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Tag für Tag, sommers wie winters, bei Gluthitze wie bei eisiger Kälte, finden sich vier alte Männer unter einem einsam stehenden alten Olivenbaum im tunesischen Sahel ein. Ihr Treffpunkt liegt etwas ausserhalb des Dorfes mit Blick auf den »Weg der Bahren«, die Strasse, die zum Friedhof führt. Unter dem Baumriesen können sie ungestört tun und reden, was sie wollen, »ohne von Frauen und anderen Unbefugten beobachtet oder belauscht zu werden«. Die vier kennen sich seit ihren Kindertagen, wissen um ihre gegenseitigen Stärken und Schwächen genau Bescheid: Burni, Sohn des Haschisch-Inspekteurs und gewiefter Schafhändler, sein Schwager Machmud, der einst bei der Kavallerie diente, sowie Tajjib und Makki, zwei einfache Dorfbewohner. Nun, da sie alle auf die Achtzig zugehen, wollen sie die Zeit, die ihnen noch gegönnt ist, gemeinsam verbringen. »Lebenszeit liegt in Gottes Hand«, sagt Machmud, und so wird denn ihr Dasein von Rhythmus der täglichen Gebete geprägt, die sie mit peinlicher Pünktlichkeit verrichten. Stundenlang hängen sie ihren Erinnerungen nach oder ergötzen sich an alten Geschichten. Sie diskutieren über Gott, das Jenseits und die Welt, spielen Charbaga, lachen und verspotten einander. Oder sie schweigen. Bis zu dem Tag, an dem die Geschichte um Bajja, eine hübsche, selbstbewusste Witwe, wie ein Blitz aus heiterem Himmel in die abgeschiedene Welt der Männer einschlägt. Längst vergessen geglaubte Gefühle werden wieder wach, und das Feuer der Begierde, seit Jahren erloschen, beginnt von neuem zu lodern. Mit viel Wärme und Respekt, aber auch Witz und subtiler Ironie schildert Habib Selmi das zutiefst menschliche Verhalten seiner Figuren aus dem ländlichen Tunesien. Sein meisterlich komponierter Roman, poetisch und realistisch zugleich, ist eine Ode an die Liebe und das Leben.
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Seitenzahl: 245
Veröffentlichungsjahr: 2015
Der Autor
Habib Selmi wurde 1951 in Kairuan (Tunesien) geboren. Er ist Universitätsdozent für Arabisch und lebt seit 1983 in Paris. Selmi hat Romane und Erzählbände veröffentlicht und gilt als einer der wichtigsten tunesischen Autoren arabischer Sprache.
Die Übersetzerin
Regina Karachouli, geboren 1941 in Zwickau. Studium der Arabistik und Kulturwissenschaften in Leipzig. Promotion über Dramatik und Theater in Syrien. Von 1975 bis 2002 Lehr- und Forschungstätigkeit am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Übersetzerin der Werke von Tajjib Salich und anderer arabischer Autorinnen und Autoren (u.a. Sahar Khalifa, Alia Mamduch, Hanna Mina, Hassouna Mosbahi, Sabri Mussa).
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde unterstützt durch die Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. in Zusammenarbeit mit der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.
Titel der arabischen Originalausgabe:
‘Ushshâq Bayya
Copyright © 2002 by Habib Selmi
E-Book-Ausgabe 2015
Copyright © der deutschen Übersetzung
2006 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Coverfoto: Markus Kirchgessner
www.lenos.ch
ISBN 978 3 85787 903 6 (EPUB)
ISBN 978 3 85787 904 3 (Mobipocket)
Bajjas Liebhaber
Burni verlässt sich allein auf seine Uhr.
»Sieben Minuten nach vier«, erklärt er wichtig, den Kopf zu Machmûd geneigt, der bereits besorgt den Schatten des Olivenbaums auf dem Sand beobachtet, denn er fürchtet, das Nachmittagsgebet zu versäumen. Burni beugt sich noch weiter zu ihm hinüber und wiederholt seine Ansage etwas lauter. Er weiss, dass Machmûd ein schrecklicher Pedant ist, der das Gebet nur geniesst, wenn er es genau zur vorgeschriebenen Zeit verrichtet. Keine Minute zu früh, keine Minute zu spät.
Langsam und zärtlich, als streichelte er einem seiner Enkel die Wangen, fährt Burni mit den Fingerspitzen über das runde Zifferblatt seiner goldenen Uhr. Bedächtig hebt er sie ein wenig in die Höhe, betrachtet sie einen Moment lang und steckt sie wieder in die Tasche seiner weissen, an den Säumen bestickten Weste. Mit aufgerichtetem Oberkörper lehnt er sich zurück, bis die an einem Knopfloch befestigte goldene Uhrenkette in schönem Bogen auf seiner Brust liegenbleibt. Mit dem Zeigefinger fühlt er über die Westentasche, um sich zu vergewissern, dass die Uhr auch richtig hineingerutscht ist.
