Bartleby der Schreiber / Bartleby, the Scrivener - Herman Melville - E-Book

Bartleby der Schreiber / Bartleby, the Scrivener E-Book

Herman Melville.

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Beschreibung

Diese Ausgabe enthält sowohl die deutsche Übersetzung als auch den englischen Originaltext. "Bartleby der Schreiber" ist der deutsche Titel der amerikanischen Erzählung "Bartleby the Scrivener" von Herman Melville. Es ist das erste Werk, das Melville nach Moby Dick schrieb, und wurde zunächst 1853 in "Putnam’s Monthly Magazine" veröffentlicht und dann 1856 in die "Piazza Tales" aufgenommen. Viele Kritiker sehen in ihr die beste Erzählung Melvilles und sie wird manchmal mit "Der Mantel" von Gogol verglichen. Sie weist aber auch auf das 20. Jahrhundert, vor allem auf Kafka, voraus. "Bartleby, the Scrivener: A Story of Wall Street" (1853) is a short story by the American writer Herman Melville, first serialized anonymously in two parts in the November and December editions of "Putnam's Magazine", and reprinted with minor textual alterations in his "The Piazza Tales" in 1856. Numerous essays are published on what according to scholar Robert Milder "is unquestionably the masterpiece of the short fiction" in the Melville canon.

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Bartleby der Schreiber

Ich bin, ich muß es gestehn, nicht mehr der Jüngste. Die Art meiner Berufsgeschäfte hat mich seit nunmehr dreißig Jahren in ungewöhnlich enge Berührung mit einer in mancher Hinsicht merkwürdigen, man kann wohl sagen sonderbaren Sorte von Menschen gebracht, über die meines Wissens noch nie etwas geschrieben worden ist – ich meine die Anwaltsschreiber, die Kopisten in den Kanzleien der Advokaten. Ich habe ihrer eine ganze Menge gekannt, beruflich sowohl wie privat, und könnte, wenn ich wollte, allerlei Historien zum besten geben, zur Erheiterung wackerer Männer, zur tränenseligen Rührung empfindsamer Seelen. Doch will ich aller anderen Kanzleischreiber Lebensgeschichte beiseitelassen und nur einiges aus Bartlebys Leben erzählen, Bartlebys, der ein Schreiber war und zwar der seltsamste, den ich je gesehen, von dem ich je gehört habe. Während ich von anderen Anwaltskopisten den gesamten Lebenslauf niederschreiben könnte, ist bei Bartleby dergleichen nicht möglich. Es existieren wohl überhaupt keine Unterlagen für eine ausführliche, befriedigende Biographie des Mannes: ein unersetzlicher Verlust für die Literatur. Bartleby gehörte zu den Menschen, über die sich nichts ermitteln läßt, es sei denn an den Quellen selbst, und die flossen in seinem Fall nur äußerst spärlich. Was ich mit eigenen erstaunten Augen von Bartleby gesehen habe, das stellt meine gesamte Kenntnis von ihm dar – abgesehen allerdings von einem ziemlich unbestimmten Bericht, der später hier wiedergegeben werden wird.

Bevor ich unseren Schreiber aber einführe, so wie er mir zuerst vor Augen trat, empfiehlt es sich wohl, daß ich erst kurz von mir selber spreche, meinen Angestellten, meinem Büro und allem Drum und Dran – denn eine gewisse Aufklärung darüber ist unentbehrlich für ein richtiges Verständnis der nachher vorzustellenden Hauptperson. Zuvörderst: ich bin ein Mensch, der von Jugend an tief davon überzeugt war, daß man mit einer gemächlichen, sachten Lebensweise am besten fährt. Mag ich also einem Beruf angehören, dem landläufig ein zupackendes, hastiges, ja zuzeiten aufgeregtes Wesen nachgesagt wird, so habe ich doch nie geduldet, daß dergleichen Regungen meinen Frieden störten. Ich zähle zu den Anwälten ohne Ehrgeiz: man wird mich nie vor Gericht plaidieren oder irgendwie auf den Beifall der großen Menge ausgehen sehen, sondern in der kühlen Stille einer behaglichen Klause beschäftige ich mich behaglich mit den Wertpapieren, Hypotheken und Rechtsansprüchen reicher Leute. Unter meinen Bekannten gelte ich ganz allgemein als ein in hohem Maße zuverlässiger Mensch. Der verstorbene John Jacob Astor, eine poetischem Überschwang wenig geneigte Persönlichkeit, trug kein Bedenken, als meine erste hervorstechende Wesenseigentümlichkeit die Vorsicht zu bezeichnen; die zweite sei das planvolle Denken. Nicht um mich dessen zu berühmen, sondern als einfache Tatsache berichte ich bei dieser Gelegenheit, daß ich nicht ohne berufliche Beziehungen zu dem verewigten John Jacob Astor gewesen bin. Seinen Namen, ich gestehe es, wiederhole ich gern; er hat einen runden, sphärenhaften Klang, wie Klirren von Goldbarren. Hinzufügen möchte ich, daß ich für die gute Meinung des seligen John Jacob Astor nicht unempfänglich war.

