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Taufîk lebt seit langem als Lehrer in Paris, in seine tunesische Heimat kommt er nur noch selten. Umso größer ist die Freude seines Bruders Ibrahîm, als er sich bei ihm und dessen Familie für drei Wochen einquartiert. Aufmerksam und mit dem charakteristischen Blick eines Migranten, der zwischen zwei Kulturen lebt, registriert Taufîk, was sich in den letzten Jahren verändert hat: Ibrahîms Frau Jussra ist tiefreligiös geworden, ihr Sohn Wâil begleitet seinen Vater mit Begeisterung zum Freitagsgebet in die Moschee. Argwöhnisch beäugen sie ihre Nachbarin Naîma, die als Geschiedene Männerbesuche empfängt. Taufîk beginnt sich für die geheimnisvolle Frau zu interessieren und stellt ihr nach. In Tunis begegnet man Migranten wie ihm mit einer Mischung aus Bewunderung und Misstrauen. Allzu oft, so klagt man, protzten die Exiltunesier hier mit ihren großen Autos, während sie in Frankreich nur die Drecksarbeit erledigten. Zugleich träumen nicht wenige Einheimische davon, auf irgendeinem Wege selbst nach Europa zu gelangen und dort ihr Glück zu suchen. Habib Selmi schaut in seinem Roman von außen auf die tunesische Gesellschaft und die sich verändernde Bedeutung der Religion im Leben der Menschen. Er enthält sich aber eines Urteils und überlässt es dem Leser, der Leserin, eigene Schlüsse zu ziehen.
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Seitenzahl: 247
Veröffentlichungsjahr: 2014
Der Autor
Habib Selmi wurde 1951 in Kairuan (Tunesien) geboren. Er ist Universitätsdozent für Arabisch und lebt seit 1983 in Paris. Selmi hat Romane und Erzählbände veröffentlicht und gilt als einer der wichtigsten tunesischen Autoren arabischer Sprache. Im Lenos Verlag erschienen seine Romane Bajjas Liebhaber (2006) und Meine Zeit mit Marie-Claire (2010).
Die Übersetzerin
Regina Karachouli, geboren 1941 in Zwickau. Studium der Arabistik und der Kulturwissenschaften in Leipzig. Promotion über Dramatik und Theater in Syrien. Von 1975 bis 2002 Lehr- und Forschungstätigkeit am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Übersetzerin zahlreicher literarischer Werke aus dem Arabischen (u.a. von Iman Humaidan, Sahar Khalifa, Alia Mamduch, Hanna Mina, Sabri Mussa, Alifa Rifaat, Tajjib Salich und Nihad Siris).
Die Frauen von al-Bassatîn
Die Grünanlage vor den Wohnblocks ist unverändert, nur die Pflanzen sind gewachsen. Die Zypressen ragen höher, und die Oleanderbüsche blühen üppiger.
Schnell und mühelos habe ich sie gefunden, trotz der Neubauten, die im Viertel al-Bassatîn inzwischen wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Der Park liegt direkt an der Rue Abou El Kacem Chebbi, der Hauptstrasse vor der Polizeistation, die man nicht einmal nachts übersehen könnte.
Durch die Anlage führt ein langer, gepflasterter Weg, von dem mehrere kurze Pfade zu den verstreuten Gebäuden abzweigen. Meinen schweren Koffer hinter mir her rollend, tappe ich den Weg entlang, umfahre die Löcher, soweit ich sie im Laternenlicht erkennen kann, und weiche den Katzen aus, die in den achtlos entsorgten Abfällen und Essensresten herumstöbern. Am Eingang des Gebäudes, in dem mein Bruder Ibrahîm wohnt, kann ich keinen Lichtschalter finden. Vorsichtig taste ich mich im Dunkeln die Treppe hinauf. Es gibt nur vier Etagen, seine Wohnung liegt in der obersten. Ein anderes Stockwerk kommt für ihn nicht in Frage. Er sagt, allein die Vorstellung, dass über seinem Kopf »Männlein und Weiblein miteinander essen und schlafen, baden und Sex haben, pinkeln und pupsen«, würde ihn fix und fertig machen und ihm das Leben vermiesen.
Ibrahîm umarmt mich lange und herzlich. Von allen meinen Geschwistern steht er mir schon altersmässig am nächsten, ich bin nur ein Jahr älter. Jussra, seine Frau, küsst mich diesmal nicht zur Begrüssung, wie sie es sonst immer getan hatte. Sie hält mir schlaff die Hand hin, wobei sie gleichzeitig mit dem Oberkörper vor mir zurückweicht.
Dieses seltsame Benehmen verstehe ich erst, als sich Ibrahîm herüberbeugt und mich aufklärt: »Sieh mal, das ist so… Jussra verhüllt sich nämlich…« Als wollte er sich gegen eine gefährliche Beschuldigung verteidigen, setzt er eilig hinzu: »Sie hat das ganz alleine beschlossen, sie wollte sich verhüllen. Ich habe nichts damit zu tun!«
Jussra senkt den Kopf. »Ich hatte mir schon seit einer Weile vorgenommen, den Hidschâb zu tragen. Gott, der Gepriesene und Erhabene, hat mir endlich die Augen geöffnet.«
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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