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Bereits als kleiner Junge besaß er die Gabe des ›Zweiten Gesichts‹. Bald war er als ›Unheilbringer‹ verschrien und von allen gemieden. Nach seiner Lehre verlässt er seinen Heimatort und nimmt eine Stelle in Schiltach, wo niemand seine Vergangenheit kennt, an. Dort findet er drei nette Freunde und alles könnte Bestens sein. Bis das Schicksal brutal in sein Leben eingreift und ihm unerbittlich eine Aufgabe stellt: eine magische Schatzsuche! Sein Leben gerät völlig durcheinander. Dabei ist ihm klar, dass bisher kaum jemand, der zum Spielball übernatürlicher Mächte wurde, heil aus der Angelegenheit hervorging! Unterstützung findet er nur bei einem kleinen Mädchen, welches ihm unbeirrt vertraut. Als er dem Schicksal Auge in Auge gegenübersteht, eine Entscheidung treffen muss, überschreitet Maria die ›magische Grenze‹ und folgt ihm in das ›Dunkle Land‹!
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Seitenzahl: 475
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Klaus F. Kandel
Ball der Verdammten
Mystische Schwarzwaldgeschichten II
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Teil I
Teil II
Teil III
TeiL IV
Impressum neobooks
»Schlampen! Allesamt Schlampen!«
Nach dieser tiefsinnigen, in nachdrücklichem Ton vorgetragenen Feststellung genehmigte sich Karl einen kräftigen Schluck – nicht sein erster am heutigen Abend! - aus seinem soeben frisch nachgeschenkten Bierglas. Er hatte ihn, seiner Meinung nach, wahrlich verdient!
Zustimmend nickten seine drei Freunde, ebenfalls ihre Gläser aufnehmend. Nicht, dass sie Karl besonders ernst nahmen. Das Thema war keinesfalls neu. Alle paar Wochen fand sich wieder eine, welche, man konnte es wohl kaum anders ausdrücken, auf Karls Anmache hereinfiel. Dummerweise hatte es bisher keine länger als allerhöchstens vier Tage mit ihm ausgehalten.
Karl seufzte tief auf und trank einen Schluck. Viola! Diese elende Schlampe! Eiskalt hatte sie ihn sitzen lassen! Reagierte auf keinen Anruf, auf keine SMS.
Natürlich waren alleinig die blöden Weiber an diesen Tragödien schuld, er doch nicht! Schließlich war er ein stattlicher Mann – einige unfreundliche Zeitgenossen bezeichneten ihn als ein wenig korpulent, aber wer hörte schon auf diese? -, welcher den Tussis einiges bieten konnte. Und dies, wenn es denn gewünscht wurde, mindestens zwei Mal die Nacht. Erzählte er jedem. Ob der's wissen wollte oder nicht. Zudem, sein aufgemotzter Schlitten! Echt Spitze! Sein rasanter, dennoch sicherer Fahrstil war schließlich allererste Sahne! Die Handvoll Strafzettel stellten kein ernsthaftes Hindernis dar. Und dass er schon mal vorübergehend Fußgänger war? Pah! Lediglich einen Monat lang! Kein Beinbruch! Warum mussten diese dämlichen Sicherheitsfanatiker auch die B33 auf 80 Km/h begrenzen? Wegen der paar toten Deppen, die nicht Auto fahren konnten? Lächerlich!
Sein guter Verdienst als Geselle in einem nahegelegenen, recht bekannten Fleischereibetrieb, Richtung Schramberg, ermöglichte ihm eine eigene kleine Zweizimmerwohnung in Schiltach. Das wichtigste Möbelstück darin bestand aus einem extrabreiten Bett. Sowie einem gut gefüllten Kühlschrank. Vor allem mit Bier. Essen? Wozu? Dafür gab's in der Nachbarschaft genügend gemütliche Kneipen!
Und zudem besaß er, nicht zu übersehen, einen Großbildfernseher an einer aufwendigen Satellitenschüssel und einen DVD-Player – schließlich musste man die zum Anheizen vorgesehenen Filme bequem betrachten können - sowie zusätzlich eine erlesene Sammlung von Horrorfilmen. Nicht zu vergessen, seine Heavy-Metal-CDs. Halt alles, was ein richtiger Mann nun einmal brauchte.
Kondome vor allem! Eine ganze Nachttischschublade voll! Schließlich legte er einen besonderen Wert auf Safer Sex und vor allem darauf, ja keine der Tussis versehentlich zu schwängern!
Also wirklich! Was erwarteten diese Schlampen sonst noch?
Tief in seine betrübten Gedanken versunken, achtete er kaum auf die Gespräche seiner Kumpel. Mit seinen neunundzwanzig Jahren warKarl der Älteste und zugleich der Wortführer des Quartetts. Normalerweise. Außer wenn ihn mal wieder eine abserviert hatte. Danach hielt er sich vorübergehend zurück.
Die anderen drei?
Dirk war gelernter Industriekaufmann, hochgewachsen, gut einsfünfundachtzig groß und dabei sehr schlank, eher schon recht hager. Ab und an zog er mit jungen Frauen aus der Schiltacher Firma, in der er arbeitete, um die Häuser. Aber zu einer festeren Bindung hatte es bisher nie gereicht. Im Gegensatz zu Karl nahm er die Sache mit Frauen leicht. Wenn eine ›Ja‹ sagte, gut, wenn nicht, was sollt's? Eine flüchtige Begegnung alle paar Monate genügte ihm, mehr wollte er nicht. Eine dauerhafte Beziehung? Dafür fühlte er sich noch viel zu jung. Später vielleicht. Erst wollte er mehr von seinem Leben haben. Sagte er. Wenn man genauer nachfragte, was dies bedeutete, konnte er seine Wünsche und Ziele nicht richtig beschreiben. »Abwarten!«, gab er auf diesbezügliche Fragen zur Antwort.
Statussymbole waren ihm hingegen wichtig. Eine mit teuren Möbeln ausgestattete Zweizimmerwohnung im Kernstadtbereich, ungefähr fünfzig Quadratmeter aufweisend, war sein ganzer Stolz. Während der Arbeit trug er stets Anzüge und geschmackvolle Krawatten, immerhin hatte er dienstlich Kundenkontakte. Hinzu kam sein dunkelblauer Golf V, nicht gerade billig. Na ja, so ganz stimmte es nicht, denn genau genommen handelte es sich um einen Vorführwagen. Immerhin machte der auf dem Firmenparklatz einen guten Eindruck. Kein Vergleich zu den vielen anderen mickrigen Kleinwagen, welche dort dutzendweise herumstanden!
Hans?
Dieser arbeitete in der gleichen Firma wie Dirk, jedoch in der Fertigung als Feinmechaniker. Manchmal sahen sie sich in der Kantine, ansonsten hatten sie arbeitsmäßig nichts miteinander zu tun. Angestellte und Arbeiter. Eine althergebrachte Zweiklassengesellschaft. War dort schon immer so und würde es vermutlich weiterhin noch recht lange bleiben. Mit seinen achtundzwanzig Jahren wohnte er als Einziger der Freunde bei seinen Eltern. Warum auch nicht? Ein geräumiges Zimmer mit Vollversorgung im Hotel Mama und Papa. Was wollte er mehr? Sein Geld sparte er, wo es nur ging. Einzige Ausnahme waren seine Bierchen. Außerdem hatte er im Gegensatz zu seinen Kumpels eine klare Vorstellung von seiner Zukunft: ein bescheidenes Häuschen und eine nette, sparsame Frau. Des Nachbars Töchterlein? Sehr gerne! Er himmelte sie aus der Ferne an, getraute sich aber nicht, sie anzusprechen. Aber vielleicht demnächst, bei einem der üblichen Stadtfeste? Wer weiß? Andererseits, wenn er sie einladen würde, konnte das auf Dauer kräftig ins Geld gehen. Wenn sie gar bei ihm bliebe und ab und an tanzen gehen wollte? Oder womöglich ins Kino mit ihr und anschließend vielleicht zusammen noch eine Kleinigkeit essen? Beim Gedanken an die zu erwartenden Kosten wurde ihm bereits schlecht. Diese Ausgaben! Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, nur ein Begriff wurde Hans gerecht: Er war schlicht und ergreifend geizig! Ein Schwabe wie aus dem Bilderbuch!
Und der Letzte im Bunde?
Ullrich, von allen stets Ulli genannt und gerufen. Mit sechsundzwanzig der Jüngste im Quartett. Und der Ruhigste. Kaum, dass er das Wort ergriff. Er stammte zudem nicht aus der Gegend. Kam aus Nordbaden. Dort hatte er keinen geeigneten Arbeitsplatz gefunden – der Betrieb, welcher ihn ausgebildet hatte, musste unerwartet Insolvenz anmelden – und war deshalb hierher gezogen. Von Anfang an bewohnte er eine winzige Dachgeschosswohnung im Hause seines jetzigen Meisters. Dieser betrieb eine kleine Möbelschreinerei, nur er und drei Gesellen, Ullrich mitgezählt. Die zwei anderen Gesellen waren älter als er, längst verheiratet und hatten Kinder. Gestandene, ernsthafte Männer. Sie hatten Ullrich gleich akzeptiert und es ihm leicht gemacht, sich hier einzugewöhnen. Lediglich mit Freunden in seinem Alter hatte es anfangs nicht so recht geklappt. Zumal er kein Auto besaß. Er legte keinen Wert auf ein eigenes Fahrzeug. Und einen Führerschein besaß er vermutlich auch nicht. Er benötigte auch keinen. Für die nähere Umgebung genügte sein Trekkingrad. Ansonsten waren die vorhandenen Bus- und Bahnverbindungen für ihn mehr als ausreichend.
