehalten hatte, oder über die drei ausgemergelten Teenagermädchen, die ihn auf offener Straße mit Rasierklingen angegriffen hatten (– mit zusammengebissenen braunen Zähnen hatte sie ihn angezischt, während das Stahlblättchen gleißend auf seine Brust herabgefahren war: »Komm her, du Hackfleisch! Los, komm doch, du Aufschnitt …« Er hatte Karate angewandt –), oder über den Blinden, der kreischend die Straße entlanggelaufen war.

Jetzt waren sie blasse und anständige Männer und Frauen, die leise sprachen und immer einen Moment zögerten, bevor sie sich auf einen Gesichtsausdruck festlegten, mit blassen, anständigen, patriotischen Vorstellungen: dass man für den Sieg über die Invasoren hart arbeiten musste; dass Alona Star und Kip Rhyak in »Ferien unter den Sternen« großartig waren, Ronald Quar aber der beste ernsthafte Schauspieler überhaupt. Sie hörten die Musik von Hi Lite (aber hörten sie wirklich hin?, fragte sich der General angesichts dieser langsamen Tänze, bei denen sich keiner berührte). Eine Stelle beim Zoll war ein guter, sicherer Job.

Die Arbeit im eigentlichen Transportwesen war, jedenfalls in einem Film, bestimmt aufregender und lustiger; aber mal ehrlich, diese merkwürdigen Leute …

Die Intelligenteren und Kultivierteren unterhielten sich über die Gedichte von Rydra Wong.

Oft sprachen sie auch über die Invasion, wobei sie um die hundert Wendungen benutzten, die nach zwanzigjähriger Wiederholung in den Nachrichten und Zeitungen fast schon sakrosankt geworden waren. Die Embargos erwähnten sie eher selten, und wenn, dann nur mit diesem einen Wort.

Pick dir einen von ihnen heraus, einen oder eine Million. Wer sind sie? Was wollen sie? Was würden sie sagen, wenn man ihnen die Gelegenheit gäbe, alles zu sagen?

Rydra Wong ist zur Stimme dieses Zeitalters geworden. Der General erinnerte sich an diese schön klingende Phrase aus einer überschwänglichen Rezension. Wie widersinnig: Er, ein hoher Militär mit einem militärischen Ziel, würde sich gleich mit Rydra Wong treffen.

Die Straßenlaternen gingen an, und sein durchscheinendes Bild erschien mit einem Mal auf der Fensterscheibe der Bar. Richtig, ich trage heute Abend gar nicht meine Uniform. Er sah einen hochgewachsenen, muskulösen Mann, aus dessen zerfurchten Gesichtszügen die Autorität eines halben Jahrhunderts sprach. In dem grauen Zivilanzug fühlte er sich unwohl. Bis er dreißig geworden war, hatte er bei den Leuten stets den Eindruck hinterlassen, »groß und tapsig« zu sein. Später – diese Veränderung hatte sich gleichzeitig mit der Invasion vollzogen – wurde daraus »kräftig und gebieterisch«.

Wäre Rydra Wong zu ihm ins Verwaltungshauptquartier der Allianz gekommen, dann hätte er sich sicher gefühlt. Stattdessen trug er nun Zivilkleidung, und nicht das Grün eines Sternenfahrers. Die Bar war für ihn neu. Und Rydra war die berühmteste Dichterin in fünf erforschten Galaxien. Zum ersten Mal seit langer Zeit kam er sich wieder tapsig vor.

Er ging hinein.

Und flüsterte: »Mein Gott, ist sie schön«, ohne sie zwischen den anderen Frauen auch nur suchen zu müssen. »Ich wusste nicht, dass sie so schön ist, nicht von den Bildern …«

Sie drehte sich zu ihm um (während die Gestalt im Spiegel hinter der Theke ihn bemerkte und sich abwandte), erhob sich von ihrem Hocker, lächelte.

Er ging zu ihr, nahm ihre Hand, und die Worte Guten Abend, Miss Wong zitterten auf seiner Zunge, bis er sie unausgesprochen hinunterschluckte. Und jetzt würde sie gleich etwas sagen.

Sie trug kupferfarbenen Lippenstift, und ihre Pupillen sahen aus wie gehämmerte Kupferscheiben …

»Babel-17«, sagte sie. »Ich habe das Rätsel noch nicht gelöst, General Forester.«

Ein indigoblaues Strickkleid, und ihr Haar wie Wasser, das sich ihr bei Nacht über eine Schulter ergießt; er sagte: »Das überrascht uns nicht weiter, Miss Wong.«

Überraschung, dachte er. Sie legt eine Hand auf die Theke, sie lehnt sich auf dem Hocker zurück, ihre Hüften bewegen sich unter dem gestrickten Blau, und bei jeder Bewegung bin ich erstaunt, überrascht, verunsichert. Hat sie mich derart auf dem falschen Fuß erwischt, oder ist sie wirklich so …

»Aber ich bin weiter gekommen als ihre Leute beim Abschirmdienst.« Auf den sanften Schwung ihrer Lippen legte sich ein noch sanfteres Lachen.

»Nach den Erwartungen, die in mir geweckt wurden, Miss Wong, überrascht mich auch das nicht.« Wer ist sie?, dachte er. Er hatte diese Frage der abstrakten Bevölkerung gestellt. Er hatte sie seinem eigenen Spiegelbild gestellt. Jetzt stellte er sie ihr und dachte dabei: Niemand sonst ist von Bedeutung, aber über sie muss ich alles wissen. Das ist wichtig. Ich muss es wissen.

