Basistexte Pädagogik - Ina Katharina Uphoff - E-Book

Basistexte Pädagogik E-Book

Ina Katharina Uphoff

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In dem vorliegenden Band wird eine Auswahl von Werken bereitgestellt, die sich mit den pädagogischen Grundbegriffen Bildung, Erziehung und Sozialisation auseinandersetzen. Das breite Spektrum der ausgewählten Quellentexte - von Platon, Kant und Humboldt bis zu Adorno, Foucault und Butler - ermöglicht es, komplexe Leitmotive der Pädagogik zu verstehen, historische Denkfiguren nachzuvollziehen und aktuelle Diskursfelder kritisch in den Blick zu nehmen. Zugleich dienen die Basistexte Pädagogik als grundlegender Einstieg in das Studium pädagogischer Themenbereiche und Problemstellungen. Am Ende eines jeden Abschnitts sind Fragen integriert, die der Vertiefung dienen und zu weiterführenden Reflexionen anregen sollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 380

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



GRUNDWISSEN Erziehungswissenschaft

Florian Krückel, Maren Schüll, Ina Katharina Uphoff

Basistexte Pädagogik

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung inund Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe dieses Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, HemsbachEinbandabbildung: mactrunk/iStockEinbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26404-9

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-74359-9eBook (epub): 978-3-534-74360-5

Menü

Buch lesen

Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

A. Erziehung

1. Jean-Jacques Rousseau

Erste Preisschrift

Emil oder Über die Erziehung

2. Immanuel Kant

Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

Über Pädagogik

3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Vorlesungen 1826 – Einleitung

4. Johann Friedrich Herbart

Die ersten Vorlesungen über Pädagogik

Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung

5. John Dewey

Der demokratische Gedanke in der Erziehung

6. Hannah Arendt

Die Krise in der Erziehung

7. Klaus Prange

Der anthropologische Aspekt der Erziehung: das Lernen

8. Käte Meyer-Drawe

Erziehung und Macht

B. Bildung

1. Platon

Der Staat – Siebentes Buch

2. Wilhelm von Humboldt

Theorie der Bildung des Menschen

3. Friedrich Nietzsche

Vorträge über die Zukunft unserer Bildungsanstalten

4. Theodor W. Adorno

Theorie der Halbbildung

5. Helmut Heid

Bildung als Gegenstand empirischer Forschung

6. Peter Bieri

Wie wäre es, gebildet zu sein?

7. Andreas Dörpinghaus

Abschied vom Lebenslangen Lernen – Gedanken über ein komplexes anthropologisches Phänomen

C. Sozialisation

1. Émile Durkheim

Antrittsvorlesung

2. George Herbert Mead

Identität

3. Michel Foucault

Die Maschen der Macht

4. Pierre Bourdieu

Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital Der Habitus und der Raum der Lebensstile

5. Judith Butler

Körper von Gewicht

Kritik der ethischen Gewalt

6. Michael Tomasello

Warum wir kooperieren

7. Byung-Chul Han

Transparenzgesellschaft

Anmerkungen aus den Quellentexten

Literaturverzeichnis

Einleitung

Das Feld der Pädagogik ist heterogen, hat sehr viele Teildisziplinen und ist historisch tief sowie systematisch vielschichtig. Sodann stellt sich mit Blick auf ein Studium des Faches die Frage, ob es nicht trotz allem möglich ist, Orientierungen innerhalb der Pädagogik zu erlauben, ohne aber ihre Einsatzfelder einzuschränken oder eng zu führen. Vor diesem Hintergrund sind die hier vorliegenden Basistexte Pädagogik entstanden. Diese Basistexte ergänzen als Quellensammlung die Grundbegriffe der Pädagogik, sind aber genauso wie der Band zu den Grundbegriffen als eigenständige Studienlektüre zu behandeln. Die ausgesuchten Quellen sind als Basistexte ein Angebot, sich aus je eigener Perspektive mit disziplinären Schwerpunkten und Fragestellungen oder schlichtweg aus Interesse an dem Fach Pädagogik zu beschäftigen. Es soll die Möglichkeit eröffnet werden, durch das eigene Quellenstudium mit bedeutsamen Problemlagen der Pädagogik zu einer kritischen Auseinandersetzung vorzudringen.

Im Wortsinne sind die Basistexte lediglich ein Fundament, um eigene Erkundungen in den Feldern der Pädagogik zu fördern und zu unterstützen. Natürlich ist eine Auswahl von Autoren und Texten unvermeidlich immer auch ein Prozess der Ausgrenzung. Welche Autoren gehören in einen solchen Band, welche Texte sind wichtig für das Studium und welche Probleme nicht nur Tagesgeschäft? – Die Auswahl folgt zum einen dem Kriterium, vermeintlich wirkungsgeschichtlich bedeutenden Autoren und Texten Gehör zu verleihen. Viele Autoren des Bandes gehören sicherlich zum festen Bestand von Einführungen und Grundlagenwerken. Zum anderen stehen aber auch aktuelle Problemlagen im Vordergrund, die das Fach für die nächste Zeit vermutlich weiterhin prägen werden.

Zum Aufbau dieses Buches:

Gegliedert wird der Band entsprechend der für die Pädagogik zentralen Begriffe Erziehung, Bildung und Sozialisation – Erziehung und Bildung können als konstitutive Säulen der Disziplin bezeichnet werden; mit dem Begriff der Sozialisation wird v.a. ein spezifischer Zugriff auf die mit Erziehung und Bildung verbundenen Phänomene intendiert. Es gibt eine ganze Reihe von ebenso wichtigen Begriffen, wie z.B. Lernen, aber auch Unterricht oder Beratung, gleichwohl gibt es gute Gründe dafür, selbst diese Begriffe immer auch argumentativ an Erziehungs-, Bildungs- oder Sozialisationsprozesse rückzubinden.

Den Grundbegriffen Erziehung, Bildung und Sozialisation sind also im Aufbau die Quellentexte des vorliegenden Bandes zugeordnet. In jedem dieser drei Hauptteile werden zunächst Texte vorgestellt, die zentrale Denk- und Theoriefiguren begründen, das Ganze weitgehend in historischer Abfolge angeordnet. Darüber hinaus werden gegenwärtige Diskurse thematisiert – so beispielsweise Erziehung und Macht, Bildung und ihre empirische Erforschung oder der Zusammenhang von Gender und Gesellschaft. Solche Diskurse können ebenfalls nur eine exemplarische Auswahl dafür sein, wie sich im Grunde genommen Theoriefelder in aktuellen Problemlagen verdichten und transformieren.

Der Zuschnitt der Texte soll vor allem den Nachvollzug komplexer Argumentationen erlauben. Wenn es nicht zu vermeiden war größere Textpassagen auszulassen, wurde versucht, dass die Gedankenführung nachvollziehbar bleibt. Am Ende eines jeden Textes finden Leserinnen und Leser eine Reihe von Reflexionsfragen. Sie dienen einerseits dazu, eigene Verstehensprozesse einer abschließenden Prüfung zu unterziehen, zum anderen sollen sie ein Weiterdenken über die Basistexte hinaus anregen, hier und da mit dem Ziel, größere Zusammenhänge und Verknüpfungen zu bedenken. Die Texte zu den Begriffen Erziehung, Bildung und Sozialisation sind, so wie die Begriffe selbst, an den Rändern offen, das heißt, es gibt Überschneidungen und wechselseitige thematische Ergänzungen, sodass es sich in der Arbeit mit den Texten anbietet, thematische Quergruppierungen zu suchen, die biografische, entwicklungsbezogene, kognitive, leibliche, ästhetische, ethische, kulturelle, gesellschaftliche, anthropologische u. v. m. Fährten verfolgen.

