Bamberger Zwietracht - Harry Luck - E-Book

Bamberger Zwietracht E-Book

Harry Luck

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Beschreibung

Die fränkische Fußballszene unter Verdacht. Fußballkrimi im Bamberger Stadion: Der FC Eintracht trifft im Franken-Derby auf die Spielvereinigung Ansbach. Doch dann bricht der Torjäger im Strafraum zusammen. Was zunächst wie ein Herzanfall aussieht, erweist sich als heimtückischer Giftanschlag. Wer hat ein Motiv, den Top-Stürmer auszuschalten? Hat der gegnerische Verein etwas damit zu tun, oder hat es ein Mitspieler auf seine Position abgesehen? Die Ermittlungen führen Kommissar Horst Müller und seine Kollegin Paulina Kowalska tief in die regionale Fußballszene, und sie erkennen: Sport ist eben doch manchmal Mord.

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Harry Luck, 1972 in Remscheid geboren, arbeitete nach einem Studium der Politikwissenschaften in München als Korrespondent und Redakteur für verschiedene Medien und leitete das Landesbüro einer Nachrichtenagentur. Seit 2012 ist er für die Öffentlichkeitsarbeit im Erzbistum Bamberg verantwortlich.

www.harryluck.de

www.facebook.com/luck.harry

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Shutterstock/manfredxy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Carlos Westerkamp

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-264-2

Franken Krimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann, München.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Sport ist Mord.

Deutsche Volksweisheit

EINS

»Wir begrüßen hier im Studio jetzt Kriminalhauptkommissar Horst Müller von der Bamberger Polizei«, sagte Holm Weigand, der Moderator der ZDF-Sendung »Aktenzeichen XY«, während die Kamera auf den sympathischen Mittfünfziger mit Drei-Millimeter-Kurzhaarschnitt und einem Nulltarif-Kassengestell von Fielmann auf der Nase schwenkte. Wer ihn privat kannte, war davon überzeugt, dass der Kommissar unter dem braunen Cordsakko ein Kurzarmhemd trug. Er wirkte leicht nervös und schien nicht oft Gast im Fernsehstudio zu sein.

»Guten Abend«, sagte Kommissar Müller, dessen Name jetzt auch neben der Telefonnummer der Bamberger Polizei eingeblendet wurde. Er stand vor einem Pult in einer futuristischen Studiokulisse, die an die Inneneinrichtung der Kommandozentrale von »Raumschiff Enterprise« oder »Captain Future« erinnerte. Im Hintergrund war eine Skyline zu sehen, die mehr nach New York aussah als nach dem Münchner Vorort Grünwald, wo sich seit Jahren das »XY«-Studio befand. Die in großen weißen Ziffern dargestellte Telefonnummer 089/950195 war seit der Zeit des Schwarz-Weiß-Fernsehens unverändert.

Dann war wieder der Moderator Weigand im Bild, der mit seiner Föhnfrisur und den markanten Gesichtszügen auch ein Senioren-Dressman aus dem Herrenausstatterkatalog hätte sein können.

»Wir kommen jetzt zu einer Betrugsmasche, die sich seit mehreren Monaten weltweit in hohem Tempo ausbreitet«, sagte Weigand. »Es geht um sogenannten Tinder-Trading-Scam. Mehr dazu in unserem Filmfall.«

Es startete ein fünfminütiger Beitrag, der anhand eines konkreten Beispiels das Schicksal eines fünfundvierzigjährigen Familienvaters schilderte, der zunächst über eine Social-Media-Plattform von einer angeblichen französischen Studentin angeflirtet wurde. Sie gewann sein Vertrauen und berichtete ihm von ihren großartigen Spekulationsgewinnen mit Kryptowährungen. Schließlich vermittelte sie ihm den Kontakt zu ihrem Finanzmakler, der das Opfer über eine fingierte Tradingplattform zu hohen Einzahlungen überredete, die jedoch direkt auf den Konten der Betrüger landeten.

»Leider kein Einzelfall«, sprach Weigand mit sonorer Stimme, wie man es noch von »XY«-Urvater Eduard Zimmermann kannte. »Zu Gast im Studio in unserer Sondersendung zum Thema Internetkriminalität ist Hauptkommissar Horst Müller aus Bamberg, wo die Zentralstelle Cybercrime Bayern eingerichtet wurde. Er ist aber vor allem hier als TikTok-Beauftragter der bayerischen Polizei. Sein TikTok-Kanal hat inzwischen über zwanzigtausend Follower. Herr Kommissar, klären Sie uns auf über diese neue Form des Betrugs.«

Die Kamera schwenkte auf den Bamberger Ermittler.

»Die Cyberkriminellen tummeln sich überall dort, wo Kontakte angebahnt werden«, sagte Müller in die Kamera. »Das können Datingplattformen sein wie Tinder oder auch die weitverbreiteten sozialen Netzwerke wie Facebook, Instagram und TikTok. Auffallend ist, dass die Täter sehr schnell eine emotionale Nähe und romantische Vertraulichkeit aufbauen und viel scheinbar Privates preisgeben. Irgendwann erzählen sie wie beiläufig, dass sie gerade auf einer bestimmten Tradingplattform enorme Gewinne gemacht haben.«

»Und diese Plattformen sind von vorne bis hinten gefakt?«, fragte der Moderator, was er natürlich schon wusste.

»Ja. Jeder Gewinn, der auf dem Bildschirm erscheint, ist Fiktion. Das Geld ist in dem Moment weg, in dem man es auf das vermeintliche Tradingkonto überweist«, erläuterte Müller.

»Und wie kann man sich vor solchen Betrügern schützen, Herr Kommissar?«

»Wenn die Renditeversprechungen unrealistisch hoch sind, quasi zu schön, um wahr zu sein, sollten alle Alarmglocken läuten.«

Weigand wandte sich wieder dem Publikum zu: »Wenn auch Sie Opfer von Tinder-Trading-Scam geworden sind, dann melden Sie sich bei uns, in einem unserer Aufnahmestudios oder bei jeder Polizeidienststelle. Danke, Herr Hauptkommissar Müller. Kommen wir jetzt zum nächsten Thema: Schockanrufe sind die neue Form des Enkeltricks.«

***

Ich hatte genug gesehen und war zufrieden mit meinem vor wenigen Tagen aufgezeichneten Fernsehauftritt. Dass man in einem TV-Studio immer fünf Kilo schwerer aussieht, wurde wettgemacht durch die professionelle Maske, die mich fünf Jahre jünger wirken ließ. Das lag jedoch immer noch oberhalb der Altersgrenze der für das Fernsehen werberelevanten Gruppe der Vierzehn- bis Neunundvierzigjährigen, aber sicher zehn Jahre unter dem Alter des durchschnittlichen ZDF-Zuschauers.