Ein Mal die Woche fuhr er mit der Bahn nach Offenburg, der Kreisstadt der Ortenau. Niemand wusste, was er dort tat, aber jeder dachte sich seinen Teil. Zumal Ulli danach immer recht müde und erschöpft war. Ja, ja! Die jungen Männer halt! In Offenburg gab es einige mehr oder weniger diskrete Etablissements und, wie man von einigen Seiten munkeln hörte, auch viele nette Thaifrauen. Natürlich wusste niemand Genaueres. Was zusätzlich zum Tratsch beitrug. Aber da ihn keiner je dort angetroffen hatte, hüteten sich alle, zu deutlich zu werden. Schließlich wollten sie keine Anzeige wegen übler Nachrede riskieren. Im Stillen wurde indessen weiterhin fleißig getuschelt und gemutmaßt, zumal man ihn nie mit einer Frau sah. Ullrich störte es nicht und der Meister lächelte verständnisvoll. Ein junger Mann im besten Saft und voller Kraft? Verständlich! Da war ein Mal die Woche keineswegs zu viel! Zumal es der Qualität seiner Arbeit keinen Abbruch tat. Eher im Gegenteil! Am Tage ›danach‹ war seine Arbeit eher noch besser!
Was diese anbetraf, so war Ullrich ein überaus geschickter Tischler und entwickelte sich unter den Fittichen des Meisters mehr und mehr zu einem erfolgreichen Restaurator alter Möbel hin. Was sich schnell herumsprach und der Schreinerei weitere lukrative Aufträge bescherte. Der Schreinermeister war von seinem jüngsten Mitarbeiter sehr angetan!
»Alles ausgebuffte ...«, grummelte Karl wieder vor sich hin, wobei das letzte Wort nicht mehr verständlich war. Egal, sie konnten's sich denken.
»Wir sollten zahlen und Karl nach Hause bringen! Der gehört ins Bett und sollte seinen Rausch ausschlafen!«
Ullis Vorschlag wurde, wenn auch unter heftigem Protest von Karl, angenommen. War auch wirklich besser so!
*
Wie war er damals an die drei Kumpels geraten? Genau genommen, reiner Zufall. So richtig konnte Ulli sich nicht mehr daran erinnern.
Am Anfang war er einfach in eines der Wirtshäuser in Schiltach gegangen. In einem Touristenort konnte man kaum fehlgehen, ein Gasthof war im Grunde genommen so gut wie der andere. Seitlich, an einem kleinen Tisch, hatte er sich mit einem Krug Bier niedergelassen – wirklich, die Biere im Schwarzwald waren ausgezeichnet! – und entspannt den anderen Gästen zugesehen. Schnell war die kleine Kneipe voll gewesen. Drei junge Männer kamen herein und sahen sich suchend um. Nur an seinem Tisch waren noch ausreichend Plätze frei.
Sie steuerten auf ihn zu und sahen ihn fragend an, woraufhin er einladend nickend und mit einer leichten Handbewegung auf die Stühle wies.
Es wurde anschließend ein recht gemütlicher Abend. Wenige Tage später, er probierte gerade die Gasthäuser Schiltachs durch, traf er sie wieder. Sie erkannten ihn sofort und luden in lauthals an ihren Tisch ein. Gerne setzte er sich zu ihnen. Er kannte in Schiltach niemanden in seinem Alter und ein wenig Abwechslung tat gut. Nicht immer allein zu sein, war auch recht schön. Dass man die sie heimlich das ›Loser-Trio‹ nannte – wahrscheinlich würde es nun bald ›Loser-Quartett‹ heißen -, störte ihn nicht sonderlich. Beim Bier ging es nicht um tiefsinnige Gespräche, sondern um die alltäglichen Probleme. Mit Mädchen zum Beispiel.
Die Jungs stellten keine übertriebenen Ansprüche und nahmen ihn zu den Festen rundherum mit. Ehrlich, diese Touristenorte! Andauernd veranstalteten sie irgendwo ein Fest! Kiwi, Dorfhock, Wein- und Flößerfeste, laufend fand irgendwo eine Veranstaltung statt! Nach den ersten Ausfahrten hatte er sich angewöhnt, möglichst unauffällig bei Dirk oder Hans mitzufahren. Karls Fahrweise war ihm manchmal ein wenig zu unorthodox. Da er noch lange leben wollte ...
Nette Kumpels, die drei. Und ihre kleinen Macken? Nicht der Rede wert! Zumal, wer war schon perfekt? Dass die Jungs bei ihrer Anmache nicht allzu erfolgreich waren, wen störte es? Andere hatten meist auch nicht mehr Erfolg. Die Ansprüche der jungen Damen heutzutage - na ja, Damen waren sie meist eher selten, zumindest waren sie nicht annähernd das, was er unter einer Dame verstand -, waren ziemlich hoch. Ob diese zu Recht bestanden, bezweifelte er. Kein normaler Mann konnte mit den gestylten Typen aus Film, Fernsehen oder Hochglanzmagazinen konkurrieren. Was viele Frauen überhaupt nicht einsahen. Die blendend aussehenden Typen besaßen meist noch weniger Gehirn als ihre jeweiligen Freundinnen, welche wiederum oftmals mehr in der Bluse als im Kopf hatten. Kein Wunder, dass es derart viele alleinerziehende Mütter und gescheiterte Ehen gab!
Und da dem ›Quartett‹ in der hiesigen Damenwelt kein allzu guter Ruf voraneilte – genauer, er war sogar äußerst negativ! -, kam er auch nicht in die Verlegenheit, sich mit Mädchen abgeben zu müssen. Sein Beruf und seine Hobbys füllten ihn voll aus. Und außerdem sollte er sich in nächster Zeit das Angebot seines Meisters in aller Ruhe überlegen ...
Andererseits, er hasste es, von jemandem abhängig zu sein, jemandem Dank zu schulden.
Plötzlich kam ihm die Erleuchtung: Plan ›C‹!
Überwiegend online abgewickelt, der unumgänglich notwendige Rest an Papierkram über ein diskretes Postfach ausgeführt! Sein tariflicher Urlaub würde zwar auf Dauer nicht ausreichen, aber ein oder zwei Wochen unbezahlt freinehmen war sicher möglich! Und niemand in Schiltach würde von Plan ›C‹ erfahren! Klasse!
Zufrieden rieb er sich die Hände.
*
Vor ein paar Tagen hatte ihn sein Chef, Schreinermeister Wagner, beim Frühstück angesprochen:
»Sag mal, Ullrich! Möchtest Du nicht irgendwann einmal die Meisterprüfung ablegen? Du bist jetzt vier Jahre bei uns und willst sicherlich nicht ewig als Geselle weitermachen, oder?«
Darauf war er nicht gefasst gewesen, sodass er den Meister überrascht angestarrt hatte. Behutsam griff dessen Frau ein:
»Wir wissen, dass du viel mehr kannst und weißt, als du nach außen hin zeigst. Du liest viel und etliche deiner Bücher sind derart komplex, dass selbst mein Mann nichts von dem versteht, was drinsteht! Du hast ausgezeichnete Abiturnoten und bist handwerklich sehr geschickt! Du hättest auch das Zeug zum Studieren, wenn du nur wolltest. Möglicherweise liegt dir die Schule als solche nicht besonders, aber eine Meisterprüfung als Tischler oder Schreiner, vielleicht gar als Restaurator, müsste für dich, bei deinen Fähigkeiten, geradezu ein Klacks sein!«
Er wusste nicht, was er antworten sollte. Dann ergriff der Meister wieder das Wort und meinte abschließend:
»Überlege es dir, Ulli! Wenn's am Geld liegen sollte, wir helfen dir gerne! Nur, denke darüber nach, ob du für den Rest deines Lebens wie unsere beiden Gesellen leben willst! Sie haben nicht rechtzeitig an ihre Zukunft gedacht, und jetzt sind sie zu alt zum Lernen! Selbst deinen Freunden steht die Welt noch offen! Aus Karl kann jederzeit ein tüchtiger Metzgermeister mit einem eigenen Laden werden, Dirk kann sich ebenfalls weiterqualifizieren und wer weiß, ob sich Hans nicht sogar noch einmal aufrafft? Vielleicht schafft er's zum Industriemeister oder gar zum Techniker? Noch ist alles möglich! Aber mit jedem weiteren Jahr wird es jedem Einzelnen von euch immer schwerer fallen, sich freizumachen, um zu lernen! Nutze deine Chance, solange es noch geht!«
Der Schreinermeister war sehr ernst geworden. Danach erhob er sich und meinte:
»Ab in die Werkstatt! Dort warten zum Glück viele Aufträge auf uns!«
*
Prüfend blickte er zum Himmel. Der Tag versprach strahlend schön zu werden und vor allem trocken zu bleiben. Ein idealer Samstag für eine ausgiebige Radtour!
Ein kleiner Rucksack mit isotonischen Getränken, eine dünne, wasserfeste Windjacke, mehr benötigte er nicht. Keine teuren Sportartikel, nur einfache Kleidung. Ja keinen Stress!
Gemütlich mit dem Trekkingbike das Tal der Schiltach hochfahren, die Schiltachquelle aufsuchen und unterwegs nebenbei auf ein paar Ruinen hochklettern.
Bis Schramberg ging's verhältnismäßig gemütlich. Zwar immer leicht ansteigend, aber nicht besonders anstrengend. Allerdings wurde es langsam heiß. Mitten in der Sommerzeit eine ausgedehnte Radtour, vielleicht war's doch keine gute Idee!
