Badetage - Nicolas Cenway - E-Book

Badetage E-Book

Cenway Nicolas

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Beschreibung

Der Tod, der nach dem Sterben kommt. Auf der Insel Galveston (Houston, Texas) wird an einem 30. Mai ein Ehepaar hingerichtet. Für diesen Mord wird eine deutsche Medizinstudentin zum Tode verurteilt. Genau ein Jahr später, wieder an einem 30. Mai, erfolgt dieselbe Art der Hinrichtung, diesmal ein Paar am Wörther See. Anwalt Tom Wolfert hat eine vielversprechende Zukunft vor sich: Eine luxuriöse Wohnung, den beruflichen Aufstieg und eine feste Beziehung. Als jedoch seine Schwester Jenny in Texas zum Tode verurteilt wird, stellt sich seine ganze Welt auf den Kopf. Sie ist unschuldig – dessen ist sich Tom sicher und begibt sich auf die Suche nach dem wahren Mörder. Doch die Geheimnisse, die er aufdeckt, katapultieren ihn mitten in ein Netzwerk aus Kindesmissbrauch, Gewalt, Erpressung – und mehreren Milliarden Dollar. Als wäre das nicht genug, begegnet er auch noch der mysteriösen Lena, die ihm auf Anhieb den Kopf verdreht. Mit fatalen Folgen.

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Badetage

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2017

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95771-134-2

eISBN: 978-3-95771-135-9

Nicolas Cenway

Badetage

Der Tod, der nach dem Sterben kommt

Thriller

IMPRESSUM

Badetage

Autor

Nicolas Cenway

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia

Covergestaltung

Marti O´Sigma

Coverbild

Marti O´Sigma

Lektorat

Marie Sophie Rosche, Yolanda Hellmanns Carvajal, Vanessa Weiskopf

Druck und Bindung

Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

April 2017

ISBN: 978-3-95771-134-2

eISBN: 978-3-95771-135-9

Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden.

Etwaige Namensähnlichkeiten sind reiner Zufall.

Für die Reinigung des Körpers bedienen sich die Menschen der Kraft des Wassers. Für die Reinigung der Seele bedienen sich die Menschen ihres Glaubens, den Glauben an ein überirdisches Wesen, den Glauben an eine schützende Gottheit, den Glauben an die eigene Zukunft, den Glauben, die Hoffnung nie zu verlieren.

Diese, auf Tatsachen beruhende, Geschichte taucht tief hinab in das Schicksal und die Seelen jener Menschen, die mit ihrem Glauben auch ihre Hoffnung verloren haben. Sie nutzen das Element Wasser nicht zum Reinigen, sondern ertränken darin die beschmutzten Körper ihrer Opfer und die verunreinigte Seele ihres verlorenen Ichs.

1

Tom Wolfert betrachtet sich im Spiegel. Das dezente und etwas süffisante Lächeln, das ihm dort begegnet, erweckt den Eindruck, mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Sunnyboygesicht, markantes Kinn, energische Züge, Typ Selfmademan, präsent und passend zu seinem Beruf: Deutschlands jüngster und erfolgreichster Staranwalt. Aufgrund seiner Abstammung vom Starnberger See nennen ihn viele den »Seewolf«. Ein Wolf auch im Gerichtssaal, vor dem die Robben und die Roben zittern. Ein vom Segeln in der Sonne und peitschender Seestürme gegerbtes Gesicht nickt stolz zurück. Die Mischung aus dunkel- und mittelblonden Haaren, links gescheitelt, rechts zu einer Mähne über die Stirn geschwungen, bedeckt seine von Sonne und Wetter gebräunte Haut, duftend nach frischem Wind, der im Tiefflug den Atem der Wellen aufnimmt und an die Haut der Anwohner weitergibt. Vitalität und Lebenskraft verleiten ihn dazu, sich anerkennend auf die eigene Schulter zu klopfen. Tom verlässt zielstrebig das Badezimmer, das dem Spiegelsaal eines Schlosses aus der Renaissance in nichts nachsteht. Die Deckenstrahler werfen ihr warmes, kristallenes Licht auf seine sportliche, drahtige Figur. Durchtrainiert, kraftvoll, topfit – geistig und körperlich. Kein Typ, der einen Anzug und eine Krawatte braucht, um seinem Auftreten Autorität und Respekt zu verleihen.

Seine Karriere als Strafverteidiger tauschte er gegen eine erfolgreichere ein. Als spezialisierter Wirtschaftsanwalt berät er die Größten der Großen, zimmert für sie internationale Verträge und unterstützt die Vorstände der von Skandalen gepeinigten DAX-Unternehmen in kniffligen juristischen Angelegenheiten. Betriebswirtschaft, Jura, internationales Steuerrecht. All diese Fächer hatte er in der Hälfte der Normzeit absolviert und war bei der renommierten Kanzlei Sollfrank in Starnberg als Juniorpartner eingestiegen. Sollfrank und Wolfert – binnen kurzer Zeit die Nobeladresse unter den Anwaltskanzleien der Münchener Schickeria und der deutschen Hochfinanz. Sollfrank übernahm die Schickeria, Tom, die Hochfinanz. Nicht immer war das auseinanderzuhalten.

Ein kurzer Blick auf seine Rolex verrät, dass er sich nicht mehr allzu viel Zeit erlauben darf. Vielleicht zehn Minuten. Addiert er die notorische Unpünktlichkeit seiner Freundin Sarah dazu, ver­bleibt ihm eine knappe halbe Stunde. Genug Zeit, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Sarah würde sicherlich den Rest des Abends beschlagnahmen. Und die Nacht? Außerdem würde sie ihn erneut darauf ansprechen, vom Angebot ihres Vaters Gebrauch zu machen: Vorstandsmitglied in der Seewald AG zu werden, mit einem siebenstelligen Jahresbudget. Plus Boni. Toms Konflikt: Sollte er wirklich seinen Partner im Stich lassen und ein großer Wirtschaftsboss werden? Einer mit unmoralischem Einkommen und dem dazu passenden Führungsstil? Moral Hazard Goodbye! Aber durfte er die Chance seines Lebens einfach von der Tischkante der High Society fegen?

Morgen wäre die Zeitung veraltet. Konflikt verdrängen – und sich von der Presse die Banalitäten des Lebens vor Augen führen lassen. Das muss ablenken. Tom wählt dafür die Terrasse. Von hier aus liegt ihm das Panorama, das er so liebt, zu Füßen. Der Blick auf den Starnberger See. Der See, der ihm seinen Spitznamen in der Branche eingebracht hat: Thomas Wolfert – Seewolf.

Tom atmet tief durch. Seearoma. Malerische Landschaft, die Wohlstand und das »Ich-habe-es-geschafft«-Gefühl vermittelt. I’m simply the best, better than all the rest! Die Schlagzeilen der unhandlichen Tageszeitung buhlen um seine Aufmerksamkeit. Aber nichts interessiert ihn wirklich.

Plötzlich springt ihm ein Name ins Auge: »Jennifer W.«

Die ihm eigene Art, das Zeilenfressen zu überspringen, lässt ihn am Schluss des Artikels beginnen. Doch diesmal liest Tom die Zeilen ein zweites Mal. Er versucht, seinen Verdacht abzuschütteln. Jennifer W.? Nein, sicher nicht die W., an die er denkt. Warum liest er das überhaupt? Sein nachdenklicher Blick ruht auf dem See. Die Wellen schwappen aufgeregt gegen das Grundstücksufer. Sie trommeln in seinem Unterbewusstsein.

Es klingelt. Sarah? Überpünktlich? Tom springt aus dem Korbsessel und verdrängt den Artikel, der sein Leben aus der Bahn werfen wird.

2

1 Jahr zuvor – Badetag

Mike und Ann Foster genossen die Frühjahrssonne auf Galveston Island, achtzig Kilometer südöstlich von Houston, Texas. Die weiße Villa der Fosters, wegen der Überflutungsgefahr in Strandnähe auf Stelzen gebaut, dennoch unverkennbar dem Weißen Haus in Washington nachgebildet, thront direkt am Golf von Mexiko, unterhalb der Stadt Galveston, am Ende von Jamaica Beach. Wie ein übermächtiges Stück Treibholz erstreckt sich die Insel vor der Küste unterhalb von Santa Fe. Allerdings ist dieses Treibholz aus einer Sandbank entstanden.