Schon eine Weile vor dem Zeitpunkt, an dem meine kleine Geschichte beginnt, hatten meine Berufsgeschäfte einen erheblich größeren Umfang angenommen. Das gute alte, im Staat New York inzwischen abgeschaffte Amt eines Beisitzers im Kanzleigericht war mir übertragen worden. Es war nicht mit allzu großen Mühen verbunden, warf aber einen recht angenehmen Ertrag ab. Ich lasse mich nur selten aus der Ruhe bringen und gestatte mir noch seltener eine unbekömmliche Entrüstung über Unrecht und Kränkung; indes in diesem Fall muß ich um Nachsicht für ein erregtes Wort bitten und rundheraus erklären, daß die in der neuen Verfassung verfügte plötzliche und brüske Abschaffung des Amtes eines Beisitzers beim Kanzleigericht in meinen Augen eine – sagen wir eine überstürzte Maßregel darstellt, schon deshalb, weil ich auf einen lebenslänglichen Genuß der Einkünfte gerechnet hatte, während ich sie nun lediglich für ein paar kurze Jahre bezogen habe. Aber dies nebenbei.

Meine Kanzlei befand sich im Oberstock des Hauses Wall Street Nro –. Auf der einen Seite schaute man auf die weiße Wand eines geräumigen Lichtschachts, der das Gebäude von oben nach unten durchzog. Die Aussicht mochte einen vergleichsweise unfrohen Eindruck machen; da ihr ganz fehlte, was in der Sprache der Landschaftsmaler »Leben« heißt. In dieser Hinsicht bot die Aussicht auf der anderen Seite meiner Kanzlei zum mindesten einen Gegensatz, wenn auch keinen Ausgleich. Die in diese Richtung weisenden Fenster gewährten die unbehinderte Aussicht auf eine hohe, von Alter und dauerndem Schatten schwarz gewordene Ziegelmauer; es bedurfte keines Spiegelscherbens, sogenannten Spions, die verborgenen Schönheiten dieses Gemäuers ans Licht zu bringen, denn zum Wohle aller kurzsichtigen Beschauer ragte die Mauer keine zehn Fuß vor meinen Fensterscheiben empor. Bei der großen Höhe der umliegenden Gebäude und dank dem Umstand, daß sich meine Kanzlei im zweiten Stock befand, gemahnte der Zwischenraum zwischen der Ziegelmauer und unserer Hauswand nicht wenig an einen ungeheuren viereckigen Wasserschacht.