»Zuerst einmal, General«, sagte sie, »ist Babel-17 kein Code.«

Seine Gedanken schlitterten zurück zum eigentlichen Thema und verharrten am Rande des Abgrunds. »Kein Code? Aber ich dachte, die kryptografische Abteilung hätte zumindest festgestellt …« Er verstummte, weil er sich nicht sicher war, was die kryptografische Abteilung festgestellt hatte, und weil er noch einen Moment brauchte, um von den Klippen ihrer hohen Wangenknochen herabzusteigen, sich aus den Höhlen ihrer Augen zurückzuziehen. Er spannte seine Gesichtsmuskeln an und zwang sich, an Babel-17 zu denken. Die Invasion: Babel-17 mochte ein Schlüssel sein, um die Heimsuchungen der letzten zwanzig Jahre zu beenden. »Wollen Sie damit sagen, dass wir die ganze Zeit versucht haben, einen Haufen Unsinn zu entschlüsseln?«

»Es ist kein Code«, wiederholte sie. »Es ist eine Sprache.«

Der General runzelte die Stirn. »Tja, Sie können es nennen, wie Sie wollen, einen Code oder eine Sprache, wir müssen trotzdem herausfinden, was es bedeutet. Solange wir das nicht verstehen, sind wir verdammt weit weg von dem Punkt, an dem wir sein sollten.« Die Erschöpfung und der Druck der letzten Monate hatten sich in seinem Bauch eingenistet, ein Tier, das in seinem Rachen lauerte und seine Worte schroff klingen ließ.

Ihr Lächeln war verschwunden, und sie hatte beide Hände auf die Theke gelegt. Er hätte die Schroffheit gerne zurückgenommen. Sie sagte: »Sie stehen nicht unmittelbar in Verbindung mit der kryptografischen Abteilung.« Mit ruhiger, beruhigender Stimme.

Er schüttelte den Kopf.

»Dann will ich Ihnen Folgendes sagen. Im Grunde genommen, General Forester, gibt es zwei Arten von Codes – Chiffren und echte Codes. Bei der ersten werden Buchstaben, oder Symbole, die für Buchstaben stehen, gemäß einem Muster gemischt und durcheinandergeworfen. Bei der zweiten werden Buchstaben, Worte oder Wortgruppen durch andere Buchstaben, Symbole oder Worte ersetzt. Ein Code kann das eine oder das andere sein, oder eine Kombination davon. Aber beide haben eines gemeinsam: Wenn man erst einmal den Schlüssel gefunden hat, muss man ihn nur anwenden, um folgerichtige Sätze zu erhalten. Eine Sprache hingegen hat ihre eigene innere Logik, ihre eigene Grammatik, ihren eigenen Modus, Gedanken mit Worten in Zusammenhang zu bringen, die verschiedene Bedeutungsspektren abdecken. Es gibt keinen Schlüssel, der sich anwenden lässt, um die genaue Bedeutung von etwas zu erschließen. So gelangt man bestenfalls zu einer Annäherung.«

»Wollen Sie damit sagen, dass sich hinter dem Code von Babel-17 irgendeine andere Sprache verbirgt?«

»Ganz und gar nicht. Das ist das Erste, was ich überprüft habe. Wir können in Bezug auf mehrere Elemente Wahrscheinlichkeiten überprüfen und feststellen, ob sie mit anderen Sprachmustern übereinstimmen, selbst wenn diese Elemente unsortiert sind. Nein. Babel-17 ist eine eigene Sprache, die wir nicht verstehen.«

»Ich nehme an« – General Forester rang sich ein Lächeln ab – »Sie wollen mir damit sagen, dass wir genauso gut aufgeben können, weil es sich um eine fremde Sprache und nicht um einen Code handelt.« Falls sie endgültig geschlagen waren, wäre es beinahe eine Erleichterung, das von ihr zu erfahren.

Aber sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das wollte ich damit ganz und gar nicht sagen. Unbekannte Sprachen wurden schon wiederholt ohne Übersetzungen entziffert, zum Beispiel Linear B und das Hethitische. Aber wenn ich mit Babel-17 weiterkommen soll, muss ich eine ganze Menge mehr wissen.«

Der General hob die Brauen. »Was müssen Sie denn noch wissen? Wir haben Ihnen unsere sämtlichen Proben gegeben. Wenn wir weitere erhalten, werden wir mit Sicherheit …«

»General, ich muss alles über Babel-17 wissen – wo Sie darauf gestoßen sind, wann, unter welchen Umständen; alles, was mir einen Hinweis darauf bieten könnte, worum es geht.«

»Wir haben Ihnen alle Informationen gegeben, die wir …«

»Sie haben mir maschinengeschriebene Bruchstücke ausgehändigt, zehn Seiten mit doppeltem Zeilenabstand, die den Codenamen Babel-17 tragen. Und dann haben Sie mich gefragt, was es bedeutet. Auf dieser Grundlage kann ich Ihnen keine Antwort geben. Wenn ich mehr bekomme, vielleicht schon. So einfach ist das.«

Er dachte: Wenn es so einfach wäre, wenn es doch bloß so einfach wäre, dann hätten wir uns gar nicht erst an Sie gewandt, Rydra Wong.

Sie sagte: »Wenn es so einfach wäre, wenn es doch bloß so einfach wäre, dann hätten Sie sich gar nicht erst an mich gewandt, General Forester.«

Er zuckte zusammen, und für einen Moment war er absurderweise fest davon überzeugt, dass sie seine Gedanken gelesen hatte. Natürlich wusste sie das.