Die Stadt Galveston wurde am 8. September 1900 von einem Hurrikan heimgesucht. Über achttausend Menschenleben, ein Fünftel der Bevölkerung, waren zu beklagen. Die Stadt wurde erhöht wieder aufgebaut und mit einer Schutzmauer umgeben, verlor allerdings ihre herausragende Bedeutung im Seeverkehr. Am 13. September 2008 um 2:10 Uhr Ortszeit spülte Hurrikan Ike fünf Meter hohe Wellen über die Dämme und zerstörte die größte Attraktion der Stadt, die neunundsiebzig Jahre alte Tanz- und Spielhalle Balinese Ballroom, in der schon Frank Sinatra aufgetreten war.

Die Fosters hatten ihr Domizil auf der Insel, die als Naherholungsgebiet den Einwohnern der Region Houston dient, vor anderthalb Jahren, kurz nach dem Hurrikan, bezogen und fuhren nur gelegentlich nach Houston, um dort ihren geschäftlichen Pflichten nachzugehen. Von dem mittlerweile bedeutenden Tourismus der Insel – Moody Gardens und das Vergnügungszentrum Schlitterbahn Water Park – profitierte Mike Foster nur indirekt. Oft kamen Kunden in das weiße Haus am Golf, die sich als Touristen tarnten und damit einen ebenso unscheinbaren Eindruck hinterließen wie Mike und Ann selbst. Houston ist mit über zwei Millionen Menschen, die größte Stadt in Texas, weltberühmt für ihre Flugtechnikindustrie und ihr weltmarktführendes Zentrum für Zubehör und Förderung von Öl, sechstgrößter Hafen der Welt, in den USA die Nummer eins in der Frachtabwicklung ausländischer Waren.

Die Fosters fanden als Einwanderer in Houston eine neue Heimat. Zehn Jahre lebten sie nunmehr in den Staaten, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. In jenem Land, das auch für sie keine Grenzen aufzeigte. Trotz ihres Reichtums verhielten sie sich so unauffällig wie möglich und scheuten das Licht der Öffentlichkeit. Davon zeugte auch die hohe Mauer, die das weiße Haus und den angrenzenden Gartenbungalow vor Einblicken schützte.

Der vorletzte Tag im Mai, ein Sonntag, erlaubte es, einen Badetag im Golf zu planen. Vierzig Tage zuvor, am 20. April, war es zu einer Explosion auf der Ölplattform Deepwater Horizon gekommen. Galveston Island war davon bis zu diesem Tag nicht betroffen und die Behörden rechneten nicht damit, dass der Ölteppich die Strände in diesem Teil der USA erreichen könnte. Fast 30 Grad Außentemperatur und der 24 Grad warme Golfstrom luden zum Baden ein. Mike und Ann streiften ihre Kleidung ab und legten die wenigen Meter zum hauseigenen Badestrand zurück. Dort sonnte sich bereits Jenny, die Studentin aus Deutschland, die im Rahmen ihres Medizinstudiums ein Auslandspraktikum in Houston absolvierte. Houston, der Sitz des weltweit bekannten Texas Medical Center, das die größte Konzentration von Institutionen für Forschung und Gesundheitsfürsorge beinhaltet, sollte für das nächste halbe Jahr Jennys Heimat werden. Zuvor boten ihr die Fosters die Gelegenheit, sich auf der Insel drei Wochen Auszeit zu nehmen. Studienurlaub.

Allerdings bestanden Mike und Ann jetzt darauf, dass Jenny sich ebenfalls ihrer Kleidung entledigen sollte. Mike untermauerte diese Forderung, indem er überhastet an ihrem Bikinioberteil herumnestelte. Jenny war bestimmt nicht prüde, dennoch beschlich sie ein mulmiges Gefühl, als sie schließlich das Bikinihöschen über ihre sinnlichen Schenkel streifte und das bereits aufgeknöpfte Oberteil ablegte. Ihre festen, mittelgroßen Brüste waren nahtlos braun, da sie sich an einigen Nachmittagen getraut hatte, ein Oben-ohne Sonnenbad zu nehmen. Allerdings nur dann, wenn sie sich unbeobachtet fühlte.

Mike musterte das Mädchen mit den schulterlangen dunkelbraunen Haaren und den straffen glatten Gesichtszügen ungehemmt. Dabei interessierte er sich wenig für ihre dunklen Augen. Knackige Figur, etwas Babyspeck auf den Hüften – genau das Richtige für einen Mittfünfziger. Jenny wich seinem Blick aus und überging den Klaps, den er ihr auf den nackten Hintern gab. »Komm, schwimmen!«

Mike und Ann rannten ausgelassen im flachen Wasser hin und her und winkten Jenny zu, ihnen zu folgen. Jenny wollte den Schutz des Wassers nutzen, ihre Blöße bedecken. Dazu musste sie weit hinaus ins Meer, denn der Golf von Mexiko verläuft bei Galveston sehr flach. Sie musste weit in den Ozean hinauslaufen, bevor die Wellen ihren Hals umspülten. Nein, sie schämte sich nicht wegen ihrer Nacktheit, es war wohl mehr ein Instinkt, der sie warnte.

3

Sarah überpünktlich – Tom erwägt einen Eintrag in seinem imaginären Guinness Buch der Rekorde. Wie immer sprudeln ihr die Worte aus dem Mund.

»Hallo, Wolfertinger!«

Er hasst es, dieses Wolfertinger. Tom schweigt, lächelt und lässt den Kuss über sich ergehen. Die weißblonde Mähne duftet nach Lavendel und Puder, sie verströmt Luxus. Puderschnalli! So hat er sie insgeheim bezeichnet, als sie sich vor einem halben Jahr kennenlernten.

Sie quasselt, was der schmale Schnatterschnabel hergibt. Erzählt von irrsinnigen Problemen, die eine junge Frau erfindet, wenn sie ansonsten keine Sorgen hat.

»Lauter Spastis unterwegs, ich habe in München eine halbe Stunde rumkutschen müssen, bis ich einen Parkplatz gefunden habe.«

Ihre Worte bezeugen, welch unlösbare Konflikte das Leben einer Dreißigjährigen erschweren.

Nachdem Tom erfährt, welche Boutiquen sie durchwühlt und wie viele armselige Verkäuferinnen sie gefoltert hat, wendet sie sich seiner Schlabberhose zu.

»Wie läufst du eigentlich rum, Thomas Wolfert?«

Tom verzichtet auf eine Rechtfertigung und lässt alles über sich ergehen. Zuerst zieht sie ihn aus, dann streift sie die Designerklamotten ab und zerrt ihn ins Schlafzimmer. Sie beteuert stets, er sei ein guter Liebhaber. Heute ist das anders. Tom erfüllt die Pflicht, auf die Kür muss sie vergebens warten. Schließlich liegt sie schmollend neben ihm.

»Was ist los, Tom?«

»Nichts. Was soll sein?«

»Na, du hast doch was. Bist anders als sonst.«

»War ein schwerer Tag. Außerdem habe ich vorhin einen Artikel gelesen, der mir zu denken gibt, obwohl ich weiß, dass er mich sicher nicht betrifft.«

Sarah hört wie immer nicht zu, wechselt einfach das Thema.

»Hast du schon mit Fritz gesprochen?«

Toms Blut schießt unter die Schädeldecke, flutet sein Gehirn. Er braucht eine triftige Ausrede, findet aber keine bessere als die, dass sein Partner, Fritz Sollfrank, sich derzeit wegen eines Mandanten in Hamburg aufhalte. Daher hatte sich noch keine Gelegenheit für das geforderte Gespräch ergeben.

»Mein Vater wird dich demnächst einladen und alles mit dir besprechen. Wie schnell kannst du überhaupt aus der Kanzlei raus?«

Wie schnell? Tom kann diese Frage nicht beantworten. Da ist es wieder, dieses Zermartern: Ich tu’s, ich tu’s nicht! Vorstand der Seewald AG, eine riesige Chance. Einmalig. Kann man das ausschlagen?