In der Zeit unmittelbar vor Bartlebys Auftreten hatte ich in meiner Kanzlei zwei Kopisten und einen vielversprechenden Jüngling als Bürolehrling. Nummer eins: Turkey – »Puter«; Nummer zwei: Nippers – »Beißzange«; Nummer drei: Ginger Nut – »Pfeffernuß«. Das sind gewiß Namen, derengleichen man im allgemeinen nicht im Adreßbuch findet. Es handelte sich denn auch um Spitznamen, die sich meine drei Angestellten gegenseitig beigelegt hatten, da sich in ihnen die jeweiligen Persönlichkeiten und Wesenseigentümlichkeiten aufs treffendste ausdrückten. Puter war ein untersetzter, asthmatischer Engländer in meinem Alter – das heißt also hart an sechzig. Des Morgens zeigte sein Gesicht, wie man wohl behaupten darf, eine schöne blühende Farbe; nach zwölf Uhr Mittags aber – seiner Essensstunde – flammte es wie ein Kohlenrost zur Weihnachtszeit und zwar – wenn auch vielleicht mit einem allmählichen Abnehmen der Glut – weiter bis sechs Uhr nachmittags. Nach sechs sah ich nichts mehr vom Eigentümer des Gesichtes, das mit der Sonne seinen Zenit erklomm und mit ihr offenbar unterging, am nächsten Tag aufstieg, kulminierte und abermals unterging, in sonnengleicher Regelmäßigkeit und unverminderter Glorie. Ich habe im Laufe meines Lebens allerlei merkwürdige Zufälligkeiten erlebt, und es war gewiß nicht die geringste darunter, daß immer in dem Augenblick, wenn Puter aus seinem roten, leuchtenden Gesicht den vollsten Strahlenglanz entsandte, daß immer in diesem kritischen Moment der Tagesabschnitt begann, da ich mir sagen mußte, daß nun für den Rest der vierundzwanzig Stunden seine Arbeitsfähigkeit wieder auf das empfindlichste gestört sein würde. Nicht als ob er in Untätigkeit versunken wäre oder sich arbeitsunwillig gezeigt hätte – keineswegs. Die Schwierigkeit bestand vielmehr darin: er neigte nun zu einem allzu großen Energieaufwand. Eine seltsame, erhitzte, verworrene und ziellose Betriebsamkeit überkam ihn. Ohne alle Vorsicht tauchte er seine Feder ins Tintenfaß. Seine sämtlichen Tintenkleckse auf meinen Schriftlichkeiten brachte er nach zwölf Uhr mittags an. Nicht genug damit, daß er des Nachmittags unaufmerksam wurde und in betrüblicher Weise zum Klecksen neigte, er ging an manchen Tagen noch weiter und schlug ziemlichen Lärm. Dann flammte sein Gesicht in gesteigertem Wappenglanz, als hätte man Kannelkohle auf Anthrazit geschüttet. Er vollführte unsympathische Geräusche mit seinem Stuhl, er verschüttete den Streusand und schnitt beim Zurichten seiner Schreibfedern in seiner Ungeduld die Kiele völlig zuschanden, worauf er plötzlich wütend wurde und die Stücke auf die Erde schmiß. Auch sprang er beständig auf, lehnte sich über seinen Tisch und ließ die Papiere wüst umherfahren, ein bei einem älteren Mann wie ihm besonders widriger Anblick. Da er mir jedoch in vieler Hinsicht außerordentlich wertvoll war und während der ganzen Zeit vor zwölf Uhr mittags sich durchaus aufgeweckt und solid erzeigte, auch ein großes Arbeitspensum in vorzüglicher, kaum zu übertreffender Weise hinter sich brachte – aus allen diesen Gründen war ich gewillt, über sein überspanntes Wesen hinwegzusehen, wenn ich ihm auch gelegentlich einmal Vorhaltungen machte. Ich ging dabei stets mit aller Milde zu Werk, weil er – des Morgens die Höflichkeit, ja ich muß schon sagen die Sanftmut und Ehrerbietung selbst – am Nachmittag dazu neigte, im Falle einer Herausforderung mit Worten etwas unbesonnen, ja offen gesagt unverschämt zu werden. Da ich also, wie gesagt, seine vormittäglichen Dienste schätzte und nicht zu entbehren gedachte (gleichzeitig aber von seinem erhitzten Wesen nach der Mittagsstunde unangenehm berührt war) und als ein friedliebender Mensch mir nicht durch meine Ermahnungen unpassende Antworten von ihm zuziehen mochte, so entschloß ich mich an einem Sonnabendmittag (am Sonnabend war es immer besonders schlimm mit ihm), ihm in aller Güte anzudeuten, daß es vielleicht jetzt, wo er in die Jahre käme, angebracht sei, seine Arbeitszeit abzukürzen: er brauche, kurz gesagt, nach zwölf Uhr nicht mehr ins Büro zu kommen, sondern solle sich nur ruhig nach dem Mittagessen nach Hause begeben und bis zum Tee ausruhen. Aber nein: er bestand darauf, auch nachmittags seine Pflicht zu tun. Sein Gesicht erhitzte sich aufs unleidlichste, während er mir, am anderen Ende des Zimmers mit einem langen Lineal herumfuchtelnd, in wohlgesetztenWorten auseinandersetzte, wenn seine Dienste am Vormittag von Nutzen seien, dann müßten sie ja am Nachmittag vollends unentbehrlich sein.