Die Burgruine Schilteck und die Ruine Nippenburg, allgemein eher als Hohen-Schramberg bekannt, interessierten ihn nicht. Zu sehr für Touristen hergerichtet. Doch gleich hinter Schramberg lag die Ruine Falkenstein.
Genau genommen gab es zwei übereinanderliegende Ruinen, die Obere und Untere Falkenstein. Drei Wege führten den Berg hinauf, wobei einzig der mittlere auch über die untere Ruine verlief. Sein Fahrrad band er mit einer festen Kette am Geländer des kleinen Kanals an, welcher zu der Sägerei am Ortsende floss.
Der Weg führte überraschend steil hoch. Zwar war er einigermaßen breit und bequem, aber die Steigung hatte es in sich. An der Ruine angelangt, ging es durch eine verfallene Mauer in einen Graben. Ziemlich enttäuschend! Gleich darauf erkannte er, wie sehr er sich geirrt hatte. Kaum dreißig Meter weiter erhob sich rechts, ein wenig seitlich und gut zehn Meter hinter ihm, die bisher vor seinen Blicken verborgen gelegene Ruine! Alle Achtung! Er umrundete das Gemäuer und konnte dann das Innere betreten.
Wirklich, allein schon wegen der Aussicht hatte sich der Aufstieg gelohnt.
Zuerst ein paar Bilder geknipst, dann eine Rast eingelegt. Seine digitale Pocketkamera reichte für anspruchslose Erinnerungsfotos durchaus, denn seine Ansprüche waren nicht gerade als hoch zu bezeichnen. Hauptsache war doch, man erkannte auf den Bildern überhaupt etwas!
Nachdem er sich einige Minuten ausgeruht und ein paar Schlucke getrunken hatte, machte er sich weiter auf den Anstieg zur Oberen Falkenstein. Also, was die Steigung anbetraf, es wurde eher noch steiler! Und was den Weg anging, mehr als schmal und dann, der Blick nach unten ...
Verdammt! Das war stellenweise ja geradezu gefährlich! Er durfte halt nicht dauernd ins Tal hinabblicken!
Irgendwann war auch das geschafft. Die obere Burgruine war sogar wesentlich besser erhalten als die untere. Ein schmaler Gang führte durch wuchtige Mauern zur höchsten Plattform. Dabei kam er an einer hölzernen Tür vorbei, welche, wie er sich durch kräftiges Rütteln überzeugte, leider verschlossen war. Ein schmaler Spalt gab einen Blick auf einen schweren Holztisch mit geschnitzten Stühlen frei. Ob da drinnen auch noch heutzutage ab und an gefeiert wurde?
Das Mittelalter ...
Sein heimlicher Traum, seine innerlich tief brennende Sehnsucht ...
Eindeutig! Er lebte in der falschen Zeit! Ritter, Knappen und wunderschöne Burgfräulein! Feste und Schlachten, Kämpfe und ausufernde Gelage! Auf sein unbesiegbares Langschwert gestützt, in schimmernder Rüstung, eine holde, blond gelockte Maid im Arm, hoch auf den Zinnen von ...
Sich nähernder Kinderlärm schreckte ihn aus seinen Tagträumen hoch. Touristen! Sie hatten wohl den breiten, harmlosen Weg Nr. 1 gewählt. Traurig stieg er die ausgetretenen Stufen endgültig hoch, sich oben an die Mauer lehnend, den Blick das Tal hinauf gerichtet. Wieder stiegen Träume in ihm auf. Prächtig gewandete Reiter auf stolzen Rossen, mit wehenden Flaggen und Standarten, gefolgt von knarrenden, ächzenden Wagen ...
Seine Reisigen, seine Untergebenen ...
Die Vision war kurz. Gleich darauf fand er wieder in die Realität zurück. Und wieder einmal fragte er sich: Wer war er wirklich? Die Erkenntnis war, wie schon oft, sehr bitter: Lediglich ein dummer Tagträumer der Neuzeit, ohne Ziel und ohne Antrieb. Kein inneres Feuer brannte in ihm. Da war nur kalte, mit der Zeit verwehende Asche ...
Eine trostlose Zukunft! In den nächsten dreißig Jahren erwartete ihn tagaus, tagein der gleiche Trott! Danach? Rente, Altersschwäche, Krankheit und irgendwann der Tod!
Keine Abenteuer! Keine Feuer speienden Drachen, keine holde Maid, die es zu erretten galt, keine Wanderungen von Burg zu Burg, überall seine ritterlichen Dienste anbietend, um nach getanem Werk frohgemut weiter zu ziehen. Um am Ende seiner Tage im heldenhaften Zweikampf den eines edlen Recken würdigen Tod zu finden, oder ehrenvoll in einer Schlacht auf der Walstatt zu bleiben! Eine verrostete Rüstung, ein vermodertes Banner, mehr würde danach nicht von ihm Zeugnis ablegen.
Wieder schrak er auf. Diese ungezogenen Gören! Lauthals brüllend und schreiend quollen sie streitend aus dem engen Gang, sofort die ganze Aussichtsplattform rücksichtslos als ihr Eigentum betrachtend.
Resigniert stieg er wieder in den Burghof hinab und verließ die in seinen Augen ungebührlich entweihte Ruhe der ehrwürdigen Ruine. Was sollt's. Die Welt war nun einmal hektisch und laut geworden. Wenn er allerdings ein paar Jahrhunderte früher gelebt hätte?
Müßig, darüber nachzudenken. Eines nahm er sich für seine eigene Zukunft fest vor: keine Freundin und erst recht keine Frau! Die würde vielleicht gar Kinder wollen, solche verzogenen Plagen wie eben. Widerlich! Er schüttelte sich. Und stieg Weg Nummer 3 hinab. Nicht zu steil und dennoch weit weg vom lästigen Teil der Menschheit, weg von den Massentouristen!
Hinter Schramberg stieg die L175 kräftig an, sodass er froh war, nach rund zwei oder drei Kilometern - er hatte nicht auf den Zählerstand geachtet - die Stelle unterhalb des Felsens zu erreichen, auf der angeblich letzte Mauern der Ruine Ramstein zu finden sein sollten.
Er fragte einen Bauer, der eben aus dem Feld kam, nach dem Aufstieg zur Ruine. Der lachte und meinte:
»Links unten am Felsen führt ein Katzensteig hoch! Äußerst steil! Besser wäre es, wenn Sie ein paar hundert Meter weiterfahren und dann scharf rechts zurück abbiegen. Dann kommen Sie auf den Weg, am Steinbruch vorbei, zum Kapellhof! Rund hundert Meter vor den ersten Häusern nach rechts abbiegen, immer am Waldrand und der Bergkante entlang dem breiten Weg folgen!«
Der Mann lachte wieder, grüßte und ging weiter.
Ein Katzensteig? Nicht nur steil, sondern wahrscheinlich auch recht schmal? Nicht unbedingt sein Fall!
Also folgte er dem Vorschlag des Bauern. Dank dessen Beschreibung war alles leicht zu finden. Kritisch wurde es allerdings, als der breite Weg nach kaum zweihundert Metern urplötzlich endete. Ein wenig ratlos sah er sich um, schritt zum Wegende, untersuchte dieses gründlich und wurde zu seinem Entsetzen auch fündig. Ein schmaler Trampelpfad!
Weiter oder nicht weiter?
Weiter! Hier winkte immerhin das Abenteuer, auch wenn es noch so klein war. Wollte er nicht immer der mutige und tapfere Ritter sein? Die Wege zu den Drachenhöhlen waren einstens ebenfalls schmal, steil und voller Gefahren!
Er legte sein Trekkingbike ins Gras, hoffend, dass es niemand mitnehmen würde. Danach machte er sich mit bedenklicher Miene auf den Weg. Seine Besorgnis wurde gleich voll bestätigt. Nach zehn Metern führte der immer tiefer führende Steig den Berghang entlang. Rutschig und kaum mehr als zwanzig Zentimeter breit. Anschließend folgte ein höchstens drei Meter breiter Felsrücken. Rechts und links davon ...
Wer da hinabrutschte, der würde so schnell nicht mehr anhalten können! Tapfer, wenn auch ziemlich unsicher, tastete er sich mit vorsichtigen Schritten weiter. Er gab es ungern zu, aber besonders schwindelfrei war er nicht. Nicht in dieser Höhe!
Danach blieb er stehen. Sieh an! Ein ehemaliger Burggraben!
Augen zu und durch! Selbst wenn gegenüber ein Schild mit ›Betreten verboten‹ an einem morschen Geländer angebracht war. Immerhin, er konnte es verstehen. Allerdings, hundert Meter früher wäre das Schild wohl besser angebracht gewesen! Rechtzeitig zur Warnung, bevor man riskant hierher balancierte. Jetzt gab es für ihn kein Zurück mehr!
Nach überwundenem Graben, oben auf dem Felsen, zwischen den spärlichen Mauerresten, war überraschend viel Platz. Vorsichtig schritt er weiter auf das in der Sonne liegende Felsenende zu. Bevor es ihm endgültig als zu gefährlich erschien, setzte er sich und sah hinaus ins Tal. Hier oben war er ganz allein. Ein wunderschöner Platz zum Träumen! Ob der Burgherr dies einstens auch so sah? Andererseits, derart hoch und kühn eine Burg auf einen nahezu frei stehenden Felsen bauen, immer in der Gefahr, dass diese eines Tages ins Tal hinabdonnerte. Nein, das war schon wagemutig! Er hätte sich hier sicherlich nicht wohlgefühlt. Zu verwegen errichtet, zu unsicher!