Andererseits Fritz Sollfrank, Partner und Freund, Mäzen und Mentor während seines Studiums. Siebenundfünfzig Jahre alt und bereit, ihm eines Tages die Kanzlei zu überlassen. Würde Fritz das verstehen? Fritz hatte immer Verständnis für ihn gezeigt. Doch, er muss es nachvollziehen können, schließlich darf die Karriere mit sechsunddreißig nicht beendet sein. Und ein Verbleib in der Kanzlei – das wäre ein Endpunkt, ein Punkt, der keinen Freiraum für weitere Ziele, für neue Träume, zuließe. Tom verspürt den Drang, eine spontane Entscheidung zu treffen.

»Sag deinem Vater, ich werde sein Angebot annehmen.«

Sarahs schmale Nasenflügel scheinen leicht zu zittern. Das hat er schon mehrfach beobachtet, wenn sie aufgeregt war. Sie hat vergessen, dass der Sex an diesem Freitag nur eine Pflicht war, vergessen, dass er von einem Zeitungsartikel gesprochen hatte. Sarah wirkt happy. Tom dagegen grübelt und kann nicht aufhören, über den Artikel und den Namen Jennifer W. nachzudenken.

4

1 Jahr zuvor – Badetag

Nach dem Bad suchte Ann den Halbschatten hinter einem der Strandkörbe auf und schlief dort ein. Das Schwimmen hatte sie ermüdet. Sie lag auf dem Rücken, eine Isomatte schützte sie vor dem heißen Sand. Ihre mollige Figur hob sich wie eine Sandburg ab. Trotz vieler Sonnentage war ihre Haut bleich und matt geblieben, die Schwimmreife um ihre Hüften und die üppigen Schenkel waren gezeichnet von Löchern und Kratern, die nicht als Folge von Hagelschlag zu deuten waren. Abstoßend.

Jenny fühlte sich unwohl, schlüpfte rasch – gefolgt von Mikes Blicken – in ihren Bikini, der die Nässe ihrer Haut aufsog. Sie wirkte damit noch reizvoller. Das jedenfalls stand in Mikes Augen geschrieben.

»Ich muss noch ein bisschen für die Uni arbeiten«, entschuldigte sie sich und lief hinüber zu dem kleinen Bungalow, der ihr die letzten beiden Wochen Schutz vor Mikes Nachstellungen bot.

Mike stand wenig später – nackt, wie bereits zuvor – vor ihr. Geballte hundertzehn Kilo, 1,92 m groß – eine Figur wie ein fetter Schimpanse. Fehlte nur, dass er sich mit beiden Fäusten auf die Brust trommelte.

Seinen unverhohlen dreinblickenden Augen konnte sie entnehmen, dass es kein Entrinnen gab. Seine stählernen Muskeln spannten sich an, der riesige Bizeps ließ keinen Zweifel daran, wer hier der Stärkere sein würde.

»Du willst es doch auch, Jenny Mädchen.« Diese Wörter schossen wie scharfe Splitter aus den wulstigen Lippen und schnitten Wunden in ihre junge Seele. Nach diesen Worten deutete er nach unten auf sein monströses Geschlecht.

Jenny schüttelte verängstigt den Kopf. Ihre Knie zitterten, sie konnte kaum ihre Stimme finden.

»Nein, Mr Foster, ich will das nicht.«

»Nenn mich nicht immer Mr Foster«, zischte er sie an. Mike Fosters graue Stoppelhaare auf dem schmalen Kopf sahen aus wie einem Igel nachgebildet, einem Kurzstacheligel. Auf seinem breiten Nacken und in Verbindung mit seinem Schimpansenkörper sah er bizarr aus.

Mike trat zwei Schritte auf sie zu. Jenny stand vor der Glasschiebetür und konnte nicht rechtzeitig ausweichen. Seine wulstige Hand fuhr in ihr Höschen und sie spürte zwei seiner fleischigen Finger, die lüstern die Pforte ihrer Tabuzone teilten, um sich dann in ihr zu vergraben, während seine aufgeblasenen Lippen die Luftzufuhr über Jennys Mund unterbrachen. Gleichzeitig umklammerte er ihren Körper mit einem seiner muskulösen Fangarme. Ein Korsett, das sie einschnürte und jede Bewegung nutzlos machte.

Nachdem Mike sein Sperma in ihrer Scheide und auf dem hellen Veloursteppich verströmt hatte, riss er sie hoch, schleppte sie in das angrenzende Schlafzimmer und nahm sie dort erneut, ohne ihr eine Chance auf Widerstand zu geben.

Als er von ihr ließ, blieb Jenny liegen, zog die Decke als Schutzwall über sich und presste die Augenlider zusammen. Sie vermochte sich nicht mehr zu bewegen, wagte keinen Laut von sich zu geben. Sie brauchte eine Stunde, bis sie sich dazu entschloss, Lory anzurufen. Lory war aus Houston und hatte Jahre zuvor als Au-pair-Mädchen die deutsche Sprache in ihrem Elternhaus erlernt. Die beiden gleichaltrigen Mädchen waren damals Freundinnen geworden. Lorys Vater gehörte zu den gefragten Forschern im Texas Medical Center, Jennys Vater, Inhaber und Chefarzt der renommiertesten deutschen Privatklinik am Starnberger See. Das verband die beiden Teenager. Ohne diese Verbindung hätte Jenny niemals ein Praktikum in Houston bekommen.

Lory war nicht erreichbar. Als es dunkel wurde, probierte es Jenny erneut. Lorys helle Stimme meldete sich: »Hi, Jenny.«

Jennifer Wolfert schluckte, versuchte, den Kloß in ihrer Kehle weg zu husten. Dann erzählte sie Lory unter Tränen, was passiert war. Dieser Anruf war Jennys erster Fehler und einer der folgenschwersten, den sie begehen konnte.

Der Abend war längst hereingebrochen. Mike und Ann betraten zusammen den Wellnesstempel im Nordflügel der Villa. Der Whirlpool sprudelte, Verwirbelungen und Schaumkronen luden zum Prickelbad ein. Das Philadelphia Harmonie Orchester intonierte monumental Haydns Sinfonie Nr. 94 in G-Dur, die Sinfonie mit dem Paukenschlag. Die Beleuchtung markierte dazu – im Takt der Musik – bizarre Schattierungen auf den nackten Körpern, die sich in der überdimensionalen Poolwanne räkelten. Mike war noch nicht satt an diesem Tag. Ann gab sich ihm zweimal hin und je mehr sie in wilder Ektase schrie, desto wilder wurde ihr unersättlicher Gatte. Erst zwanzig Minuten später saß Mike erschöpft auf dem Rand des Whirlpools. Sein Penis lag schlaff auf seinem Schenkel, wie ein Seehund auf einem trockenen Felsen. Er ließ sich zurück in die Wanne gleiten, drängte seinen ausgelaugten Körper an den seiner Frau und schloss die Augen. Wohldosierte Fontänen aus den verschiedenen Düsen massierten seine und ihre ausgelaugten Muskeln, die Musik führte sie hinab in die Tiefen der Entspannung. Ann dachte für einen Augenblick an das Datum: 30. Mai 2010. Eine bedeutsame Zahl, nicht für Ann und nicht für Mike. Bedeutsam allerdings für die Mörder, die sich im Schatten der Sauna verborgen hielten und abwarteten, bis das Ehepaar Foster dem Glauben verfiel, relaxt ein Leben in Luxus und Reichtum auf ewige Zeit genießen zu können.

Die Sinfonie mit dem Paukenschlag übertönte alle Geräusche, die von den beiden Gestalten auf dem Weg zum Pool verursacht wurden. Dennoch – menschlicher Instinkt! Mike und Ann schlugen fast gleichzeitig die Augen auf, setzten zu einem gemeinsamen Schrei des Todes an, vermischt mit Haydns Paukenschlag und verwirbelt vom Spiel des Wassers, das sich im selben Augenblick rot einfärbte. Mike und Ann erkannten, wer sich da über sie beugte und blickten ein letztes Mal in Augen voller Wut, die ihnen so vertraut waren. Doch in diesem Augenblick begleiteten diese Augen im Einklang mit dem Andante der Sinfonie den unausweichlichen Tod zweier Menschen, deren Badetag in einem Blutbad endete.