Abgeschlossen wird das Buch mit einem Nachweis der Quellen und der in den Quellen verwendeten Literatur, v.a. mit dem Ziel, dass Leserinnen und Leser ihre gewonnenen Einblicke durch eigenständige und erweiterte Lektüre vertiefen können.

A. Erziehung

Jean-Jacques Rousseau

Wenn wir über Erziehung sprechen, steht stets eine Antinomie im Raum, die Immanuel Kant bereits im 18. Jahrhundert pointiert: Wie kultiviere ich die Freiheit des Heranwachsenden bei dem gleichzeitigen Zwange, den Erziehung ausübt? Wie viel Zwang ist für die Einführung eines Kindes oder Jugendlichen in die Gesellschaft nötig, ohne dabei die Individualität beziehungsweise den pädagogischen Anspruch auf Mündigkeit zu unterlaufen? Fragen wir nach den wesentlichen Kennzeichen des Begriffs Erziehung, so darf, neben der Einheit von Freiheit und Disziplinierung, sicherlich die intentionale, das heißt absichtsvolle Gerichtetheit des pädagogischen Tuns nicht aus dem Blick geraten. Erziehung ist somit intentional teleologisch angelegt, das heißt sie hat ein definiertes Ziel, in dem vorgestellten Verständnis Mündigkeit, mit dessen Erreichen sie als abgeschlossen gilt. Zudem ist Erziehung stets in einem Gegenüber von Erzieher*in und Heranwachsendem*r positioniert, die durch die Vermittlung inhaltlich-erzieherischer Frage- und Problemstellung verbunden sind. Solche erzieherischen Themen umfassen zum Beispiel Fragen des ethischen Handelns und möglicher Werte, Formen des sozialen Miteinanders genauso wie gesellschaftlich-kulturell bedeutsames Wissen. Erziehung beschreibt bei alledem sowohl den Prozess wie auch das Ergebnis von erzieherischen Praktiken. In dieser begrifflichen Anbindung verweisen die nachfolgenden Quellentexte auf Formen der Legitimation von Erziehung, auf differenzierte theoretische Problemlagen im Umfeld des Begriffs, Handlungsformen des Erziehens, das Verständnis erzieherischer Phänomene sowie auf Fragen der Zielsetzung.

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten Erziehungstheoretikern der Moderne. Seine Werke sind zentraler Bezugspunkt der Französischen Revolution wie auch der europäischen Aufklärung. Er entwickelt eine Erziehungskonzeption, die kulturkritisch ausgerichtet und zugleich anthropologisch fundiert ist. Rousseau zeichnet Erziehung als Prozess der menschlichen Entwicklung nach und begründet in dieser anthropologischen Anbindung Erziehungspraktiken. Er unterstellt der Erziehung deutlich zu trennende Lebenszyklen von Kindheit und Jugend mit jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten, die das pädagogische Handeln leiten. Rousseau öffnet zugleich die vordem strenge ständische Erziehung hin zu einer allgemeinen Erziehung zum Menschen, ungeachtet seines Standes. Im Rahmen seiner Ersten Preisschrift, die im Jahre 1750 erscheint, analysiert Rousseau die gesellschaftlichen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der Grundannahme, dass der Mensch aus eigener Kraft Selbst und Welt gestalten kann, stellt er die Fehlentwicklungen beziehungsweise Entartungen seiner Zeit zur Disposition. Am Beispiel des Verfalls der Sitten, der durch Kunst und Wissenschaft unterstützt und vorangetrieben wird, entfaltet er seine radikale Kultur-kritik. In dieser stehen eine gänzlich dekadente Gesellschaft sowie die tiefe Entfremdung des Menschen von seiner eigentlichen natürlichen Verfasstheit im Mittelpunkt. Wegweisend für die Pädagogik ist sein erziehungsphilosophisches Hauptwerk Emil oder Über die Erziehung aus dem Jahre 1762. In diesem Erziehungsroman geht es um die Frage, wie ein von Natur aus guter Mensch als solcher bewahrt werden kann. Er stellt sich mit dieser Ausgangsfrage zugleich gegen das Diktum der Erbsünde und sieht die Gesellschaft allein verantwortlich für das Böse. Rousseaus Gedankenexperiment der Erziehung impliziert wesentlich die Separierung des Zuerziehenden von der entarteten Gesellschaft. Zu diesem Zweck zieht sich der Erzieher Jean-Jacques mit seinem Zögling Emil auf das Land in die Natur zurück, die Rousseau als kritischer Gegenentwurf zur Gesellschaft dient. Durch natürliche und negative, das heißt, bewahrende Erziehungsformen zeigt Rousseau Möglichkeiten auf, das Gute im Menschen zu erhalten und die Selbsttätigkeit des Heranwachsenden zu stärken.

Immanuel Kant

Immanuel Kant (1724–1804) kann als der zentrale philosophische Vertreter der deutschen Aufklärung bezeichnet werden. Bis heute ist er der einflussreichste und bekannteste deutschsprachige Philosoph. Kant gilt als Begründer der modernen Transzendentalphilosophie und hat auf die Pädagogik und ihre Entstehung als wissenschaftliche Disziplin in besonderem Maß durch den Text „Über Pädagogik“ Einfluss genommen. Er fordert eine Erziehung, die auf eine „Idee der Menschheit“ ausgerichtet ist. Diese geht von handlungsleitenden Grundsätzen und Prinzipien aus und eben nicht von einer Erziehung, die auf bloßer Zufälligkeit fußt. In seiner Abhandlung Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? bestimmt Immanuel Kant den Begriff der Aufklärung auf der Grundlage der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen. Er fordert, dass jeder einzelne Mensch den Mut aufbringt, sein Leben mündig zu führen und sich von den Verführungen der Faulheit und Feigheit, die den Menschen in Unmündigkeit halten, abwendet. In dem historischen Kontext der Aufklärung ist für Kant stets die Stellung des Einzelnen zur Gesellschaft von Bedeutung. So ist Mündigkeit als Erziehungsziel für Kant eine Art Selbstregierung, die sich eben nicht nur auf die je eigene Lebensführung beziehen kann, sondern gleichermaßen von politischem Engagement getragen werden muss. Kants Vorlesung Über Pädagogik gehört zu den bedeutendsten historischen Texten über Erziehung, wenngleich die Vorlesung selbst nur als Abschrift und Rekonstruktion vorliegt. Dennoch und dessen ungeachtet scheinen in ihr die wichtigsten Gedanken der Erziehungskonzeption Kants in ihrer Systematik durch. In der Vorlesung beschreibt Kant die notwendige Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung des Menschen und geht schließlich über das direkte erzieherische Handeln hinaus, wenn er es jenseits jeder gesellschaftlichpolitischen Dimension auf die Moralisierung des Menschen bezieht. Die Moralisierung übersteigt letztlich die Erziehung, ist aber als grundsätzliche Orientierung für jeden Gebrauch der menschlichen Freiheit unverzichtbar. Sie ist quasi die „Gebrauchsanweisung“ für eine menschliche Freiheit, die das moralisch Gute wählen kann. Allerdings muss die Moralisierung allein in Freiheit aus dem einzelnen Individuum selbst hervorgehen, darf also nicht von außen bewirkt gedacht werden. Die Moralisierung ist für Kant somit eine notwendige erzieherische Orientierung, aber selbst nicht Gegenstand der Erziehung, insofern Erziehung sich auf die Einwirkung eines*r Erziehers*in bezieht.