Tajjib dreht sich zu den Feldern um, damit niemand sein Grinsen bemerkt. Doch Burni entgeht nichts, besonders was seine Uhr betrifft. Aus den Augenwinkeln erfasst er Tajjibs verräterisch zuckenden Kopf und Körper.
»Der Blinde lacht wohl?«
Tajjib ärgert sich nicht. Er ist es gewohnt, dass Burni ihn so nennt. Dabei ist er keineswegs blind, nicht einmal schwachsichtig. Höchstens, dass seine Augen sich von Zeit zu Zeit ein bisschen entzünden. Wie bei seinem Vater, der einige Jahre vor seinem Tod nichts mehr sehen konnte.
Tajjib wendet sich wieder um. Eine Weile mustert er die anderen, dann prustet er los, diesmal ohne Rücksicht auf Burni, der ihn, fassungslos über soviel Dreistigkeit, anstarrt.
»So ’ne alte Trödeluhr …«
Tajjib lacht lauthals. Er kippt um und windet sich am Boden, so dass eine leichte Staubwolke aufsteigt.
»Nun seh sich einer den Blinden an«, sagt Burni. »Suhlt sich wie ein Esel!«
Mit kaum merklichem Kopfschütteln deutet Machmûd an, dass ihn das Scharmützel zwischen Tajjib und Burni völlig kalt lässt. Er muss jetzt vor allem wachsam bleiben, denn die Zeit vergeht, und er darf das Nachmittagsgebet nicht verpassen.
»Worüber lacht er eigentlich?« fragt Makki, der bis dahin schweigend und regungslos wie in tiefem Schlaf auf der Erde gelegen hat. Er hebt den Kopf und wälzt sich auf die Seite, nachdem er seinen Stock wie immer vor sich in den Sand gesteckt hat, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Burni fühlt sich etwas erleichtert. Allein dass Makki diese Frage gestellt hat, zeigt seine Anteilnahme. Im Unterschied zu dem verbohrten Pedanten Machmûd unterstützt er ihn wenigstens gegen Tajjib, diesen neidischen »Blinden«, der ihn verspottet, weil er so grosse Stücke auf seine Uhr hält.
»Über mich lacht er.«
»Sieh dir nur an, wie er sie streichelt!« stösst Tajjib hervor. Allmählich kommt er wieder zu Atem. Er nimmt sich zusammen und hört auf, mit den Beinen zu strampeln und Staub aufzuwirbeln. »Wie seine Augen glänzen, wenn er sie befummelt … und bloss wegen dieser alten Zwiebel …«
»Wie bitte? Sie ist mehr wert als alles, was du besitzt, Blinder … was ihr alle miteinander je besessen habt – dein Vater, dein Grossvater und Urgrossvater!«
Burni ereifert sich. In seinem verzerrten Gesicht treten die Adern hervor. Falten sammeln sich um seinen Mund, und seine funkelnden Augen erscheinen noch kleiner, noch tiefer in ihren Höhlen. »Alte Zwiebel, hast du gesagt? Gut! Ich schweige, und du schweigst auch. Überlassen wir das Urteil Si Makki. Nun, was meinst du?«
Tajjib reibt sich noch immer den Staub aus den Augen. Ohne Makkis Antwort abzuwarten, fährt Burni geschwind mit der Hand in die Tasche, zieht seine Uhr hervor und hält sie ihm mit ausgestrecktem Arm hin. »Schau sie dir an, Si Makki. Urteile du, und ich werde mich beugen. Nimm dir Zeit, prüfe sie in aller Ruhe.«
Makki rührt sich nicht und sagt kein Wort. Burni wird sichtbar immer nervöser. Ruckartig dreht er sich zu Machmûd herum und lässt die Uhr genau vor seiner Nase baumeln. Machmûd, der gerade wieder die Länge des Schattens prüft, ergreift die Gelegenheit, um festzustellen, ob es schon Zeit für die Gebetswaschung ist. Nach einem raschen Blick auf die Zeiger verzieht er den Mund zu einem gezwungenen Lächeln, das Burni besänftigen soll. Deine Uhr ist durchaus kein Trödelkram, versichert ihm dieses Lächeln. Tajjib ist doch nichts weiter als ein blinder, seniler Tapergreis, und vor allem ist er ein ausgemachter Neidhammel.
Es ist nicht das erste Mal, dass Tajjib sich erdreistet, über Burni und seine Uhr herzuziehen. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass Burni mit Feuereifer und aller ihm zu Gebote stehenden Klugheit seine Attacke zurückschlägt. Für ihn gibt es nichts Wertvolleres als diese Uhr, die er von Mûlidi, seinem Vater, geerbt hat. Mûlidi – was für eine Respektsperson! Im ganzen Dorf und selbst in den umliegenden Ortschaften nannte man ihn mit grösster Ehrerbietung nur den »Haschisch-Inspekteur«. Schliesslich hatte ihn die Regierung durch ihre Bevollmächtigten im Distrikt beauftragt, all jenen Gesetzesbrechern das Handwerk zu legen, die heimlich Haschisch anbauten, sei es in Ställen und Pferchen, Schluchten und Klüften oder gar in getarnten Vorratsgruben.