5

Die Schreie der Fosters durchdrangen die Mauern des weißen Hauses, und bevor sie das offene Meer erreichten, rissen sie Jenny aus ihrer Lethargie. Sie lag immer noch regungslos auf ihrem Bett, hatte sich noch nicht dazu durchringen können zu duschen oder sich wenigstens zu waschen. Sie vergaß für einige Sekunden die Schmerzen zwischen ihren Beinen und rannte los. Über die offene Terrassentür drang sie in das Haus ein, hastete durch die Räume, bis sie das Bad erreichte. Fast wäre sie auf das Skalpell getreten, das funkelnd und blank poliert vor dem Whirlpool lag. Sie bückte sich, hob das kalte blutverschmierte Metall auf und erstarrte beim Anblick, der sich ihr bot. Sie ließ die Mordwaffe fallen und stürmte zurück in den lichtdurchfluteten Wohnraum. Sie fand eines der Mobiltelefone, vergaß, dass sie nicht wusste, welche Nummer sie wählen sollte und stürmte zurück in ihr eigenes Schlafzimmer. Dort lag ihr Handy. Im Speicher fand sie die Nummer des Rettungsdienstes, die sie nach ihrer Ankunft bei den Fosters abgespeichert hatte: 911.

Ihr Englisch war gut, aber sie stotterte zunächst einige deutsche Worte, musste sich von dem Teilnehmer in der Zentrale beruhigen lassen, bevor sie in der Lage war, ihre Entdeckung und die Adresse durchzugeben.

Als die Polizei und der Notarzt mit der Ambulanz im Schlepptau endlich eintrafen, wagte es Jenny nicht, ihr Bett zu verlassen. Sie weinte und in diesem Zustand fand sie ein stämmiger Polizist, der seine Kollegen verständigte.

Es dauerte über zwei Stunden, dann verhörten sie zwei weibliche Beamte. Dankbar erzählte sie, was sich an diesem Tag ereignet hatte. Die ältere Beamtin nahm sie mit und mit ihr alle Beweisstücke, die gegen Jenny sprachen: Das Skalpell mit ihren Fingerabdrücken, ihr Handy, mit dem sie Lory Bowman, ihre Freundin, angerufen und der sie von der Vergewaltigung erzählt hatte. Jennifer Wolfert hatte ein glasklares Motiv, ihre Fingerabdrücke waren die einzigen auf der Tatwaffe, die gynäkologische Untersuchung und der DNA Abgleich des Spermas ihres Peinigers bewiesen, dass sie von ihm vergewaltigt wurde, untermauert durch die Verletzungen ihrer Genitalien.

Lory Bowman wurde bereits einen Tag später in das Galveston County Justice Center beordert und von der Staatsanwaltschaft verhört. Sie gab zu Protokoll: »Jenny hat gesagt, sie wird das Schwein abstechen.«

Staatsanwalt Phillip Decker stellte Lory die entscheidende Frage: »Können Sie das vor Gericht beschwören?«

Lory ließ sich für ihre Antwort auf diese Frage Zeit. Freundin gegen Rechtsempfinden. Bauch gegen Gewissen. Gefühl gegen Verstand. Dilemma gegen Klarheit. Schließlich nickte sie und ihre Lippen gaben ein verhaltenes »Ja« frei.

Der Staatsanwalt sah ein schnelles Urteil in greifbarer Nähe. Alle weiteren Recherchen zur Entlastung legte er nach dieser Aussage ad acta. Eine vermeintliche lückenlose Schuldannahme, keine Löcher, die zu einer Unschuldsvermutung hätten führen müssen. Ungereimtheiten, die die Ermittler erkannten, wurde von Decker ignoriert.

Die kriminaltechnische Untersuchung, die Spurensicherung, die Verhöre, die Aussage Lorys, die Tatsache, dass die mutmaßliche Täterin an Atropin herankommen konnte und zudem damit umzugehen wusste, all diese Fakten ergaben rasch, dass nur eine Person als Mörder in Frage kam: Jennifer Wolfert.

6

Sarah ist noch in der Nacht gefahren und Tom beschließt, den Samstag nicht in seinem Büro zu verbringen. Zu schön ist das Wetter. Der See bereitet sich auf den Sommer vor, auch wenn der Kalender erst den 21. Mai anzeigt.

Tom nimmt die Zeitung mit dem Artikel, der ihm nicht aus dem Kopf geht, in die Hand. Oben rechts steht das Datum – die Zeitung ist eine Woche alt. Er nippt an dem starken Kaffee, den er sich – besser gesagt, seine Maschine – gebraut hat, und will die alte Zeitung schon wegwerfen, als das Telefon klingelt.

Es ist die Mailbox. Papa Ronald Wolfert bittet um Rückruf. Wolfert! Der Artikel! Jennifer W.! Tom beschließt, diese Passage nochmals zu suchen, zerknittert die Seiten beim Durchblättern, bis er die gewünschten Zeilen entdeckt. Er liest sie nochmals aufmerksam durch.

Der Journalist berichtet, wie mit der Todesstrafe in den USA und in den einzelnen Bundesstaaten verfahren wird. Das zuletzt beschriebene Bundesland ist Texas.

Seit 1976 führt Texas mit vierhundert Hinrichtungen die Liste vollstreckter Todesurteile an. Das seien, so schrieb der Verfasser, mehr Todesurteile als in den nächsten sechs vollstreckenden Bundesstaaten zusammen. Ursache sei nicht nur die Zahl der verhängten Urteile, sondern auch die Tatsache, dass die beiden für Texas zuständigen Berufungsgerichte die Todesurteile nur in drei Prozent der von ihnen behandelten Fälle aufhoben. Die Chance, dass Todesurteile von einem Staats- oder Bundesgericht aufgehoben würden, gab der Journalist mit 68 Prozent an.

Im Verlauf des Artikels erfährt Tom, dass Texas seit dem Beginn des Jahres 2007 zwei Drittel aller Exekutionen in den USA vornahm.

Das Ende des Artikels beschreibt das jüngste texanische Todesurteil. Auf Galveston Island wurde ein Ehepaar ermordet und anschließend verstümmelt. Die Art dieser Verstümmelung ließ auf fundierte Anatomiekenntnisse schließen. Angeklagt war in diesem Zusammenhang die Medizinstudentin Jennifer W. aus Deutschland. Einen Tag vor ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag wurde das Urteil gesprochen. Die Geschworenen befanden sie für schuldig.

Das Urteil erging im Namen des amerikanischen und des texanischen Volkes: Verbüßung einer zwölfjährigen Strafe und anschließend die Vollstreckung des Todesurteils durch die berüchtigte Injektionsspritze. Der Tod von Mike und Ann Foster, so lautet die Begründung, sei aus niederen Beweggründen heimtückisch und äußerst bestialisch durchgeführt worden. Die Opfer wurden zunächst mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt. Anschließend habe Jennifer W. den Opfern eine Überdosis Atropin, an das sie als Medizinstudentin herankommen konnte, gespritzt. Die Dosis führte mit weit über hundert Milligramm zur Atemlähmung der Opfer. Danach schnitt sie die Kehlen des Ehepaars mit einem Skalpell durch. Dem Mann wurde der Penis abgetrennt und seiner Ehefrau in den Mund gesteckt, nachdem sie ihr die Zunge abgeschnitten hatte. Mike Foster lag auf dem Bauch im Whirlpool, dessen Wasser zuvor abgelaufen war. Ann Foster wurden die großen Schamlippen abgetrennt und in den Mund ihres Gatten gestopft. Zudem habe die Mörderin Mike Foster alle Finger der rechten Hand entfernt. Der abgetrennte Mittelfinger wurde in den Anus der auf der Seite liegenden Ehefrau eingeführt. Die Zunge von Ann Foster bedeckte den Schließmuskel des Ehemanns. All diese Verstümmelungen wurden fachgerecht ausgeführt und ließen auf anatomisches Grundwissen schließen. Eine versierte Medizinstudentin, in deren Akten »Chirurgie« als Fachrichtung vermerkt stand, war ohne Zweifel in der Lage, die beschriebene Tat in dieser Art und Weise durchzuführen.