Aber woher?

»General Forester, hat Ihre kryptografische Abteilung überhaupt herausgefunden, dass es sich um eine Sprache handelt?«

»Wenn sie es herausgefunden hat, hat mir niemand etwas davon gesagt.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass die das nicht wissen. Ich habe einige erste Erkenntnisse zur Struktur der Grammatik gesammelt. Hat man das dort geschafft?«

»Nein.«

»General, die Leute dort wissen vielleicht verdammt viel über Codes, aber sie wissen nichts über das Wesen der Sprache. Diese Art von Fachidiotentum ist einer der Gründe, weshalb ich seit sechs Jahren nicht mehr mit ihnen zusammenarbeite.«

Wer ist sie?, dachte er erneut. Heute Morgen war ihm ein Sicherheitsdossier ausgehändigt worden, aber er hatte es an seinen Adjutanten weitergegeben und lediglich später festgestellt, dass es als »genehmigt« abgestempelt war. Er hörte sich sagen: »Wenn Sie mir ein bisschen mehr über sich verraten würden, Miss Wong, dann könnte ich offener mit Ihnen sprechen.« Unlogisch, aber er hatte es in ruhigem, gemessenem Tonfall gesagt. War ihre Miene jetzt fragend geworden?

»Was möchten Sie wissen?«

»Was ich bereits weiß, ist Folgendes: Ihr Name, und dass Sie vor einiger Zeit für den Abschirmdienst gearbeitet haben. Obwohl Sie dort schon in jungen Jahren gekündigt haben, genügte allein Ihr Ruf, damit die Leute, die sich an Sie erinnern – nachdem sie sich einen Monat lang mit Babel-17 abgemüht hatten –, einstimmig meinten: ›Geht damit zu Rydra Wong.‹« Er hielt inne. »Und jetzt sagen Sie mir, dass Sie ein Stück weit vorangekommen sind. Also hatten diese Leute recht.«

»Trinken wir etwas«, sagte sie.

Der Barkeeper schlenderte herüber, schlenderte wieder davon, und vor ihnen standen zwei kleine Gläser mit rauchigem Grün. Sie trank einen Schluck und beobachtete ihn dabei. Ihre schräg stehenden Augen, dachte er, gleichen erstaunten Schwingen.

»Ich komme nicht von der Erde«, sagte sie. »Mein Vater war Kommunikationsingenieur im Stellarzentrum X-11-B, unmittelbar hinter dem Uranus. Meine Mutter hat für den Rat der äußeren Welten übersetzt. Bis zu meinem siebten Lebensjahr war ich das verwöhnte Gör des Stellarzentrums. Es gab dort nicht viele Kinder. ’52 sind wir dann nach Uranus-XXVII umgezogen, auf festen Boden. Da war ich zwölf, beherrschte sieben irdische Sprachen und konnte mich in fünf außerirdischen verständigen. Ich eigne mir Sprachen so leicht an wie andere Leute die Texte populärer Songs. Während des zweiten Embargos habe ich beide Eltern verloren.«

»Waren Sie da auf dem Uranus?«

»Sie wissen, was geschehen ist?«

»Ich weiß, dass es die äußeren Planeten deutlich schlimmer erwischt hat als die inneren.«

»Dann haben Sie nicht die geringste Ahnung. Aber ja, so war es.« Sie holte tief Luft, als die Erinnerung sie überraschte. »Ein Drink reicht allerdings nicht, damit ich darüber rede. Als ich aus dem Krankenhaus kam, befürchtete man, mein Gehirn könnte Schaden genommen haben.«

»Ihr Gehirn …?«

»Von Unterernährung haben Sie wohl schon gehört. Jetzt nehmen Sie noch die ischiadische Seuche dazu.«

»Auch davon habe ich gehört.«

»Wie dem auch sei, ich bin auf die Erde gekommen, um hier bei einer Tante und einem Onkel zu wohnen und mich einer Neurotherapie zu unterziehen. Nur brauchte ich die nicht. Und ich weiß nicht, ob es etwas Psychologisches oder etwas Physiologisches war, jedenfalls hatte ich nach der ganzen Geschichte ein perfektes Sprachgedächtnis. Ich war schon mein ganzes Leben lang nah dran, deshalb hat mich das nicht besonders überrascht. Aber seitdem habe ich auch ein absolutes Gehör.«

»Geht das nicht normalerweise mit Blitzrechnen und einem eidetischen Gedächtnis einher? Ich könnte mir vorstellen, dass all das für eine Kryptografin von Vorteil ist.«

»Ich bin eine ganz gute Mathematikerin, aber keine Blitzrechnerin. In Sachen visuelle Auffassungsgabe und räumliches Vorstellungsvermögen habe ich gute Testergebnisse – ich träume in allen erdenklichen Farben –, aber mein perfektes Erinnerungsvermögen ist rein verbal. Damals hatte ich schon mit dem Schreiben begonnen. Im Sommer suchte ich mir einen Job als Übersetzerin bei der Regierung und fing an, Codierung zu büffeln. Nach einer Weile stellte ich fest, dass ich dafür … ein gewisses Talent hatte. Ich bin keine gute Kryptografin. Ich bringe nicht die nötige Geduld auf, um so hart an etwas Geschriebenem zu arbeiten, das ich nicht selbst verfasst habe. Ich bin ziemlich neurotisch – ein weiterer Grund dafür, dass ich die Kryptografie zugunsten der Dichtkunst aufgegeben habe. Aber mein ›Talent‹ hat mir ein bisschen Angst gemacht. Wenn meine Arbeit überhandnahm und ich eigentlich viel lieber anderswo gewesen wäre und befürchtete, mein Vorgesetzter könnte mir aufs Dach steigen, dann fügte sich plötzlich alles, was ich über Kommunikation wusste, in meinem Kopf zusammen, und es wurde einfacher, das, was ich vor mir hatte, zu lesen und zu sagen, was da stand, als sich zu fürchten und sich müde und elend zu fühlen.«

Sie betrachtete ihr Glas.