Trotzdem, der Weg hierher hatte sich gelohnt, auch wenn er sich eingestand, dass er kein zweites Mal hierher kommen würde. Dieser Besuch reichte ihm ein für alle Mal!
Hungrig untersuchte er den Inhalt seines Rucksackes. Zu Trinken war leider nicht mehr viel da. Und zum Essen? Einige wenige trockene Kekse. Aber diese hier oben - beinahe so frei wie ein Vogel in der Luft! - zu verzehren war ein nahezu himmlischer Genuss! Nachher, in Tennenbronn, konnte er seine Vorräte sicherlich wieder auffüllen.
*
Längst lag die Ruine Ramstein hinter ihm. In Tennenbronn hatte er seine Vorräte erneuert und verfluchte jetzt seine miese Kondition!
Anscheinend hatte er das Training zu lange vernachlässigt, denn der letzte Anstieg, hoch nach Langenschiltach, raubte ihm einen Großteil seiner Kraft und zwang ihn, zweimal eine ungeplante Pause einzulegen. Langsam wurde er wirklich alt. Dann lachte er über sich selbst. Mit knapp siebenundzwanzig Jahren war er noch lange nicht alt!
Endlich, es war bereits später Nachmittag, erreichte er seinen Zielort. Doch wie nun die Quelle finden?
Eine ältere Frau, die er im Dorf antraf, verwies ihn an die Wirtin der ›Krone‹ mitten im Ort. Er hatte es zuerst nebenan in der Ortsverwaltung versucht, aber da war kein Mensch anzutreffen. Die Wirtin, eine resolute ältere Dame, kannte die Schiltachquelle.
»Fahren Sie rund drei Kilometer auf der Straße weiter. Danach kommen sie zum Gasthof ›Staude‹. Die Quelle entspringt dort in der Nähe! Erkundigen Sie sich in der Gaststätte nach ihr!«
Na also! Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen! Nach ein wenig Auf und Ab, eben war hier nichts, war er recht froh, endlich angelangt zu sein. Schnell in der ›Staude‹ nach der Quelle fragen und anschließend gemütlich vespern!
Denkste! Niemand kannte dort die genaue Lage Schiltachquelle. Eine der üblichen Ausschilderungen nach dem Motto: ›Zur Quelle‹ hatte er auch nirgends gefunden. Dem hiesigen Fremdenverkehrsverein wünschte er erst einmal in Gedanken die Pest an den Hals. Der Ortsverwaltung von Langenschiltach ebenfalls.
Laut seiner Wanderkarte kamen mehrere Quellen in der näheren Umgebung in Betracht. Aber welche war es denn nun? Die beim Oberhof? Oder die bei den Deisenhöfen? Oder eine der anderen nicht genau gekennzeichneten Quellen, irgendwo inmitten der Weiden und Wiesen? Er konnte sich nicht entschließen. Verägert gab er auf. Sollten sie sich ihre blöde Quelle sonst wo hinstecken!
Inzwischen war er müde, hungrig und auch durstig. Die Rückfahrt nach Schiltach würde kein Problem sein, auch zeitlich gesehen nicht, da es überwiegend bergab ging. Was hieß, dass er sich erst einmal ausruhen konnte.
Natürlich war der weithin bekannte Gasthof, nicht verwunderlich für einen Samstagabend in der Hauptferienzeit, proppenvoll. Sie setzten ihn freundlicherweise auf einen der wenigen freien Stühle am normalerweise reservierten Stammtisch. Die vier dort anwesenden älteren Männer musterten ihn kurz und einer meinte:
»Sind Sie nicht der junge Mann, welcher vorhin nach der Schiltachquelle fragte?«
Nickend bestätigte er.
Einer der Alten, er hielt ihn seinem Aussehen nach für einen Jäger oder Förster, meinte:
»Ich kann mich auch nicht erinnern, welche derzeit amtlich die ›echte‹ Quelle ist, zumal sich diese kleinen Quellen laufend verändern! Mal versickern sie, mal kommen sie einige Meter weiter oben oder unten wieder zum Vorschein. Aber dies hier ist zumindest das Quellgebiet der Schiltach!«
Zustimmend äußerten sich hierzu die anderen am Stammtisch, auch wenn er sie nicht so richtig verstand. Ihr Dialekt war viel zu undeutlich. Seltsam und ungewohnt altertümlich klingend.
»Warum suchen Sie denn die Quelle?«
Ulli lachte kurz auf:
»Ach, nur so! Ich bin vor Jahren von Nordbaden nach Schiltach gezogen und wollte rein aus persönlicher Neugier einmal sehen, wo der Fluss entspringt, welcher in Schiltach gleichsam in der Kinzig untergeht! Nicht allein das Ende, sondern auch den Anfang des Flusses kennenlernen!«
Das schienen sie sofort zu akzeptieren. In diesem Moment bekam er sein Essen serviert, über welches er sich hungrig hermachte.
Die Männer hatten ihre Stimmen gesenkt, sodass er lediglich einige wenige Wortfetzen mitbekam, zumal er, mit vollen Backen kauend, sowieso kaum etwas verstand.
»... Schiltach? ... unter der Ruine? ... Nein! Hör endlich richtig zu!« Eine der Stimmen wurde geringfügig lauter. »Nordöstlich überm Fluss ... im Felsen! ... aber nur mit dem richtigen Schlüssel!«
Vorsichtig sah sich einer der Alten um, als ob er nachschauen wollte, ob ihnen einer unerlaubt zuhörte. Wie erwartet kümmerte sich keiner um die Männer am Stammtisch und er selbst setzte ein möglichst unbeteiligtes Gesicht auf und tat, als ob er sich einzig und allein mit seiner Mahlzeit beschäftigen würde.
Dennoch sprachen sie ab sofort wiederum leiser, steckten die Köpfe eng zusammen. Er strengte sein Gehör an, aber sie waren nicht mehr zu verstehen. Inzwischen war er satt und saß zufrieden da. Plötzlich vernahm er noch zwei deutliche Worte:
»... Rübezahls Kräutergarten ...!«
Rübezahl? Was hatte der mit dem Schwarzwald zu tun? Dessen Heimat und Spukgebiet war seines Wissens nach ausschließlich das Riesengebirge.
In diesem Augenblick kamen lärmend die nächsten Gäste zur Tür herein, was bedeutete, dass er ab sofort endgültig nichts mehr verstand. Andererseits, was gingen ihn die Gespräche der Männer hier am Tisch an? Nichts! Gar nichts!
Er winkte der Bedienung und zahlte. Danach ging er, seinen vier Tischgenossen freundlich grüßend zunickend. Es war nett von denen, dass sie ihn am Stammtisch essen ließen und sich durch ihn nicht gestört fühlten.
Nun war es höchste Zeit heimzufahren, vor allem, wenn er einigermaßen im Hellen in Schiltach ankommen wollte. Behände schwang er sich auf sein Rad und fuhr los.
Niemand beachtete die Männer, welche vor der Tür des Gasthofes standen und Ullrich aufmerksam hinterher sahen.
»Er hat es gehört! Ob er wirklich derjenige ist, den die Zeichen verkündet haben?«
Eine rein rhetorische Frage.
Verblüfft rieb sich ein junges Pärchen die Augen. Hatten nicht gerade eben vier Männer neben der Gasthoftür gestanden? Wohin waren die denn so plötzlich verschwunden?
Aber weit und breit war niemand zu sehen! Achselzuckend ging das Paar weiter. Und vergaß ...
*
Angstvoll stöhnend, schwitzend und zitternd erwachte er. Einige Herzschläge lang versuchte er herauszufinden, wo er war.
In seinem Bett! Kaum, dass er es glauben konnte!
Soeben noch jagte ihn ein riesiger, schwarzer Hund mit feurig gelb flammenden Augen durch von düsterem Grauen erfüllte Höhlen, im nächsten Moment stürzte er durch endlose Schluchten, um atemringend in eiskalten Strudeln unterzugehen. Albträume! Furchtbare, Angst einflößende, unerklärliche Albträume!
Sein Kopfkissen, sein Laken, beides durchgeschwitzt! Zudem fror er erbärmlich! Seine Bettdecke? Die lag zerknüllt auf dem Bettvorleger und durch das Fenster fielen eiskalte Regentropfen herein! Verdammt! Ein in der Nacht überraschend aufgetauchtes Gewitter hatte schlagartig die milde Abendluft verdrängt. Der dadurch jäh eingetretene Temperatursturz betrug sicherlich mehr als zehn Grad! Mist!
Fluchend schloss er das Fenster und machte, dass er, obwohl es mitten in der Nacht war, schleunigst unter die warme Dusche kam. Anschließend zerrte er ein frisches Kopfkissen aus dem Schrank und bezog wütend die Matratze mit einer trockenen Zwischenlage und einem neuen Spannbetttuch.
Das ununterbrochene Prasseln an den Fenstern, die laufend aufzuckenden Blitze und der krachende Donner nervten ihn ziemlich und verhinderten, dass er gleich wieder einschlafen konnte. Am nächsten Morgen erwachte er unausgeschlafen und wie gerädert.
Ein Blick in den Spiegel ...
Eindeutig! Er hatte sich gestern einen kräftigen Sonnenbrand und darüber hinaus auch einen satten Sonnenstich geholt, der Übelkeit und dem Schwindel nach zu urteilen. Seine Augen glänzten fiebrig.
Viel konnte er dagegen nicht tun. Ein fiebersenkendes Mittel, ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen und gleich wieder hinlegen. Den Sonntag zum Ausruhen nutzen und ansonsten vergessen! Sch...!