Jennifer W. habe somit keine Aussicht auf eine erfolgreiche Berufung des Urteils, könne nun aber zwölf Jahre lang darüber nachdenken, ob dieser skrupellose Mord im Verhältnis zu dem stehe, was ihr Mike Foster angetan hatte. Damit schloss das Gericht den Indizienprozess am 15. April und Jennifer W. verließ den Gerichtssaal als unschuldige junge Frau, die zum Tode verurteilt war.

7

Sin Engagement als erfolgreicher Anwalt hatte dazu geführt, dass Tom seine Eltern ein Jahr lang nicht gesehen hatte. In diesem Jahr entwickelte sich seine Karriere als gefragter Wirtschaftsanwalt, der die meiste Zeit in Dubai verbrachte. Er verhandelte dort die Verträge führender deutscher und holländischer Baukonsortien, die neben der Palmeninsel Jumeirah weitere Großprojekte erstellen sollten. Tom erfuhr nur nebenbei, dass seine Schwester Jenny nach Houston gegangen war, um dort ein Praktikum zu absolvieren. Anfangs erhielt er noch Ansichtskarten von ihr, doch nach und nach brach der Kontakt ab. Das Jahr in Dubai verging wie im Flug und Tom merkte nicht, wie schnell seine Familie dabei auf der Strecke blieb. Als er nach Deutschland zurückkehrte und seine Eltern aufsuchen wollte, hieß es, sie seien verreist und man wisse nicht genau, wann sie zurückkehren würden.

Sie alle waren beschäftigt. Doktor Wolfert, ein begnadeter Chirurg und Leiter der Ronald Wolfert Privatklinik Gmbh, Maria Wolfert, die ihren Mann nach Kräften in der Klinik unterstützte und das Anwesen am Starnberger See liebevoll pflegte, Jenny mit ihrem Studium und Tom mit seinen Aufgaben in den Emiraten, die ihn voll in Anspruch nahmen.

Tom wählt die Nummer der Klinik, will sich mit Doktor Wolfert verbinden lassen. 

»Tut mir leid, Herr Wolfert, Doktor Wolfert ist nicht im Haus. Wir erwarten ihn und seine Frau aber heute aus den USA zurück. Sie wissen sicher …«

Tom weiß nichts. Wusste nichts. Jetzt weiß er es. Jennifer W. – seine geliebte Jenny, zum Tode verurteilt. Warum um alles in der Welt hatte ihn niemand verständigt? Wie konnte es sein, dass seine Schwester zum Tode verurteilt wurde, während er hier den Global Player für die High Society spielte, sich mit einer Puderschnalli einließ, die er beim Shoppen in Dubai kennengelernt hatte und jetzt sogar Vorstand der Seewald AG werden sollte, während Jennifer des Mordes angeklagt war?

Am späten Abend kauern Ronald und Maria Wolfert wie zwei Häufchen Elend auf ihrem mondänen Ledersofa und berichten abwechselnd von der schwersten Zeit ihres Lebens. Ein gebrochener Mittfünfziger, eine vormals hochattraktive Fünfzigjährige, die um zwanzig Jahre gealtert wirkt.

Tom lässt sie reden, hört sich alles an, was es zu sagen gibt und schweigt eine lange Zeit mit ihnen, nachdem sie ihren Bericht abgeschlossen haben.

Erst dann traut er sich zu, die entscheidende Frage zu stellen. »Warum habt ihr mich nicht …?«

Mama Maria sieht ihrem Sohn traurig in die Augen. 

»Ach, Tom«, flüstert sie. »Glaubst du, dass Jenny schuldig ist?«

Seine Antwort kommt prompt. Überlegen? Nein, überlegen muss er nicht. 

»Niemals!« Er schreit dieses Wort in den Raum und bemerkt erst dann, dass er am Rand seines Sessels sitzt. Er versucht sich zu fangen und wiederholt es, gedämpft aber nicht weniger sicher. »Nein, niemals.« 

»Wir haben das auch gedacht: Niemals. Wir dachten, dieser Prozess ist eine Farce und wird schnell zu Ende sein. Sie haben uns überhaupt erst sehr spät informiert.« Maria presst ihr Taschentuch unter die Nase und schnieft tief in den weichen Stoff. »Wir wollten deine Karriere nicht gefährden. Du wärst ja sofort in die USA geflogen und dann wäre es nichts geworden mit deiner Sozietät bei Sollfrank. Hätten wir dir gesagt, was mit Jenny passiert ist, hättest du diese Chance ausgeschlagen, dessen waren wir uns beide sicher.« Marias Tränen unterbrechen ihre Ausführungen. Es dauert eine Weile, bis ihr Schluchzen in ein stummes Wimmern übergeht. Schließlich kann sie fortfahren. »Außerdem, wir haben damals keine Sekunde daran geglaubt, dass Jenny schuldig gesprochen wird. Wir wollten deinen Einstieg bei Sollfrank nicht gefährden, dich nicht von Dubai zurückholen, dich nicht belasten.«

Tom presst die Lippen zusammen. »Ich habe euch im letzten Jahr ein paar Mal angerufen.« Er gibt sich Mühe, seine Stimme nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen. »Jedes Mal habt ihr mir vermittelt, gerade im Urlaub zu sein, eine längere Auszeit zu nehmen. Ich dachte, dies sei euch nach all den Jahren der Plackerei zu gönnen. Hätte ich gewusst …« Seine Stimme bricht ab.

Maria nickt. »Ja, wir haben dich angelogen. Jetzt wissen wir, dass es wohl ein schwerer Fehler war.«

Ron schaltet sich ein. Seine Stimme klingt abgeschlafft, müde. »Wir dachten zuerst nicht, dass die Grand Jury überhaupt ein Verfahren gegen Jenny zulässt. Als der Prozess begann, stand für uns fest, dass unser texanischer Anwalt, dem wir vertrauten, Jenny freibekommt. Fast neun Monate lang sind wir zwischen dem Starnberger See und Houston hin und her gependelt. Natürlich haben wir uns in dieser Zeit verleugnen lassen. Die Wahrheit haben wir auch unseren Mitarbeitern zunächst nicht mitgeteilt.« 

Maria senkt den Kopf. »Mach uns bitte keinen Vorwurf, es war ein Fehler. Es war mein Fehler«, gesteht sie. »Ich habe Ron daran gehindert, dich zu informieren. Ich wollte, dass du dich auf dein Leben konzentrierst. Und ich wollte all diese Aufregung auf keinen Fall an dich herankommen lassen. Ich wollte deine positive Energie nicht zerstören. Was hätte es für Jenny geändert, dir die Wahrheit zu sagen und dein Leben gleichermaßen in Aufruhr zu versetzen.« 

»Schon gut, Mama. Was meine Karriere angeht – das Leben meiner Schwester hat Priorität.«

Zum ersten Mal in seinem Leben sieht Tom, dass Ronald Wolfert seinen Tränen freien Lauf lässt. Ohne zu überlegen, verlässt Tom seinen Sessel, kniet vor seinem Vater nieder und ergreift die begnadeten, jetzt eiskalten, Chirurgenhände. 

»Papa, ich verspreche dir, ich hole Jenny da raus. Ich werde mit Sollfrank sprechen, ich werde Seewald absagen – dann mache ich mich an die Arbeit.«

Ron Wolfert nickt. Die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit – Tom gibt ihm den Funken Hoffnung zurück, den er jetzt braucht. Maria scheint noch klar denken zu können. 

»Seewald?«, stellt sie als Frage in den Raum.

Tom berichtet so knapp wie möglich, was er damit meinte.

Anstatt zu schlafen, denkt Tom darüber nach, wie er es ermöglichen kann, seine Karriere zu unterbrechen. Fritz Sollfrank würde ihn sicher freigeben. Die Zeit spricht für ihn, erst am Freitag hatte er die Area Dubai erfolgreich zu Ende gebracht und sein Vorhaben, nach diesem Abschluss drei Wochen Urlaub zu genießen und keinen neuen Fall anzunehmen, kommt ihm jetzt zugute. Tom kann an diesem Samstag nicht ahnen, dass seine Karriere vor dem sicheren Aus steht.