»Irgendwann gelangte ich an den Punkt, an dem ich das alles fast völlig unter Kontrolle hatte. Inzwischen war ich neunzehn und als das Mädchen bekannt, das alles knacken konnte. Ich denke mal, es hat etwas mit meinem Wissen über Sprachen zu tun, dass ich Muster so mühelos erkenne – sodass ich bei Babel-17 zum Beispiel rein gefühlsmäßig zwischen grammatischer Ordnung und zufälliger Umgruppierung unterscheiden kann.«

»Warum haben Sie dort aufgehört?«

»Zwei Gründe haben ich Ihnen bereits genannt. Ein dritter besteht schlicht und einfach darin, dass ich mein Talent, nachdem ich es gemeistert hatte, für mich selbst nutzen wollte. Mit neunzehn habe ich beim Abschirmdienst gekündigt und … nun ja, geheiratet und ernsthaft zu schreiben begonnen. Drei Jahre später ist mein erstes Buch erschienen.« Sie zuckte mit den Achseln, lächelte. »Für das, was danach kommt, müssen Sie die Gedichte lesen. In denen steht alles drin.«

»Und auf den Welten von fünf Galaxien erforschen die Leute nun Ihre Metaphorik und Ihre Ideen, um Antworten auf die Fragen zu erhalten, die ihnen die Sprache, die Liebe und die Einsamkeit stellen.« Die drei Worte sprangen auf seinen Satz auf wie Landstreicher auf einen Güterwaggon. Sie saß vor ihm, und sie redete: Hier, abseits seines vertrauten militärischen Umfelds, fühlte er sich hoffnungslos einsam, und er war hoffnungslos … Nein!

Das war unmöglich und lächerlich und viel zu einfach, um das zu erklären, was sich hinter seinen Augen, in seinen Händen regte, was dort pulsierte. »Noch einen Drink?« Er war unwillkürlich in die Defensive gegangen. Aber sie würde das als bloße Höflichkeit missverstehen. Oder doch nicht? Der Barkeeper kam, ging.

»Die Welten von fünf Galaxien«, wiederholte sie. »Das ist wirklich seltsam. Ich bin erst sechsundzwanzig.« Ihr Blick verlor sich in dem Spiegel. Sie hatte ihren ersten Drink erst zur Hälfte ausgetrunken.

»Als Keats in Ihrem Alter war, war er schon tot.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Wir leben in einem merkwürdigen Zeitalter. Es nimmt sich seine Helden sehr plötzlich, sehr jung, und lässt sie dann ebenso schnell wieder fallen.«

Er nickte und dachte dabei an ein halbes Dutzend Sängerinnen und Sänger, Schauspielerinnen und Schauspieler und sogar Autorinnen und Autoren, die gegen Ende ihrer Teenagerjahre oder mit Anfang zwanzig für ein, zwei oder drei Jahre als Genies galten, nur um gleich wieder zu verschwinden. Rydra Wongs Ruhm war ein Phänomen, das erst drei Jahre währte.

»Ich gehöre der Zeit an, in der ich lebe«, sagte sie. »Ich würde gerne über sie hinausreichen, aber diese Zeit hat mich zu der gemacht, die ich bin.« Ihre Hand zog sich über das Mahagoni von ihrem Glas zurück. »Bei Ihnen im Militär dürfte das weitgehend dasselbe sein.« Sie hob den Kopf. »Habe ich Ihnen gegeben, was Sie sich erhofften?«

Er nickte. Mit einer Geste log es sich leichter als mit einem Wort.

»Gut. Also, General Forester, was ist Babel-17?«

Er sah sich nach dem Barkeeper um, aber ein Leuchten veranlasste ihn, sich wieder ihrem Gesicht zuzuwenden – bei dem Leuchten handelte es sich lediglich um ihr Lächeln, aber aus dem Augenwinkel hatte er es tatsächlich für ein Licht gehalten. »Hier«, sagte sie und schob ihren zweiten Drink, den sie nicht angerührt hatte, zu ihm hinüber. »Den trinke ich nicht.«

Er nahm ihn, nippte daran. »Die Invasion, Miss Wong … es muss etwas mit der Invasion zu tun haben.«

Sie stützte sich auf einen Arm und lauschte mit zusammengekniffenen Augen.

»Angefangen hat es mit einer Reihe von Unfällen – zumindest hielten wir sie zunächst für Unfälle. Inzwischen sind wir uns sicher, dass es sich um Sabotage handelt. Seit Dezember ’68 ereignet sich dergleichen regelmäßig, überall in der Allianz. Mal auf Kriegsschiffen, mal in den Werften der Raumflotte, und meistens versagt irgendein wichtiges Gerät. Zweimal kamen infolge von Explosionen wichtige Funktionsträger ums Leben. Mehrere dieser ›Unfälle‹ haben sich in kriegswichtigen Fabrikanlagen ereignet.«

»Welche Verbindung besteht zwischen all diesen ›Unfällen‹, abgesehen davon, dass sie Auswirkungen auf den Krieg haben? So, wie unsere Wirtschaft im Moment aufgestellt ist, dürfte es schwer sein, einen größeren Industrieunfall zu finden, der keine Auswirkungen auf den Krieg hat.«

»Was sie alle miteinander verbindet, Miss Wong, ist Babel-17.«

Er schaute zu, wie sie austrank und ihr Glas genau auf den nassen Kreis zurückstellte.