*
Besorgt betrachtete Frau Wagner ihren jüngsten Gesellen. Na, den hatte es böse erwischt!
Als sich Ulli nach dem Frühstück in die Werkstatt begeben wollte, schritt sie energisch ein:
»Halt, Ulli! Wie du im Augenblick aussiehst, gehst du jetzt nicht arbeiten, sondern sofort zum Arzt! Deine Haut beginnt sich bereits abzuschälen und du verspürst, so vorsichtig, wie du dich bewegst, sicherlich Schmerzen! Vermutlich hast du auch hohes Fieber! Fritz wird dich jetzt sofort zum Arzt fahren! Und ja keinen Widerspruch! Klar?!«
Mit der Chefin zu streiten brachte nichts ein und Fritz, der Altgeselle, fuhr ihn gerne.
Der Doktor, langjähriger Hausarzt der Familie Wagner, ein älterer Mann, an die sechzig Jahre alt oder gar schon darüber, sah ihn kurz an und meinte lakonisch:
»Immer ihr leichtsinnigen jungen Leute! Wenigstens ist es nichts Gefährliches! Heute dreimal Paracetamol einnehmen, eine Kühlsalbe draufgeben und nicht arbeiten. Viel trinken und vor allem Ruhe! Morgen geht es Ihnen dann schon wieder besser. Und ja in nächster Zeit die Sonne meiden!«
Womit auch dieser Tag im Bett endete, betreut von der andauernd kalten Kräutertee anschleppenden Meisterin. Aber auch dies ging vorüber.
*
Je mehr die Symptome des Sonnenstichs schwanden, desto intensiver wurden die Albträume. Zumal er sich beharrlich weigerte, die am Stammtisch aufgeschnappten Worte ernst zu nehmen. Im Gegenteil, er wollte sie schnellstens vergessen, tat sie als Blödsinn, als dummes Gerede alter Narren ab.
Als alles nichts half, ging er irgendwann freiwillig zum Arzt. Zögernd schilderte er diesem seine allnächtlichen Schwierigkeiten. Ernst sah in der Doktor an:
»Sie haben etwas gehört, oder glauben es gehört zu haben, wogegen Sie sich bei wachem Verstand sträuben. Ihr Unterbewusstsein beschäftigt sich seitdem laufend damit. Das daraus resultierende Ergebnis gefällt ihnen jedoch nicht und Sie wollen diese ›unlogischen‹ Gedanken unterdrücken. Hier setzt nun ein Teufelskreis ein, der nur durchbrochen werden kann, indem Sie sich den gewonnenen Erkenntnissen nicht verschließen. Ich sehe da zwei Möglichkeiten, eventuell sollten Sie sogar beide versuchen: Suchen Sie die Männer noch einmal auf und bitten Sie diese um eine Erklärung. Vielleicht war alles harmlos und Sie haben es im beginnenden Fieber lediglich falsch aufgefasst. Beharren die Erzähler jedoch darauf, dass ihre Geschichten stimmen, dann bleibt Ihnen wohl nichts anderes übrig, als diese bei Tageslicht auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Erst wenn Sie sich damit beschäftigt und gedanklich voll damit auseinandergesetzt haben, werden Sie erkennen, dass an der Sache höchstwahrscheinlich nichts dran ist. Danach wird ihr Unterbewusstsein wieder Ruhe geben. Tun Sie aber nichts, verdrängen Sie weiterhin, werden Sie, auch wenn die Albträume irgendwann allmählich nachlassen, für den Rest ihres Lebens stets das Gefühl haben, eine überaus wichtige Sache versäumt zu haben. Von Zeit zu Zeit, in unregelmäßigen Abständen, wird die Geschichte immer wieder hochkommen!«
Der Arzt schwieg und sah Ulli prüfend an. Dieser starrte gut eine Minute lang wortlos vor sich hin. Dann hatte er sich zu einem Entschluss durchgerungen:
»Gut! Ich werde ein weiteres Mal hochfahren!« Er sah die mahnende Bewegung des Mediziners und beruhigte diesen sogleich, indem er hinzufügte: »Aber mit dem Auto und nicht in der Sonne! Einer meiner Freunde wird mir sicherlich den Gefallen tun. Dabei kann ich ja auch gleich einen zweiten Anlauf nehmen, die Schiltachquelle zu finden. Immerhin muss ich ja begründen, warum ich schon wieder nach Langenschiltach hoch will!«
Er merkte, dass der Arzt noch mehr sagen wollte, sich anscheinend jedoch nicht recht getraute.
»Was ist? Wollten Sie mir noch etwas mitteilen?«
Jetzt war er innerlich beunruhigt, denn der Arzt stand auf, trat ans Fenster und sah hinaus. Dann erklärte dieser, ihm den Rücken zugewandt, Ulli nicht ansehend:
»Ich möchte Ihnen, jetzt rein als Mensch, nicht als Therapeut und Arzt, einen ganz persönlichen Rat geben! Viele der alten Legenden des Schwarzwaldes beruhen im Kern auf wahren Geschehnissen, die selten gut ausgingen! Denken Sie stets daran! Es kann sein, dass sich jemand auf der Spur solcher Sagen und Mythen in Dinge verstrickt, die absolut nicht mehr rational erfassbar sind, aber dennoch existieren, für den Betroffenen dabei gar den Tod oder Schlimmeres bedeuten können! Bedenken Sie dies gut! Manch einer findet am Ende seiner Suche eine Hölle, eine psychische Hölle, welche ihn nicht mehr freilassen will! Eine Seele ist schnell verspielt! Wenn Sie Hilfe brauchen, Sie können sich jederzeit vertrauensvoll an mich wenden!«
Stumm sah Ulli den Mann an. Seltsam! Solche Gedanken über die Gefahren einer Suche waren ihm auch schon gekommen. Ob er deshalb zögerte? Aus natürlicher Furcht vor dem Unbekannten heraus?
Nein! Er würde sich der Sache stellen, alles kalt und bedächtig abwägen und Schritt für Schritt vorgehen. In welcher Zeit lebte er denn?
In der falschen, wenn er seine Träume recht bedachte. Ob diese Wunschträume in der Erzählung der Alten eine willkommene Nahrung gefunden hatten? Mittelalterliche Schätze? Was sollt's, er würde der Sache auf den Grund gehen. Jetzt musste er zuerst einmal sehen, ob Karl für ihn Zeit hatte.
»Sie sind zu einem Entschluss gelangt, nicht wahr?«
»Ja, Herr Doktor! Ich werde mir die Geschichte vornehmen! Und ... danke für ihren Rat!«
Schweigend sah der Arzt hinter Ulli her, als dieser die Praxis verließ.
›Hoffentlich geht das gut!‹, war sein einziger Gedanke.
Und Ulli?
In dieser Nacht schlief der zum ersten Male wieder friedlich durch, ohne seine schrecklichen Träume.
*
Karl war begeistert!
Seit wie vielen Jahren war er nicht mehr in der freien Natur gewesen? Den Schwarzwald hatte er zwar oft durchfahren, kannte viele Orte und Wirtschaften, aber das Asphaltband der Straßen hatte er seit Ewigkeiten so gut wie nicht mehr verlassen.
Jetzt stand er in einer taufeuchten Wiese, betrachtete wie verzaubert all die Blumen, Pflanzen, Büsche und Bäume rundherum. Plötzlich entdeckte Karl das Eichhörnchen. Dumm nur, dass er mit seinem entzückten Ausruf das Tierchen sogleich erschreckte, welches eiligst wieder davonhuschte.
Ulli sah ihm lächelnd zu.
Bis jetzt war es mehr als gut gelaufen. Karl hatte auf seine Anfrage sofort zustimmend genickt, aber eine klare Grenze gesetzt: keine von Treckern ausgefahrenen Feldwege! Sein tiefergelegter Wagen würde sonst aufsitzen und dessen Unterboden nachhaltig beschädigt werden.
Die Fahrt das Schiltachtal hoch verlief recht gemütlich. Andauernd in einer Kolonne eingeklemmt sowie starker Gegenverkehr, dazu viele unübersichtliche Kurven, all dies zwang Karl zu einer vernünftigen Fahrweise. Nach Langenschiltach, auf dem Weg zur ›Staude‹, kamen sie an einem großen Hof vorbei. Ulli bat Karl anzuhalten. Zwei Männer beluden eben einen Anhänger. Ulli hielt das für eine gute Gelegenheit, die Lage der Quelle zu erfragen.
Volltreffer!
»Genau vor dem Gasthof ›Staude‹ den Weg links in den Wald hinabfahren! Bis nach hinten ins ›Weißloch‹! Dort, wo das Jugendhaus vergangenes Jahr durch eine Gasexplosion zerstört wurde!«
An der ›Staude‹ links ab, rund zweihundert Meter tief im Wald, trafen sie auf einen Waldarbeiter.
»Zur Schiltachquelle? Ja, ja, immer geradeaus, rechts hinter dem Bauernhof vorbei, durch die ›Vogte‹ in den nächsten Wald! Immer dem geteerten Weg folgen!«
Karl hörte das gerne. Um nichts auf der Welt wollte er mit seinem Wagen von dem schönen Weg herunter.
»Wo der Weg aufhört - am Waldende geht's auf eine Wiese - sehen Sie die Baustelle, auf der früher die Hütte stand. Sie wissen schon, die wo explodiert ist! Oberhalb der noch stehenden Gebäude, dem Gastank, am unteren Rand der Wiese, dann rechts in den Wald! Dem breiten Waldweg folgen! Da finden Sie die Quelle!«
Sie bedankten sich und fuhren vorsichtig weiter. Als sie aus dem Wald kamen, hörte wenige Meter weiter der ausgebaute Weg auf. Kurz vor dessen Ende war rechter Hand ein mit Asphalt angelegter Parkplatz. Hervorragend! Zufrieden stellte Karl sein Auto ab.