»Mit aller schuldigen Ehrerbietung, Sir«, sagte Puter bei dieser Gelegenheit, »aber ich halte mich offengestanden für Ihre rechte Hand. Vormittags exerziere und marschiere ich ja nur mit meinen Kolonnen – aber nachmittags, da stelle ich mich an ihre Spitze und mache eine zügige Attacke auf den Feind, so« – und damit vollführte er einen heftigen Stoß mit dem Lineal.

»Aber die Tintenkleckse, Puter!« gab ich zu bedenken.

»Richtig! – Aber mit aller schuldigen Ehrerbietung, Sir: Schauen Sie diese Haare an! Ich werde alt. Ich möchte doch meinen, Sir, daß ein paar Tintenkleckse an einem heißen Nachmittag einem alten Mann mit grauen Haaren nicht so hart zum Vorwurf gemacht werden dürfen. Das Alter, auch wenn es Tintenflecke macht, verdient Ehrfurcht. Mit aller schuldigen Ehrerbietung, Sir: wir werden beide alt!«

Diesem Appell an meine kameradschaftliche Gesinnung konnte ich schwer widerstehen. Das eine sah ich jedenfalls, daß er nicht gehen würde. Also entschloß ich mich, ihn zu behalten, wobei ich allerdings mein Augenmerk darauf richtete, daß er am Nachmittag mit meinen minder wichtigen Papieren beschäftigt wurde.