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) ist Theologe und Philosoph wie auch zentraler Protagonist des Neuhumanismus. Er arbeitet vor allem an der Begründung einer allgemeinen Pädagogik, die eigene wissenschaftliche Fragestellungen, Denkfiguren und Begriffe übergreifend formuliert. Im Mittelpunkt der Vorlesungen Schleiermachers aus dem Jahre 1826 steht die erziehungstheoretische Denkfigur einer grundsätzlichen Beziehung der älteren zur jüngeren Generation in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Gesellschaften konstituieren und erhalten sich in der Generationenabfolge. Damit wird Erziehung zur gesellschaftlichen Kernaufgabe. Schleiermachers Vorstellung von Erziehung ist dialektisch ausgerichtet und verortet sie in der Spannung unterschiedlicher Ansprüche, zum Beispiel die der Gesellschaft, aber auch die des Individuums – die des Staats, aber eben auch die der Familie. Erziehung ist nicht nur notwendig mit Blick auf den Einzelnen, sondern zugleich für die Entwicklung von Kultur, Staat und Gesellschaft. Schleiermacher geht von der Annahme aus, dass der Mensch die Grundlagen seiner individuellen Entwicklung in sich trägt. Um diese Entwicklung des Heranwachsenden jedoch zu unterstützen und ihn zugleich in die Gesellschaft einzuführen, bedarf es einer Theorie der Erziehung, die es ermöglicht, durch ihren Begriff die – jeder Theorie vorgängige – Praxis der Erziehung zu reflektieren, sie also zu einem bewussten, geplanten, abgestimmten und absichtsvollen Tun werden zu lassen. Er spricht sich so zugleich gegen jede mechanische Vorstellung von Erziehung aus. Vielmehr ist das Ziel der Erziehung der einzelne Mensch, der sich als Handelnder Welt aneignet und in ihr tätig ist.

Johann Friedrich Herbart

Johann Friedrich Herbart (1776–1841) ist Lehrstuhlnachfolger Kants in Königsberg und schließt insbesondere an das Problem einer Erziehung hin zum moralisch Guten an. Er begründet seine Theorie der Pädagogik durch den Rückgriff auf begriffliche Bestimmungen, die sie in ihrem Gegenstand, der Methode, Zielsetzung und erzieherischen Handlungsformen von anderen, benachbarten Disziplinen unterscheidet. In seinen Vorlesungen zur Pädagogik diskutiert Herbart grundsätzlich das Verhältnis von Theorie und Praxis. Nach Herbart gewinnt die Praxis erst durch ihre Rückbindung an die Theorie vertiefte Antworten auf die Erziehungsphänomene. Theorie ermöglicht also dem*r Erzieher*in im Vorhinein das Nachdenken und Nachforschen über Erziehung und ihre Prozesse, die allererst praktisches Handeln professionalisieren und pädagogisches Tun nicht einer unreflektierten Alltagspraxis überlassen. Die notwendig reflexive Vermittlung von Theorie und Praxis gelingt durch den sogenannten pädagogischen Takt. Er ist dabei aber keine unmittelbare Anwendung der Theorie auf die Praxis. Vielmehr erlangt der*ie Erzieher*in den Takt im Handeln, in der praktischen Erprobung vor dem Hintergrund theoretischer Erkenntnisse. Der pädagogische Takt geht aus theoretischen Reflexionen wie auch Übungen und aus Erfahrungen des*r Erziehers*in hervor. Über ihn verbinden sich Theorie und Praxis. Der zweite Quellentext mit dem Titel Über die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung aus dem Jahre 1804 widmet sich der Möglichkeit moralischer Erziehung. Wie ist es pädagogisch möglich zu bewirken, dass Heranwachsende – vor die Wahl ihres Handelns gestellt – das Gute wählen und nicht das Böse? Herbarts Lösung des Problems, Freiheit zu bewahren und dennoch Moralität erzieherisch bewirken zu können, liegt in einer moralischen Geschmackserziehung, die durch Übung und mit Beispielen den Habitus des Heranwachsenden ästhetisch prägt. Ziel ist es, dass der*ie Heranwachsende aus einer ästhetischen Notwendigkeit heraus das Gute wählt. Somit ist nach Herbart die ästhetische Darstellung der Welt die Hauptaufgabe der Erziehung, um Moralität – verstanden als das Gute zu wählen – im Zögling hervorzubringen.

John Dewey

John Dewey (1859–1952) ist amerikanischer Philosoph und Pädagoge, der in seinen pädagogischen Überlegungen an die griechische Philosophie und den Gedanken der Mäeutik bei Sokrates anschließt. In seinen Werken stehen zumeist gesellschaftspolitische Themen im Mittelpunkt, die in der Regel mit dem Wunsch nach Demokratisierung der Gesellschaft verbunden sind. Dewey unterstreicht in dem Quellentext Der demokratische Gedanke in der Erziehung die Bedeutung der Erziehung für eine demokratische Form des gesellschaftlichen Zusammenschlusses. Erziehung hat für Dewey dabei eine soziale Funktion der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zur Teilnahme und Teilhabe an Gruppen respektive Gesellschaften. Mit und über erzieherisches Handeln werden vor allem Sprache, soziale Normen und Gewohnheiten an die nachwachsende Generation weitergegeben. Normen und Methoden der Erziehung sind dabei stets abhängig von der Gruppe und Gemeinschaft, aus denen sie hervorgehen und Anwendung finden. Sie sind Ausdruck eines bestimmten Wertemaßstabs sozialen Zusammenlebens. Die Begriffe Gesellschaft und Gemeinschaft sind für Dewey doppeldeutig, da sie einerseits ein Ideal des Zusammenschlusses von Menschen ausdrücken, andererseits eine Beschreibung von tatsächlichen Zusammenschlüssen sind. Isolierung und Abgeschlossenheit von Gruppen sind für ihn Ausdruck a-sozialer Tendenzen und stehen dem Projekt einer demokratischen Gesellschaft der Teilhabe entgegen. Die Offenheit und das wechselseitige Verhältnis, also die Wechselwirkung von Gruppen innerhalb einer Gesellschaft wie auch zwischen Gesellschaften, sind zentrale Bestandteile seines Verständnisses von Demokratie. Sie zielen auf eine ständige Veränderung und Neujustierung der demokratischen Gesellschaft ab, die geprägt ist durch zahlreiche und mannigfaltig geteilte gemeinsame Interessen. Das Ziel der Erziehung ist in Deweys Werk die „freiwillige Bereitschaft zur Unterordnung aus Interesse“, verstanden als eine Unterordnung unter eine Gesellschaft, die die Auflösung von Klassen, Rassen und nationalen Grenzen zum Ziel hat. Dabei stehen die Erweckung eines persönlichen Interesses des Einzelnen an den sozialen Beziehungen und das Ideal der freien Wechselwirkung zwischen allen Menschen im Zentrum seiner Überlegungen.

