Das Einstein-Vermächtnis - Samuel R. Delany - E-Book

Das Einstein-Vermächtnis E-Book

Samuel R. Delany

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Beschreibung

In einer weit entfernten Zukunft gelten die Gesetze von Raum und Zeit nicht mehr, und auf der Erde haben sich Geschöpfe angesiedelt, die uns Menschen nur auf den ersten Blick ähnlich sehen. Lobey ist einer von ihnen: Selbst ein begnadeter Musiker, kann er die Musik im Geist der anderen hören. Als er die eigenwillige, anscheinend taubstumme Friza kennenlernt, glaubt er eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Doch dann wird Friza getötet, und Lobey zieht aus, um sie zu rächen – und vielleicht gar aus dem Reich der Toten zurückzuholen. Der zweite Band der Werkausgabe dieses außergewöhnlichen Autors; ein Roman von überwältigender Ideenvielfalt und großer sprachlicher Kraft.

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Seitenzahl: 219

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Aus dem

amerikanischen Englisch

neu übersetzt von

Jakob Schmidt

Impressum

Titel der Originalausgabe: The Einstein Intersection

Erstmals erschienen 1967 bei Ace Books in New York

© 1967 by Samuel R. Delany, erneuert 1994

© der Übersetzung 2024 by Jakob Schmidt

© dieser Ausgabe 2024 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, U.S.A. // Die deutsche Erstausgabe erschien, übersetzt von Roland Fleissner, 1972 bei Marion von Schröder in München // Diese Erstübersetzung wurde 1974 als TERRA TASCHENBUCH 231 bei Pabel in Rastatt sowie 1985 bei Bastei-Lübbe in Bergisch Gladbach neu aufgelegt // Die vorliegende Übersetzung folgt der 1998 bei der Wesleyan University Press in Middletown, Conneticut, erschienenen Ausgabe, die den Text in der letzten, vom Autor durchgesehenen Fassung enthält.

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: Hannes Riffel

Redaktion: Kai U. Jürgens

Korrektorat: Franz-Josef Knelangen

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-16-2 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-17-9 (E-Book)

Für Don Wollheim,

ein in jeder Hinsicht verantwortungsvoller Mann,

für das, was sich darin befindet,

und Jack Gaughan

für die äußere Gestalt.

Das Einstein-Vermächtnis

Es flämmert (lösch, lisch), unser ganzes Funoptikum.

James Joyce, Finnegans Wake

Indessen habe ich mich noch nicht abschließend darüber geäußert, ob jede Täuschung oder Sinne der des Geistes mit dem Begriff Wahnsinn zu bezeichnen ist.

Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit

In meiner Machete verläuft, vom Griff bis zur Spitze, ein hohler, durchlöcherter Zylinder. Wenn ich über das Mundstück am Griff blase, mache ich mit meiner Klinge Musik. Wenn alle Löcher bedeckt sind, klingt sie traurig – so rau, wie ein Ton eben sein darf, um ihn gerade noch als sanft zu bezeichnen. Wenn alle Löcher offen sind, erklingt ein helles Pfeifen, wie das Schillern von Sonnenlicht auf Wasser, auf zerdrücktem Metall. Zwanzig Löcher gibt es. Und seit ich musiziere, wurde ich in so ziemlich jeder Hinsicht als Narr gescholten – öfter jedenfalls, als die Leute Lobey zu mir sagen, mein eigentlicher Name.

Wie ich aussehe?

Hässlich, und meistens grinse ich. Eine große Nase und graue Augen und ein breiter Mund drängen sich auf einem kleinen braunen Gesicht, das eher zu einem Fuchs passen würde. Das, und darum herum Haare wie hingekritzelt aus gesponnenem Messing. Etwa alle zwei Monate hacke ich mir mit meiner Machete das meiste davon ab. Wächst schnell wieder nach. Was seltsam ist, weil ich dreiundzwanzig bin und noch keinen Bart habe. Ich habe die Form eines Kegels, die Schenkel und Füße eines Mannes (Gorillas?) von doppelter Größe (ich bin etwa einsfünfundsiebzig) und dazu passende Hüften. Im Jahr meiner Geburt gab es Unmengen von Hermaphroditen, und die Heiler meinten, ich sei vielleicht auch einer. Irgendwie bezweifle ich das.