8

Die Possenhofener Straße trennt Starnberg vom See. Tom muss sie fast bis zum Ende fahren, bis er den Oberen Seeweg erreicht. Dort liegt das Anwesen der Seewalds, eingebettet und geschützt in einem Park, uneinsehbar von außen. Martin und Evelyn Seewald, Sarahs Eltern, besitzen noch ein großes Haus in München Grünwald. An diesem herrlichen Maisonntag bevorzugen sie ihr Domizil direkt am See.

Tom parkt den schweren Audi A8 nahe dem Eingangsportal neben den blütenweißen Marmorstufen, steigt aus, streckt sich und atmet den Duft des Frühjahrs ein. Das Klackern von Sarahs High Heels mit gefühlten zwanzig Zentimetern hohen Absätzen lässt sich nicht überhören. Sie steckt in einem pinkfarbenen Gucci-Pullover und einer Dolce & Gabbana Jeans, sicher teuer genug, um damit ein Dorf in Somalia für ein Vierteljahr zu finanzieren. So riecht Luxus.

»Hallo, Thomas, hier geht’s lang.« Heute kein ›Wolfertinger‹ – immerhin ein Fortschritt.

Sarah breitet theatralisch die Arme aus. Tom schreitet dennoch würdig die wenigen Meter bis zum Aufgang der herrschaftlichen Jugendstilvilla und lässt sich schließlich von ihrem dick aufgetragenen Labello, hinter dem ihre Lippen Schutz suchen, küssen. Ihre dunkelblauen Augen strahlen, das Dia Women von Amouage, ein Edelparfüm der Klasse »Nicht unter zweihundertdreißig Euro« verströmt den Duft von Reichtum und aufgespritzter Schönheit, zumal die Body Cream des Herstellers ihren Körper in makellose Reinheit taucht, aber nicht bis zur Seele durchdringen kann. »Meine Eltern sind da.« Vier Worte, die Tom erschrecken. Sie hatte ihm versichert, sie würden diesen Sonntag allein verbringen. Reingelegt. Nobelduft auf rabenschwarzem Grund. Strahlende Augen der Freude. Oh, wie hübsch sie ist. Ach, wie Exzentrik Schönheit zerstören kann. Tom findet sie in diesem Moment abstoßend. Nicht heute, nicht morgen will er sich von ihrem Vater anwerben lassen. Nicht diesem Druck ausgesetzt sein, jetzt, da es um das Leben seiner Schwester geht.

»Ach, wirklich!«, antwortet Tom, bemüht, seine Enttäuschung und den daraus erwachenden Ärger zu verbergen.

»Hast du was, Wolfertinger?«

Da war es wieder – das von oben herab gemeinte ›Wolfer-tinger‹. Warum nennt sie ihn nicht einfach Wolfi?

»He, Thomas! Hast du dir was eingeschmissen oder träumst du?« Sie greift nach seiner Hand und führt ihn in das Innere der Villa. Eine großzügige Empfangshalle mit Bildern von alten Meistern empfängt ihn. Kalt und unpersönlich. Alt. Sehr alt. Er fühlt sich sofort noch unwohler. Sarah, die Seewalds, dieser Raum, der einer Museumshalle gleicht. Sein Schicksal.

»Ah, da ist ja der berühmte Thomas Wolfert«, hallt eine sonore Bassstimme durch das Museum. Ein stattlich gebauter Mann, Mitte fünfzig, grau melierte, straff nach hinten gekämmte Haare, markante Wangenknochen und dunkle Augen, schreitet mit präsidialem Gang, aufrecht und diplomatisch, auf Tom zu. Eine mit dünnen Härchen beflaumte Hand streckt sich ihm entgegen, die Tom ergreift, um den schwammig weichen Händedruck zu erwidern. »Willkommen in unserem Haus und in unserer Familie. Freut mich, dass wir uns endlich kennenlernen.« Der Mann lächelt, aber dieses spiegelt sich nicht in seine Augen wider.

»Danke, Herr Seewald, die Freude ist ganz auf meiner Seite«, lügt Tom. Diese Herzlichkeit ist gespielt, meldet sich sein inneres Ich. Sei auf der Hut. Tom wird dieses Mal darauf hören.

Martin Seewald deutet mit einer Handbewegung an, in welche Richtung es geht. Er lädt Tom zu einem Rundgang ein, der auf der ausladenden Seeterrasse hinter dem mondänen Haus endet. Dort empfängt ihn Evelyn Seewald, Sarahs Mutter. Tom sieht eine zweite Sarah vor sich, lediglich einundzwanzig Jahre älter. Ein zweiter Unterschied zu ihrer Tochter spiegelt sich in ihrer Ausstrahlung wider. Keine Puderschnalli, denkt sich Tom und stimmt seinem hellwachen inneren Ich erneut zu. Wo es recht hat, hat es eben recht. Evelyn Seewald ist ihm auf Anhieb sympathisch.

»Schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Tom. Ich darf doch Tom sagen?« Tom nickt artig und Sarahs Mutter beweist ihre Feinfühligkeit mit den Worten: »Bestimmt hat Sie meine Tochter überfallen. Ich hoffe, unsere Anwesenheit ist kein allzu großer Schrecken für Sie.«

Evelyn bietet ihm einen der bequemen Rattansessel an und Tom nimmt Platz. Martin Seewald sitzt ihm direkt gegenüber, seine listigen Augen mustern den Tochterfreund unauffällig.

Der Small Talk verläuft so, wie Small Talks eben verlaufen. Das schöne Wetter dient als Einstieg und die Temperaturen erleichtern das Warm Up, nicht nur im Gespräch, das dem gegenseitigen Beschnuppern dient. Die Eurokrise soll anscheinend Toms politische Meinung thematisieren, man will schließlich wissen, woran man ist, bevor Martin Seewald nach Kaffee, Kuchen und Portwein auf den Punkt kommt.

»Meine Tochter hat sicherlich meine Überlegung an Sie herangetragen, Ihnen eine Position im Vorstand der Seewald AG anzubieten.«

»Ja, Herr Seewald, darüber haben wir schon gesprochen.«

»Haben Sie sich bereits eine Meinung gebildet?« Der Privatmann Seewald mutiert in diesem Moment zum Geschäftsmann, die klare Bassstimme lässt auf Verhandlungsgeschick schließen.

»Ich bin Anwalt«, beginnt Tom. »Wir Anwälte neigen dazu, unsere Meinungsbildung aufgrund von Fakten zu manifestieren.«

Martin Seewald nickt und in seinen Augen flackert ein Funken Anerkennung auf. Sarah hingegen funkelt Tom mit einem bösen Seitenblick an. Soll wohl heißen, dass man ihrem Papa zu folgen hat, ohne Fakten. Evelyn Seewald schmunzelt, drückt offen ihre Sympathie aus.

»Das lässt sich einrichten, Herr Anwalt.«

Seewald will was von dir, nicht du von ihm, sagt sich Tom.

»Verstehen Sie mich bitte richtig, Herr Seewald. Ich frage mich, wie Sie auf mich kommen. Ich bin Jurist, kein Executive Manager.«

Seewalds Gesichtsausdruck verrät, dass es ihm ernst ist. »Ich verstehe, dass Sie glauben, diesen Posten dem Umstand zu verdanken, dass Sie mit meiner Tochter befreundet sind. Ich versichere Ihnen, dass die Anregung, einen Juristen in den Vorstand zu berufen, von unserem Vorstandsmitglied, Bernhard Stannitzer, stammt. Stannitzer ist unser Chefproducer, er implementiert neue Produkte und die rechtlichen Voraussetzungen nehmen an Bedeutung zu. Das muss ich einem Wirtschaftsanwalt sicher nicht weiter erklären. Die juristischen Belange der Seewald AG nehmen einen immer breiteren Raum ein, ein Stellenwert mit Wachstumspotenzial.«

In der Folge beschreibt Sarahs Vater das Spektrum der Seewald AG. Ursprünglich von Seewald Senior gegründet als Verlagshaus, übernahm Martin Seewald Ende der Neunziger das Ruder, restrukturierte unprofitable Bereiche und verlagerte den Schwerpunkt der Seewald AG auf das Internet. Die Printmedien, Bücher und Magazine erhielten eine neue Plattform. Die Seewald AG war zehn Jahre später breit aufgestellt: Provider in den Bereichen Internet, Telefonie, Anbieter der Verkaufsplattform »newworld21«, die sich nach den Anfängen im Jahr 2000 anschickte, Amazon & Co den Rang abzulaufen und eine reichhaltige Palette an Büchern, Filmen, Musik und einen schier unüberschaubaren Warenkorb feilbot. Bereits 2001 erwarb Seewald marode Partnervermittlungsbörsen und baute seinen Bekanntheitsgrad aus. Ein eigenes soziales Netzwerk in Konkurrenz zu Facebook rundete das Spektrum neben der Beteiligung an unzähligen Verlagshäusern ab. Lizenzverträge mit Unternehmen in aller Welt, eine eigene Shoppingkette – all das stellte Martin Seewald zur Disposition – insgesamt ein breites Aufgabenfeld für den juristischen Vorstand, den Tom künftig besetzen sollte.