Eduard Zimmermann, der Erfinder von »XY« und damit des Reality-Fernsehens und des Trends, den man heute »True Crime« nannte, war in meiner Kindheit neben »Der Alte« und »Derrick« regelmäßig am Freitagabend in der Wohnstube zu Hause zu Gast gewesen. Alle drei Sendungen hatten wesentlichen Anteil daran, dass mein Berufswunsch Polizist bereits feststand, lange bevor ich das kleine Einmaleins beherrschte oder die ersten Milchzähne verlor.

Günter Strack als Dr. Renz in »Ein Fall für zwei«, der mich noch zu einer Anwaltskarriere hätte motivieren können, trat erst später in Erscheinung. Und der schmuddelige Josef Matula war eher ein abschreckendes Beispiel für die Berufsgruppe Privatdetektiv. Ich wollte immer ein Oberinspektor sein wie Stephan Derrick: korrekt, fair und unbestechlich. Die Täter überführte er nicht drohend mit der Waffe in der Hand. Er brachte sie oft nur mit seinem schweigenden Blick zum Geständnis.

Auch wenn es den Dienstgrad Oberinspektor bei der Polizei nicht mehr gab und die Reihe längst nicht mehr ausgestrahlt wurde, hatte ich alle Folgen als DVD-Sammlung in einer Schmuckkassette in meiner Schrankwand stehen. Dass meine Kollegen oder die Lokalmedien mich wegen meiner unaufgeregten Art nach meinem Idol gelegentlich den »fränkischen Derrick« nannten, schmeichelte mir durchaus. Auch wenn der Ruf des einstigen Kult-Schauspielers posthum durch die Enthüllung seiner Mitgliedschaft bei der Waffen-SS so ramponiert war, dass das ZDF auf Wiederholungen verzichtete und sich die zweihunderteinundachtzig Folgen über fünfzig Jahre nach dem Start der Serie auch nicht in der Mediathek befanden.

Heute lief »XY« einmal im Monat mittwochabends. Ich nahm meine Fernbedienung und schaltete vom ZDF aufs Erste, wo das Programm nicht weniger spannend war. Eigentlich interessierte ich mich nicht besonders für Fußball, wenn es nicht um wichtige Spiele der Nationalmannschaft ging. Dafür konnte ich mich sehr gut an fast alle Spielergebnisse der DFB-Elf bei Welt- und Europameisterschaften seit 1978 erinnern, als Udo Jürgens mit den Spielern »Buenos Dias Argentina« sang.

Da es inzwischen nicht mehr selbstverständlich war, dass die deutsche Nationalmannschaft bei einem großen Turnier die Vorrunde überstand, konzentrierte sich das Interesse der Fußballfans auf die nationalen Wettbewerbe wie Bundesliga oder DFB-Pokal, in dem heute das Achtelfinale mit einem fränkischen Derby ausgetragen wurde. Der Bamberger Amateurverein FC Eintracht traf nach sensationellen Leistungen in den ersten Runden auf die Zweitligamannschaft des renommierten 1. FC Nürnberg und hielt sich offenbar wacker. Der Anzeige links oben auf dem Fernsehschirm entnahm ich, dass bereits die letzten fünf Minuten der regulären Spielzeit angebrochen waren und die Partie noch immer torlos unentschieden stand. Das war ein enormer Achtungserfolg für den Regionalligisten, der gegen den Club absoluter Außenseiter war.

Seit Tagen hatten die lokalen Medien dieses fränkische Spitzenspiel mit Vorberichten angekündigt und das Fußballfieber in der Stadt angeheizt. Es war eigentlich Zeit zum Schlafengehen für mich, doch wenn es jetzt noch eine Verlängerung geben sollte, dann wollte ich sie mir gerne anschauen.

Ich ging in die Küche und holte ein alkoholfreies Kellerbier, das in diesem Fall eher ein Kühlschrankbier war. Während ich aus der Schublade neben dem Herd einen Flaschenöffner herausnahm, hörte ich aus dem TV-Lautsprecher die sich überschlagende Stimme des Kommentators.

»Tooooor für Bamberg!«, rief er. »Zwei Minuten vor Schluss trifft Carsten Stopka nach einer gekonnten Flanke von Sven Griesbach mit dem Kopf ins linke Eck. Unhaltbar für den Nürnberger Torwart Ingo Stockinger.«

Schnell ließ ich mich in meinen Fernsehsessel fallen und schenkte mir das Bier ins Glas ein. Aus der Flasche zu trinken, kam für mich nicht in Frage, auch wenn ich allein zu Hause war.

Ich sah auf dem Bildschirm, dass einige der Nürnberger Abwehrspieler in rot-schwarzen Trikots wild gestikulierend Abseits reklamierten. Doch die Fahne des Schiedsrichterassistenten, wie man den Linienrichter heute nannte, blieb unten. Der Unparteiische forderte einen Videobeweis an, indem er mit den Händen ein Viereck in die Luft malte. Die Stimmung brodelte. Was für eine Enttäuschung würde es bedeuten, wenn der Siegtreffer so kurz vor Schluss wieder aberkannt werden sollte.

Quälende Sekunden vergingen, in denen der Schiedsrichter die Hand auf seinen Kopfhörer im Ohr legte. Dann bekam er die Nachricht des Video Assistant Referees und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Mittelkreis. Das bedeutete: Das Tor zählte. Die Fans im Stadion jubelten.