Hässlich, wie schon gesagt. Die Zehen an meinen Füßen sind fast so lang wie meine Finger, und die großen Zehen kann ich halbwegs wie Daumen verwenden. Auf diese Füße lasse ich nichts kommen: Einmal habe ich Klein-Jon damit das Leben gerettet.

Wir sind die Beryllwand hochgeklettert und dabei immer wieder an dem glasigen Gestein abgerutscht, als Klein-Jon den Halt verlor und nur noch an einer Hand hing. Ich hing selbst an den Händen, streckte aber meinen Fuß nach unten, packte ihn am Handgelenk und zog ihn hoch, um ihn abzusetzen.

An dieser Stelle verschränkt Lo Falke die Arme über der Lederweste, nickt weise, sodass sein Bart auf seinem sehnigen Hals auf und ab wippt, sagt: »Und was hattet ihr beiden jungen Lo-Männer überhaupt an der Beryllwand zu suchen? Dort ist es gefährlich, und du weißt, dass wir Gefahren meiden. Die Geburtenrate fällt immer weiter. Wir können es uns nicht leisten, unsere produktiven jungen Leute wegen solcher Dummheiten zu verlieren.« Natürlich fällt sie nicht. Lo Falke sagt das nur so. Er meint lediglich, dass die Anzahl absoluter Norms heruntergeht. Geburten gibt es haufenweise. Lo Falke stammt aus einer Generation, in der die Zahl der Nicht-Funktionsfähigen, der Idioten, Mongoloiden und Kretins fünfzig Prozent weit überstieg. (Wir hatten uns noch nicht an euer Ebenbild angepasst. Halb so wild.) Inzwischen gibt es deutlich mehr Funktionsfähige als Nicht-Funktionsfähige; also besteht kein Grund zur Sorge.

Jedenfalls kaue ich nicht nur auf meinen Fingernägeln, was erbärmlich genug wäre, sondern auch auf meinen Fußnägeln.

Und in diesem Moment fällt mir ein, wie ich am Eingang der Quellhöhle sitze, wo das Wasser aus der Dunkelheit herabströmt und zwischen den Bäumen eine Sichel aus Licht bildet, und wie eine Blutspinne so groß wie meine Faust sich mit seitlich vorgewölbtem, pulsierendem Bauch neben mir auf dem Fels sonnt, während über mir Blätter rascheln. Dann kommt La Carol mit einem Tragetuch voller Früchte über der Schulter und dem Kind unterm Arm vorbei (einmal haben wir uns darüber gestritten, ob es von mir ist oder nicht. Einmal hatte es meine Augen, meine Nase, meine Ohren. Dann wieder: »Siehst du nicht, dass der Junge von Lo Bummler ist? Schau doch mal, wie stark er ist!« Dann haben wir uns beide in andere Leute verliebt, und jetzt sind wir wieder Freunde), verzieht das Gesicht und sagt: »Lo Lobey, was machst du denn da?«

»Ich kaue auf meinen Zehennägeln. Wonach sieht es denn aus?«

»Also wirklich!« Und sie schüttelt den Kopf und verschwindet in Richtung Dorf zwischen den Bäumen.

Im Moment möchte ich vor allem auf dem flachen Fels sitzen, schlafen, nachdenken, Nägel kauen oder meine Machete schärfen. Das ist mein Vorrecht, sagt La Herb immer zu mir.