»Sie können sich vorstellen, welche Angriffe es abzuwehren gilt, wie viel Verträge formuliert und geprüft werden müssen, welche Strategien der Zukunft ausgetüftelt werden sollten. Dass der Vorstand dieses Ressorts über eine entsprechende Mannschaft und ein äquivalentes Budget verfügt, versteht sich von selbst. Ein Heer von Juristen, die Abwägung rechtlicher Grundlagen bei neu zu implementierenden Produkten – all das ergibt ein spannendes Aufgabenpotenzial.« Mit diesen Worten schließt Seewald seinen Bericht über das Unternehmen ab.

Lass die Finger davon – sofort! Tom ignoriert seine innere Stimme. »Danke für diesen Überblick, Herr Seewald. Es versteht sich von selbst, dass diese Aufgabe interessant und reizvoll ist. Natürlich fühle ich mich sehr geehrt über dieses einmalige Angebot.«

Zufrieden resümiert Martin Seewald: »Dann sollten wir baldmöglichst einen Termin in der Konzernzentrale vereinbaren.«

»Ja, das sollten wir«, stimmt Tom zu.

»Wie lange seid ihr jetzt zusammen?« Evelyn Seewald versucht das Thema zu wechseln, um sich und ihre Tochter wieder in die Unterhaltung einzubeziehen.

Nach dem Verhör, dem sich Tom jetzt unterziehen muss, endet die Familienidylle am Starnberger See. Über Jenny und das damit verbundene Drama seiner eigenen Familie hat Tom kein Wort verloren, auch Sarah erfährt nicht, was ihn den ganzen Nachmittag über bewegt und seine Gedanken immer wieder ablenkt. Tom verabschiedet sich mit dem Versprechen, sich bei Martin Seewald zu melden, nach seiner USA-Reise, deren Zweck er nicht erklärt. Sarah bringt Tom zum Wagen.

»Sehen wir uns morgen?«

»Ja, morgen.«

»Wann fliegst du in die USA?«

»Voraussichtlich übermorgen.«

Ein Kuss. Absatzklackern. Ein beiderseitiges »Tschüss!«. Tom fühlt sich wieder frei. Auf der Rückfahrt nach Berg weiß Tom, dass er etwas übersehen hat. Er grübelt, kommt aber einfach nicht darauf.

9

Tom neigt selten dazu, Hektik zu verbreiten. An diesem Montag spürt er die innerliche Unruhe. Als Erstes fährt er in die Kanzlei. Die Unterredung mit seinem Partner, Fritz Sollfrank, nimmt zwei Stunden in Anspruch. Fritz zeigt Verständnis für seine Lage.

Sie hatten sich von Anfang an gut verstanden, Fritz und Tom. Aber eine wirkliche Freundschaft war erst daraus geworden, als Fritz Sollfrank Tom vor zehn Jahren das Leben beim Segeln gerettet hatte. Ein Sturm legte den Flying Dutchman um, Tom wurde im Trapez vom Mast getroffen und trieb bewusstlos neben dem gekenterten Boot, das sich zum Glück in Ufernähe befand. Sollfrank zog ihn aus dem Wasser, reanimierte Tom und brachte ihn somit zurück ins Leben. Seither waren sie nicht nur beruflich verbunden, sondern pflegten ihre Freundschaft. Einer konnte sich auf den anderen verlassen.

Natürlich kann Tom sich einige Zeit freischaufeln, der Seniorpartner wird seinen nächsten Fall übernehmen.

»Viel Glück«, wünscht Dr. Sollfrank, und aus seinen Augen lässt sich leichte Sorge lesen. »Wenn du Hilfe brauchst, ich stehe dir nicht nur als Anwalt, sondern auch als Freund zur Verfügung.« Ein Unterton in seiner Stimme verrät, dass er es ernst meint. Tom schluckt, denkt an die Seewalds und an den gestrigen Sonntag. Er bedankt sich. »Ich weiß das zu schätzen, Fritz.«

Nach dem Gespräch ordnet er den Aktenstapel in seinem Büro, während Monika Schenk, Anwaltsgehilfin und Toms rechte Hand seinen Flug nach Houston organisiert.

»Ich bete, dass alles gut geht«, versichert Monika, die sich erschüttert zeigt, nachdem Tom auch ihr von Jennys Drama erzählt hat.

»Vielen Dank, Moni. Ich hoffe, beten hilft.«

Am frühen Nachmittag telefoniert Tom mit einem Kollegen, der in den USA studiert und gearbeitet hat. Mit Strafprozessen in den Staaten kennt er sich allerdings nicht aus. Aber er kann Tom die Adresse einer versierten Privatdetektei vermitteln.

Noch einmal genießt Tom die Ruhe seiner kleinen Villa in Berg, prüft die Unterlagen, die er von seinen Eltern zu Jennys Prozess erhalten hat, und denkt über die weiteren Schritte nach. Sein Instinkt verrät nichts Gutes, als er bei einem Spaziergang im Schlosspark von Berg über die Bedrohung nachdenkt.

Die Ankunft in den USA beginnt mit einer Enttäuschung. Eine attraktive, rothaarige Frau in den besten Jahren empfängt ihn in der Anwaltskanzlei Morris & Garathy.

»Laurie Sheldon«, stellt sie sich vor. »Ich war die Assistentin von Mr Garathy.«

Laurence Garathy, Jennys Anwalt. Toms Herz pocht. Nicht die bordeauxroten Haare machen seinen roten Blutkörperchen Beine, sondern die Tatsache, dass er gleich mit dem Anwalt sprechen wird, der Jennys Todesurteil als Quittung seiner fruchtlosen Arbeit hatte hinnehmen müssen.

Ms Sheldon bittet Tom, Platz zu nehmen. Erst jetzt bemerkt er die Bedeutung ihrer Worte. War die Assistentin?

Laurie Sheldon scheint den Ausdruck in seinem Gesicht richtig zu deuten. »Ja, ich sagte ›war‹, Mr Wolfert.« Sie sagt Wulfart. »Mr Garathy ist aus der Kanzlei ausgeschieden, unmittelbar nach dem Prozess. Ich bin jetzt Junior Partnerin von Mr Morris.«

Die junge Dame mit dem hübschen Gesicht – eine Ähnlichkeit mit Julia Roberts ist unverkennbar – scheint sich darüber zu freuen. Tom kann diese Freude nicht teilen. Sein lapidares »Hmmm« klingt nicht hoffnungsvoll.

»Aber Sie können von mir alles erfahren, was Sie wissen möchten«, beeilt sie sich zu versichern.

Tom beschließt nachzuhaken. »Mr Garathy ist, so ich weiß, Mitte vierzig. Ist das in den USA nicht etwas ungewöhnlich, so früh in Rente zu gehen? Oder hat Mr Garathy die Kanzlei gewechselt? Er ist doch Partner von Mr Morris?«

»Nein, Mr Wolfert. Mr Garathy hat sich ins Privatleben zurückgezogen. Ich kann Ihnen aber, wenn Sie es ausdrücklich wünschen, gerne die Adresse geben. Wie gesagt, er wird Ihnen nicht mehr sagen können als ich.«

Tom weiß, dass er jeder Kleinigkeit nachgehen wird. Nachdem Laurie Sheldon ihn über den Prozessverlauf und die erdrückenden Indizien aufgeklärt hat, bittet er Ms Sheldon, ihm doch die Adresse von Garathy zu geben. »Ich möchte gerne von ihm wissen, wie er den Prozess sieht und vor allem, darum geht es mir in erster Linie, wie er Jennys Befinden vor und nach dem Prozess beurteilt.«

»Kann ich verstehen, Mr Wolfert.«

»Tom. Wäre nett, wenn Sie mich Tom nennen.« Amerikanische Gepflogenheit – Tom muss um die Gunst des rothaarigen Feuerzaubers buhlen, denn er wird ihre Unterstützung brauchen.