Nippers – »Beißzange« – der zweite auf der Liste, war ein mit seinem Backenbärtchen und seiner gelblichen Gesichtsfarbe einigermaßen seeräuberhaft aussehender junger Mann von fünfundzwanzig Jahren. Nach meinem Dafürhalten war er das Opfer zweier böser Mächte – des Ehrgeizes und der Verdauungsstörungen. Der Ehrgeiz bekundete sich bei ihm in einer gewissen Unlust an den Berufspflichten eines gewöhnlichen Kopisten, in einem unverantwortlichen Übergreifen auf Arbeiten, die dem Fachmann vorbehalten bleiben müssen, wie z. B. das Abfassen rechtsgültiger Urkunden. Seine Verdauungsschwäche drückte sich aus in einer gelegentlichen nervösen Unverträglichkeit und hämischen Reizbarkeit, wobei es denn vorkam, daß er bei Abschreibefehlern hörbar mit den Zähnen knirschte; auch äußerte er in der Hitze der Arbeit unnötige Fluchworte, die er übrigens mehr zischte als wirklich aussprach, und lag vor allem in beständiger Fehde mit der Höhe seines Arbeitstisches. Beißzange war zwar in technischen Dingen erfinderisch und begabt, mit seinem Tisch aber vermochte er nie zurechtzukommen. Er legte Späne, Holzblöckchen der erdenklichsten Art und Kartonstücke unter und versuchte es schließlich mit einer besonders tadellosen Abstimmung, indem er einige Lagen zusammengefalteten Fließpapiers verwendete. Nichts wollte fruchten. Rückte er, um seinen Rücken zu schonen, den Pultdeckel in scharfem Winkel bis dicht unter sein Kinn und schrieb darauf, wie einer der das steile Dach eines Holländer Hauses als Pult benützt, dann vernahm man bald die Klage von ihm, daß ihm in dieser Haltung die Arme klamm würden. Senkte er aber alsdann die Tischplatte bis zu Gürtelhöhe und saß beim Schreiben vornübergebeugt, dann bekam er sogleich Rückenschmerzen. Mit einem Wort: Beißzange wußte in Wahrheit nicht, was er wollte. Oder wenn er überhaupt etwas wollte, so dies: vom Schreiberpult überhaupt freizukommen. Zu den Bekundungen seines krankhaften Ehrgeizes gehörte es, daß er mit Vorliebe Besuch empfing, und zwar von allerlei zweideutig aussehenden Gesellen in schäbigen Anzügen, die er als seine Klienten bezeichnete. Ich mußte überhaupt erkennen, daß er sich nicht nur gelegentlich als Winkelpolitiker betätigte, sondern sich dann und wann auch bei den Gerichtshöfen zu schaffen machte und an der Pforte der »Gräber«, des Stadtgefängnisses, nicht unbekannt war. Von einem Individuum allerdings, das ihn in meiner Kanzlei aufsuchte und das er nachdrücklich und mit viel Wichtigkeit als seinen Klienten bezeichnete, möchte ich mit gutem Grund annehmen, daß es in Wahrheit einfach ein Gläubiger war und daß es sich bei seinem angeblichen Rechtstitel um eine Rechnung handelte. Bei allen seinen Mängeln aber und den Unannehmlichkeiten, die er mir verursachte, war Beißzange mir doch, wie sein Landsmann Puter, im ganzen recht nützlich. Er schrieb eine rasche und saubere Hand und ließ es, wenn er danach gelaunt war, an einem weltmännischen Benehmen nicht fehlen. Es kam hinzu, daß er sich immer durchaus herrschaftlich kleidete und dadurch beiläufig einen gewissen Kredit der Vertrauenswürdigkeit auf meine Kanzlei ausstrahlte. Mit Puter hingegen hatte ich meine liebe Not, zu verhüten, daß er für mich eine Art Schandfleck wurde. Seine Kleidungsstücke sahen immer fleckig aus und rochen nach Speisehaus. Den Sommer über trug er seine Hosen entsetzlich lasch und ausgebeult; seine Überröcke spotteten jeder Beschreibung und seinen Hut konnte man nur mit der Feuerzange anfassen. Der Hut war für mich nun allerdings verhältnismäßig gleichgültig, denn als einen an Abhängigkeit gewöhnten Engländer veranlaßte ihn seine natürliche Höflichkeit und Demut, seine Kopfbedeckung abzunehmen, sowie er das Zimmer betrat; mit dem Rock aber war es eine andere Sache. Ich machte ihm diesbezüglich Vorhaltungen, aber ohne jeden Erfolg. In Wahrheit war es wohl so, daß ein Mann mit so geringem Einkommen nichtgleichzeitig ein üppiges Gesicht und einen üppigen Rock spazieren führen konnte. Wie Beißzange einmal bemerkte, ging Puters Geld größtenteils für »rote Tinte« drauf. An einem Wintertag schenkte ich Puter einen sehr gediegen aussehenden Rock aus meinem eigenen Bestand – einen wattierten grauen Rock, der sehr angenehm warm hielt und den man vom Hals bis zu den Knieen zuknöpfen konnte. Ich dachte, Puter würde die Freundlichkeit zu schätzen wissen und sein an Nachmittagen übliches vorschnelles und lärmiges Wesen dementsprechend dämpfen. Aber nein: ich möchte geradezu annehmen, daß es eine verhängnisvolle Wirkung bei ihm hervorrief, sich nun in einen derart flaumigen und einer Bettdecke ähnelnden Rock einknöpfen zu können – nach demselben Grundsatz, nach dem zu viel Hafer den Pferden schlecht bekommt. Wie man ja auch von einem jähen und eigensinnigen Gaul sagt, daß ihn der Haber sticht, so stach unseren Puter sein Rock. Er wurde übermütig. Er war ein Mensch, dem das Wohlleben zum Nachteil gereichte.

Während ich Puters heimlichen persönlichen Neigungen gegenüber meine eigenen Vermutungen hegte, war ich von Beißzange allerdings völlig überzeugt, daß er, unbeschadet seiner sonstigen Fehler, wenigstens in puncto Alkohol ein mäßiger junger Mensch war. Indessen schien in seinem Fall die Natur selbst die Rolle des Weinlieferanten übernommen zu haben: sie hatte ihn schon bei der Geburt mit einem derart reizbaren, branntweinartigen Temperament ausgestattet, daß es bei ihm eines nachträglichen Kneipens gar nicht mehr bedurfte. Wenn ich mir überlege, wie Beißzange oft mitten in der Stille der Kanzlei ungeduldig von seinem Sitz aufsprang, sich über den Tisch beugte, die Arme weit ausbreitete, das Pult schlankweg aufpackte und mit einem bösen Knirschen über den Fußboden schob oder eigentlich schleuderte, als wäre der Tisch ein widerspenstiger Kanzleidiener, der ihm absichtlich Ärger und Schwierigkeiten machte, dann wird mir aufs neue klar, daß bei ihm Kognaksoda durchaus überflüssig war.