Bis vor Kurzem haben Lo Klein-Jon, Lo Bummler und Lo Ich zusammen Ziegen gehütet (ebendas haben wir auf der Beryllwand getrieben haben: Weideland gesucht). Als Dreiergespann waren wir nicht übel. Klein-Jon ist zwar ein Jahr älter als ich, aber er wird bis zu seinem Tod aussehen wie ein kleiner schwarzer Vierzehnjähriger mit einer Haut so glatt wie Vulkanglas. Er schwitzt nur an den Handflächen, den Fußsohlen und über die Zunge (er hat keine richtigen Schweißdrüsen: Er pieselt wie ein Diabetiker am ersten Wintertag oder wie ein sehr nervöser Hund). Auf dem Kopf hat er ein Nest aus Silberhaar – nicht weiß, sondern silbern. Die Pigmentierung rührt tatsächlich von dem Metall her und die schwarze Haut von einem Protein, dass sich um das Oxid bildet. Keine Spur vom rostigen Eisenfarbton des Melanins, das unsereins bräunt. Da er etwas einfach gestrickt ist, singt er und springt zwischen den Steinen und Ziegen umher, und dabei blitzt er vom Kopf bis zum Schritt und zu den Achselhöhlen, hält dann inne, um (ja, wie ein nervöser Hund) das Bein an einem Baum zu heben und schaut sich mit seinen schwarzen Augen peinlich berührt um. Wenn er lächelt, dann werfen seine Augen nicht weniger Licht zurück als sein glitzernder Kopf, aber auf einer anderen Wellenlänge. Krallen hat er auch – harte, scharfe, hornige Krallen, wo bei mir nur Stummel sind. Ein Lo, den du besser nicht wütend machst.

Bummler hingegen ist groß (an die zweieinhalb Meter), pelzig (sein ganzer Körper ist mit dunkelbraunen Löckchen bedeckt, und vorne ringeln sie sich auf seinem Bauch), stark (diese hundertachtundvierzig Kilo sind eher ein Haufen schartiger Steine in einem Pelz; seine Muskeln haben Kanten) und sanft. Einmal, als eine der fruchtbaren Zicken in einen Felskamin hinabfiel, bin ich wütend auf ihn geworden.

Ich sah es kommen. Es war die große, blinde Ziege, die uns seit acht Jahren makellose Normdrillinge schenkte. Ich stand auf einem Fuß und warf mit den anderen drei Gliedmaßen Steine und Stöcke. Du musst Bummler schon mit einem Stein am Kopf erwischen, damit er dir Beachtung schenkt; er war viel näher an ihr dran als ich.

»Pass doch auf, du nicht-funktionaler, Lo-vergessener Mongoloide! Sie fällt gleich in den …« Und in ebendiesem Moment geschah es.

Bummler bedachte mich mit einem seiner Warum bewirfst du mich mit Steinen?-Blicke, sah sie am Felsrand straucheln, stürzte sich auf sie, griff daneben, und beide fingen sie an zu blöken. Ich legte meine ganze Kraft in den Steinwurf, der ihn an der Hüfte traf. Ich hätte heulen können. Bummler heulte tatsächlich.

Er kauerte am Rand des Kamins, und Tränen nässten den Pelz auf seinen Wangen. Die Ziege hatte sich am Grund des Kamins den Hals gebrochen. Bummler blickte hoch und sagte: »Tu mir nicht mehr weh, Lobey. Das da« – er rieb sich mit den Knöcheln die blauen Augen und deutete nach unten – »tut schon genug weh.« Mit so einem Lo ist wirklich nichts anzufangen. Bummler hat auch Krallen. Aber er benutzt sie nur, um an Palmen hochzuklettern und für die Kinder Mangos zu pflücken.

Im Großen und Ganzen haben wir unsere Sache mit den Ziegen allerdings gut gemacht. Einmal sprang Klein-Jon aus den Ästen einer Eiche auf den Rücken eines Löwen und schlitzte ihm die Kehle auf, bevor er zur Herde gelangen konnte (und dann erhob er sich von dem Kadaver, schüttelte sich und verschwand mit einem Blick über die Schulter hinter einem Felsen). Und so sanftmütig er auch sein mag, einmal hat Bummler einem Schwarzbären mit einem Holzknüppel den Schädel eingeschlagen. Und ich habe meine Machete und bin Beidhänder, linksfüßig und rechtshändig oder andersherum. Ja, wir haben unsere Sache gut gemacht.

Aber damit ist es vorbei.

Weil die Sache mit Friza dazwischengekommen ist.