»Es steht eins zu null für die Bamberger. Das riecht nach einer Sensation hier im rein fränkischen Achtelfinale des DFB-Pokals in der Bamberger Tartler-Arena«, sprach der Reporter. »Bevor wieder angepfiffen wird, kommt es noch zu einem Wechsel. Der Bamberger Trainer Kevin Kupka nimmt den glücklichen Torschützen aus dem Spiel, bringt mit der Nummer zweiundvierzig den frischen Stürmer Omar Alma und gewinnt damit wertvolle Sekunden, um diesen sensationellen Spielstand über die Zeit bis zum Schlusspfiff zu retten. Wird sich an diesem Fußballabend mal wieder die alte Weisheit bestätigen, dass der Pokal seine eigenen Gesetze hat?«

Und der Ball ist rund, das Spiel hat neunzig Minuten, das Runde muss in das Eckige, und nach dem Spiel ist vor dem Spiel, dachte ich. Und der nächste Gegner ist immer der schwerste.

Nach dem Anstoß warfen die Nürnberger alles nach vorne und gaben Vollgas in der Offensive. Tatsächlich kam es noch einmal zu einer turbulenten Szene im Bamberger Strafraum. Torhüter Brögelmann schlug mit beiden Fäusten gegen einen hohen Ball und traf dabei einen Nürnberger Stürmer, der einen Kopfball versucht hatte und mit einem lauten Schrei zu Boden ging. Als der Schiedsrichter »weiterspielen« signalisierte, rannte die gesamte Nürnberger Ersatzbank samt Trainer wütend aufs Spielfeld, um den aus ihrer Sicht berechtigten Elfmeter einzufordern. Doch der Schiedsrichter reagierte mit einer Gelben Karte gegen den Trainer und verwies die aufgebrachten Clubberer auf die Bank. Dann erlöste er nach fast sieben Minuten Nachspielzeit, die sich für die Fans wie Ewigkeiten anfühlten, die violetten Spieler und die über fünftausend Fans mit dem Schlusspfiff.

»Der FC Eintracht Bamberg siegt sensationell und verdient gegen den 1. FC Nürnberg und zieht ins Viertelfinale des DFB-Pokals ein«, sagte der Kommentator in staatstragender Tonlage, während im Hintergrund die Fangesänge zu hören waren: »So ein Tag, so wunderschön wie heute …«

»Und der Club is a Depp«, murmelte ich eine bekannte fränkische Fußballweisheit.

»Doch vor der nächsten Pokalrunde werden sie sich noch einmal in der Regionalliga beweisen müssen«, fuhr der Reporter fort. »Denn dort trifft der FC Eintracht bereits am Sonntag auf den Tabellenletzten aus Ansbach. Nach der heutigen grandiosen Vorstellung der Domreiter dürfte dies jedoch nicht mehr als eine Pflichtübung werden.«

In diesem Moment erschien eine Nachricht meiner Tochter Andrea auf meinem Telefon: »Du warst super! Ich will dich öfter im Rentner-TV sehen! Dein TikTok-Kanal hat über tausend Follower gewonnen.«

Andrea bezeichnete alles als Rentner-TV, was kein Streaming war. Und das ZDF war für sie das Zentrum der Finsternis. Doch seitdem sie als Volontärin beim »Fränkischen Tag« arbeitete, konnte ich damit kontern, dass sie demnach auch für eine Rentner-Zeitung schrieb.

Den TikTok-Kanal als »BambergCop« hatte Andrea aus Gaudi angelegt. Es war ein unerwarteter Erfolg geworden, der auch bei meinem obersten Dienstherrn nicht unbemerkt geblieben war. Die aus Bamberg stammende Staatssekretärin im Innenministerium, Linda Wolf, die selbst die sozialen Medien intensiv für ihre politische Arbeit nutzte, war auf mich aufmerksam geworden. Wenig später war ich das Werbegesicht für eine große Onlinekampagne des Ministeriums geworden, mit der auf allen Kanälen in den sozialen Netzwerken um Nachwuchs für die Polizei geworben wurde.

Seitdem zeichneten wir mit Unterstützung der Social-Media-Abteilung im Polizeipräsidium Oberfranken jede Woche ein kurzes Video auf, das einen Blick hinter die Kulissen der Polizeiarbeit erlaubte oder einfach nur Spaß machte. Und ich dachte mir, dass jeder Jugendliche, der sich ein Video der Polizei auf TikTok anschaute, in dem Moment nicht empfänglich war für Verschwörungstheoretiker oder rechtsradikale Influencer. Meinen TikTok-Auftritt betrachtete ich daher auch als angewandten Antifaschismus.

Ich trank mein Bierglas leer und schaltete den Fernseher aus.

***

Am nächsten Morgen begrüßte mich meine Kollegin Paulina in unserem gemeinsamen Büro in der Kriminalpolizeiinspektion in der Schildstraße mit den Worten: »A star is born!«, wobei sie beide Daumen nach oben streckte.

»Autogramme gibt’s später. Interviews gar nicht«, erwiderte ich demonstrativ gelangweilt, während ich meine Fahrradklammern in die oberste Schublade des Rollcontainers unter meinem Schreibtisch legte, meine Straßenschuhe unter den Schreibtisch stellte und die Büro-Birkenstocks anzog. Dann nahm ich die Kanne aus der Rowenta, die dank sorgfältig programmierter Zeitschaltuhr wie jeden Morgen einen frischen Filterkaffee gebrüht hatte. Das hatte auch einen angenehmeren Effekt für das Raumklima als jede Duftkerze.

Ich trank jeden Tag Kaffee exakt zur gleichen Zeit, die Momente der flüssigen Koffeinzufuhr strukturierten meinen Tagesablauf und verhinderten eine unkontrollierte Überdosierung. Paulina hingegen präferierte den Latte macchiato mit aufgeschäumter Sojamilch aus dem Vollautomaten.