Die Regierung übergab Mûlidi auch ein Gewehr, eine Peitsche und ein schönes Pferd mit einer Blesse, das er mit reinem Hafer fütterte. Den bekam er jede Woche unentgeltlich vom Getreidedepot in Haffûs, das damals Pichon hiess. Die Uhr war Mûlidis erster Kauf in seiner kurzbemessenen Glanzzeit gewesen. Ja, sie war die erste Uhr überhaupt, die nach Alâ und Umgebung gelangte. Deshalb hing Mûlidi so sehr an ihr, und er trug sie immer bei sich, sogar noch im hohen Alter, als er sich mehr und mehr von der Welt zurückzog und ein asketisches Leben führte. In seinen Augen war die Uhr eine bahnbrechende Errungenschaft der modernen Zivilisation in Alâ, denn er erwarb sie viele Jahre, bevor das Radio im Dorf Einzug hielt. Niemals hätte er sich von ihr getrennt. Erst auf dem Sterbelager, als er einsehen musste, dass der Todesengel Israîl das Haus betreten hatte, um seine Seele zu holen, übereignete er die Uhr Burni, seinem einzigen Sohn …
Machmûd und Makki kümmert der Wortwechsel wenig. Diese Plänkeleien sind sie längst gewohnt, sie wissen, dass es nichts weiter ist als ein unterhaltsames Spiel, an dem Tajjib und Burni ihr Vergnügen haben. Ein gewisses Mass an Eifer und Aufregung gehört ebenso dazu wie ein bisschen harmlose Stichelei und Beschimpfung. Nur so kommt das Spiel in Gang und macht richtig Spass.
Tajjib ist kein guter Geschichtenerzähler, und was er zum besten gibt, findet meist keinerlei Interesse bei den anderen. Trotzdem möchte er zu gern hin und wieder einmal im Mittelpunkt stehen. Dann neckt er Burni, indem er über ihn witzelt und sein bestes Stück schlechtmacht. Er geniesst es, wenn Burni sich aufregt und ihn mit seinen tiefliegenden Augen böse anfunkelt. Ja, manchmal freut es ihn sogar, dass Burni ihn »Blinder« nennt. In seinem tiefsten Innern fühlt er, dass dies keine Beleidigung ist. Im Gegenteil, Burni bekundet damit beinahe etwas wie vertrauliche Zuneigung. Tajjib, der aus äusserst bescheidenen Verhältnissen stammt, weiss das zu schätzen. Diesen Spitznamen hat ihm nicht irgendwer gegeben, sondern der Sohn von Mûlidi, einem hohen Regierungsbeamten, dem berühmtesten und reichsten Mann im ganzen Dorf.
Burni wiederum nutzt jede Attacke, um mit seiner Uhr zu prahlen. Jedesmal findet er neue Vorzüge, die er bei früherer Gelegenheit ausgespart oder nur flüchtig gestreift hat. Nichts bereitet ihm grösseres Vergnügen, als die Angriffe, die Tajjib von Zeit zu Zeit vorsätzlich gegen ihn startet, mit Bravour zurückzuschlagen.
Burni gilt als einer der grössten Profis im Schafhandel, den er trotz seines hohen Alters nie endgültig an den Nagel gehängt hat. Deshalb versteht er auch so gewandt zu reden. »Burnis Zunge spinnt Seide«, sagen seine Freunde. Als gewiefter Händler weiss er jedwedes Ding überzeugend anzupreisen und seinen Wert gebührend herauszustreichen. Wie erst, wenn es das Liebste und Teuerste betrifft, das ihm der selige Mûlidi hinterlassen hat!
»Habt ihr je eine bessere gesehen?« fragt er in die eingetretene Stille hinein. »Ganz gewiss nicht, da bin ich sicher. Ihresgleichen findet ihr nie wieder, weder in Alâ noch in Haffûs, noch sonstwo im Distrikt!«
Machmûd hat ihm den Rücken gestärkt mit seinem Lächeln, mag es auch ein wenig verkrampft gewesen sein. Jetzt wird es ihm leicht fallen, sich würdig in Szene zu setzen. Wieder hat er ihm beigestanden, sein alter Freund und Schwager, der ihn selbst in kritischsten Augenblicken nie im Stich liess. Burni schaut nach Makki, um sich zu vergewissern, dass er nicht etwa plötzlich eingenickt ist, was ihm öfter einmal passiert. Anschliessend wirft er einen scharfen Blick auf Tajjib, der endlich mit Lachen aufgehört hat und wie ein Häufchen Unglück bäuchlings auf der Erde liegt – bereit, vor seinem Gegner zu kapitulieren.