»Friza« oder »La Friza« war seit jeher ein Streitpunkt zwischen den alten Heilern und den Ältesten, die die Titel vergaben. Sie sah normal aus: schlank, braunhäutig, mit vollen Lippen, einer breiten Nase und messingfarbenen Augen. Wenn ich mich nicht irre, ist sie mit sechs Fingern an einer Hand zur Welt gekommen, aber der zusätzliche Finger war nicht funktionsfähig, und ein reisender Heiler hat ihn abgenommen. Ihr Haar war dicht gelockt und schwarz. Sie trug es kurz, aber einmal fand sie ein rotes Stück Schnur und wob es hinein. An jenem Tag trug sie Armbänder und Kupferperlen, Schnüre über Schnüre. Sie war wunderschön.

Und schweigsam. Als Kleinkind war sie zu den anderen Nicht-Funktionsfähigen in den Kävig gesperrt worden, weil sie sich nicht bewegte. Also kein La mehr für sie. Dann fand ein Aufpasser heraus, dass sie sich deshalb nicht bewegte, weil sie es ohnehin schon konnte; sie war so flink wie der Schatten eines Eichhörnchens. Also wurde sie aus dem Kävig geholt. Und bekam ihr La zurück. Aber sie redete nie. Als sie schließlich acht wurde und auf der Hand lag, dass das wunderschöne Waisenkind stumm war, verlor sie ihr La wieder. Doch wir konnten sie schlecht zurück in den Kävig sperren. Schließlich war sie funktionstüchtig, wob Körbe, pflügte und war mit der Bola eine hervorragende Jägerin. Damals gingen also die Diskussionen los.

Lo Falke erklärte stur: »Als ich noch jung war, waren La und Lo den absoluten Norms vorbehalten. Und dann haben wir leichtfertigerweise angefangen, diese Titel der Reinheit allen Funktionsfähigen zu geben, die das Pech haben, in diesen verwirrenden Zeiten zur Welt zu kommen.«

Worauf La Herb erwiderte: »Die Zeiten ändern sich, und seit dreißig Jahren gilt das unausgesprochene Gesetz, dass La und Lo allen funktionsfähigen Geschöpfen verliehen werden, die in diesem unseren neuen Zuhause zur Welt kommen. Die Frage ist lediglich, wie weit wir unsere Definition von Funktionalität fassen. Ist die Fähigkeit, verbal zu kommunizieren, die sine qua non? Sie ist intelligent und lernt schnell und gründlich. Ich stimme für La Friza.«

Das Mädchen saß am Feuer und spielte, während über ihren gesellschaftlichen Status diskutiert wurde, mit weißen Kieseln.

»Das ist der Anfang vom Ende, der Anfang vom Ende«, brummte Lo Falke. »Zumindest etwas muss doch bewahrt werden.«

»Das Ende vom Anfang«, erwiderte La Herb mit einem Seufzer. »Alles muss sich verändern.« So weit ich zurückdenken kann, war das die fortwährende Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden.

Vor meiner Geburt, so wird erzählt, war Lo Falke eines Tages das Dorfleben leid und ging fort. Gerüchte erreichten das Dorf: Er sei auf einem Jupitermond, um nach einem Metall zu schürfen, das sich in blauen Adern durch den Fels schlängelte. Später: Er habe den Jupitersatelliten verlassen, um über ein dampfendes Meer zu segeln, auf einer Welt, wo drei Sonnen ihre Schatten auf ein Schiffsdeck warfen, das größer war als unser ganzes Dorf. Noch später: Angeblich hackte er sich an einem Ort, der so weit entfernt war, dass in den ganzjährigen Nächten keine Sterne am Himmel standen, durch eine Substanz, die sich zu giftigen Gasen zersetzte. Nachdem er sieben Jahre lang fort gewesen war, kam La Herb anscheinend zu dem Schluss, dass es an der Zeit wäre, dass er zurückkehrte. Sie verließ das Dorf und war eine Woche später wieder da – mit Lo Falke. Angeblich hatte er sich nicht weiter verändert, deshalb fragte ihn niemand, wo er gewesen sei. Aber aus der Zeit nach seiner Rückkehr stammte der stille Streit, der ein festeres Band zwischen La Herb und Lo Falke geknüpft hat als die Liebe.

»… müssen bewahren«, Lo Falke.

»… müssen ändern«, La Herb.