»Wir haben schon ein halbes Dutzend Anrufe von Leuten, die sich nach der Sendung gemeldet haben«, sagte sie und zeigte auf eine Liste, die vor ihr lag. »Alles Opfer von Tinder-Trading-Scam aus ganz Deutschland. Zwei der Anruferinnen, eine Frau Werth aus Aurich und eine Frau Neuser aus Bad Salzungen, wollten ausdrücklich nur mit Ihnen sprechen. Wollen Sie die Nummern haben?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Onlinebetrüger sind ja weiterhin nicht unser Metier. Wir geben alles weiter an die Kollegen der Zentralstelle Cybercrime.«

»Und warum sind Sie dann vor die Kamera gegangen?«, wollte Paulina wissen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Der Sender wollte mich unbedingt, weil ich angeblich ein bekanntes Gesicht der bayerischen Polizei bin, und man will ja auch junge Leute begeistern für das«, ich malte Gänsefüßchen in die Luft, »›Rentner-Fernsehen‹.«

»Da müssen Sie selbst lachen, oder? Dass Otto Normalkommissar Müller mit seinen grauen Karstadt-Anzügen, der AOK-Gleitsichtbrille und den Sozialkundelehrer-Schlappen mal zur Kultfigur wird?«

»Vorsichtig, Frau Kollegin! Dass vermeintlich spießige Dinge plötzlich wieder im Trend und cool sind, gab es ja schon öfter. Und dass der Karstadt jetzt Galeria heißt, sollten Sie mitbekommen haben. Diese hippen weiten Hosen, die Sie und Ihre Altersgenossinnen gerne tragen, wären zu meiner Zeit übrigens als Kartoffelsäcke verspottet worden. Und wissen Sie, dass Rick Astley, der übrigens so alt ist wie ich, ein neues Album veröffentlicht hat?«

»Haha! ›Never gonna give you up‹? Diese Bad-Taste-Hymne hat es sogar in meiner Generation durch Rickrolling zur Berühmtheit gebracht.«

»Wie bitte? Was ist Rickrolling?«

»War ein Trend Ende der Nullerjahre. Man verschickte einen Link zu einem vermeintlich interessanten Inhalt wie dem Trailer eines neuen Videospiels. Und wenn man draufklickte, kam der üble Song von Rick Astley. Auf diese Weise hat das YouTube-Video bereits über eine Milliarde Aufrufe bekommen.«

»Sehen Sie. Und dass Birkenstock-Sandalen heute ein beliebtes Mode-Accessoire bei Hollywoodstars sind, wissen Sie vielleicht.«

»Alles klar, Herr Retro-Kommissar.« Paulina lachte. »Aber bitte nicht mit Wollsocken, ja?«

Dann läutete mein Telefon, es war die Pforte am Haupteingang. Mir wurde ein Besucher angekündigt, dessen Namen ich erst vor Kurzem gehört hatte.

Als er kurz danach unser Büro betrat, erkannte ich Georg Brögelmann, der jedoch in einer engen Designerjeans und einem hellblauen Oberhemd mit hochgekrempelten Ärmeln sowie einer Baseballkappe auf dem Kopf ganz anders wirkte als am Vortag im hellblauen Torwarttrikot mit der Rückennummer eins. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Seine markanten Gesichtszüge, seine dunklen Augen und der verwegene Dreitagebart machten ihn zu einem überaus attraktiven Mann, was auch Paulina zu bemerken schien. Er sah nicht aus wie jemand, der auf Love-Scammer hereinfallen musste. Ihm flogen die Herzen der Damenwelt vermutlich auch so zu. Sein Gesicht war von Anspannung gezeichnet. Unter seinen Achseln waren Schweißflecken deutlich zu erkennen.

»Sie wollen uns hoffentlich nicht einen Mord gestehen«, sagte Paulina zur Begrüßung, was den Besucher sichtlich verunsicherte.

»Bin ich hier bei der Mordkommission gelandet?«, fragte er.

»Nein, eine Mordkommission gibt es bei uns nicht«, beruhigte ich ihn. »Wir sind das K1 und zuständig für alles außer Ladendiebe und Trickbetrüger. Fast jedenfalls. Was können wir für Sie tun? Sie wollen hoffentlich nicht den Schiedsrichter anzeigen wegen der langen Nachspielzeit gestern? Das fällt nicht in unser Ressort. Glückwunsch zum Viertelfinale übrigens.«

»Sie haben das Spiel gesehen? Aber nein, darum geht es nicht. Ich brauche Ihren Schutz.« Seine Stimme klang besorgt. Er durchbohrte mich mit seinem Blick. »Ich werde verfolgt.«

»Wer verfolgt Sie?« Ich deutete auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. »Setzen Sie sich doch. Kaffee? Wasser?«

»Nein danke. Ich hoffe, Sie können mir helfen.« Er atmete tief durch. »Es ist eine Frau aus dem Fanclub, eine Stalkerin.«

»Ich weiß nicht, ob wir Ihnen hier helfen können, aber erzählen Sie mal, was vorgefallen ist. Sie kennen die Frau, um die es geht, persönlich?«

»Ja. Ich war mit ihr mal kurzzeitig … zusammen. Aber das ist zwei Jahre her. Sie heißt Alicia Blum.«

»Wie haben Sie sie kennengelernt?«

»Sie war auf der Aufstiegsfeier des Vereins im ›Sternla‹. Es ging feuchtfröhlich zu, und nach dem ich weiß nicht wievielten Bier saß sie auf meinem Schoß, und dann habe ich sie mit nach Hause genommen. Es war ein großer Fehler im Nachhinein. Wir haben uns noch ein paarmal getroffen, aber irgendwann hat sie nur noch genervt, ich wollte den Kontakt abbrechen.«

»Aber sie ließ sich nicht abwimmeln?«, ahnte Paulina und lächelte verständnisvoll.

Brögelmann nickte. »Ja. Ich habe ihre Nummer blockiert, aber sie legte sich eine neue zu. Und das immer wieder. Sie hat mir beim Mannschaftstraining aufgelauert, sie schreibt mir E-Mails, und sie droht damit, sich umzubringen, wenn ich mich nicht bei ihr entschuldige.«

»Das klingt mehr nach einem Fall für einen Psychologen als für die Polizei, finden Sie nicht? Warum kommen Sie zu uns?«

»Meine Mutter hat mir von Ihrem Auftritt bei ›XY‹ erzählt. Da dachte ich …«

Ich schaute zu Paulina, die mir signalisierte, dass sie auch keine Möglichkeit sah, dem verfolgten Torhüter zu helfen. Auch wenn es ihr vielleicht gefallen hätte, für ihn den Personenschutz zu übernehmen.