Burni redet sich in Fahrt, ohne indes seine Nervosität ganz verbergen zu können. Taschenuhren wie diese, doziert er, nutzten sich mitnichten ab, wie Tajjib unterstellt habe. Durch und durch robust seien sie, und dazu hart wie Granit! »Deutsches Fabrikat!« sagt er, die Uhr auf dem Handteller wiegend. Nichts an der Uhr bestätigt diese Behauptung. Aber wie so viele andere empfindet Burni den allergrössten Respekt vor den Deutschen, denen er während des Krieges sogar einmal selbst begegnet war. Für ihn bedarf es keines weiteren Beweises – eine solche Uhr muss einfach ein deutsches Fabrikat sein! Allein schon der Sprungdeckel, so blank sei er, so glatt! Fast rutsche einem die Uhr zwischen den Fingern weg. Wie angenehm, ihr goldenes Gehäuse zu befühlen, besonders kurz vor einem Nickerchen am Nachmittag. Überhaupt beruhige es ungemein, mit einer solchen Uhr herumzuspielen, wenn man nervös sei. Na, und diese Zeiger! Wie grüne Glühwürmchen leuchteten sie in der Dunkelheit. »Grün wie das Pferd des Propheten!« berichtigt er sich. Und erst ihr Ticken! Nichts sei so wunderbar einschläfernd, ausgenommen vielleicht das tiefe Atmen seiner Frau, bevor sie zu schnarchen beginne.
Was Burni aber am meisten rühmt, ist ihre Präzision. Er weiss sehr wohl, dass eine ungenaue Uhr nicht die geringste Beachtung verdient, bestünde sie auch aus purem Gold wie die seine. »Nur ein Neidhammel oder Schwachkopf könnte behaupten, dass sie falsch geht!« ruft er und hebt den Zeigefinger, um seine Worte zu unterstreichen. »Niemand sonst! Denn sie geht genau, keine Minute vor, keine Minute nach.«
Tag für Tag hat Burni mit der Uhr zu tun, ständig kontrolliert er ihre Zeiger. Jeden Morgen Punkt sechs, sobald im Radio die Nachrichten kommen, wird die Uhr gestellt. Er verliert keine Minute. Beim ersten Wort des Sprechers beginnt er die Zeiger zu drehen, damit sie exakt bei der Ansage einrasten.
»Gibt es denn eine genauere Zeit als die im Radio? Als die Zeit der Obrigkeit?« fragt Burni, bevor er seine Rede beendet.
Ein unschlagbares Argument. Schliesslich ist diese Uhr, die Tajjib verspottet hat, für sie alle ungeheuer wichtig. Ja, sie sind geradezu darauf angewiesen, wenn sie ihre Gebetspflicht pünktlich erfüllen wollen. Die vorgeschriebenen Zeiten werden täglich im Rundfunk bekanntgegeben, und Burni trägt sie in das kleine Heft ein, das er in seiner zweiten Westentasche verwahrt. Ohne die Uhr entginge ihnen sicher ein Grossteil des Lohns, den sie dereinst für ihre guten Taten empfangen würden. Burni kennt sich aus. Immerhin hat er als einziger von ihnen eine Koranschule besucht, und auf seinen Geschäftsreisen ist er manch ehrwürdigem Scheich und Gelehrten begegnet. Für ihn steht jedenfalls fest, dass ein pünktliches Gebet mehr zählt als ein unpünktliches.
Schweigend sieht er sich in der Runde um und durchforscht die Gesichter nach dem Eindruck, den seine Worte hinterlassen haben. Doch er kann nichts erkennen. Auch gut, das ist ihm ziemlich egal. Wichtig ist nur, dass er den Angriff abgewehrt und ruhig, aber deutlich gesagt hat, was er sagen wollte.
Er dreht sich zu Tajjib um, der unverändert, mit nacktem Bauch, auf der Erde liegt. »Was nun, Si Blinder?« fragt er ironisch. »Behauptest du immer noch, sie wäre Trödelkram? Hättest du bloss ein Fünkchen Verstand …«
»Fünf Minuten, Leute!« unterbricht ihn Machmûd, der wie gebannt auf die Uhr gestarrt und ihre Zeiger beobachtet hat. »Nur noch fünf Minuten bis zum Nachmittagsgebet. Schnell, die Waschung, die Waschung!« Eilig springt er auf, die anderen folgen ihm.
»Lebenszeit liegt in Gottes Hand«, sagt Machmûd.
Sie sehen sich an, nicken zustimmend. Dann, nach langem Schweigen, wiederholen sie es, einer nach dem anderen. Sie wissen, dass sie vom Glück gesegnet sind. Längst haben sie die Schwelle zu Siebzig überschritten, jetzt gehen sie auf die Achtzig zu. Makki, der ein paar Jährchen jünger ist, nennen sie scherzhaft »das Küken«.
Sie treffen sich jeden Tag, seit vielen Jahren schon. Nach dem Mittagessen halten sie ein kurzes Schläfchen. Sobald sie erwachen, füllen sie ihre Krüge mit Wasser und machen sich auf zum Treffpunkt. Vor Sonnenuntergang kommen sie nicht wieder heim. Im Frühling, Sommer und bis zum Herbstanfang wird es oft weitaus später, besonders bei Vollmond. Nichts kann sie zurückhalten, weder Hitze noch Regen und Kälte, weder Feste noch Feiertage, ja nicht einmal Beerdigungen. Dabei erfüllen sie alles, was der Brauch verlangt. Bevor sie aber nach Hause gehen wie die anderen, machen sie einen Abstecher zu ihrem gewohnten Platz, um noch ein wenig zusammenzusitzen und zu plaudern.