Für gewöhnlich gab Lo Falke nach, denn La Herb war eine belesene Frau, kultiviert und scharfsinnig; Lo Falke war in jungen Jahren ein guter Jäger und wenn nötig auch ein guter Krieger gewesen. Und er war klug genug, durch sein Handeln, wenn auch nicht durch seine Worte, einzuräumen, dass keine Krieger mehr gebraucht wurden. Doch diesmal blieb Lo Falke unnachgiebig:

»Wenn wir jemals menschliche Wesen werden wollen, ist Kommunikation entscheidend. Ich würde eher irgendeinen Kurznasenhund aufnehmen, der aus den Hügeln kommt und vierzig oder fünfzig Worte beherrscht, um uns mit Mühe und Not seine Wünsche mitzuteilen, als ein stummes Kind. Oh, was für Kämpfe die Zeit meiner Jugend gesehen hat! Als wir die Riesenspinnen zurückschlugen, oder als die Pilzwoge aus dem Dschungel heranbrandete, oder als wir mit Kalkstein und Salz die sieben Meter langen Würmer vernichteten, die sich aus dem Boden wühlten, haben wir diese Schlachten nur gewonnen, weil wir miteinander sprechen konnten, einander Anweisungen zurufen, eine Warnung brüllen oder uns im Zwielicht der Quellhöhlen Pläne zuflüstern konnten. Ja, eher würde ich einem sprechenden Hund La oder Lo verleihen!«

Jemand machte eine garstige Bemerkung: »Tja, ein Le kannst du ihr auch schlecht geben.« Die Leute kicherten. Aber die Älteren haben Übung darin, solche Respektlosigkeiten zu überhören. Ohnehin wird ein Le von niemandem beachtet. Wie dem auch sei, die Sache wurde nie geklärt. Gegen Monduntergang, als die Leute allmählich fortgingen, schlug jemand vor, das Ganze zu vertagen. Knarzend und ächzend erhoben sich die Leute. Friza, dunkel und wunderschön, spielte noch immer mit ihren Kieseln.

Friza hatte sich als Kleinkind nicht bewegt, weil sie schon gewusst hatte, wie es ging. Als ich sie im flackernden Feuerschein beobachtete (damals war ich selbst erst acht), erhielt ich den ersten Hinweis darauf, warum sie nicht sprach: Sie hob einen Kiesel auf und schleuderte ihn demjenigen, der die Bemerkung über das »Le« gemacht hatte, mit Wucht an den Kopf. Schon mit acht war sie empfindlich. Sie verfehlte ihn, und nur ich sah es. Aber ich sah auch, wie sie beim Werfen das Gesicht zu einem Knurren verzerrte, wie sie die Schultern anspannte und wie sie die Zehen krümmte – sie saß im Schneidersitz. Beide Hände lagen zu Fäusten verkrampft in ihrem Schoß. Der Stein stieg einfach vom Erdboden empor, sauste durch die Luft, verfehlte sein Ziel und verschwand klappernd im tiefhängenden Laub. Aber ich habe es gesehen: Sie hat ihn geworfen.

Eine Woche lang verbrachte ich jeden Abend bei den knatternden Fahnen am Ufer, wo sich links die Paläste drängten und das spröde Licht des warmen Herbstes über dem Hafenbecken flimmerte. DEV hat eine seltsame Richtung eingeschlagen. Als ich mich heute Abend wieder zum großen Trapez der Piazza umwandte, waren die oberen Enden der roten Fahnenmasten im Nebel verborgen. Ich setzte mich zu Füßen des nächstbesten Turms und machte mir Notizen über Lobeys Gelüste. Später ließ ich das vergehende Gold und Indigoblau der Basilika hinter mir und streifte bis weit nach Mitternacht durch die Seitengassen der Stadt. Einmal hielt ich auf einer Brücke inne, um zuzuschauen, wie das Kanalwasser unter den nächtlichen Straßenlaternen und den Wäscheleinen zwischen den dicht zusammenstehenden Mauern hindurchfloss. Ein plötzliches Kreischen ließ mich herumwirbeln: Ein halbes Dutzend jaulender Katzen jagte um meine Füße herum und rannte davon, einer braunen Ratte hinterher. Ein Schauer verknotete mir die Nerven entlang meiner Wirbelsäule. Ich sah wieder ins Wasser: Sechs Blumen – Rosen – trieben unter der Brücke hervor, krochen über das Öl. Ich beobachtete sie, bis ein Motorboot, das auf irgendeinem größeren Kanal in der Nähe dahintuckerte, Wasser an die Fundamente schwappen ließ. Ich ging über die kleinen Brücken zum Canal Grande und erwischte noch den Vaporetto zurück nach Ferovia. Der Wind frischte auf, während wir unter dem schwarzen Holzbogen der Ponti Academia hindurchtrieben; ich versuchte, die Blumen, die bösartigen Tiere in Lobeys Abenteuer einzubinden – beides passt, aber ich weiß noch nicht genau, wie. Orion überspannte das Wasser. Lichter von der Küste zitterten, als wir unter den tropfenden Steinen des Rialto hindurchfuhren, im Kanal.