»Beim Stalking handelt es sich laut Strafgesetzbuch Paragraf 238 um Nachstellung. Demnach wird mit bis zu drei Jahren Haft bestraft, wer einer anderen Person in einer Weise unbefugt nachstellt, die geeignet ist, deren Lebensgestaltung erheblich zu beeinträchtigen, etwa durch räumliche Annäherung oder Kontakt über Telekommunikationsmittel. Man kann sich straf- oder zivilrechtlich wehren und durch eine einstweilige Anordnung beim Amtsgericht ein Kontakt- oder Näherungsverbot erwirken. Auch wenn es zu Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Beleidigung oder Drohung kommt, kann die Polizei tätig werden, aber …«

»Sie sind zudem als Torwart zumindest hier in der Stadt eine Person des öffentlichen Lebens. Da werden auch andere Maßstäbe angelegt«, ergänzte Paulina.

»Ich gebe Ihnen meine Visitenkarte«, sagte ich. »Wenn irgendetwas vorfällt, können Sie mich jederzeit erreichen.« Ich blickte schmunzelnd zu Paulina. »Meine Kollegin natürlich auch.«

»Vielen Dank, Herr Kommissar!« Brögelmann nahm meine Karte entgegen. »Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen. Ich weiß das zu schätzen. Ich habe auch etwas für Sie. Sie interessieren sich für Sport?«

»Ich finde Sport eine gute Sache. Also theoretisch.«

»Und Fußball?«

Ich zögerte. »Ja, bei besonderen Spielen und Turnieren schaue ich schon gerne zu.«

Er legte zwei Eintrittskarten auf den Tisch mit den Worten: »Sie sind beide Ehrengäste auf der Haupttribüne beim nächsten Heimspiel gegen Ansbach. Ich würde mich sehr freuen, Sie im Stadion zu sehen.«

»Oh, das ist aber nett.« Ein Spiel gegen den Tabellenletzten fand ich auf Anhieb nur mäßig attraktiv. Auf dem Ticket stand »Freikarte« und kein Preis. Ich ging davon aus, dass es sich damit nicht um ein meldepflichtiges Geschenk handelte. »Weiß man eigentlich schon, wer der nächste Gegner im DFB-Pokal ist?«

»Die Auslosung kommt erst noch. Aber es wird auf jeden Fall ein Profiverein. Außer den Domreitern sind nur noch Erst- und Zweitligisten im Rennen um den Pokal.«

»Dann viel Glück für die Auslosung.«

»Wir hoffen auf den FC Bayern«, sagte Brögelmann und verabschiedete sich.

ZWEI

An unserem freien Sonntag, es war ein lauwarmer Frühsommernachmittag, folgten wir der Einladung von Herrn Brögelmann und besuchten das Spiel des FC Eintracht gegen die Spielvereinigung Ansbach in der Tartler-Arena, wie das frühere Fuchs-Park-Stadion seit dem Sponsorenwechsel hieß. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt ein Fußballstadion aufgesucht hatte. Sehr gut erinnern konnte ich mich aber noch an die Bundesjugendspiele in meiner Schulzeit, als ich mich beim Hundert-Meter-Lauf, Weitsprung oder Kugelstoßen vor den Mitschülern blamierte. Insofern waren Aufenthalte in Sportstadien bislang nicht mit vorwiegend fröhlichen Gedanken verbunden.

Mit Rücksicht auf meine vegane Kollegin widerstand ich der Versuchung, beim Bratwurststand gleich hinter den Kassenhäuschen haltzumachen. Ich nahm an, dass hier keine Tofu-Würstchen verkauft wurden und Veggie-Kunden sich allenfalls für ein Brödla mit Ketchup oder Senf entscheiden konnten.

Über eine Treppe erreichten wir die Tribüne, wo sich in der Mitte unterhalb der Sprecherkabine im Bereich der Ehrengäste unsere Sitzplätze befanden.

Auf den beiden Plätzen links von uns erkannte ich den chinesischstämmigen Imbissbudenbetreiber Qian Peng und den neuen Oberbürgermeister Sepp Gaibacher.

»Lange nicht gesehen«, sagte der CSU-Politiker, den wir noch in seiner Funktion als Gesundheitsstaatssekretär bei den Ermittlungen um den Mord an einem Klosterbruder kennengelernt hatten. Er hatte seinen Kabinettsposten für den Bamberger OB-Sessel geräumt, woraufhin Linda Wolf im Innenministerium für Oberfranken den Regionalproporz in der Regierung sicherstellen durfte.

»Und gleich wiedererkannt«, erwiderte ich und reichte ihm die Hand, dann begrüßte ich auch Peng. »Meine Kollegin, Frau Kowalska, kennen Sie ja schon.«

»Auf der Ehrentribüne habe ich die Polizei noch nie gesehen. Die Beamten sitzen doch sonst immer im Polizeiraum neben der Sprecherkabine«, sagte Peng. »Das hat hoffentlich nichts Schlechtes zu bedeuten?«

»Das werde ich erstaunlicherweise immer gefragt, wenn ich irgendwo auftauche.« Ich lachte. »Aber keine Sorge. Wir sind rein privat hier.«

»Von ihm haben wir die Ehrenkarten«, sagte Paulina und deutete auf Brögelmann, der einen dunkelblauen Trainingsanzug trug und vom Spielfeld eine Treppe hinaufgegangen war. Ein Ordner öffnete ihm das Tor zum Zuschauerbereich. Der Torwart entdeckte uns sofort in der ersten Reihe.

»Schön, dass Sie da sind«, sagte er.

»Super-Schorsch! Halt den Kasten sauber!«, rief ihm ein Fan zu.

Dann beugte er sich etwas konspirativ zu mir. »Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen, Herr Kommissar? Sie natürlich auch, Frau Kommissarin.«

Paulina und ich blickten uns kurz an, dann sagte ich: »Gerne. Aber müssen Sie denn gar nicht spielen? In fünfzehn Minuten ist Anpfiff.«

»Es geht auch ganz schnell, bitte!«

Ich gab seinem sanften Druck, den er mit seiner kräftigen Hand auf meinen Oberarm ausübte, nach, und wir gingen einige Stufen hinauf zum Getränkestand, wo man auch das neue violette Heimtrikot und andere Merchandisingartikel der Domreiter wie Trinkbecher, Schals, Käppis oder Feuerzeuge erwerben konnte. »Sie ist wieder hier«, sagte Brögelmann leise, während er für uns zwei Kaffeebecher entgegennahm. Bezahlen musste er offenbar nicht. Paulina verzichtete dankend.