Ihr Treffpunkt – der »Ölbaum der Hunde« – besteht aus einigen Quadratmetern schattigen Bodens unter einem alten Olivenbaum. Niemand weiss, wer ihn gepflanzt hat und wann. Hoch ragt er empor, mit weitverzweigten Ästen und einem mächtigen, hohlen Stamm, in dem ein Mensch Platz finden würde. Solche Baumriesen nennt man »Ölbäume der Römer«. Vereinzelt stehen sie hier und da auf Feldern, an Wegen und in Höfen, als wären sie die letzten Überlebenden grosser Olivenhaine nach einem verheerenden Brand, Zeugen längst vergangener Epochen und ausgestorbener Geschlechter.
Die vier Alten haben keine Stammplätze, sie folgen dem wandernden Schatten, der je nach Jahreszeit mal grösser, mal kleiner ausfällt. Im Winter, wenn die Stürme Staubwolken aufwirbeln und Hände und Füsse vor Kälte erstarren, bleibt ihnen nur ein schmaler Streifen zum Sitzen, nicht länger als zwei Meter neben dem Stamm, wo sie Schutz und Zuflucht finden.
Der Olivenbaum ist nicht allzuweit entfernt vom Dorf, dessen Häuser verstreut wie weisse Kieselsteine zwischen den kleinen kakteenumsäumten Feldern liegen. Und doch genügt der Abstand, um dieses Fleckchen Erde zu einem Refugium zu machen, wo alte Männer wie sie tun und reden können, was sie wollen, ohne von Frauen und anderen Unbefugten beobachtet oder belauscht zu werden.
Das Plätzchen ist auch deshalb so behaglich, weil es fernab vom Lärm belebter Strassen liegt. Ein ganzes Feld trennt sie vom nächsten Weg, einem langen Pfad, der in östliche Richtung führt. Die Dörfler benutzen ihn, wenn sie zum »Mûlidibrunnen« gehen, um Wasser zu holen. Er endet allerdings nicht dort, sondern mündet, ein wenig verbreitert, in den »Weg der Bahren«. Auf ihm ziehen die Prozessionen zum Friedhof von Buarâra, wo sie ihre Verstorbenen bestatten.
Makki holt seine Tabaksdose aus der Tasche. Bevor er sie aufklappt, klopft er mit dem Zeigefinger auf den Deckel. Er stopft sich eine Prise in jedes Nasenloch und reicht die offene Dose erst Machmûd und Burni, dann Tajjib, der gerade hingegeben alles mögliche auf einen kleinen Haufen sammelt – Steinchen, Zweige, Olivenkerne, tote Käfer, verdorrte Blätter, ausgetrockneten Schafsmist.
Machmûd hustet. Seit Jahren hat er Tuberkulose, das weiss er vom Doktor aus Kairuan, der jeden Donnerstag nach Alâ kommt. Der Anfall ist kurz, aber heftig. Makki und Tajjib lassen keinerlei Anteilnahme erkennen. Sie haben genug eigene Zipperlein, von denen sie nicht einmal die Namen wissen. Nur Burni dreht sich zu Machmûd um und zeigt dem alten Freund mit einem mitfühlenden Blick seine Zuneigung. Als Kinder haben sie zusammen Verstecken gespielt, obwohl Machmûd bloss ein armer Bub war, der die Dorfziegen hütete. Auch später, in besseren Zeiten, als Machmûd bei der Kavallerie, den »Spahis«, diente, waren sie Freunde geblieben und hatten gemeinsam Rebhühner und Kaninchen gejagt. Doch was war das alles im Vergleich zu dem Freundschaftsdienst, den er Machmûd erweisen konnte! Damals gelang es ihm, den seligen Mûlidi zu überzeugen, dass er Chaddûdscha, die älteste seiner vier Töchter, Machmûd zur Frau gab. Leider war sie dann, noch keine dreissig Jahre alt, von einer heimtückischen Krankheit, einer Art Geschwulst, hinweggerafft worden …
Plötzlich bekommen alle Lust auf ein Spielchen.
Sie eröffnen eine Partie Charbaga, das einzige Spiel, das sie kennen und mögen. An sonstigen Zerstreuungen, die im Dorf gang und gäbe sind, finden sie keinerlei Gefallen. Vor allem das Kartenspiel in der Kneipe, über das sie haarsträubende Geschichten gehört haben, halten sie schlichtweg für »Schimpf und Schande«.
Sie ereifern sich. Feiner Staub steigt empor. Im Sitzen oder Liegen rücken sie dichter zusammen, aufgeregt beugen sie sich über die Reihe kleiner Löcher, die sie nach und nach mit Kieseln und trockenen Dungkügelchen füllen.