Tagebuch des Autors

Venedig, Oktober 1965

Ich werde in wenigen Zeilen darlegen, wie gut Maldoror in seinen ersten Lebensjahren war, damals, als er glücklich lebte; dies ist getan. Später bemerkte er, dass er böse geboren war: unerhörtes Verhängnis!

Isidore Ducasse (Comte der Lautréamont),

Die Gesänge des Maldoror

All das als Vorgeschichte zu der Frage, warum Bummler, Klein-Jon und ich keine Ziegen mehr hüten.

Friza gesellte sich, dunkel und zweideutig, immer öfter zu uns, rannte und sprang mit Klein-Jon in einem Zweiertanz zu seinem einen Lied und meiner Musik umher, rang im Spiel mit Bummler und spazierte händchenhaltend mit mir über die dornige Wiese – wo hast du schon mal gehört, dass jemand ge-Lat oder ge-Lot wird, mit dem du Ziegen hütest oder mit dem du lachst oder zärtlich warst. All das habe ich mit Friza getan. Manchmal wandte sie sich auf einem Felsen um und starrte mich an, während die Blätter neben ihrem Gesicht zitterten. Manchmal rannte sie zwischen den Steinen hindurch auf mich zu: Inmitten ihres anmutigen Laufs und ihres Schattens zwischen den Felsen war die Bewegung ganz und gar in der Schwebe, ganz und gar real. Und entlud sich, wenn sie lachend in meinen Armen lag – der eine Laut, den sie von sich gab und den sie nur zu gern im Mund spürte.

Sie brachte mir wunderschöne Dinge. Und sie hielt Gefährliches fern. Ich glaube, das tat sie auf die gleiche Weise, wie sie den Stein geworfen hatte. Eines Tages fiel mir auf, dass einfach nichts Schlimmes geschah, nichts, das mir Schaden zufügte: keine Löwen, keine Kondorfledermäuse. Die Herde blieb beisammen; die Zicklein verliefen sich nicht und hielten sich von Felskanten fern.

»Klein-Jon, du musst heute Morgen nicht mit hochkommen.«

»Tja, Lobey, wenn du meinst …«

»Na los, bleib zu Hause.«

Also brachen Bummler, Friza und ich mit den Ziegen auf.

Zu den schönen Dingen zählten der Schwarm Albinofalken, der sich auf der Wiese niederließ. Oder die Murmeltiermutter, die uns ihre Jungen brachte, damit wie sie bestaunten.

»Bummler, es gibt einfach nicht genug Arbeit für uns alle hier. Warum suchst du dir nicht etwas anderes zu tun?«

»Aber ich komm gerne hier rauf, Lobey.«

»Friza und ich können uns um die Herde kümmern.«

»Aber es macht mir –«

»Verzieh dich, Bummler.«

Er sagte noch etwas, und ich hob einen Stein auf und holte aus. Er wirkte verwirrt, und dann stapfte er davon. Nicht zu glauben, was Bummler alles mit sich machen lässt.