Hannah Arendt

Hannah Arendt (1906–1975) ist eine der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Die Zeit des Nationalsozialismus und ihre Verfolgung sind für ihr Denken und das Verständnis von Politik und totalitärer Herrschaft prägend. In ihrem Vortrag aus dem Jahre 1958 fragt sie nach der Bedeutung der Erziehung für die Einrichtung von Welt und Gesellschaft. Mit Bezug auf die politische Situation der USA und der Herausforderung einer Gesellschaft, unterschiedliche Kulturen zu vereinen, sieht sie in der Erziehung der Heranwachsenden und dem grundlegenden existenziellen Prinzip der Natalität die Chance der immer wieder zu leistenden Erneuerung der Gesellschaft. Für den Fortbestand der Gesellschaft ist also die Erneuerung durch Erziehung die wichtigste Aufgabe. Das erzieherische Verhältnis ist dabei durch das Generationenverhältnis geprägt: durch die Kinder und Jugendlichen verstanden als das Neue, die in die bestehende Welt hineingeboren werden, und die Welt der Erwachsenen verstanden als das Alte, die in der Tradition und der Erfahrung des Vergangenen orientierend sind. Erziehung ist nach Arendt ein gesellschaftliches Tätigsein, für das aber ein privater Schutzraum, ein Raum des Rückzugs vor der Gesellschaft bedeutsam ist. Sie kritisiert an Konzepten der Erziehung ihrer Zeit gerade die Auflösung der zentralen Differenz zwischen privatem und öffentlichem Raum. Der private Schonraum, der nicht mehr gewährt wird, eröffnete die zentrale Möglichkeit, dass die Heranwachsenden sich geschützt vor der Welt der Erwachsenen ohne gesellschaftliche Verzweckung mit der Welt bekannt machen. Gleichzeitig aber nimmt sie – reformpädagogisch orientierte – Erziehungsstile kritisch in den Blick, die Autoritätsausübung problematisieren und Kindern sowie Jugendlichen zu früh die Verantwortung für ihr eigenes Handeln zuschreiben. Vielmehr erwartet Arendt eine Rehabilitierung der pädagogischen Autorität, die eine Verantwortung der Erwachsenen für die Welt und die Erziehung zum Ausdruck bringt. Verstanden als im Sinne Arendts konservative schützt Erziehung das Alte vor dem Neuen und umgekehrt. In dieser Haltung wird Erziehung politisch, zum einen im Fortbestand von Kultur und Gesellschaft, zum anderen in der politischen Verantwortung einer Gesellschaft für Erziehung.

Klaus Prange

Klaus Prange (*1939) ist deutscher Erziehungswissenschaftler, dessen Arbeitsschwerpunkte in der allgemeinen Pädagogik zu verorten sind. Zu seinen zentralen Werken zählt Die Zeigestruktur der Erziehung, in dem er ausgehend von dem Begriff des Zeigens versucht, die pädagogischen Begriffe und Fragestellungen zu stärken und sie gegen weitere Sozialwissenschaften abzugrenzen. Klaus Prange geht in seinem Aufsatz Der anthropologische Aspekt der Erziehung: das Lernen von der Annahme aus, dass der Mensch ein lernendes Wesen ist. Menschen können also gar nicht anders, als zu lernen. Lernen zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen auch ohne Erziehung lernen, das heißt, der Mensch lernt in vielen Situationen, ohne dass diese pädagogisch intentional aufgeladen, pädagogisch beabsichtigt sind. Das Lernen ist daher für Prange notwendige Bedingung für die Thematisierung des Erziehungsbegriffs. Für ihn sind Erziehung, Erziehen und Lernen die zentralen Begrifflichkeiten der pädagogischen Theoriebildung und der Arbeit im pädagogischen Feld. Erziehen und Lernen sind dabei zwei getrennte Operationen. Durch den Akt des Erziehens wird versucht, auf das Lernen des Einzelnen abzuzielen, es zu bewirken. Erziehen ist ein Handeln, das beobachtet oder beschrieben werden kann, Lernen wiederum ist ein Begreifen und Verstehen, das sich der Beobachtung entzieht. Diesen Bezug des Erziehens auf das Lernen fasst Prange unter dem Begriff Erziehung. Mit dem intentionalen Moment des Erziehens wird auf ein Lernen in einem sozialen Verhältnis zwischen Erzieher*in-Kind-Thema abgezielt. Diese Beziehung wird in vielen Kontexten auch durch den Begriff des Didaktischen Dreiecks beschrieben und thematisiert. Zusammenfassend ist Erziehen eine Reaktion auf das Lernen, welches im Menschen angelegt ist und in seinem relationalen Verhältnis unter dem Begriff Erziehung gefasst wird. Erziehung ist also der systematische Versuch, das Erziehen und das Lernen aufeinander zu beziehen, in bestimmten Formen, Weisen und Gliederungen zu koordinieren.

Käte Meyer-Drawe

In welchem Verhältnis stehen Erziehung und Macht? Kann es eine Erziehung ohne Macht geben? Käte Meyer-Drawe (*1946), Erziehungswissenschaftlerin und Phänomenologin der Universität Bochum geht diesen Fragen in ihrem Text Erziehung und Macht nach. Neben ihren Arbeiten zur Bedeutung der Leiblichkeit für menschliche Erfahrungen und ihrer Grundlegung eines pädagogischen Lernbegriffs widmet sich Meyer-Drawe immer wieder Fragen nach Formen und Technologien der Macht in der Pädagogik, insbesondere der Bio-Macht. Im Anschluss an Foucault verweist Meyer-Drawe auf die Tatsache, dass es keinen machtfreien Raum im Erziehungshandeln gibt. Traditionell wird diese Erkenntnis, so Meyer-Drawe, ignoriert, denunziert oder unter dem Vorwand der Beförderung von Autonomie als pädagogischer Leitkategorie verhüllt. Die erzieherische Unterwerfung wird unter dem Schein der Freiheit legitimiert. Doch in jeder Erziehung finden sich Machtstrukturen, die es offenzulegen gilt. Die Vorstellung, Macht sei ein vermeidbarer Effekt von Erziehung, trügt. So finden sich auch bereits bei Rousseau Hinweise, die auf die Unvermeidbarkeit von Macht allein in der Beziehung des Heranwachsenden zu dem Erziehenden gründet. Zudem gilt Macht als ein sehr produktives Moment in der Erziehung, und zwar gerade wenn sie reflexiv nicht eingeholt wird und hintergründig ihre Arbeit verrichtet. Anders als Herrschaft braucht Macht stets die Mitwirkung der Freiheit, um sie hintergründig wirken zu lassen, als wolle man das, was gesollt wird, aus eben freien Stücken heraus. Mit der Bio-Macht entsteht seit dem 18. Jahrhundert nun eine neue Machtform, durch die auch das biologische Leben selbst normalisierbar wird. Die Bio-Macht umfasst die zentralen menschlichen Kategorien von Leben und Tod, legitimiert Eingriffe in die menschlichen Körper und richtet die Leben an der Norm von beispielsweise Gesundheit aus. Die Bio-Macht zielt auf die Steuerung der Gesellschaft als Bevölkerung ab. Sie arbeitet mit statistischen Daten genauso wie mit humanwissenschaftlichen Erkenntnisformen. Gegenwärtig entsteht durch die Gentechnologie eine neue Bio-Technologie, die die Verwaltung und Berechnung der menschlichen Körper zentral zu lenken in der Lage ist. Zunehmend stellt sich auch vor diesem Hintergrund die Frage, inwieweit Gentechnik oder Eingriffe in den Körper (wie zum Beispiel durch Medikamente) als Formen der Normalisierung künftig Erziehung ersetzen.

1. Jean-Jacques Rousseau

Erste Preisschrift

Textauszug aus: Rousseau, J.-J. (1750/41993): Erste Preisschrift. Über die von der genannten Akademie gestellte Frage: Ob die Neubelebung der Wissenschaft und Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu läutern. In: Ders.: Preisschriften und Erziehungsplan. Bad Heilbrunn, S. 23–46.