Von nun an ging's zu Fuß weiter, über das vom letzten Schauer noch nasse Gras in den Wald.
Andauernd blieb Karl stehen, fasziniert eine Blume betrachtend, einen Käfer oder einen Vogel beobachtend. Soweit er es vermochte, nannte er Karl die Namen all der für ihn unbekannten Wunder. Natürlich kannte Karl viele Blumen. Leider jedoch nur das überzüchtete Zeugs aus den Gärtnereien und Blumenläden. Wildblumen und im Wald wachsende Pflanzen und Pilze hingegen nahezu keine!
Im Wald kamen sie trotz des breiten Weges kaum voran. Jeder Pilz, jedes Moospflänzchen, jeder Farn und vor allem was sich auch nur im Geringsten bewegte, wurde ausgiebig angesehen. Jetzt, nach dem feuchten Sommer, wuchs in dieser unberührten Gegend so allerlei.
Als ihnen dann auch noch ein kleiner Frosch über den Weg hüpfte, rastete Karl beinahe aus. Seit gut zehn Jahren hatte der Frösche und Ähnliches nicht mehr erblickt. Früher, als Kind, am Schiltach- oder Kinzigufer ja, später dann nie mehr. Wirklich, Karl bereute den Ausflug nicht eine Sekunde lang!
Er schien nachgerade enttäuscht, als sie das Quellgebiet erreichten und Ulli die größte Quelle – deren Wasser schoss kristallklar und kühl unter einem bemoosten Stein hervor – als die gesuchte Quelle bezeichnete und diese ausgiebig fotografierte. Um Karl zusätzlich ein wenig die Natur genießen zu lassen, gingen sie anschließend den Weg ein tüchtiges Stück weiter. Als Ulli der Meinung war, dass es nun reichte, bewegte er Karl zur Umkehr. Schließlich hatten sie sich immer weiter vom Auto entfernt und der ganze Weg musste auch wieder zurückgelegt werden. Zu seiner Verwunderung schien Karl das ungewohnte Laufen in Wald und Flur nichts auszumachen, ja, Karl wirkte geradezu traurig darüber, dass der schöne Ausflug bereits wieder zu Ende war.
»Fahr los, Karl! Bitte langsam, wir wollen die Kühe auf den Weiden nicht erschrecken! Zu dem Parkplatz der ›Staude‹! Ich lade dich zu einer Brotzeit ein!«
Essen und Trinken? Karl war sofort dafür!
*
Freundlich lächelnd stellte die Kellnerin zwei Vesperteller vor sie hin. Dann sah sie Ulli genauer an und fragte ihn:
»Geht es Ihnen wieder besser?«
Erstaunt sah er hoch. Woher kannte ihn die junge Frau? Er sollte das sofort erfahren, denn diese fuhr unbefangen fort:
»Neulich, als Sie ganz allein drüben am Stammtisch saßen, hatten wir den Eindruck, dass sie sich an dem Tag einen kräftigen Sonnenstich eingefangen hatten! Sie haben manchmal vor sich hingemurmelt und getan, als ob außer Ihnen mehrere Personen am Tisch anwesend wären. Sie hatten trotz der Sonne keine Mütze oder eine andere Kopfbedeckung mit. Man sah Ihnen den beginnenden Sonnenbrand deutlich an!«
Prüfend betrachtete sie ihn:
»Ich sehe jetzt noch, dass es Sie böse erwischt hatte! Ist inzwischen alles in Ordnung? Sie sind doch nicht etwa schon wieder mit dem Rad unterwegs, oder?«
Jetzt mischte sich Karl, mit vollen Backen kauend, breit grinsend ein:
»Nein, nein! Ich habe ihn mit dem Auto hergefahren! Beim letzten Mal lag er danach ein paar Tage mit Fieber krank im Bett und hat sich dabei kräftig geschält! Seitdem passen wir besser auf ihn auf!«
Die Kellnerin nickte verstehend:
»Haben Sie inzwischen ihre gesuchte Quelle gefunden?«
»Aber sicher!« Karl wirkte zufrieden und beschrieb den Weg.
»Ach? Dort ist sie also!«
Sie verließ die beiden und ging wieder ihrer Arbeit nach. Zufrieden futterte Karl weiter, indessen Ulli vor Schreck nicht einen Ton hervorbrachte. Er war wie vor den Kopf geschlagen.
Allein? Er hatte allein am Stammtisch gesessen?! Die vier Männer hatten also lediglich in seiner Einbildung existiert? Im beginnenden Fieber? War alles nur ein Produkt seiner Fantasie oder vor allem Wahnvorstellungen, ausgelöst durch den Sonnenstich?
Unmöglich? Oder doch? Seine Vergangenheit holte ihn ein.
Wie oft hatte er schon in früheren Jahren intensive Tagträume, ja manchmal richtige Visionen gehabt? Sehr oft! Bereits als kleiner Junge hatte er erfahren, dass er damit recht allein dastand. Nach den darauf erfolgten schlechten Erfahrungen erzählte er niemandem mehr davon. Sie hatten ihn nur höhnisch ausgelacht und böse gehänselt. Aber seine Visionen? Seine Vorhersagen, seine Ahnungen ...
Meist hatten sie sich in der einen oder anderen Form erfüllt, gerade diejenigen, welche nicht ihn selbst, sondern Personen in seiner näheren Umgebung anbetrafen. Manch schlimme Ahnung war tatsächlich eingetroffen.
›Schwarzseher‹, nannten sie ihn, wenn er trotz allem ein Mal sein sich selbst auferlegtes Schweigen brach und die Betroffenen zu warnen versuchte. Misstrauen und Ablehnung schlug ihm entgegen. Er habe das Unglück ›herbeigeredet‹, hieß es, die Leute verunsichert und all solchen Quatsch. Niemand wollte hören, dass die Betroffenen durch ihren Unglauben und ihre hochmütige Sturheit selbst schuld waren, blind und dumm in ihr Verderben liefen.
Irgendwann nervten ihn die versteckten Anspielungen und Anfeindungen dermaßen – hinzu kam ein tödlicher Unfall eines seiner Freunde -, dass er seinen Heimatort verließ und nach Schiltach umzog. Die erfolgte Firmenpleite und der damit zwangsläufig verbundene Verlust seines Arbeitsplatzes war vordergründig der geeignete Anlass dafür.
Seine Vergangenheit kann man teilweise zurücklassen, jedoch seinem Schicksal konnte man anscheinend auf Dauer nicht entrinnen.
Die Vision von vier Männern und ihr Gespräch ...
Eindeutig! Einzig und allein für ihn bestimmt! Ulli war sich schnell darüber im Klaren, dass er sich nun wohl oder übel seiner Bestimmung stellen musste. Was vermutlich nichts anderes hieß, als tatsächlich auf Schatzsuche zu gehen!
Verflixt!
Zeitlich würde es ab jetzt eng werden. Immerhin war da beruflich ja noch Plan ›C‹! Zum Glück fiel ihm das Lernen leicht und mit seinem Abitur, dem Leistungskurs in Mathe und guten Noten in allen Hauptfächern gab es sicherlich keine Schwierigkeiten. Mit Ausnahme der praktischen Teile. Wie gesagt, nur ein Zeitproblem. Mit ein klein wenig Organisation ...
»Du hast ja bisher kaum was gegessen. Hast du keinen Hunger?«
Karls erstaunte Frage brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Mist! Vor lauter Nachdenken hatte er darüber sein Essen vergessen!
Jetzt ging es zunächst vor allem darum, dass weder Karl, noch Dirk oder Hans auch nur das Geringste mitbekamen! Für die nächsten Monate warTarnen und Täuschen angesagt. Zuerst einmal musste er gründlich überlegen, in aller Ruhe und nicht jetzt, hier in einem lauten Gasthof.
»Tut mir leid, Karl! Mir geht es anscheinend noch nicht so richtig gut! Darf ich dir etwas von meinem Vesper anbieten?«
Er durfte! Hocherfreut griff Karl zu.
*
Oberhalb des Wehres vereinigte sich die Schiltach grün schimmernd mit der Kinzig im ›Hochmutsteich‹, welcher von dem am Wehr gestauten Wasser gebildet wurde. Überwiegend von der Kinzig und dem wenigen, was von der Schiltach übrig blieb und nicht in den zweihundert Meter weiter flussaufwärts abzweigenden ›Sägekanal‹ abfloss.
Gegenüber der Schiltachmündung lag am Kinzigufer – das dahinter liegende Gelände wurde ›Lehwiese‹ genannt -, ein großer Stein, auf dem man gut sitzen und nachdenken konnte, natürlich nur, wenn es nicht gerade zu kalt oder zu nass war. Ein paar Meter weiter stand flussaufwärts eine Bank unter einem Baum, welche auch an kühlen Tagen zum Sitzen einlud. Wenn man den Weg zum Fluss hinunter scheute, gab es im ehemaligen Gerberviertel ein Rondell aus modernen, kunststoffüberzogenen Drahtgittersitzen, auf denen es sich auch bequem und relativ ungestört nachdenken ließ.
Ulli saß in den Tagen nach dem Ausflug mit Karl immer schön abwechselnd in Schiltach herum, stets darauf bedacht, sich nicht zu auffällig andauernd an einem Ort aufzuhalten und darüber hinaus stets so zu tun, als ob nichts Besonderes vorläge. Zu Hause hielt er es derzeit einfach nicht mehr aus. Er musste heraus, unter Menschen und dennoch ungestört sein. In Gasthöfen und Wirthäusern konnte er nicht verhindern, immer wieder von Bekannten angesprochen zu werden, an öffentlichen Plätzen hingegen fand er eher Ruhe.