Friza und ich hatten das Feld und die Herde ganz für uns. Es blieb gut und wunderschön, mit vergessenen Blumen jenseits der Hügelkuppen, wenn wir rannten. Falls es Giftschlangen gab, dann wandten sie sich als scharlachrote Bänder von uns ab, anstatt sich bissbereit zusammenzuringeln. Und ah!, die Musik, die ich spielte.

Etwas hat Friza getötet.

Sie hatte sich in einem Hain von Bummelweiden versteckt, jene Bäume, deren Äste noch weiter herabhängen als die von Trauerweiden, und ich suchte sie und rief nach ihr und grinste – sie kreischte. Das ist der einzige Laut, den ich sie je habe ausstoßen hören, außer Gelächter. Die Ziegen begannen zu blöken.

Ich fand sie unter einem Baum, das Gesicht im Dreck.

Während die Ziegen heiser meckerten, zerfiel die Wiese in ihre Einzelteile. Ich schwieg, verwirrt, verblüfft über das Ausmaß meiner Verzweiflung.

Ich trug sie ins Dorf. Ich erinnere mich noch an das Gesicht von La Herb, als ich mit dem schlaffen Leib in den Armen auf den Dorfplatz trat.

»Lobey, was um alles in der Welt … Wie ist sie … O nein! Lobey, nein!«

Also übernahmen Bummler und Klein-Jon wieder die Herde. Ich setzte mich neben den Eingang der Quellhöhle, schärfte meine Klinge, kaute auf meinen Nägeln, schlief und dachte nach, für mich allein auf dem flachen Fels. Wo wir begonnen haben.

Einmal kam Bummler, um mit mir zu sprechen.

»He, Lobey, hilf uns mit den Ziegen. Die Löwen sind wieder da. Nicht viele, aber wir könnten dich trotzdem gebrauchen.« Er kauerte vor mir und überragte mich dabei noch immer um dreißig Zentimeter, schüttelte den Kopf. »Armer Lobey.« Er strich mir mit den haarigen Fingern über den Schädel. »Wir brauchen dich. Du brauchst uns. Hilfst du uns, die zwei fehlenden Zicklein einzufangen?«

»Hau ab.«

»Armer Lobey.« Aber er ging fort.

Später kam Klein-Jon. Er stand eine Weile herum und überlegte, was er sagen sollte. Als er es schließlich wusste, musste er zuerst hinter einen Busch gehen, und dann war es ihm peinlich, und er kam nicht zurück.

Auch Lo Falke kam. »Komm jagen, Lo Lobey. Eine ganzes Stück weiter südlich wurde ein Bulle gesichtet. Mit Hörnern so lang wie dein Arm, heißt es.«

»Ich fühle mich heute ziemlich funktionsunfähig«, sagte ich. Lo Falke gegenüber sollte man über so etwas eigentlich keine Witze machen. Er zog sich grummelnd zurück. Aber im Moment konnte ich sein altmodisches Gebaren einfach nicht gebrauchen.

Als La Herb zu mir kam, war das allerdings anders. Wie gesagt, sie ist sehr schlau und gelehrt. Sie setzte sich mit einem Buch auf die andere Seite des flachen Felsens und beachtete mich eine Stunde lang nicht. Bis ich sauer wurde. »Was machst du hier?«, fragte ich schließlich.

»Wahrscheinlich das Gleiche wie du.«

»Und das wäre?«

Sie sah mich ernst an. »Sag du es mir doch.«

Ich wandte mich wieder meiner Klinge zu. »Ich schärfe meine Machete.«

»Ich schärfe meinen Verstand«, sagte sie. »Es gibt etwas zu tun, für das beide geschärft sein müssen.«

»Hä?«

»Ist das ein unartikulierter Laut, um zu fragen, worum es geht?«

»Hä?«, machte ich erneut. »Ja. Worum geht es?«

»Darum, das zu töten, was Friza getötet hat.« Sie klappte ihr Buch zu. »Hilfst du mir?«

Ich beugte mich vor, Hände und Füße ineinander verschlungen, öffnete den Mund – und dann verschwamm La Herb hinter einem Schleier von Tränen. Ich weinte. Nach all der Zeit überraschte mich das. Ich legte die Stirn auf den Fels und flennte.