Abhandlung über die folgende Frage:

Hat die Neubelebung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu läutern? […]

Es ist ein großartiges und erhabenes Schauspiel, wenn man mit ansieht, wie der Mensch aus eigener Kraft gewissermaßen aus dem Nichts heraustritt; wie er durch das Licht seines Verstandes1 die Finsternis auflöst, in die er von Natur aus gehüllt war; wie er den Blick über sich selbst hinaushebt; wie er im Geist bis in die Regionen des Weltenraumes empordringt; wie er, der Sonne gleich, mit Riesenschritten die gewaltige Weite des Alls durchmißt; und, großartiger und schwieriger noch, wie er in sich zurückkehrt, um über den Menschen nachzudenken und sein Wesen, seine Pflichten und seine Bestimmung zu ergründen.2 Alle diese Wunder haben sich seit wenigen Generationen erneut vollzogen.

Renaissance

Europa war in die Kulturlosigkeit der frühesten Zeiten zurückgesunken. Die Völker dieses heute so aufgeklärten Teils der Welt lebten vor ein paar Jahrhunderten in einem Zustand, schlimmer als Unwissenheit. Ein ich weiß nicht was für ein wissenschaftliches Gerede, das noch weniger Beachtung verdient als die Unwissenheit, hatte der Wissenschaft ihren Namen gestohlen und stellte sich ihrer Rückkehr als nahezu unüberwindliches Hindernis in den Weg. Eine umwälzende Veränderung war nötig, damit die Menschen wieder zum gesunden Menschenverstand zurückfanden; sie kam schließlich von einer Seite, von der man sie am wenigsten erwartet hätte. Der Mohammedaner mit seinem dumpfen Sinn, diese ewige Geißel der schönen Literatur, er war es, der dieser bei uns zu neuem Leben verhalf. Durch den Sturz des Thrones Konstantins kamen die Reste des alten Griechenlands nach Italien. Auch Frankreich wurde reicher durch diese kostbare Hinterlassenschaft.3 Bald folgten der Literatur die Wissenschaften nach: zur Kunst zu schreiben gesellte sich die Kunst zu denken, eine Reihenfolge, die befremdlich scheint und die doch vielleicht nur zu natürlich ist. Und allmählich machte sich der hauptsächliche Nutzen der Beschäftigung mit den Musen bemerkbar: die Menschen werden geselliger, weil dabei in ihnen der Wunsch entsteht, einander durch Werke zu gefallen, die ihrer wechselseitigen Anerkennung wert sind.

Sozialisation der Bedürfnisse

Der Geist hat wie auch der Körper seine Bedürfnisse. Diese schaffen die Grundlage für das Leben in der Gesellschaft, jene geben ihm seinen Reiz. Während Regierung und Gesetze für die Sicherheit und das Wohl der in einem Gemeinwesen zusammengeschlossenen Menschen sorgen, fügen die Wissenschaften, die Künste und die Literatur, weniger gebieterisch, aber vielleicht um so mächtiger, den eisernen Ketten, mit denen diese Menschen gefesselt sind, Blütenbande hinzu, ersticken in ihnen das Gefühl für jene ursprüngliche Freiheit, zu der sie geboren schienen, lassen sie Gefallen an ihrer Knechtschaft finden und machen aus ihnen das, was man zivilisierte Völker nennt. Das Bedürfnis der Menschen richtete die Throne auf; Wissenschaften und Künste haben sie gefestigt. Mächtige der Erde, laßt euch die Talente angelegen sein und fördert jene, die sie pflegen.4 Und ihr, zivilisierte Völker, pfleget sie: Zufriedene Sklaven, ihr verdankt ihnen diesen erlesenen und verfeinerten Geschmack, auf den ihr so stolz seid; dieses angenehme Wesen und dieses höfliche Benehmen, die euren Umgang miteinander so glatt und reibungslos gestalten; kurz, den Anschein aller Tugenden, während ihr doch keine besitzt.

Durch diese Art von Gesittung, die um so gewinnender ist je dezenter sie sich gibt, zeichneten sich einst Athen und Rom in den so viel gerühmten Tagen ihrer Pracht und ihres Glanzes aus; in ihr wird gewiß unser Jahrhundert und unser Volk alle Zeiten und alle Völker übertreffen. Ein feinsinnig gebildeter Umgangston ohne Pedanterie, ein ungezwungenes und doch zuvorkommendes Benehmen, das von teutonischer Urwüchsigkeit ebensoweit entfernt ist wie von südländischer Überschwänglichkeit: das sind die Früchte des Geschmacks, der durch gute Studien erworben und im gesellschaftlichen Umgang vervollkommnet wurde.

Sitte und Tugend

Wie erfreulich wäre das Leben bei uns, wenn das äußere Verhalten stets die Einstellung des Herzens widerspiegelte, wenn feines Benehmen Tugend bedeutete, wenn unsere Maximen unser Handeln und Denken bestimmten, wenn vom Ehrentitel eines „Philosophen“ die wahre philosophische Weisheit nicht wegzudenken wäre! Aber so viele Vorzüge finden sich allzu selten vereint, und die Tugend geht kaum in solch glänzendem Festzug einher.5 Reicher Schmuck mag ein Zeichen für einen vermögenden Mann sein, erlesener Schmuck ein Zeichen für einen Mann mit Geschmack: Den gesunden und kräftigen Mann dagegen erkennt man an anderen Merkmalen; unter der einfachen Kleidung des Landmanns6 nämlich, und nicht unter dem golddurchwirkten Rock des Höflings wird man Kraft und Energie des Körpers finden. Nicht weniger fremd ist äußerer Schmuck der Tugend, die Kraft und Energie der Seele ist. Der rechtschaffene Mann gleicht einem griechischen Athleten, der nackt zu kämpfen liebt; er verschmäht all dies eitle Zierwerk, das ihn im Gebrauch seiner Kräfte behindern würde und von dem das meiste nur dazu erfunden worden ist, irgendeinen Fehler zu verbergen.

Natur vs. Kultur

Bevor die Kunst unsere Umgangsformen geschliffen und unsere Leidenschaften eine glatte Sprache zu sprechen gelehrt hatte, waren unsere Sitten einfach, aber unverfälscht; und der Unterschied im Verhalten verriet auf den ersten Blick den Unterschied im Charakter. Die menschliche Natur war im Grund nicht besser; aber die Leichtigkeit, mit der man sich gegenseitig durchschaute, gab den Menschen ihre innere Sicherheit; und dieser Vorteil, von dessen Wert wir uns keine Vorstellung mehr machen, bewahrte sie vor vielen Lastern.

Heute, wo ein gewählteres Benehmen und ein verfeinerter Geschmack die Kunst zu gefallen auf Regeln reduziert haben, sind unsere Sitten von einer erbärmlichen und trügerischen Gleichförmigkeit, und die Geister scheinen alle nach dem gleichen Muster gebildet: Immerzu fordert die Höflichkeit, gebietet die Schicklichkeit; immerzu folgt man der Konvention, niemals dem eigenen Wesen. Man wagt nicht mehr, sich so zu zeigen wie man ist; und unter diesem ständigen Zwang werden die Menschen dieser »Gesellschaft« genannten Herde in gleichen Situationen alle das gleiche tun, wenn nicht stärkere Beweggründe sie davon abhalten. Man wird daher nie genau wissen, wen man vor sich hat: Um seinen Freund kennenzulernen, wird man also die bedeutsamen Gelegenheiten abwarten müssen, das heißt abwarten, bis es dafür zu spät ist, denn gerade dieser Gelegenheiten wegen wäre es wichtig gewesen, ihn zu kennen.