Aktuelles Thema zum gründlichen Durchdenken: die Schatzsuche!
Systematisch versuchte er an die Aufgabe heranzugehen, alles sorgfältig zu überlegen und übersichtlich zu gliedern.
Zuerst einmal stellte er fest: Auch heutzutage gab es unzählige Schatzsucher, mit mehr oder weniger moderner Technologie ausgerüstet, wobei sich deren Vorgehen mit ›gezielt‹ oder ›ungezielt‹ beschreiben ließ.
Die einfachste Art der gezielten Suche gestaltete sich anhand einer Schatzkarte. Verhältnismäßig leicht und theoretisch ziemlich Erfolg versprechend. Praktisch zeitigte dieses Verfahren absolut kein Ergebnis, aus dem leicht zu erklärenden Grund heraus: Es gab schon lange keine echten Schatzkarten mehr!
Moderne Profis gingen die Suche anders an. Sie forschten nach spezifischen Hinweisen in der Literatur, alten Chroniken, oder lokal begrenzt, nach einem vorher bekannten, klar definierten Schatz, beispielsweise nach versunkenen Schiffen. Der Aufwand hierzu war allerdings immens. Zuallererst wurde ein richtiges Unternehmen gegründet, einzig und allein zum Zwecke der Geldbeschaffung für die aufwendige Schatzsuche. Spezialisten studierten beispielsweise ozeanografische Karten und dabei vor allem die Meeresströmungen, Bodenbewegungen und geologischen Details. Satellitenaufnahmen wurden ausgewertet, magnetische Abweichungen gesucht, Luftaufnahmen mit Radar und Infrarot angefertigt und die Ergebnisse letztendlich zusammengeführt und per Computer sowie Computersimulation ausgewertet. Das in Frage kommende Gebiet wurde systematisch eingegrenzt. Danach wurden Tauchfahrzeuge und Taucher mit hochwertigen Sonden eingesetzt. Laut Presseberichten war dies in der Vergangenheit mehrfach erfolgreich gewesen.
Ehemalige spanische Silberschiffe, manche Kaperschiffe und, nicht zu vergessen, Schiffe wie die ›Titanic‹ oder die ›Andrea Doria‹ konnten gefunden werden. Sie konnten gezielt aufgespürt und dabei mancher Schatz erfolgreich gehoben werden. Allerdings gab es von Land zu Land unterschiedliche Gesetze, was nichts anderes hieß, als dass viele Länder den Schatzsuchern zuerst einmal deren Funde streitig machten. Internationale Anwälte freute dies.
Die letzte Variante war indessen die häufigste. Eine auf das Prinzip Hoffnung gegründete, ungezielte Schatzsuche mit moderner elektronischer Ausrüstung an historisch einschlägig bekannten Orten wie Burgen, Ruinen, auf ehemaligen Schlachtfeldern, halt überall dort, wo ein Schatz, wie klein auch immer, im Boden verborgen sein konnte. Einige der möglichen, für eine lohnende Suche in Betracht kommenden Orte wurden vorher anhand von Luftbildern ausgesucht, Stellen, auf denen sich die Umrisse von verfallenen Gräben, Wällen und Mauern, alten Siedlungen oder Befestigungen bis zurück zur Römerzeit und noch früher, schattenhaft abzeichneten. Alte Waffen, Rüstungen oder manchmal eine Handvoll Münzen. Damit waren sie schon zufrieden. Unzählige Freizeitschatzsucher schwärmten seit vielen Jahren mit ihren Metalldetektoren durchs Gelände. Echt nervtötend. Trotzdem ergaben sich viele Zufallsfunde. Bei der Menge der Schatzsucher nicht weiter verwunderlich!
Wie war das doch gleich mit dem blinden Huhn, welches auch manchmal ein Korn findet? Und viele blinde Hühner ...
Ulli war sich darüber im Klaren, dass die moderne Schatzsuche mit technischen Hilfsmitteln ihm wohl kaum weiterhelfen würde. Eine Schatzkarte besaß er auch nicht!
Was genau hatte er wirklich in der Hand? Nicht viel, wenn er es gründlich betrachtete. Kein Ortsname, kein Name des Schatzes, keine darauf hinweisende Legende, einzig gemurmelte Worte von Fantasie- oder Spukgestalten. Was bedeutete, dass er sich mit der unsichersten, nämlich der zweiten grundsätzlichen Methode anfreunden musste: eine Suche mithilfe magischer Kräfte!
Er versuchte sich zu erinnern, wie dies bisher gehandhabt wurde: In Sagen und Legenden erschien den Menschen oft ein holdes Geisterfräulein, ein eher undefinierter Berg- oder sonstiger Geist, meist in der Gestalt eines alten Mannes, oder einem Tier, überwiegend als schwarzer, Furcht einflößender Hund beschrieben.
Sie führten die von ihnen ausgewählten Individuen, einen, Bauern, Hirten oder Wanderer – immer eine Einzelperson! - geradewegs zum Schatz. In der realen Welt, unter einer Burgruine zum Beispiel, öffnete sich ein Durchgangstor in die Welt der Geister, durch die der Schatzsucher hindurchtrat. Eines war sicher: Der von einem übernatürlichen Wesen gezeigte Schatz lag niemals dort, wo ihn der einfältige Tropf – pardon, der glückliche Schatzsucher! – später vermutete. An diesen greifbaren Orten konnte einer sein Lebtag lang graben, ohne ihn zu finden. Schätze, welche in einer magischen Dimension existierend, konnten nicht gewaltsam gehoben werden. Was die Leute nicht daran hinderte, trotzdem mit Hacken und Schaufeln loszuziehen.
In seinem Fall schien es sich um eine durchaus übliche Variante zu handeln: Auch ihm waren Geister erschienen, ungewöhnlicherweise sogar am hellen Tag, aber sie geleiteten ihn nicht sofort zur magischen Pforte, sondern gaben ihm ein Rätsel auf, indem er lediglich vage Hinweise auf den Ort erhielt. Wie er diesen endgültig bestimmen und wie er anschließend weiterhin verfahren sollte, das musste er sich selbst erarbeiten. Dämliche Geister!
Anderseits, sich bequem hinführen zu lassen, wäre möglicherweise zu leicht gewesen. Im vorliegenden Fall konnte er sich in aller Ruhe frühzeitig mit den zu erwartenden Ereignissen auseinandersetzen und sich innerlich darauf einstellen. Auch recht. Und Zeit? Die hatte er!
Plan ›C‹ lief nebenher, seine tägliche Arbeit auch und für seine Freunde würde sich nach außen hin genauso wenig ändern.
Gut! Jetzt schnellstens ab nach Hause und mit der Recherche beginnen! Im Internet! Da gab es super Karten. Er wusste, dass Radfahrer solche besaßen, Flurkarten im Maßstab 1:25000, unmittelbar dem aktuellen Stand entsprechend aus dem Netz gezogen.
*
Mühsam versuchte er sich zu erinnern und dies in einer Notiz festzuhalten. Was hatten sie ihm gesagt? Recht wenig, wenn er's richtig bedachte:
›... Schiltach? ... unter der Ruine? ... Nein! Nordöstlich überm Fluss ... im Felsen!‹
Dies waren die Ortsangaben. Der Rest, immer vorausgesetzt, er hatte den Sprecher richtig verstanden, bezog sich wohl eher auf das magische Tor, auch wenn darin ein Ort enthalten war:
›... nur mit dem richtigen Schlüssel!... Rübezahls Kräutergarten ...!‹
Vorerst, beschloss er im Stillen, galt es erst einmal den besagten Felsen zu finden. Danach den zweiten Schritt tun! Immer schön Zug um Zug. Wie beim Schach!
Die Internetsuche war schnell erfolgreich. Burgen und Ruinen in Baden-Württemberg waren gut dokumentiert. Dazu jeweils die Gegenprobe bei Wikipedia gemacht.
Wenn der gesuchte Felsen nordöstlich überm Fluss lag, musste die Burg, genauer deren Ruine, zwangsläufig westlich des Flusses liegen.
Somit lautete die Frage: welcher Fluss?
Zwei Stunden später lag das Ergebnis fest. Eine einzige Ruine, die Schenkenburg oberhalb Schiltachs, in einer Flussschleife der Kinzig gelegen, erfüllte die Bedingungen. Laut Flurkarte gab es nordöstlich von ihr, ›überm Fluss‹, mehrere Felsen oder gar eine Felswand. Komisch! Diese Steine hatte er bisher noch nie gesehen! Lagen die so versteckt? Oder waren sie derart unscheinbar, dass sie ihm deshalb bisher nie auffielen? Wie dem auch war, morgen würde er sich, gleich nach Feierabend, auf den Weg machen. Und natürlich seine kleine Kamera mitnehmen! Anschließend das übliche Treffen mit den Kumpels hinter sich bringen, alles kein Problem!
*
Dem Radweg nach Schenkenzell folgend, suchte er eifrig die rechte Talseite nach Felsen ab. Als er sie fand, war er enttäuscht. Viel machten die paar Brocken, kurz vor Schenkenzell, wirklich nicht her. Zudem man sie von der Straße aus kaum sah. Teilweise von davor stehenden Bäumen versteckt, dazu von den beidseitig am Kinzigufer wachsenden Büschen und Bäumen zusätzlich den Blicken entzogen.