»Lo Lobey«, sagte sie, so wie Lo Falke es gesagt hatte, nur anders. Dann strich sie mir übers Haar, wie Bummler es getan hatte. Nur anders. Als ich mich wieder im Griff hatte, spürte ich sowohl ihr Mitgefühl als auch ihre Scham. Wie die von Jon; anders.

Ich lag auf der Seite, schlang Hände und Füße umeinander und schluchzte in meine innere Leere hinein. La Herb rieb mir die Schulter, die verformte Hüfte, öffnete mich mit Sanftmut und Worten:

»Lass uns über Mythologie sprechen, Lobey. Oder du hörst einfach zu. Wir hatten ganz schön damit zu tun, die Vernunftprinzipien dieser Welt zu übernehmen. Und die Unvernunftprinzipien stellen ein ebenso großes Problem dar. Erinnerst du dich an die Legende von den Beatles? Du weißt sicher noch, dass der Beatle Ringo seine Liebste verließ, Maureen, obwohl sie so zärtlich zu ihm war. Er war der eine Beatle, der nicht sang, so heißt es in der ältesten Fassung der Legende. Nach einem harten Arbeitstag wurden er und die anderen Beatles von kreischenden Mädchen in Stücke gerissen, und er und die übrigen Beatles kehrten, endlich eins geworden, zum großen Rock und zum großen Roll zurück.« Ich legte den Kopf in La Herbs Schoß. Sie fuhr fort. »Tja, dieser Mythos ist eine Version einer weit älteren Geschichte, die weniger bekannt ist. Es gibt keine 45er oder 33er aus der Zeit dieser älteren Geschichte. Nur wenige Versionen davon sind niedergeschrieben, und die jungen Leute verlieren zunehmend das Interesse am Lesen. In dieser älteren Geschichte hieß Ringo Orpheus. Auch er wurde von kreischenden Mädchen in Stücke gerissen. Aber die Einzelheiten lauten anders. Er verlor seine Liebste – in dieser Version Eurydike –, und sie kam direkt zum großen Rock und zum großen Roll, und Orpheus musste sich aufmachen, um sie zurückzuholen. Er ging singend dorthin, denn in dieser Version war Orpheus der größte Sänger und nicht der Schweigsame. In Mythen verwandeln sich die Dinge, wenn eine Version die andere überlagert, immer in ihr Gegenteil.«

Ich sagte: »Wie konnte er in den großen Rock und den großen Roll gehen? Das ist der ganze Tod und das ganze Leben.«

»Er tat es.«

»Hat er sie zurückgeholt?«

»Nein.«

Ich wandte den Blick von La Herbs faltigem Gesicht ab und drehte den Kopf in ihrem Schoß, sodass ich die Bäume sah. »Dann hat er gelogen. In Wirklichkeit ist er nicht dort hinabgestiegen. Wahrscheinlich ist er für ein Weilchen in den Wald gegangen und hat sich dann, als er zurückkam, irgendeine Geschichte ausgedacht.«

»Vielleicht«, sagte La Herb.

Ich blickte wieder auf. »Er wollte sie zurückhaben«, sagte ich. »Ich weiß, dass er sie zurückhaben wollte. Aber wenn er irgendwo gewesen wäre, wo auch nur die geringste Chance bestanden hätte, sie zu finden, wäre er nicht ohne sie zurückgekehrt. Daher weiß ich, dass er gelogen haben muss. Zumindest mit der Behauptung, in den großen Rock und den großen Roll gegangen zu sein.«

»Das Leben als Ganzes ist ein Rhythmus«, sagte sie, während ich mich aufsetzte. »Der Tod als Ganzes ist ein Innehalten im Rhythmus, eine Synkope, bevor das Leben weitergeht.« Sie nahm meine Machete in die Hand. »Spiel etwas.« Sie hielt mir den Griff hin. »Mach Musik.«

Ich setzte die Klinge an den Mund, drehte mich auf den Rücken, schmiegte mich an die gleißende, gefährliche Klinge, lockte und leckte mit der Zunge die Töne hervor. Eigentlich wollte ich das nicht, aber sie nahmen in der Wölbung meiner Zunge Gestalt an, und mein Atem trug sie in das Messer.