»Unmittelbar vor, während und nach jedem ›Unfall‹ wird das ganze Umfeld mit Funksprüchen aus unbekannten Quellen überschwemmt. Die meisten dieser Funkwellen reichen nur ein paar Hundert Meter weit. Aber dann und wann gibt es Entladungen auf hyperstatischen Kanälen, die ein paar Lichtjahre umfassen. Bei den letzten drei ›Unfällen‹ haben wir das alles transkribiert und mit dem Arbeitstitel Babel-17 versehen. Also. Können Sie damit etwas anfangen?«

»Ja. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie Funksprüche empfangen, bei denen von irgendjemandem, der die ›Unfälle‹ steuert, Anweisungen zur Sabotage erteilt werden …«

»Aber wir finden einfach nichts!« Er konnte nicht mehr an sich halten. »Wir empfangen nichts außer diesem verdammten Hochgeschwindigkeitskauderwelsch! Irgendwann sind jemandem gewisse Wiederholungen in dem Muster aufgefallen, die auf einen Code hindeuten. Die kryptografische Abteilung hielt das anscheinend für eine vielversprechende Fährte, scheitert aber seit einem Monat daran, diesen Code zu knacken. Also hat man sich an Sie gewandt.«

Während er redete, schaute er ihr beim Nachdenken zu. Nun sagte sie: »General Forester, ich hätte gerne die Originalaufzeichnungen dieser Funksprüche, außerdem einen detaillierten Bericht über die Unfälle, nach Möglichkeit sekundengenau mit den Aufnahmen abgestimmt.«

»Ich weiß nicht, ob …«

»Wenn Sie keinen solchen Bericht haben, dann erstellen Sie einen, sobald sich wieder ein derartiger ›Unfall‹ ereignet. Wenn dieses Funkchaos ein Gespräch darstellt, dann muss ich mitverfolgen können, worüber gesprochen wird. Es ist Ihnen vielleicht nicht aufgefallen, aber aus der Kopie, die mir die Kryptografie gegeben hat, lässt sich nicht ersehen, wer wann spricht. Kurz gesagt, im Moment arbeite ich mit der Transkription eines technisch anspruchsvollen Gesprächs, das ohne Satzzeichen oder auch nur Wortunterbrechungen ineinanderfließt.«

»Wahrscheinlich kann ich Ihnen alles, was Sie wollen, besorgen, mit Ausnahme der Originalaufzeichnungen …«

»Das müssen Sie aber. Ich muss meine eigene Transkription erstellen, mit aller Sorgfalt und mit meinen eigenen Geräten.«

»Wir erstellen eine neue, nach Ihren Vorgaben.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das muss ich selbst machen, sonst kann ich überhaupt nichts versprechen. Allein schon wegen der Unterscheidungen zwischen Phonem und Allophon. Ihre Leute haben nicht einmal begriffen, dass es sich um eine Sprache handelt, deshalb sind sie auch nicht darauf gekommen –«

Jetzt unterbrach er sie. »Was für Unterscheidungen?«

»Sie wissen, dass manche Menschen aus dem Orient die Laute R und L verwechseln, wenn sie eine westliche Sprache sprechen? Das liegt daran, dass R und L in vielen östlichen Sprachen Allophone sind, was bedeutet, sie werden als ein Laut betrachtet. Sie werden gleich geschrieben und sogar gleich gehört – so wie das O in den Worten Ort und Rose.«

»Was ist denn der Unterschied zwischen dem O in Ort und in Rose?«

»Sagen Sie beide Worte noch mal, und hören Sie genau hin. Das erste ist geschlossen und das zweite offen, sie unterscheiden sich ebenso sehr wie E und Ä. Nur dass es Allophone sind – zumindest im Deutschen. Im britischen Englisch sind beispielsweise das Th in they und theatre Allophone, obwohl sie unterschiedlich klingen – das eine ist stimmhaft, das andere stimmlos. Briten hören sie trotzdem als das gleiche Phonem. Bei den Amerikanern hingegen gibt es natürlich das Minimalpaar ether/either, bei dem allein die Stimmhaftigkeit den semantischen Unterschied ausmacht.«

»Oh …«

»Sie sehen also, welche Probleme jemand ›Fremdes‹ dabei hat, eine Sprache zu transkribieren, die er nicht spricht. Vielleicht kommen bei ihm zu viele Lautunterscheidungen heraus, oder zu wenige.«

»Und wie wollen Sie das hinbekommen?«

»Mithilfe meines Wissens über die Lautsysteme zahlreicher anderer Sprachen, und nach Gefühl.«

»Ihr ›Talent‹ also wieder?«

Sie lächelte. »Ich nehme es an.«

Sie wartete darauf, dass er seine Einwilligung gab. Und was hätte er nicht für sie gegeben? Einen Moment lang hatte er sich von subtilen Untertönen in ihrer Stimme ablenken lassen. »Natürlich, Miss Wong«, sagte er. »Sie sind unsere Expertin. Kommen Sie morgen in die kryptografische Abteilung, dann erhalten Sie alles, was Sie brauchen.«

»Danke, General Forester. Ich werde meinen offiziellen Bericht mitbringen.«

Er erhob sich, in das statische Leuchten ihres Lächelns gehüllt. Ich muss jetzt gehen, dachte er verzweifelt. Oh, wenn ich doch nur noch etwas sagen könnte … »Gut, Miss Wong. Wir sprechen uns dann wieder.« Noch mehr, noch irgendetwas!