Welch ein Gefolge von Lastern wird diese Ungewissheit nicht begleiten! Es wird keine ehrlichen Freundschaften mehr geben, keine aufrichtige Achtung, kein festes Vertrauen. Argwohn, Mißtrauen und Furcht, Gleichgültigkeit, Skepsis, Haß und Verrat werden sich ständig hinter diesem gleichförmigen und trügerischen Schleier der Höflichkeit verbergen, hinter dieser vielgepriesenen Urbanität, die wir der Aufgeklärtheit unseres Jahrhunderts verdanken. […]

Das ist die Reinheit, die unsere Sitten erlangt haben; in dieser Weise sind wir rechtschaffene Menschen geworden. Literatur, Wissenschaften und Künste mögen sich ihren Anteil an einem so ersprießlichen Werk zugute halten. Ich will dazu nur eines bemerken, daß nämlich ein Bewohner irgendeines fernen Landes, der sich ein Bild von den europäischen Sitten zu machen suchte auf Grund des Standes der Wissenschaften bei uns, der Vollkommenheit unserer Künste und Kunsthandwerke, der Vornehmheit unseres Theaterwesens, der Höflichkeit unseres Benehmens, der Liebenswürdigkeit unserer Worte, unserer ständigen Wohlwollensbezeugungen und dieses geschäftigen Zusammenströmens von Menschen jeden Alters und jeden Standes, die von früh bis spät eifrig bestrebt zu sein scheinen, einander Gefälligkeiten zu erweisen – daß also dieser Fremde von unseren Sitten genau das Gegenteil dessen denken müßte, was sie sind.7

Wo keine Wirkung ist, braucht man nicht nach einer Ursache zu suchen: Hier aber ist die Wirkung gewiß, nämlich der tatsächliche Verfall der Sitten, und unsere Seelen haben in dem Maße Schaden genommen, in dem unsere Wissenschaften und unsere Künste sich der Vollkommenheit genähert haben. Meint man etwa, dies sei eine bedauerliche Entwicklung speziell unserer Zeit? Nein, hochverehrte Mitglieder der Akademie, das Unheil, das unsere eitle Wißbegier anrichtet, ist so alt wie die Welt. Das tägliche Steigen und Fallen der Wasser des Meeres ist dem Lauf des Gestirns, das unsere Nacht erhellt, nicht gesetzmäßiger unterworfen gewesen als das Schicksal der Sitten und der Rechtschaffenheit der Entwicklung der Wissenschaften und Künste. Wir haben erlebt, wie die Tugend schwand, je höher Kunst und Wissenschaften über unserem Horizont erstrahlten, und das gleiche Phänomen konnte zu allen Zeiten und überall beobachtet werden. […]

Glückliche Unwissenheit

So sind zu aller Zeit Luxus, Sittenverfall und Unfreiheit die Strafe für unser hochmütiges Bemühen gewesen, den Zustand glücklicher Unwissenheit zu verlassen, in den die ewige Weisheit uns versetzt hatte. Der dichte Schleier, den sie über ihr ganzes Wirken gebreitet hat, hätte uns Warnung genug sein können, daß sie uns nicht zu eitlem Forschen bestimmt hat. Aber haben wir auch nur einen ihrer Ratschläge zu beherzigen gewußt oder auch nur einen ungestraft außer acht gelassen? Begreift doch einmal, ihr Völker, daß die Natur euch vor dem Wissen hat schützen wollen, wie eine Mutter ihrem Kind eine gefährliche Waffe aus den Händen nimmt; daß sie mit jedem Geheimnis, das sie vor euch verbirgt, euch vor einem Übel bewahrt, und dass die Mühe, die es euch bereitet, Kenntnisse zu erwerben, nicht die geringste ihrer Wohltaten ist. Die Menschen sind verderbt; sie wären noch schlimmer, wenn sie zu ihrem Unglück gelehrt zur Welt gekommen wären.

Wie demütigend sind diese Überlegungen für die Menschheit! Wie tief muß unser Stolz davon getroffen sein! Was, die Rechtschaffenheit wäre die Tochter der Unwissenheit, Wissen und Tugend wären unvereinbar? Welche Folgerungen zöge man nicht aus diesen vorschnellen Urteilen? Aber um diese einander scheinbar widerstreitenden Dinge in Einklang zu bringen, braucht man nur genauer zu untersuchen, wie hinfällig und hohl die stolzen Bezeichnungen sind, die uns blenden und die wir so ohne jeden Nutzen den menschlichen Kenntnissen verleihen. Betrachten wir also die Wissenschaften und Künste als solche; überlegen wir uns, was notwendig die Folge ihrer Entfaltung sein muß und zögern wir nicht länger, alle die Punkte anzuerkennen, in denen unsere Überlegungen mit den Lehren der Geschichte übereinstimmen werden. […]

Reflexionsfragen:

– Welche Rolle nehmen Literatur, Wissenschaft und Künste hinsichtlich der Verrohung der Sitten ein?

– Diskutieren Sie die These, dass Zivilisationsfortschritt mit moarlischem Verfall einhergeht.

– Worin besteht nach Rousseau der Gegensatz zwischen Natur und Kultur?

– Welchen Stellenwert hat für Rousseau die „glückliche Unwissenheit“?

Emil oder Über die Erziehung

Textauszüge aus: Rousseau, J.-J. (1750/131998): Emil oder Über die Erziehung. Paderborn u.a., S. 9–155.

Erstes Buch

Mensch vs. göttliche Ordnung

Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.8 Der Mensch zwingt ein Land, die Erzeugnisse eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermengt und vertauscht das Wetter, die Elemente und die Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seine Sklaven. Alles dreht er um, alles entstellt er. Er liebt die Mißgeburt, die Ungeheuer. Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht. Man muß ihn, wie ein Schulpferd, für ihn dressieren; man muß ihn nach seiner Absicht stutzen wie einen Baum seines Gartens.

Verbildung

Ohne das wäre alles noch schlimmer, denn der Mensch gibt sich nicht mit halben Maßnahmen ab. Unter den heutigen Verhältnissen wäre ein Mensch, den man von der Geburt an sich selbst überließe, völlig verbildet. Vorurteile, Macht, Notwendigkeit, Beispiel und alle gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen wir leben müssen, würden die Natur in ihm ersticken, ohne etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. Sie gliche einem Baum, der mitten im Wege steht und verkommt, weil ihn die Vorübergehenden von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen.

Ich wende mich an dich, liebe und weise Mutter.9 Du hast es verstanden, dich von der Heerstraße fernzuhalten und das Bäumchen vor dem Zusammenprall mit der öffentlichen Meinung zu behüten! Pfleg und gieß die Pflanze, ehe sie verdorrt; eines Tages wirst du dich an ihren Früchten laben. Umwall beizeiten die Seele deines Kindes; ein anderer mag den Umfang abstecken, du aber mußt die Schranken setzen.10

Entdeckung der Erziehung

Pflanzen werden gezogen: Menschen werden erzogen. Käme der Mensch groß und stark zur Welt: seine Stärke und Größe nützen ihm so lange nichts, bis er gelernt hätte, sich ihrer zu bedienen. Sie wären sogar sein Schaden, weil sie andere daran hinderten, für ihn zu sorgen und ihm beizustehen.11 So ginge er, sich selbst überlassen, zugrunde, ehe er sein Bedürfnis erkannt hätte. Man beklagt den Kindstand, aber man sieht nicht, dass die Menschheit zugrunde gegangen wäre, wenn der Mensch nicht als Kind begonnen hätte.