»Getroffen! Dein Hund ist tot!«
»Woher denn! Deiner ist futsch!«
Ihre Augen glänzen vor Begeisterung. Gespannt verfolgen sie, wie die Kugeln und Steine von einem Häufchen zum nächsten wandern. Ihre Hände fuchteln durch die Luft, treffen aufeinander, stossen sich. Am Ende lachen sie den Verlierer aus, bis ihnen die Augen tränen. Sie kämpfen gnadenlos, und meinen es doch nicht gar so ernst.
Haben sie sich beruhigt, geniessen sie die kleinen Dinge des Lebens. Sie legen ihre Kopfbedeckung ab, um sich erst einmal ausgiebig zu kratzen. Bedächtig befühlen sie ihre vorstehenden Rippen und die eingefallenen Bäuche, als wollten sie sich vergewissern, dass ihre Körper noch fähig sind, allen wirklichen und eingebildeten Krankheiten zu trotzen.
Behaglich reiben sie sich Brust und Rücken. Sie säubern ihre Zähne und Ohren mit Hölzchen, die sie von der Erde auflesen. Sie kürzen ihre Nägel und behandeln die Warzen, Pickel und Furunkel. Kleine Wunden reinigen sie von Eiter und Schorf und bedecken sie zum Schluss mit heissem Sand. Machmûd öffnet seinen Barbierkasten, der alle nötigen Utensilien enthält – Scheren, Rasiermesser und Seife, Bürsten mit polierten Holzgriffen und eine Haarschneidemaschine, »die dir ritsch, ratsch den Schädel glattmäht«, wie Tajjib zu sagen pflegt. Diese komplette Ausrüstung hat Machmûd bei seinem ersten und einzigen Besuch in Sussa gekauft, damals, als er noch Spahi war.
Alle möchten die Gelegenheit nutzen. Rasch greifen ihre Hände nach den Gerätschaften, um sie anzuwenden, so gut sie es vermögen. Sie rasieren sich Kopf und Kinn, entfernen die Haare unter den Achseln und in den Nasenlöchern, glätten ihre Augenbrauen, stutzen auch den wuchernden Wildwuchs dazwischen und zupfen die allzulangen Brusthaare aus.
Tajjib, der die Dschubba wie immer auf der blossen Haut trägt, will unbedingt sein Schamhaar rasieren. Er denkt nicht daran, manierlich beiseite zu gehen oder sich wenigstens umzudrehen. Im Gegenteil: Die Prozedur macht ihm erst richtig Spass, wenn alle anderen ihre Toilette beendet haben und die mit einem Baumwolltuch gereinigten Geräte fein säuberlich wieder im Kasten liegen. So verlangt es Machmûd, sonst würde er sie künftig nicht mehr mitbringen. Aus Angst vor einer Verletzung, zumal an so sensibler Stelle, spreizt Tajjib die Beine so weit wie möglich. Die anderen beobachten ihn. Sie verfolgen jede seiner Bewegungen, während er sein Geschlechtsteil hin und her wendet und nach Haaren sucht, die einen Schnitt vertragen könnten. Beharrlich müht er sich, das schlaffe Organ festzuhalten, das ihm wie ein brauner Teigklumpen immer wieder durch die Finger rutscht.
Burni und Machmûd müssen lachen. Makki zieht seinen Stock aus dem Sand. Ganz vorsichtig nähert er ihn Tajjib und tippt mit der Spitze an die baumelnden Hoden. Tajjib sagt kein Wort. Ruhig packt er den Stock, drückt ihn beiseite und setzt seine Arbeit fort. Doch Makki hört nicht auf, ihn zu necken. Von neuem streckt er den Stock vor, schiebt das Ende dann sanft unter die Hoden und hebt sie an.
Tajjib kennt Makki genau: Meistens ist er schweigsam und in sich gekehrt. Von Zeit zu Zeit aber drängt es ihn, aus sich herauszugehen und den anderen zu beweisen, dass er durchaus kein »kalter Stein« ist, wie Burni ihm immer vorwirft.
Tajjib ist sich auch im klaren darüber, dass niemand ausser ihm Makki eine echte Chance bieten würde, etwas Aufmerksamkeit zu erregen. Er möchte ihm den Rücken stärken gegen Burni und Machmûd. Das ist er Makki schuldig, allein schon für den Ärger, den er ihm bereitet, wenn er sich hin und wieder vor den anderen über seinen Sohn lustig macht: »Er hat von der Betäubung der armen Kranken gelebt.« Das sagt er, weil Makkis Sohn Narkosehelfer in der Klinik von Haffûs gewesen ist, bevor er nach Deutschland auswanderte und nichts mehr von sich hören liess. All das veranlasst ihn, Makki gewähren zu lassen. Burni und Machmûd lachen immer lauter. Tajjib wird angesteckt, tut aber so, als wollte er Makkis Stock fortstossen, um ungestört sein struppiges Schamhaar schneiden zu können. Gleich darauf prustet auch Makki los.
Ihr Lachen steigert sich zu einem schallenden Gelächter.
Langsam steigt es auf, ruckweise, abgehackt.
Altersschwache Lachsalven. Sie übertönen sich, durchdringen die reglose Luft.