»Wer? Die Stalkerin?«, fragte ich zurück und blickte mich um.

Er nickte. »Richtig. Alicia. Sie hat eben an der Umkleidekabine geklopft und dem Ordner erzählt, sie wäre meine Schwester. Sie reichte dem Ordner einen Plüschteddy, den er mir geben sollte als Glücksbringer fürs Spiel. Er hat sie natürlich nicht hereingelassen und mir den Teddy gebracht.«

»Sonderbar«, sagte ich. »Haben Sie nach ihr geschaut?«

»Ja, als ich an der Tür geguckt habe, war sie spurlos verschwunden.«

»Aber dann wissen Sie doch gar nicht, ob es diese Alicia war«, stellte Paulina fest.

»Ich habe keine Schwester. Und wer soll es denn sonst gewesen sein?«

»Beruhigen Sie sich erst mal, Herr Brögelmann. Das Überreichen eines Stofftiers ist zunächst mal keine Straftat. Wenn irgendetwas vorfällt, melden Sie sich. Aber jetzt sollten Sie sich auf das Spiel konzentrieren. Wir drücken die Daumen.«

»Vielen Dank, Herr Kommissar. Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich bin etwas durch den Wind. Es ist sicher alles ganz harmlos.« Er seufzte. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie behelligt habe. Genießen Sie das Spiel! Und danke noch mal.«

»Der Typ wirkt psychisch etwas labil«, sagte ich zu Paulina, als Brögelmann verschwunden war. »Kaum vorstellbar, dass er auf dem Platz die Nerven behält.«

»Ja, aber süß ist er schon.«

***

Als wir wieder zu unseren Sitzen zurückgekehrt waren, saß auf der andere Seite ein Herr Ende fünfzig mit noch weniger Haupthaar als ich und einer sehr gesunden Gesichtsfarbe. Er trug Jeans, weiße Turnschuhe und eine sportlich geschnittene Jacke aus Ballonseide. Sein Gesicht kam mir bekannt vor. War er ein alternder Schauspieler, ein früherer Politiker oder ein ehemaliger Sportler?

In diesem Moment kam ein Mann mit einem Mikrofon in der Hand auf uns zu, dessen Stimme wir gleichzeitig vor uns und mit Sekundenbruchteilen Verzögerung aus den Stadionlautsprechern hören konnten.

»Werfen wir kurz vor Anpfiff noch einen schnellen Blick auf die Ehrenplätze unserer Tribüne. Hier sitzt die Politprominenz rund um Oberbürgermeister Gaibacher ebenso wie ein ganz besonderer Besucher, den wir heute hier im Stadion begrüßen dürfen.«

»Er meint Sie«, flüsterte Paulina und boxte mich in die Seite.

»Wohl kaum«, entgegnete ich. Dass der Stadionsprecher mit einem Handmikro durch die Gegend lief und nicht in einer verschlossenen Kabine saß, war für mich eine überraschende Erkenntnis. Ich erkannte gleich die markante Stimme von Klaus Thaler, dem Morningman von Radio Bamberg, der wegen seines an ein alkoholfreies Bier erinnernden Namens auch Mister Null Prozent genannt wurde. Sein Gesicht hatte ich noch nie gesehen, und ich musste zugeben, dass ich mir keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie er aussah. Ich hätte ihn mir wohl größer vorgestellt als die geschätzten eins fünfundsechzig und weniger untersetzt. Er war etwas älter als ich, seine abgewetzte Jeans, die rote Funktionsjacke, die ausgetretenen Wildlederschuhe und das unrasierte Gesicht interpretierte ich als Hinweis darauf, warum er im Radio statt im Fernsehen Karriere gemacht hatte. Auf Äußerlichkeiten schien er keinen gesteigerten Wert zu legen.

»Herzlich willkommen, Hartwig Semmelmeier, der Co-Trainer des FC Bayern München«, sagte Thaler und hielt meinem Nebenmann das Mikrofon vor die Nase.

Jetzt wurde es mir klar: Hartwig Semmelmeier musste der Bruder von Ludwig Semmelmeier sein, genannt Semmi, einem Fußballstar aus meiner Jugendzeit. Er war in den achtziger Jahren Rekord-Torjäger des FC Bayern und Mitglied des deutschen WM-Kaders von Mexiko 1986, wo er aber nach einer Verletzung im Vorrundenspiel gegen Uruguay die Zeit bis zum Finale komplett auf der Ersatzbank verbrachte.

»Nach der Pokalsensation der Domreiter gegen den Club geht es in der nächsten Runde gegen den deutschen Rekordmeister FC Bayern München. Dass Sie, Herr Semmelmeier, heute auf der Zuschauertribüne sitzen, zeigt doch, dass die Bayern den Außenseiter aus Bamberg als Gegner ernst nehmen, oder?«

»Wir haben das Spiel Bamberg gegen Nürnberg natürlich am Fernseher verfolgt und waren beeindruckt von der Kampfkraft und dem unbändigen Siegeswillen der Amateure. Ich werde das Spiel der Bamberger heute genau beobachten und analysieren. Als FC Bayern wollen wir in diesem Jahr das Triple aus Pokal, Meisterschaft und Champions League holen. Da dürfen wir uns keinen Ausrutscher erlauben.«

»So wie 2023 gegen den 1. FC Saarbrücken?«, sagte Thaler.

»Dass die Kleinen die Großen raushauen, kommt immer wieder vor. Aber wir wollen natürlich vermeiden, dass wir wieder einmal auf der falschen Seite der Pokalsensation stehen. Heute aber drücke ich den Domreitern ganz fest die Daumen.«

Der Bayern-Co-Trainer hatte in der letzten Sekunde noch die Kurve bekommen und erntete einen freundlichen Applaus der rund achthundert Zuschauer.