Er riss sich von ihr los. (Ich muss mich von ihr abwenden.) Eine Sache musst du noch sagen – danke, dass es dich gibt, ich liebe dich. Er ging zur Tür, und seine Gedanken wurden ruhiger: Wer ist sie? Oh, was hätte nicht alles gesagt werden sollen! Ich war brüsk, militärisch, effizient. Ach, welchen Überfluss von Gedanken und Worten hätte ich ihr nicht gerne geschenkt! Die Tür schwang auf, und der Abend strich ihm mit blauen Fingern über die Augen.

Großer Gott, dachte er, als ihm die Kühle ins Gesicht schlug, all das ist in mir, und sie weiß nichts davon! Ich habe ihr nichts von alledem mitgeteilt! Irgendwo in der Tiefe erklangen die Worte: nichts von alledem, du bist also noch in Sicherheit. An der Oberfläche jedoch war seine Wut über sein Schweigen stärker. Nichts von alledem habe ich ihr mitgeteilt …

Rydra erhob sich, die Hände auf die Theke gestützt, und blickte in den Spiegel. Der Barkeeper kam herbei, um die Gläser vor ihren Fingerspitzen einzusammeln. Als er nach ihnen griff, runzelte er die Stirn.

»Miss Wong?«

Ihr Gesicht war starr.

»Miss Wong, geht es Ihnen …«

Ihre Knöchel waren weiß, und vor den Augen des Barkeepers kroch das Weiß über ihre Hände, bis sie aussahen wie zitterndes Wachs.

»Stimmt irgendetwas nicht, Miss Wong?«

Mit einem Ruck wandte sie ihm das Gesicht zu. »Das ist Ihnen aufgefallen?« Ihre Stimme war ein heiseres Flüstern, schroff, sarkastisch, angespannt. Sie wirbelte herum und schritt Richtung Tür, hielt einmal inne, um zu husten, und eilte dann weiter.

2

»Mocky, hilf mir!«

»Rydra?« Dr. Markus T’mwarba stemmte sich in der Dunkelheit von seinem Kissen hoch. Ihr Gesicht erschien im rauchigen Licht über dem Bett. »Wo bist du?«

»Unten, Mocky. Bitte, ich m-muss mit dir reden.« Ihre aufgewühlten Gesichtszüge bewegten sich nach rechts, nach links, versuchten, seinem Blick auszuweichen.

Geblendet kniff er die Augen zusammen und öffnete sie langsam wieder. »Los, komm hoch.«

Ihr Gesicht verschwand.

Er wedelte mit der Hand über den Armaturen, und sanftes Licht erfüllte das luxuriös eingerichtete Schlafzimmer. Er schob die goldene Steppdecke beiseite, setzte die Füße auf den Pelzvorleger, nahm einen schwarzen Seidenhausmantel von einer knorrigen Bronzesäule, und als er ihn sich über die Schultern legte, zogen die Konturdrähte den Stoff automatisch über seiner Brust fest und die Schultern glatt. Er wischte ein weiteres Mal über die Induktionskonsole in dem Rokoko-Rahmen, und auf der Anrichte glitten Aluminiumklappen auf. Eine dampfende Kanne und eine Likörkaraffe rollten heraus.

Eine weitere Geste, und Sitzblasen stiegen aus dem Boden empor. Als Dr. T’mwarba sich dem Eingangskabinett zuwandte, knarrte es, Glimmerflügel glitten auseinander, und Rydra schnappte nach Luft.

»Kaffee?« Er versetzte der Kanne einen Stoß, und das Kraftfeld fing sie auf und trug sie sanft zu ihr. »Was treibst du so?«

»Mocky, es … ich …?«

»Trink deinen Kaffee.«

Sie schenkte sich ein und hob die Tasse halb an den Mund. »Keine Beruhigungsmittel?«

»Crème de Cacao oder Crème de Café?« Er hielt zwei kleine Gläser hoch. »Falls du nicht findest, dass Alkohol auch geschummelt ist. Ach, und vom Abendessen sind noch ein paar Frankfurter und Bohnen übrig. Ich hatte Gesellschaft.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nur Cacao.«

Das winzige Glas folgte dem Kaffee über den Strahl. »Ich hatte einen absolut grauenhaften Tag.« Er legte die Hände ineinander. »Den ganzen Nachmittag über keine Arbeit, Gäste zum Abendessen, die diskutieren wollten, und dann eine Flut von Anrufen, kaum dass sie weg waren. Ich bin erst vor zehn Minuten ins Bett gegangen.« Er lächelte. »Wie war dein Abend?«

»Mocky, er … er war schrecklich.«

Dr. T’mwarba nippte an seinem Likör. »Gut. Ansonsten hätte ich es dir nie verziehen, dass du mich geweckt hast.«

Unwillkürlich musste sie lächeln. »Ich kann … kann m-mich immer auf dein M-Mitgefühl verlassen, Mocky.«

»Du kannst dich auf meinen gesunden Menschenverstand und meinen stichhaltigen psychiatrischen Rat verlassen. Mitgefühl? Tut mir leid, nicht nach halb zwölf. Setz dich. Was ist passiert?« Eine letzte Handbewegung ließ einen Stuhl hinter ihr emporsteigen. Die Kante berührte ihre Kniekehlen, und sie setzte sich. »Und jetzt hör auf rumzustottern und rede mit mir. Das hast du dir doch schon mit fünfzehn abgewöhnt.« Sein Tonfall klang nun sehr sanft und sehr sicher.