Weisse Wollflocken, mit Tausenden Messern von einer gewaltigen Schafherde geschoren … So erscheinen die Wolken Makki, der ausgestreckt, die Arme unter dem Kopf, auf seinem Rücken liegt. Mit halbgeschlossenen Augen verfolgt er ihr langsames Gleiten Richtung Osten.
Dort, ganz weit oben, wohnt Gott. Irgendwo zwischen diesen Wolken, die wie geschorene Wolle aussehen, beobachtet er die Welt. Er sieht alles, er hört alles. Und er schreibt es auf.
Makki ist vor der Zeit zum Olivenbaum gekommen. Doch er bleibt nicht lange allein, kurz darauf gesellt sich Burni zu ihm. Obwohl sie mehr als sechs Meter voneinander entfernt sitzen, befinden sich beide vollkommen im Schatten, der zu dieser Stunde wie ein gewaltiger Brotfladen rings um den Baum liegt.
»Si Burni …«, sagt Makki, ohne sich vorzubeugen.
Burni, der behaglich über seine Rippen streicht, stutzt und hebt vorsichtig den Kopf, als vernähme er ein sonderbares Geräusch.
»Si Burni, ich bin nur ein ungebildeter Mann. Halte mich darum nicht gleich für einen Ungläubigen. Es gibt da Dinge, die ich nicht verstehe, die ich aber verstehen möchte.«
Burni lässt endgültig von seinem Brustkorb ab. Dieses Streicheln ist eine Marotte von ihm, besonders, wenn er so geruhsam mit sich oder diesem einsilbigen Makki allein ist. Auch jetzt hört er nur widerwillig damit auf. Er zieht beide Hände unter dem Hemd hervor und setzt sich aufrecht hin. Die Verblüffung ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Nicht zu fassen: Makki, »der kalte Stein«, will sich unterhalten! Noch dazu über gewichtige Dinge, die ihn anscheinend schwer beschäftigen. Ausgerechnet er, dem man grosse Gedankenflüge kaum zutrauen würde!
»Du kennst doch den Koran auswendig und weisst so viele … viele … ich hab vergessen, wie das heisst.«
»Achsâb, das sind Koranteile«, ergänzt Burni, sichtlich nervös.
»Genau! Also, du weisst eine ganze Menge davon auswendig, und wie du ja selber immer sagst: Gott liebt die Wissenschaft und die Wissenden. Du bist weit herumgekommen und hast an den Orten mit Schafmärkten viele Gelehrte und Scheiche kennengelernt. Und jedesmal hast du etwas Neues erfahren …«
»Was willst du?« unterbricht ihn Burni, der diese lange Vorrede und die Lobhudeleien nicht mehr erträgt. Gerade jetzt, wo er in aller Ruhe noch ein bisschen seine Seiten streicheln wollte, bevor Machmûd und Tajjib kommen!
»Wie gesagt, halte mich nicht für einen Ungläubigen, nur weil ich nicht allzuviel weiss. Ich möchte, dass du mir vom Tag der Auferstehung erzählst …«
»Vom Tag der Auferstehung?« ruft Burni verblüfft, als traute er seinen Ohren nicht.
Aber Makki lässt keinen Zweifel, und er bietet ihm keine Gelegenheit für Ausflüchte oder Winkelzüge.
»Ja doch … vom Jüngsten Tag, dem Tag des Gerichts …«
Burni gibt sich locker. Laut auflachend, reckt er die Arme in die heisse Luft, glättet dann den Sand mit seinen Fingerspitzen und liest ringsum Strohhalme und trockenen Mist auf. Doch umsonst – mit der Ruhe ist es aus und vorbei. Da kommt dieser Makki daher, dem man solche Fragen nie zugetraut hätte, weil er strohdumm ist und nicht mal seinen Namen schreiben kann, und wirft ein gewaltiges Thema auf, an das sich höchstens Religionsgelehrte wagen! Bestimmt liegt es an den Leichenzügen, die er gestern auf dem »Weg der Bahren« beobachtet hat. Die müssen ihn völlig durcheinandergebracht haben.
Burni möchte am liebsten aus der Haut fahren. Er weiss, dass er sich vor Makkis Frage nicht drücken kann. Aber was soll er sagen? Schliesslich hat er den Koran auswendig gelernt, und mit Gelehrten hat er auch verkehrt, damit brüstet er sich immer. Gerade deshalb muss seine Antwort hieb- und stichfest sein! In Religionsdingen gibt es keine Spitzfindigkeiten. Um so weniger, wenn es sich um den Tag der Auferstehung und das Jüngste Gericht handelt.