Thaler schaute auf seine Armbanduhr und sprach ins Mikro: »Noch wenige Minuten bis zum Anpfiff, die Mannschaften machen sich bereit. Freuen wir uns auf ein spannendes Spiel. Möge das bessere Team gewinnen, nämlich der FC Eintracht …«

Das ganze Stadion rief wie aus einem Mund: »Bamberg!«

»Was war das denn für ein Vogel?«, fragte mich Semmelmeier.

»Klaus Thaler ist hier ein stadtbekannter Radiomoderator, der wohl als Nebenjob am Wochenende den Stadionsprecher macht.«

»Da sieht man wieder mal, dass wir in der Provinz sind.« Semmelmeier lachte guttural. »Wissen S’, wie der aussah, da würde man ihn in Minga für einen Sandler halten.« Dann bemerkte er wohl, dass er vermutlich mit einem Einheimischen sprach, und ruderte zurück. »Ich wollte natürlich nicht sagen, dass sich in der Provinz alle …«

»… provinziell verhalten? Bassd scho, ich bin da schmerzfrei. ›Mia san mia‹ sind die anderen, sagt man hier.«

Semmelmeier lachte wieder. »Und Sie sind der Bürgermeister von hier?«

»So weit ist es noch nicht«, antwortete ich. »Mein Name ist Müller, Horst. Meine Kollegin und ich sind von der Polizei, aber wir sind privat hier.«

»Privat, verstehe.« Er zwinkerte mir zu. »So wie ich. Zur Vorbereitung auf die nächste Pokalrunde, nicht wahr? Das wird gewiss auch für die Sicherheitsbehörden eine große Herausforderung.«

»Nein, wirklich. Wir haben die Ehrenkarten bekommen und hatten nichts anderes vor.«

In diesem Moment machten die Gäste aus Ansbach den Anstoß, und aus dem Bamberger Fanblock erklang rhythmisches Trommeln. Semmelmeier hatte auf dem Schoß ein iPad liegen, auf dem er sich mit einem Apple Pencil Notizen machte.

»Normalerweise haben wir über unsere Gegner auf nationaler und internationaler Ebene ausreichend Videomaterial zur Verfügung«, erklärte er. »Aber in den unteren Spielklassen wird ja wenig übertragen. Und alle Amateure, die gegen die Bayern antreten, machen das Spiel ihres Lebens und wachsen über sich hinaus. Wenn die Vollprofis dann einen schlechten Tag haben und den vermeintlich kleinen Gegner unterschätzen …«

»… ist die Pokalsensation perfekt.«

Semmelmeier nickte. »So ist es.«

Die Domreiter eroberten den Ball und spielten kontrolliert über den linken Flügel nach vorne. Carsten Stopka kam über die Mitte und wartete auf die Flanke, traf sauber mit dem Kopf und setzte den Ball auf die Querlatte. Ein Raunen ging durch die Ränge. Die erste Großchance bereits nach wenigen Minuten. So konnte es für die Bamberger Fans weitergehen. Ich sah, wie der Bayern-Trainer auf seinem Display in der Rubrik »Expected Goals« einen Strich machte.

Früher gab’s nur Tor oder kein Tor, dachte ich. Expected Goals waren wohl so eine neumodische Erscheinung wie Videobeweis, Spielertracking und Geisterspiele.

»Auf geht’s, Bamberg, kämpfen und siegen!«, sangen und klatschten die Fans und bejubelten nach wenigen Minuten die zweite Chance. Diesmal schoss Stopka scharf ins untere Eck, doch der Ansbacher Torwart wehrte mit einer Glanzparade ab.

»Respekt«, sagte Semmelmeier und machte einen weiteren Strich. Es war nicht erkennbar, ob er den Schützen oder den Keeper meinte. Oder beide.

»Hat der FC Bayern schon mal hier im Stadion gespielt?«, fragte ich. »Und ich meine natürlich nicht die zweite Mannschaft aus der Regionalliga.«

Griesbach nahm eine Flanke mit dem linken Fuß an, traf dann den Ball aber nicht richtig, sodass er im Niemandsland endete.

»Was für ein schwuler Pass!«, rief ein wütender Fan von den oberen Rängen herunter. Ich wunderte mich über die spezielle Ausdrucksweise, die auf Fußballplätzen zu herrschen schien.

»Ich erinnere mich gut«, sagte Semmelmeier. »Mein Bruder spielte seine erste Saison und war gerade Deutscher Meister und Europapokalsieger geworden, als wir hier im Sommer 1976 zum Freundschaftsspiel angetreten sind. Franz Beckenbauer, Sepp Maier und der Bamberger Spielführer Adolf Leicht waren dabei. Auch das Ergebnis weiß ich noch genau: zwölf zu eins für die Bullen.« Er nickte gönnerhaft, als wollte er sagen: »So läuft’s, wenn man gegen die Bayern antritt.«

»Wieso Bullen?«, wollte Paulina wissen.

»Damals hatten wir das Logo von Magirus-Deutz auf den Trikots. Und diese Laster wurden die deutschen Bullen genannt.«

»Und weil der Komiker Michael Alexander Herbig als Kind immer ein FC-Bayern-T-Shirt mit der Aufschrift ›Die Bullen‹ trug, bekam er den Spitznamen Bully«, erläuterte ich und verzichtete darauf, den Bayern-Co-Trainer zu korrigieren. Denn Trikotsponsor des FC Bayern wurde Magirus-Deutz nach meiner Erinnerung erst 1978, also zwei Jahre nach dem Spiel in Bamberg.

In diesem Moment ging ein Raunen durch die Zuschauerränge. Brögelmann hatte einen verunglückten Ball des Ansbacher Linksaußen, der eigentlich eine Flanke sein sollte und immer länger und länger wurde, nur mit einem Hechtsprung aus dem Winkel fischen können.

Brögelmann zögerte nicht und machte einen langen Abschlag. Der Ball landete kurz hinter der Mittellinie bei der Bamberger Nummer vier, Steffen Hartinger, der blitzschnell in den Lauf des frei stehenden Carsten Stopka passte. Die Ansbacher Abwehr hob die Arme, um Abseits zu reklamieren, die Fahne des Schiedsrichterassistenten blieb unten.