Sie trank einen weiteren Schluck Kaffee. »Der Code, erinnerst du dich an den C-Code, an dem ich gearbeitet habe?«

Dr. T’mwarba ließ sich auf einem breiten, ledernen Hängesessel nieder und strich sich durchs weiße Haar, das noch vom Schlaf zerzaust war. »Ich erinnere mich, dass man dich gebeten hat, an etwas für die Regierung zu arbeiten. Du hast dich ziemlich abfällig darüber geäußert.«

»Ja. Und … tja, es geht nicht um den Code – der nebenbei bemerkt eine Sprache ist –, aber heute Abend ha-habe ich mit dem zuständigen General gesprochen, General Forester, und es ist passiert … ich meine, es ist wieder passiert, und ich habe es gewusst!«

»Was hast du gewusst?«

»Genau wie beim letzten Mal. Ich habe gewusst, was er gedacht hat!«

»Du hast seine Gedanken gelesen?«

»Nein. Nein, es war genau wie beim letzten Mal! Ich habe sie ihm angemerkt, an dem, was er gemacht hat, was er gesagt hat …«

»Du hast schon mal versucht, mir das zu erklären, aber ich verstehe es immer noch nicht, es sei denn, du sprichst von so etwas wie Telepathie.«

Sie schüttelte den Kopf, einmal und dann noch einmal.

Dr. T’mwarba verschränkte die Finger und lehnte sich zurück. Mit einem Mal sagte Rydra ausdruckslos: »Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, was du mir mitzuteilen versuchst, meine Liebe, aber du musst es schon selbst in Worte fassen. Das wolltest du doch gerade sagen, Mocky, oder?«

T’mwarba zog die weißen, buschigen Augenbrauen hoch. »Ja. Das wollte ich. Du sagst, dass du nicht meine Gedanken gelesen hast? Du hast mir das schon ein Dutzend Mal demonstriert …«

»Ich weiß, was du zu sagen versuchst; und du weißt nicht, was ich zu sagen versuche. Das ist ungerecht!« Sie fuhr fast von ihrem Sitz hoch.

Gleichzeitig sagten sie: »Darum bist du so eine gute Dichterin.« Rydra fuhr fort: »Ich weiß, Mocky. Ich muss alles gründlich durchdenken und in meinen Gedichten festhalten, damit die Leute es verstehen. Aber in den letzten zehn Jahren habe ich das nicht mehr gemacht. Weißt du, was ich mache? Ich höre anderen zu, stolpere mit ihren halb fertigen Gedanken und halb fertigen Sätzen und ihren unbeholfenen Gefühlen, die sie nicht zum Ausdruck bringen können, in meinem Kopf herum, und es tut weh. Also gehe ich nach Hause, poliere das Ganze auf und spanne es auf einen rhythmischen Rahmen, bis es nicht mehr wehtut; und das ist mein Gedicht. Ich weiß, was sie sagen wollen, und ich sage es für sie.«

»Die Stimme deines Zeitalters«, erwiderte T’mwarba.

Sie sagte etwas, das so nicht druckfähig gewesen wäre. Als sie fertig war, stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Was ich sagen will, was ich ausdrücken will, das kann ich …« Erneut schüttelte sie den Kopf. »Ich kann es nicht sagen.«

»Wenn du dich als Dichterin weiterentwickeln möchtest, wirst du das aber müssen.«

Sie nickte. »Mocky, bis vor einem Jahr war mir noch nicht einmal klar, dass ich nur die Gedanken anderer Leute ausspreche. Ich dachte, es wären meine eigenen.«

»Alle jungen Schriftsteller, die etwas taugen, machen das durch. Genau dabei lernt ihr euer Handwerk.«

»Und jetzt habe ich Dinge zu sagen, die ganz allein von mir stammen. Nicht Dinge, die andere Leute schon mal gesagt haben und die ich nur in origineller Weise zum Ausdruck bringe. Und es sind auch keine gepfefferten Entgegnungen auf Dinge, die andere Leute schon mal gesagt haben, was aufs Gleiche rauskommt. Es sind neue Gedanken, und ich habe eine Heidenangst.«

»Alle jungen Schriftsteller müssen das durchmachen, wenn sie heranreifen.«

»Es ist leicht, etwas zu wiederholen, Mocky. Es ist schwer, zu sprechen.«

»Gut, dass du das jetzt lernst. Warum erklärst du mir nicht erst einmal ganz genau, wie diese … diese Sache mit deinen Einsichten funktioniert?«

Sie schwieg, während sich fünf Sekunden zu zehn dehnten. »Na schön. Ich versuche es noch einmal. Kurz bevor ich die Bar verlassen habe, stand ich da und schaute in den Spiegel. Da kam der Barkeeper und fragte mich, was mit mir los sei.«

»Hat er gespürt, dass du aufgewühlt warst?«

»Er hat überhaupt nichts ›gespürt‹. Er hat meine Hände betrachtet. Ich habe mich an der Theke festgeklammert, bis meine Knöchel weiß anliefen. Er musste kein Genie sein, um festzustellen, dass in meinem Kopf etwas Seltsames vorging.«

»Barkeeper sind ziemlich empfänglich für solche Signale. Das gehört zu ihrem Job.« Er trank seinen Kaffee aus. »Deine Finger sind weiß angelaufen? Na schön, was hat dieser General zu dir gesagt, oder was hat er nicht gesagt, wollte es aber sagen?«

Ein Muskel in ihrer Wange zuckte zweimal, und Dr. T’mwarba dachte: Sollte ich das jetzt genauer deuten können, als ihr daran nur ihre Nervosität anzumerken?