»Hör zu, Si Makki. Das Thema, das du da anschneidest, ist ganz eindeutig geregelt. Im Wort Gottes, des Allmächtigen und Erhabenen, heisst es klipp und klar: ›Alles auf Erden ist vergänglich, aber es bleibt das Angesicht deines Herrn voll Majestät und Ehre.‹ Also, nachdem die Welt vergangen ist, stehen die Toten aus ihren Gräbern auf, denn Gott belebt ihre Gebeine, selbst wenn sie schon verfault sind. Sodann wird jede Seele für ihre Taten gerichtet. Wer etwas Gutes vollbracht hat, und sei es nur im Gewicht eines Stäubchens, der wird es zu sehen bekommen und ins Paradies gelangen. Wer aber Böses getan hat, und sei es ebenso geringfügig, der wird es desgleichen sehen und landet in der Hölle.«
Er schielt zu Makki, der noch immer in die Wolken starrt, und mustert ihn ein wenig beklommen. Nach einer Weile atmet er erleichtert auf. Er hat das Gefühl, sich aus einer peinlichen Klemme befreit oder eine knifflige Prüfungsfrage richtig beantwortet zu haben.
»Gute Taten, das Paradies, die Hölle … Solche Sachen weiss doch jeder.«
»Warum fragst du dann?«
Burni wird wieder nervös. Unruhig rutscht er auf seinem Platz hin und her, reckt den Hals und fuchtelt mit den Händen durch die Luft, als versuchte er etwas zu greifen, was ihm helfen könnte, Makkis Herausforderung zu parieren.
»Mir geht’s um die Einzelheiten …«
»Was denn für Einzelheiten?«
»Reg dich nicht auf, Si Burni! Ich sag dir ja, ich habe gar keine Bildung. Trotzdem bin ich ein ebenso guter Muslim wie du. Manchmal fällt mir irgendwas ein, und das lässt mich dann einfach nicht mehr los. Ich möchte, dass du es mir erklärst, schliesslich kennst du dich aus mit dem Koran. Erzähl mir zum Beispiel vom Feuer.«
»Vom Feuer?«
»Ja, vom Höllenbrand …«
»Bist du noch bei Trost, Makki? Was faselst du da? Feuer ist Feuer, ganz einfach!«
»Brennt es genauso wie eins, das wir daheim anzünden? Das wärmt und alles hell macht?«
»Na klar.«
»Also wie ein gewöhnliches Feuer, auf dem wir unser Essen kochen?«
»Ja doch. Wie sollte es denn sonst sein?«
»Keine Ahnung. Ich frag ja bloss ….«
»Es heisst: ›ein loderndes Feuer‹.«
Makki befühlt seinen Stock, den er neben sich in den Sand gesteckt hat.
Burni nutzt das eingetretene Schweigen und deklamiert in festem, drohendem Ton, um ihn einzuschüchtern: »Die Ungläubigen erwartet die Höllenstrafe, die Strafe des Verbrennens … An jenem Tage wird es niedergeschlagene Gesichter geben … Sie werden in loderndem Feuer schmoren … in einer flammenden Lohe … Gott hält für die Ungläubigen Ketten und Halseisen bereit, und den Höllenbrand …« Er stockt, obwohl er weiterreden möchte. Sein Gedächtnis lässt ihn im Stich, und er will im Eifer nichts sagen, was er später bereuen könnte.
Makki bittet Gott mit leiser Stimme erst mehrmals um Verzeihung, bevor er sich wieder fasst. Dann meint er trocken: »Das muss ja ein gewaltiges Feuer sein.«
»Der Allmächtige kann alles vollbringen.«
»Ein Feuer, so gross wie ein Berg … ausreichend, um alle Ungläubigen zu verbrennen …«
»So ist es.«
»Juden, Christen … sämtliche Übeltäter … und Mörder …«
»Jawohl!«
»Und alle schmoren?«
»Gewiss doch.«
»Sie gehen in den ewigen Tod?«
»Ja, das Höllenfeuer wird sie verschlingen.«
Burni beugt sich leicht vor und schliesst die Augen. Ein leiser Zweifel beschleicht ihn. Ob Makki mit diesen vagen Auskünften zufrieden ist? Hat er nicht vielleicht zu rasch geantwortet? Er fürchtet, ungewollt etwas Gottloses gesagt zu haben. Ängstlich erinnert er sich, dass der Unglaube des Wissenden schlimmer ist als der des Unwissenden.
Er hebt den Kopf und lugt heimlich zu Makki, der andächtig die Finger über der Brust gefaltet hat. Woher nimmt er nur solche Fragen? Wie kommt er darauf, dieser »kalte Stein«, der sonst kaum seinen Mund aufkriegt? Aber wenn er mal etwas sagt, schwirrt einem davon der Kopf. Angst und bange kann einem werden.
»Und der Tod, Si Burni?«
»Wo ihr auch seid, ereilt euch der Tod … Jede Seele wird den Tod schmecken … Dies ist das Gesetz Gottes … Ewig ist nur das Antlitz deines allmächtigen, erhabenen Herrn …«
Jetzt ist er auf der Hut. Er weiss, dass Makki sich mit diesen Antworten nicht begnügen und weiterbohren wird. Deshalb muss er wachsam bleiben und gut überlegen, was er sagt. Vor allem heisst es, Ruhe bewahren. Unmöglich, dass ein erfahrener, gebildeter Mann wie er wegen einer einfachen Frage über das Jenseits so konfus herumstottert!
»Das mit dem Todesgeschmack habe ich schon ein paarmal von dir gehört.«
»Ja, denn jede Seele …«