»Laurie«, revanchiert sie sich umgehend.

»Okay, gerne, Laurie. Als Nächstes möchte ich Sie bitten, mir zu helfen, meine Schwester im Gefängnis zu besuchen.«

Sie nickt verständnisvoll. »Natürlich, das kriegen wir hin, Tom.«

Seine nächste Frage bringt sie in Schwierigkeiten. »Kann ich den Tatort besichtigen? Kommen wir in das Anwesen der Fosters hinein?«

Laurie überlegt. »Nein, also nicht mit meiner Hilfe, nicht über einen juristischen Weg. Der Fall ist abgeschlossen und das Anwesen verkauft. Aber klingele einfach. Der neue Besitzer hat vielleicht nichts dagegen.«

»Werde ich tun. Ich glaube, das war’s für Erste. Ich melde mich, oder du bei mir, sobald wir Jenny besuchen können.«

Tom verabschiedet sich und beschließt, ins Sheraton Hotel in der Uptown zu fahren. Er trinkt an der Bar einen Scotch, um dann Schlaf in seiner Suite zu finden. Den Schattenmann, der ihn seit einiger Zeit beobachtet, bemerkt er nicht. Er kann auch nicht wissen, dass dieser öffentlichkeitsscheue Begleiter ihm bereits seit dem Flug gefolgt war.

10

Der kleine Bungalow, in dem Laurence Garathy wohnt, scheint verlassen zu sein. Auf dem Nachbaranwesen mäht eine beleibte Frau den Rasen. Tom winkt ihr zu und deutet an, mit ihr sprechen zu wollen. Sie scheint sich über jede Unterbrechung zu freuen, wischt sich die Hände an ihrer speckigen Schürze ab und lädt Tom sofort zu einem Kaffee ein.

Nachdem Tom sich vorgestellt und ihr versichert hat, wie bedeutsam und legitim sein Interesse sei, Mr Garathy zu sprechen, gibt die Nachbarin bereitwillig Auskunft.

»Mr Garathy ist letzte Woche ausgezogen.«

»Er allein? Und seine Familie?«

»Familie?« Die alte Dame schaut ihn verwundert an. »Laurence lebte allein, seine Frau hat ihn vor einem, nein, vor anderthalb Jahren verlassen. Kinder haben sie nicht. Zu viel Arbeit, der arme Mann. Seine Frau hat ein schickes Leben gehabt und er ist in seinen Prozessen und seiner Arbeit ertrunken.«

Tom kratzt sich nachdenklich am Kopf. »Hm …« Mehr fällt ihm dazu nicht ein.

Die mollige Frau erzählt bereitwillig weiter. Sie scheint froh zu sein, dass ihr jemand zuhört. »Sie haben am Schluss nur noch gestritten. Sie ist ausgezogen. Danach hat sie ihn ausgezogen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja, er hat seine ganze Barschaft abdrücken müssen, um das Haus zu halten. Laurence war nach der Scheidung ziemlich pleite.«

Tom wird hellhörig. Weiß die Nachbarin tatsächlich über Garathys Vermögensverhältnisse Bescheid? »Und da kann er es sich leisten, einfach auszuziehen und das Haus leer stehen zu lassen?«

Molly, wie Tom die dicke Frau benannt hat, sieht überrascht an. »Jetzt, wo Sie es sagen. Ja, stimmt eigentlich.«

»Was heißt eigentlich ausgezogen? Einfach mal so für ein paar Wochen oder umgezogen?«

»Das Haus ist leer. Möbel, seine Sachen, alles weg.« Ihre wegwerfende Handbewegung untermalt ihre Aussage.

»Okay, und wohin ist er gegangen?«

»Ja, das habe ich ihn auch gefragt. Er sagte, er wolle nach dem letzten Prozess erst mal verreisen und sich irgendwo auf der Welt ein ruhiges Plätzchen suchen.«

»Das hat er gesagt?«

Sie nickt heftig. »Ja, genau so. Aber mehr konnte ich auch nicht von Laurence erfahren.«

»Es gibt sicher so etwas wie einen Nachsendeauftrag für die Post«, sinniert Tom laut.

»Nein, das glaube ich nicht. Bei mir haben zwei Leute angerufen, die ihre Post zurückerhalten haben. Unbekannt verzogen, mein armer Nachbar.« Sie runzelt die Stirn.

Tom ist sich nicht sicher, was er davon halten soll.

Auf der Fahrt zum Golf von Mexiko zermartert er sich das Gehirn über das Verschwinden des Anwalts. In seinem Kopf rotieren die Gedanken mit derselben Sinnlosigkeit, mit der ein Hund versucht, seinen Schwanz zu fangen. Er dreht sich im Kreis und konstatiert schließlich, dass all diese Fakten keinen Sinn ergeben.

Tom steht am frühen Nachmittag vor dem weißen Haus auf Jamaica Beach. An der Eingangspforte prangt groß die Hausnummer, kein Namensschild – das fehlt in den USA. Der amerikanische Postbote richtet sich nur nach der Adresse, ein Abgleich, ob der Name auf dem Kuvert zu dem Postkasten passt, bleibt aus. Ein Messingknopf neben der Hausnummer starrt den Besucher wie das Knopfauge eines Teddybären an. Tom presst seinen Zeigefinger auf den Augapfel und wartet geduldig. Es knackt und eine borstige Stimme meldet sich mit einem lieblosen »Sie wünschen?«

»Mein Name ist Thomas Wolfert. Sind Sie die Hausherrin?«

»Nein, ich bin das Dienstmädchen. Wenn Sie Mrs Royce sprechen wollen, kommen Sie in einer Stunde wieder.«

Knack – aufgelegt. Kurz und bündig. Tom sieht auf die Uhr. Eine Stunde – okay.

»Wissen Sie, dass Galveston neben New York der bedeutendste Einwanderungshafen in den USA war? Galvestons Bevölkerung bestand bis Ende des 19. Jahrhunderts bis ungefähr zur Hälfte aus deutschen Einwandererfamilien. Sie sind doch Deutscher, oder?« Die gesprächige Bedienung mit dem langen brünetten Haar in dem Café meint es gut mit Tom. Artig nickt er. »Ja, ich komme aus Deutschland«, gibt er freimütig zu.

»Das erste Mal hier?«

»Ja, das erste Mal. Wirklich eine schöne Insel.«

Brüni, so nennt Tom sie insgeheim, nimmt auf dem Stuhl neben ihm Platz. Geschwätzig klärt sie ihn weiter auf. »Ja, eine Insel für die Schönen und Reichen. Geld war hier schon immer zu Hause. Das sieht man an einigen pompösen Bauten, wie zum Beispiel dem Bishop’s Palace. Die wurden von reichen Leuten an den Hauptstraßen wie dem Broadway, The Stand, Seawall Boulevard errichtet. Müssen Sie sich unbedingt ansehen, Mister.«

»Gern. Mit so einer hübschen Fremdenführerin wirken die Prachtbauten sicher noch reizender.«

Die Brünette lächelt. Ob sie bereits die Dreißig überschritten hat? Ihr Gesicht wirkt eingebettet, umrankt von dichten, glatt anliegenden Haaren. Sie sieht einer Eule ähnlich – einer brünetten Schnee-Eule.

»Was gibt es sonst noch für Sehenswürdigkeiten? Ich habe etwas Zeit.«

»Eine Grand Opera haben wir hier. Und natürlich die Holzskulpturen, die müssen Sie unbedingt sehen.«

»Was sind das für Skulpturen?«

»Örtliche Künstler haben sie aus den Überresten von Bäumen geschnitzt.«

»Überreste von Bäumen?«

»Ja, Bäume, die durch den Hurrikan zerstört wurden. Die sind über die ganze Stadt verteilt. Galveston hat immer noch ziemlich viele Häuser, die durch die Behörde versiegelt wurden.«

»Wieso versiegelt?«