»Das war ein forscher Kerl, so effektiv wie ein Rammbock«, erklärte sie. »Wahrscheinlich unverheiratet, mit einer Militärlaufbahn und all den Unwägbarkeiten, die das mit sich bringt. Er war Mitte fünfzig und fühlte sich deshalb unwohl. Er ist in die Bar gekommen, in der wir verabredet waren, hat erst die Augen zusammengekniffen und sie dann wieder geöffnet, während seine Hand auf seinem Bein ruhte, und dann krümmten sich plötzlich seine Finger, wurden wieder gerade, er wurde erst langsamer, aber dann wieder schneller, nachdem er die ersten drei Schritte in meine Richtung zurückgelegt hatte, und dann schüttelte er mir die Hand, als hätte er Angst, sie zu zerbrechen.«

T’mwarbas Lächeln wurde zu lautem Gelächter. »Er hat sich in dich verliebt!«

Sie nickte.

»Aber warum um alles in der Welt bringt dich das auf? Du solltest geschmeichelt sein.«

»Oh, das war ich auch!« Sie beugte sich vor. »Ich war geschmeichelt. Und ich wusste genau, was ihm durch den Kopf ging. Einmal, als er versuchte, seine Gedanken wieder dem Code zuzuwenden, Babel-17, habe ich genau das gesagt, was er gedacht hat, nur um ihm zu zeigen, wie nahe ich ihm war. Ich habe beobachtet, wie er einen Moment lang dachte, dass ich vielleicht seine Gedanken lese …«

»Moment mal. Das verstehe ich jetzt nicht. Woher wusstest du, was genau er dachte?«

Sie hob die Hand ans Kinn. »Er hat es mir gesagt, hier. Ich hab ihm erklärt, dass ich mehr Informationen bräuchte, um die Sprache zu knacken. Er wollte sie mir nicht geben. Ich sagte, dass ich sie schlicht und einfach bräuchte, um in der Sache weiterzukommen. Er hob den Kopf nur ein winziges Stück – um ihn nicht zu schütteln. Wenn er den Kopf geschüttelt und dabei leicht die Lippen geschürzt hätte, was meinst du, was er damit wohl gesagt hätte?«

Dr. T’mwarba zuckte mit den Schultern. »Dass die Sache nicht so einfach war, wie du denkst?«

»Ja. Er hat also eine Geste gemacht, um genau das zu vermeiden. Was hatte das zu bedeuten?«

T’mwarba schüttelte den Kopf.

»Er hat die Geste vermieden, weil er den Umstand, dass es nicht so einfach war, mit meiner Anwesenheit in Verbindung gebracht hat. Also hat er stattdessen den Kopf gehoben.«

»Um zu sagen: Wenn es so einfach wäre, dann bräuchten wir Sie nicht«, schlug T’mwarba vor.

»Genau. Aber noch während er den Kopf hob, hat er kurz innegehalten. Begreifst du nicht, was dadurch noch hinzugekommen ist?«

»Nein.«

»Wenn es so einfach wäre – und jetzt die Pause – wenn es doch bloß so einfach wäre, hätten wir uns gar nicht erst an Sie gewandt.« Sie legte die Hände mit den Handflächen nach oben in den Schoß. »Und genau das habe ich ihm ins Gesicht gesagt. Daraufhin haben sich seine Kiefermuskeln verkrampft …«

»Vor Überraschung?«

»… Ja. Das war der Moment, in dem er sich kurz gefragt hat, ob ich seine Gedanken lesen könnte.«

Dr. T’mwarba schüttelte den Kopf. »Das ist zu präzise, Rydra. Was du beschreibst, ist die Fähigkeit, die Mimik eines anderen Menschen zu interpretieren, was ziemlich effektiv sein kann, vor allem dann, wenn man weiß, auf welchen logischen Bereich sich die Gedanken der betreffenden Person beziehen. Aber es ist trotzdem zu präzise. Komm noch mal darauf zurück, warum diese Angelegenheit dich so verstört hat. Hat dieser unkultivierte Sternenfahrer mit seiner Zudringlichkeit dein Schamgefühl verletzt?«

Ihre Antwort war weder schamhaft noch kultiviert.

Dr. T’mwarba biss sich von innen auf die Lippe und fragte sich, ob sie das bemerkte.

»Ich bin kein kleines Mädchen«, sagte sie. »Außerdem hat er überhaupt nichts Anzügliches gedacht. Wie gesagt, ich fühlte mich von der ganzen Sache geschmeichelt. Den kleinen Streich habe ich ihm nur gespielt, um ihn wissen zu lassen, wie sehr wir auf derselben Wellenlänge lagen. Ich fand ihn charmant. Und wenn er mich so klar hätte sehen können wie ich ihn, dann hätte er gewusst, dass ich ihm nichts als freundliche Gefühle entgegenbrachte. Erst als er gegangen ist …«

Dr. T’mwarba hörte, wie der raue Unterton in ihre Stimme zurückkehrte.

»… als er gegangen ist, war sein letzter Gedanke: ›Sie weiß nichts davon; ich habe ihr nichts von alledem mitgeteilt.‹«