Stopka lief Richtung Strafraum, den Ball eng am Fuß. Zwei Verteidiger setzten ihm nach, doch der Abstand wurde größer. Carsten Stopka rannte wie um sein Leben. Vor ihm nur noch der gegnerische Keeper, der aus dem Tor sprintete, um sich mit ausgestreckten Armen vor die Füße des Stürmers zu werfen. Die Zuschauer hielten den Atem an, dies war eine tausendprozentige Chance. Expected Goal de luxe. Stopka hatte genug Platz und alle Zeit der Welt, den Ball über den Torhüter zu lupfen und das erlösende eins zu null zu erzielen.

Doch genau an der Grenze des Sechzehn-Meter-Raums ging Stopka zu Boden. Sekundenbruchteile später hatte der Torwart den Ball geschnappt.

»Das gibt’s doch nicht, dieser Versager!«, rief jemand hinter mir. »Der Torwart hat ihn überhaupt nicht berührt. Das war die dümmste Schwalbe seit hundert Jahren.« Dann schrie der knapp Fünfzigjährige mit rotem Käppi: »Verkaufen! So eine Niete!«

Pfiffe und Buhrufe waren zu hören, aus dem gegnerischen Fanblock ertönte der Ruf: »Steh auf, du Sau!« Nur Semmelmeier neben mir machte emotionslos Notizen auf seinem Tablet. Ein Fan mit violettem Domreitertrikot balancierte ungerührt eine Palette mit sechs Bechern Bier, die er an seine Kumpane verteilte.

Stopka lag immer noch am Boden. Die Pfiffe wurden lauter. Der Torwart ging zu ihm und beugte sich nieder. Sofort winkte er den Schiedsrichter zu sich. Stopka rührte sich nicht.

»Was ist denn da los?«, fragte ich. »Wie eine Schwalbe sieht das nicht aus.«

»Ich tippe auf einen Kreuzbandriss«, mutmaßte Semmelmeier. »Ausgerutscht und zack. Der Klassiker.«

Die medizinische Ferndiagnose wirkte auf mich wenig überzeugend.

Der Schiedsrichter gab der Trainerbank ein Zeichen. Sofort rannten ein Sanitäter der Malteser und ein Mann mit einem Metallkoffer zu Stopka und knieten sich neben ihn. Die anderen Spieler bildeten eine Menschentraube um das Geschehen. Ich sah, wie der Sanitäter auf den am Boden liegenden Stürmer einredete, ihm leicht mit den Händen auf die Wange schlug. Er war offenbar nicht bei Bewusstsein. Dann fühlte er den Puls, kontrollierte die Atmung und begann schließlich hektisch mit beiden Händen auf den Brustkorb zu drücken.

»Um Gottes willen«, rief Paulina. »Das sieht aus wie ein Reanimationsversuch!«

Einige Minuten lang standen die Spieler ratlos auf dem Rasen, auf den Rängen machte sich Unruhe breit. Dann rief der Schiedsrichter die beiden Spielführer zu sich und sprach kurz mit ihnen. Schließlich nahm er seine Pfeife in den Mund und pfiff das Spiel ab.

»Spielabbruch in der zwölften Minute«, sagte Semmelmeier ungerührt. »Dafür war ich fast drei Stunden mit dem Auto unterwegs.«

Die Spieler blickten sich betroffen an, einige verließen den Rasen. Andere blieben bei ihrem bewusstlosen Kameraden stehen. Inzwischen hatten Ordner einen Sichtschutz aufgestellt.

»Was ist jetzt los? Warum macht keiner eine Durchsage?«, fragte der Mann hinter uns, der eben noch den Verkauf des Stürmers gefordert hatte.

»Das Spiel ist aus. Game over«, hörte ich eine andere Männerstimme. Und viele Zuschauer standen bereits auf und gingen ratlos Richtung Ausgang.

»Für mich sieht das eher nach einem Herzanfall aus als nach einem Kreuzbandriss«, sagte ich. »Schrecklich! Aber so was hört man bei Sportlern immer wieder mal.«

Zwei Malteser liefen mit einer Trage aufs Spielfeld. Wenige Minuten später wurde Carsten Stopka vom Rettungswagen mit Blaulicht durch die Ausfahrt am Marathontor ins Krankenhaus gebracht.

»Herr Kommissar, können Sie runterkommen?«, sagte Brögelmann, der plötzlich vor uns stand. »Wir brauchen Ihre Hilfe.«

»Was ist überhaupt los?«, fragte Paulina. »Was ist mit Stopka?«

»Das will Herr Kollberg mit Ihnen besprechen. Kommen Sie!«

Ich wollte darauf hinweisen, dass wir unser freies Wochenende hatten und ein dienstlicher Einsatz nur Ärger mit der Arbeitszeiterfassung bedeuten würde. Doch Paulina zog mich am Arm und sagte: »Wir werden gebraucht, Horst!«

***

Ein junger Mann Mitte dreißig mit kahlem Kopf und Oberarmen wie ein Bodybuilder erwartete uns im VIP-Raum unter der Tribüne, wo sonst nach dem Spiel die Pressekonferenzen stattfanden. In die Wand war eine Steintafel eingelassen mit der Inschrift »Sportplatz u. Gebäude erbaut v. d. Stadtgemeinde Bamberg 1926«.

»Das Stadion ist noch älter als Sie«, sagte Paulina.

»Sehr witzig«, erwiderte ich.

Der Mann stellte sich als Gerd Kollberg vor. Und ich erkannte ihn als den Mann mit dem Silberkoffer, der Erste Hilfe geleistet hatte.

»Sind Sie der Mannschaftsarzt?«, fragte ich.

»Ich bin der Physio des Teams, ich kümmere mich normalerweise um die Wehwehchen auf dem Platz.« Er schloss die Augen. »Aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Ich mach den Job jetzt schon vier Jahre.«

»Wie geht es Stopka?«, fragte Paulina sofort.

Kollberg bat uns, auf den für die Journalisten gedachten Stühlen Platz zu nehmen. Aus einem Kühlschrank mit Glastür nahm er eine kleine Flasche Sprudelwasser. »Sie auch?«

Wir lehnten beide ab.

»Was können wir für Sie tun?«, fragte ich. »Wir sind privat im Stadion. Wenn die Polizei gebraucht wird, müssen wir die Einsatzzentrale verständigen.«