Da die Kinzig einen trockenen Zugang zu seinem Ziel verhinderte, blieb ihm nichts anderes übrig, als die nächste Kinzigbrücke zu nehmen. Rein nach Schenkenzell, über die Brücke und dann wieder ein Stück weit das Tal zurück. Am Ortsausgang, wenige Meter vor dem Ortschild nach Waldenbrunn beziehungsweise nach Winterhalde, führte ein Feldweg hinab zu der zwischen Kinzig und dem Berg gelegenen Wiese.
Von da an ging's, sicherlich nicht zur Freude des Bauern, als schmaler Trampelpfad weiter.
Als er schließlich vor den Felsen stand, war er einerseits enttäuscht, denn rein vom Aussehen machten sie nicht viel her. Andererseits fühlte er sich von einem der unscheinbaren Steine geradezu magisch angezogen. Seltsame Gedanken drangen auf ihn ein, ein Raunen und Wispern erfüllte die plötzlich eiskalt werdende Luft um ihn herum. Näher und näher schritt er heran. Drohende Schatten legten sich vor die Sonne und ein unheimlicher Wind kam auf, angefüllt mit unaussprechlicher Pein, der endlosen Qual und der Verzweiflung verdammter Seelen!
Mehr und mehr erlag er dem unheimlichen Bann. Langsam, gegen seinen Willen, streckte er die rechte Hand aus und näherte sich, innerlich widerstrebend, dennoch erfolglos gegen den dämonischen Zauber ankämpfend, dem verlockend rufenden Stein.
Fast hätte er den Stein berührt, fast! Ein schrilles Kreischen von Bremsen sowie von daraufhin folgendem lauten Hupen riss ihn aus der Verzauberung. Der auf ihm liegende Bann zerbrach. Voller Entsetzen rannte er einige Schritte vom Felsen hinweg.
Verdammt! Das war knapp gewesen! Ob der Bann ohne das zufällige Geschehen auf der Straße hinter ihm auch rechtzeitig, bevor er den Stein berühren konnte, gewichen wäre? Wohl kaum!
Warme Sonnenstrahlen umspielten die Steine, kein unnatürlicher Wind war zu verspüren. Weit und breit nichts, was auf Magie und Hexerei hindeutete. Alles harmlos, friedlich und allem Anschein nach durchaus normal! Was zum Teufel war das eben gewesen?
Waren die durchdringenden Geräusche reiner Zufall gewesen oder hatten gar unbekannte Mächte ihre Hände im Spiel gehabt und ihn in letzter Sekunde gerettet? Egal! Dem verfluchten Felsen würde er sich so schnell nicht wieder nähern! Nicht bevor er wirklich darauf vorbereitet war.
Ab jetzt gab es nur eines: Aus angemessener Ferne den verwunschenen Ort genau beobachten! Vom Fahrradweg aus, oder noch viel besser und unauffälliger, von der Schenkenburg aus. Und immer schön die Kinzig als trennende Grenze dazwischen!
Dann fiel ihm seine Verfassung auf: durchgeschwitzt, in nasskalten Schweiß geradezu gebadet und erbärmlich zitternd. Das unerwartete Erlebnis hatte ihn zutiefst geschockt.
Immerhin war die nächste Aufgabe klar: Das Rätsel, wie er ›in‹ den Felsen gelangen konnte, zu lösen, ohne dabei erneut dem Furcht einflößenden Bann zu verfallen!
*
Wütend und erregt stürmte Mylène, von allen nur Mia genannt - wirklich, ihre Eltern mussten bei der Wahl ihres Namens einen Anfall von selten dummer Schwärmerei für eine Filmschauspielerin gehabt haben -, aus dem Gebäude.
Was bildete sich Gregor, dieser aufdringliche Typ, ein? Gut, sein Vater war reich und vor allem ein wichtiger Geschäftspartner ihres Vaters, welcher wiederum einer Verbindung seiner Tochter Mia zu dessen nichtsnutzigem Sohn nicht abgeneigt war. Nur, was ging sie das an?
Sie war längst volljährig, besaß ein eigenes, florierendes Modegeschäft und hatte mit der Fabrik ihres Vaters – streng genommen gehörte dieses Werk ihrer Mutter, sie hatte es von ihren Eltern geerbt und nach der Heirat ihren Mann als Geschäftsführer eingesetzt – nicht das Geringste zu schaffen!
Jetzt, nach einem privaten Besuch bei ihrem Vater, hatte der Kerl sie im Vorzimmer abgepasst und versucht, sie zu küssen!
Mia wusste längst, man hatte es ihr frühzeitig zugetragen, dass sich dieser Flegel bereits als ihr zukünftiger Verlobter und späterer Ehemann sah! Anscheinend hatte der einem jungen Mann, den sie von früher her kannte und mit dem sie einmal ausgegangen war, handfeste Prügel angedroht und sie diesem gegenüber als seine Freundin ausgegeben. Vorhin hatte er sie begrapscht und zugleich umarmen wollen. Aber nicht mit ihr!
Wahrscheinlich hätte sie diesem Angeber, der vom Geld seiner Eltern üppig lebte, ewig studierte und keinen Abschluss zuwege brachte, schon längst eine scheuern sollen. Allerdings wollte sie keinen öffentlichen Skandal auslösen und hielt sich zurück, schon aus Rücksicht auf ihren gesundheitlich angeschlagenen Vater. Hoffentlich hatte sie das nicht eines Tages zu bereuen!
Kreuz und quer lief sie durch die kleine Stadt, ehe sie sich erschöpft auf einer Bank, unten an der Kinzig, niederließ. Schade, dass sie die Bank nicht für sich alleine hatte.
Ein junger Mann, Mitte der Zwanzig vielleicht, altersmäßig schwer einzuschätzen, saß still und bescheiden auf der linken Seite, unverwandt aufs Wasser hinaussehend.
Da weit und breit keine andere vernünftige Sitzgelegenheit war, sie zudem ihr neues Kostüm nicht beschmutzen wollte, setzte sie sich ans andere Ende.
Verstohlen betrachtete sie ihn.
Ein ernst dreinsehendes, vertrauenerweckendes Gesicht mit, soweit sie erkennen konnte, melancholischen, blaugrauen Augen. Sein hellbraunes Haar trug er kurz geschnitten. Zudem fielen ihr seine sensibel aussehenden, schlanken Hände auf, welche der Mann locker in seinem Schoß übereinandergelegt hatte. Ein wirklich toller Mann, zumindest dem ersten Augenschein nach.
Danach musterte sie unauffällig, dennoch gründlich seine Kleidung. Zwar war er sauber und ordentlich angezogen, aber beim genaueren Hinsehen fiel ihr auf, dass seine Jacke und die Jeanshose für die herbstliche Jahreszeit viel zu dünn waren, sein Oberteil zudem recht verschlissen und abgetragen aussah.
›Der junge Mann ist sicherlich arm!‹, war ihr erster Gedanke. ›Ob der vielleicht mit Sozialhilfe auskommen musste?‹, war ihr zweiter. Er tat ihr leid.
Zumal er traurig und geistesabwesend wirkte. Irgendein geheimer Kummer schien ihn zu drücken.
Ansprechen oder nicht? Dann siegte die Neugier:
»Guten Tag! Ich hoffe, ich störe Sie nicht?«
Der Mann wandte sich ihr zu. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, als ob er mit seinen Blicken tief in ihr Innerstes schauen könnte. Dies war der wohlwollend prüfende Blick eines Weisen, eines spirituellen Lehrers, welcher ihre Persönlichkeit voll erfasste. Für einen Moment schienen seine Augen erfreut aufzuleuchten. Dann, jäh, nach einem zweiten, sorgfältig abwägenden Blick, plötzlich kalte Ablehnung ausdrückend, sich gleichgültig wieder abwendend, den Enten auf dem Wasser seine ganze Beachtung schenkend.
›Gewogen und zu leicht befunden!‹ Dieser Gedanke drängte sich ihr auf, als die kühle Antwort kam:
»Bleiben Sie ruhig sitzen, Sie stören mich nicht!«
Danach beachtete der Mann sie nicht mehr.
Jetzt war sie endgültig frustriert. Zuerst Gregor, der besitzergreifende Eroberer, nun dieser Typ, der sie augenscheinlich nicht für voll nahm. Ausgerechnet einer, welcher wohl kaum das Recht hatte, sie zu beurteilen. Zuerst wollte sie ihn erbost anfahren, doch dann überlegte sie es sich anders. Was sollt's? Ihr konnte wirklich gleichgültig sein, was dieser seltsame Kerl von ihr hielt. Hatte sie das nötig, sich von dem derart geringschätzig behandeln zu lassen? Nein!
Entschlossen stand sie auf und ging grußlos.
›Hoffentlich treffe ich den nie wieder!‹, dachte sie. Und danach fiel ihr wieder der Ärger mit Gregor ein. Vielleicht sollte sie einmal mit ihrem großen Bruder sprechen? Der konnte ihr vielleicht weiterhelfen. Beschwingt, glücklich, eine Lösung gefunden zu haben, schritt sie von dannen, ihren Sitznachbar umgehend vergessend.
*
»Guten Tag! Ich hoffe, ich störe Sie nicht?«
Welch angenehme Stimme! Rein und klar! Wahnsinn!
Eine wunderschöne junge Frau mit einer super Figur, dazu mit einem Lächeln wie eine Madonna! Kurze goldene Löckchen umrahmten ihr ebenmäßiges Gesicht. Kein Engel konnte schöner und lieblicher sein als sie! Eine Traumfrau zum sofortigen Verlieben! Ein himmlisches ›Engelchen‹! Absoluter Wahnsinn!