Wir werden schwach geboren und brauchen die Stärke. Wir haben nichts und brauchen Hilfe; wir wissen nichts und brauchen Vernunft. Was uns bei der Geburt fehlt und was wir als Erwachsene brauchen, das gibt uns die Erziehung.

Die Natur oder die Menschen oder die Dinge erziehen uns. Die Natur entwickelt unsere Fähigkeiten und unsere Kräfte; die Menschen lehren uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten und Kräfte. Die Dinge aber erziehen uns durch die Erfahrung, die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung.

Wir haben also dreierlei Lehrer. Widersprechen sie sich, so ist der Schüler schlecht erzogen und wird immer uneins mit sich sein. Stimmen sie aber überein und streben sie auf ein gemeinsames Ziel hin, so erreicht er sein Ziel und lebt dementsprechend. Er allein ist gut erzogen.

Von den drei Arten der Erziehung hängt die Natur gar nicht, die der Dinge nur in gewisser Hinsicht von uns ab. Die der Menschen ist die einzige, die wir in unserer Gewalt haben; und auch da nur unter gewissen Voraussetzungen, denn wer kann hoffen, die Reden und die Handlungen derer überwachen zu können, die das Kind umgeben?

Erziehung als Kunst

Sieht man die Erziehung als Kunst an, so scheint ein voller Erfolg unmöglich zu sein, weil das nötige Zusammenwirken von Natur, Dingen und Menschen nicht von uns abhängt. Was man bei größter Sorgfalt erreichen kann, ist, dem Ziel mehr oder weniger nahe zu kommen. Es völlig zu erreichen, ist ein Glücksfall.

Das Ziel der Erziehung? Es ist das Ziel der Natur selber; das habe ich eben bewiesen. Da die drei Faktoren aber zusammenwirken müssen, wenn die Erziehung gelingen soll, so müssen wir die beiden anderen nach dem Faktor ausrichten, über den wir nichts vermögen. Dazu müssen wir das unklare Wort Natur erst deutlich zu definieren versuchen.

Natur

Natur ist, so sagt man, nichts als Gewohnheit.12 Was heißt das? Gibt es nicht Gewohnheiten, die man nur unter Druck annimmt und die niemals die Natur ersticken? Man verhindert z.B. daß eine Pflanze nach oben wächst. Gibt man ihr die Freiheit wieder, so behält sie zwar die Beugung bei, aber der Wachstumstrieb bleibt derselbe. Sie richtet sich wieder auf, wenn man sie weiter wachsen läßt. Genau so steht es mit den Neigungen der Menschen. Unter gleichbleibenden Verhältnissen behält man Gewohnheiten bei, die vielleicht unserer Natur am wenigsten entsprechen. Sobald die Verhältnisse sich ändern, hört der Zwang auf, und die Natur kehrt zurück. Die Erziehung ist bestimmt nichts anderes als eine Gewohnheit. Aber gibt es nicht Leute, die ihre Erziehung vergessen und verlieren? Und andere, die sie bewahren? Woher dieser Unterschied? Um Verwirrungen zu vermeiden, muß man also den Begriff der Natur auf die Gewohnheiten einschränken, die der Natur gemäß sind.

Vernunft und Empfindsamkeit

Wir werden empfindsam geboren und von Geburt an auf verschiedene Weise durch unsere Umwelt beeinflusst. Sobald wir unserer Eindrücke bewußt werden, suchen wir die betreffenden Gegensätze zu erstreben oder zu fliehen; anfangs je nachdem sie uns angenehm oder unangenehm sind, später je nach der Zuneigung oder der Abneigung, die wir zwischen uns und jenen Dingen finden; schließlich urteilen wir vernünftig über ihren Wert für unser Glück und unsere Vollkommenheit. Diese Anlagen wachsen und festigen sich in dem Maße, in dem wir empfindsamer und vernünftiger werden. Werden sie jedoch von Gewohnheiten gezwungen, so ändern sie sich mehr oder weniger nach unseren Meinungen. Vor dieser Veränderung sind sie das, was ich die Natur in uns nenne. […]

Zweites Buch

Erziehung und Zeit

[…] Darf ich nun die wichtigste und nützlichste Regel jeder Erziehung aufstellen? Sie heißt nicht: Zeit gewinnen, sondern Zeit verlieren. Man möge mir diese scheinbaren Widersprüche verzeihen. Wenn man es überlegt, kommt man selber darauf. Ich ziehe den Widerspruch dem Vorurteil vor. Der gefährdetste Abschnitt erstreckt sich von der Geburt bis zum 12. Lebensjahr. Es ist die Zeit, wo Irrtümer und Laster keimen, ohne daß man Mittel hätte, sie auszurotten. Hat man dann die Mittel, so sind die Wurzeln bereits so tief, daß man sie nicht mehr ausreißen kann. Wäre es nur ein Sprung von der Mutterbrust bis ins vernünftige Alter, so wäre die heutige Erziehung richtig. Die natürliche Entwicklung erfordert aber das Gegenteil. Eigentlich dürften Kinder ihre seelischen Kräfte nicht eher gebrauchen, als bis sie voll entwickelt sind. Denn sie können das Licht der Lehren, das ihr ihnen vorhaltet, nicht sehen, solange die Seele blind ist. Wie soll sie im weiten Feld der Gedanken einer Straße folgen können, die die Vernunft dem schärfsten Auge nur andeutend zeigt?

Negative Erziehung

Die erste Erziehung muß also rein negativ sein. Sie darf das Kind nicht in der Tugend und in der Wahrheit unterweisen, sondern sie muß das Herz vor Laster und den Verstand vor Irrtümern bewahren. Wenn es euch gelingt, nichts zu tun und zu verhindern, daß etwas getan werde, den Zögling gesund und stark bis ins zwölfte Lebensjahr zu bringen, selbst wenn er links und rechts nicht unterscheiden kann, so würde sich nun sein Geist von der ersten Lektion an der Vernunft öffnen. Nichts würde den Erfolg eurer Bemühungen verhindern, da er ohne Vorurteile und Gewohnheiten ist. Bald wäre er unter euren Händen der weiseste Mensch. Ihr habt mit Nichtstun begonnen und endet mit einem Erziehungswunder.

Absage an traditionelle Erziehung

Tut das Gegenteil vom Üblichen und ihr werdet fast immer das Richtige tun. Da man aus einem Kind kein Kind machen will, sondern einen Gelehrten, so können die Väter und die Lehrer nicht früh genug mit Schelten, Verbessern, Maßregeln, Schmeicheln, Drohen, Versprechen, Belehren, Vernünfteln beginnen. Macht es besser! Seid vernünftig! Vernünftelt aber nicht mit eurem Zögling! Vor allem nicht, um zu erreichen, daß ihm gefalle, was ihm mißfällt! Denn wenn man die Vernunft immer nur auf das Unangenehme bezieht, wird sie ihm langweilig und sie gerät frühzeitig in Mißkredit bei einem Geist, der noch nicht imstande ist, sie zu begreifen. Übt seinen Körper und seine Glieder, seine Sinne und seine Kräfte, laßt aber seine seelischen Kräfte solange als möglich in Ruhe! Fürchtet alle Gefühle, ehe seine Urteilskraft sie beurteilen kann! Haltet fremde Eindrücke fern! Übereilt euch nicht, Gutes zu tun, um zu verhindern, daß das Böse erwache! Gut kann man nur im Licht der Vernunft tun. Betrachtet jede Verzögerung als einen Vorteil! Denn man gewinnt viel, wenn man sich seinem Ziel ohne Verluste nähert. Laßt die Kindheit im Kinde reifen! Welche Belehrung es auch nötig hat, hütet euch, sie ihm heute zu geben, wenn ihr sie ohne Gefahr bis morgen aufschieben könnt!