Einen Glücksumstand für mich bedeutete es, daß sich Beißzanges Reizbarkeit und dadurch verursachte Nervosität auf Grund ihres besonderen Anlasses – nämlich der Verdauungsbeschwerden – vorzüglich am Vormittag bemerkbar machte, während er nachmittags verhältnismäßig milde war. So hatte ich, da Puters Anfälle ja erst um die Mittagszeit zum Durchbrach kamen, wenigstens nie zu gleicher Zeit mit ihnen beiden in ihrem überspannten Zustand zu tun. Ihre Zustände lösten einander ab wie die Wachtparade. War Beißzange im Dienst, so hatte Puter dienstfrei und umgekehrt. Das war, wie die Dinge lagen, von der Natur gut eingerichtet.

Ginger Nut – »Pfeffernuß« – der Dritte auf meiner Liste, war ein Bürschlein von etwa zwölf Jahren. Sein Vater war Fuhrmann und hegte den Ehrgeiz, seinen Sohn vor seinem Tode auf der Gerichtsbank statt auf dem Kutschbock zu sehen. Er schickte ihn zu diesem Zweck zu mir auf die Kanzlei, als Rechtsstudent, Laufjunge, Bodenputzer, gegen einen Lohn von einem Dollar die Woche. Er hatte ein eigenes kleines Pult, war aber nicht viel daran zu sehen. Seine Schublade wies bei näherer Untersuchung eine große Auswahl von Nußschalen der verschiedensten Sorten auf. Die gesamte edle Rechtswissenschaft war denn auch für diesen hellköpfigen Jüngling gewissermaßen in einer Nußschale enthalten. Nicht die geringste unter Ginger Nuts Obliegenheiten – und zwar eine, deren er sich mit der größten Fixigkeit entledigte – war seine Stellung als Kuchen- und Äpfeleinkäufer für Puter und Beißzange. Das Abschreiben von Akten ist ja ein sprichwörtlich trockenes, halsausdörrendes Geschäft, und so waren auch meine zwei Schreiber oft genug von dem Bedürfnis befallen, sich den Mund mit Spitzenberger Äpfeln zu befeuchten, die es in den zahlreichen Buden in der Nähe des Zollgebäudes und des Postamts zu kaufen gab. Auch schickten sie Pfeffernuß häufig nach jener besonderen Sorte von Gebäck – klein, flach, rund und stark gewürzt –, nach dem sie ihm seinen Namen gegeben hatten. An kalten Vormittagen, wenn geschäftlich nicht viel los war, verschlang Puter die Pfeffernüsse zu Dutzenden, als wären es bloße Oblaten – der übliche Verkaufspreis beträgt ja auch nur einen Penny für sechs bis acht Stück – und das Kratzen seiner Feder vermischte sich dann mit dem Krachen der mürben Kuchenteilchen in seinem Munde. Zu den vielen nachmittäglichen Hitzköpfigkeiten und Wahnsinnstaten Puters gehörte es, daß er einmal eine Pfeffernuß zwischen den Lippen befeuchtete und als Siegel auf einen Pfandbrief klebte. Damals hätte ich ihn um ein Haar entlassen. Er besänftigte mich aber, indem er eine orientalische Verbeugung machte und sagte: »Mit aller schuldigen Ehrerbietung, Sir – aber es war doch eigentlich nobel von mir, daß ich Sie aus eigenem Bestand mit Büromaterial versehen habe!«

Wie sich denken läßt, nahm mein ursprünglicher Geschäftsbereich – als Spezialist für Liegenschaftssachen, Fachmann für ungeklärte Besitzverhältnisse und Abfasser tiefgründiger Urkunden aller Art – nach meiner Betrauung mit dem Beisitzeramt erheblich an Umfang zu. Für Schreibhilfen hatte ich nun eine Menge zu tun. Ich mußte nicht nur die bei mir befindlichen Angestellten mächtig antreiben; auch eine zusätzliche Hilfe war nicht länger zu entbehren.

Auf eine Zeitungsanzeige hin stand eines Morgens ein steifleinener junger Mensch auf der Schwelle meiner Kanzlei, denn es war Sommer und die Tür stand offen. Ich sehe seine Gestalt noch heute vor mir – ausdruckslos sauber, erbarmungswürdig achtbar, hoffnungslos einsam. Es war Bartleby.