Kindgerechte Erziehung

Wie nützlich diese Methode ist, zeigt sich bei den besonderen Anlagen des Kindes, die man genau kennen muß, um zu wissen, welche sittliche Lebensordnung ihm angemessen ist. Jeder Geist hat seine besondere Form, nach der er geleitet werden muß, und der Erfolg der aufgewendeten Mühen hängt davon ab, daß er so und nicht anders geleitet wird. Wer vorsichtig ist, belauscht demnach die Natur, beobachtet genau den Zögling, ehe er ihm das erste Wort sagt. Erlaubt seinem Charakterkeim, sich frei zu zeigen! Legt ihm keinerlei Zwang auf, um ihn besser kennenzulernen! Glaubt ihr, daß diese Zeit der Freiheit für ihn verloren ist? Im Gegenteil! Denn nur so verliert ihr dann keinen Augenblick, wenn die Zeit viel kostbarer ist. Wenn man nicht weiß, was zu tun ist, handelt man auf gut Glück: Man unterliegt dem Irrtum und muss wieder von vorne beginnen! Man ist schließlich weiter vom Ziel entfernt, als wenn man sich Zeit gelassen hätte. Macht es also nicht wie der Geizhals, der viel verliert, weil er nichts verlieren wollte. Opfert im Kindesalter eure Zeit, die ihr später mit Zinsen wiederbekommt. Der weise Arzt verordnet nicht auf den ersten Blick sein Rezept, sondern studiert zuerst die Natur des Kranken, ehe er ihm etwas verschreibt. Er behandelt ihn erst spät, aber er heilt ihn, während der Übereifrige ihn tötet.

Wo muß das Kind leben, das wir wie ein empfindungsloses Wesen, wie einen Automaten erziehen wollen? Halten wir es auf dem Mond, auf einer verlassenen Insel? Sondern wir es von allen Menschen ab? Hat es nicht in der Welt das beständige Schau- und Beispiel der Leidenschaften der anderen vor Augen? Soll es niemals Kinder seines Alters sehen? Soll es nicht seine Eltern sehen, seine Nachbarn, seine Amme, seine Gouvernante, seine Diener, selbst seinen Erzieher, der doch auch kein Engel ist?

Dieser Einwand ist gewichtig und begründet. Aber habe ich jemals behauptet, daß die natürliche Erziehung einfach sei? Ist es meine Schuld, wenn die Menschen alles, was gut ist, schwierig gemacht haben? Ich kenne diese Schwierigkeiten, ich gebe es zu. Vielleicht sind sie sogar unüberwindbar. Sicher ist jedenfalls, daß man sie bis zu einem gewissen Grad überwinden kann, wenn man sich darum bemüht. Ich zeige das erstrebenswerte Ziel; ich behaupte nicht, dass man es erreichen kann. Aber ich behaupte, daß der seine Aufgabe am besten gelöst hat, der ihm am nächsten kommt.

Vorbildfunktion

Erinnert euch, daß man selber erzogen sein muß, ehe man einen Menschen zu erziehen wagt. Er muß in sich das Vorbild finden, das er zeigen will. Solange das Kind noch nichts erkennt, hat man Zeit, alles so auszuwählen, daß sein Blick nur sieht, was es sehen darf. Sorgt dafür, daß euch alle achten! Macht euch beliebt, dass jeder euch gefallen möchte! Ihr werdet nie Herr über das Kind, wenn ihr es nicht über seine ganze Umgebung seid. Diese Autorität kann nie vollständig sein, wenn sie nicht auf die Achtung vor der Tugend gegründet ist. Es kommt nicht auf einen vollen Beutel an, aus dem man freigebig austeilt. Ich habe noch nie gesehen, daß man sich mit Geld Liebe erwirbt. Man darf aber auch nicht geizig und hart sein, noch das Elend beklagen, das man erleichtern könnte. Umsonst aber öffnet man seine Kassen: wenn man nicht zugleich sein Herz öffnet, bleiben auch die Herzen der anderen immer verschlossen. Ihr müsst eure Zeit, Mühe, Liebe, euch selbst geben. Was ihr auch tut, man fühlt immer, daß ihr und euer Geld verschiedene Dinge sind. Es gibt Beweise von Teilnahme und Wohlwollen, die wirkungsvoller und tatsächlich nützlicher sind als alle Geschenke. Wie viele Unglückliche und Kranke brauchen eher Trost als Almosen! Wie viele Unterdrückte brauchen eher Schutz als Geld! Söhnt Entzweite aus! Beugt Prozessen vor! Haltet die Kinder zur Pflicht! Fördert glückliche Ehen! Verhindert Unterdrückungen! Macht großen Gebrauch vom Ansehen der Eltern eures Zöglings zum Besten des Schwachen, dem man Gerechtigkeit verweigert und den die Mächtigen unterdrücken! Seid gerecht, menschlich, wohltätig! Gebt keine Almosen, übt Barmherzigkeit! Werke und Wohltätigkeit lindern mehr Leiden als Geld. Liebt andere und sie werden euch lieben! Dient ihnen und sie werden euch dienen! Seid ihr Bruder, und sie werden eure Kinder sein!

Natürliche Erziehung

Noch aus einem anderen Grund will ich Emil auf dem Land erziehen, fern vom Bedientengesindel, den schlechtesten Menschen nach ihren Herren; fern von der Sittenlosigkeit der Städte, deren Firnis sie für Kinder so verführerisch und ansteckend macht, während die Laster der Bauern, nackt und roh, eher abschrecken als verführen, wenn man sie nicht nachzuahmen wünscht.

Auf dem Dorf ist der Erzieher viel mehr Herr der Dinge, die er seinen Zöglingen zeigen will. Sein Ansehen, seine Reden, sein Vorbild hätten einen Einfluß wie niemals in der Stadt. Da er jedem nützlich ist, so würde sich jeder bemühen, ihn sich zu verpflichten, seine Achtung zu erwerben, und sich dem Zögling gegenüber so zu benehmen, wie der Erzieher es sich tatsächlich wünscht. Wenn man seine Laster auch nicht aufgibt, vermeidet man doch das öffentliche Ärgernis, und das genügt bereits für unseren Zweck.

Hört auf, andere für eure eigenen Fehler zu rügen! Die Kinder werden weniger durch das Böse, das sie sehen, als durch eure Lehren verdorben. Immer nörgelnd, immer moralpredigend und immer pedantisch bringt ihr sie für eine, nach eurer Meinung gute Idee auf zwanzig andere, die nichts taugen. Voll von dem, was in eurem Kopf passiert, seht ihr die Wirkung nicht, die es in ihrem Kopf erzeugt. Denkt ihr bei eurer unaufhörlichen Redeflut auch daran, ob er nicht ein Wort falsch versteht? Meint ihr, daß sie eure verworrenen Erklärungen nicht auf ihre Weise auslegen und sich daraus ein passendes System zusammenbauen, das sie bei Gelegenheit eurem System entgegenstellen?