Beethovens Geliebte - Claudia Romes - E-Book
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Beethovens Geliebte E-Book

Claudia Romes

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Beschreibung

Klänge einer neuen Zeit

Bonn, 1790: Im Zehrgarten am Marktplatz dreht sich alles um die Kunst – und mittendrin: die neunzehnjährige Tochter der Wirtin, die in ihren Salons die wichtigsten Männer der Stadt um sich versammelt. Wenn es nach ihrer Mutter ginge, würde Babette Koch am besten einen Fürsten heiraten, aber seitdem der junge Ludwig van Beethoven aus Wien zurück ist, fühlt sich Babette immer mehr zu ihrem Kindheitsfreund hingezogen. Doch ein schlechter Ruf eilt dem Musiker voraus, so gilt er nicht nur als talentiert, sondern auch als äußerst flatterhaft.

Die Geschichte einer jungen Freidenkerin, die sich auf ihrer Suche nach Selbstbestimmung und Liebe nicht entmutigen lässt

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Über das Buch

Bonn, 1790. Babette Koch kann ihr Glück kaum fassen: Im Zehrgarten am Marktplatz versammeln sich die bedeutendsten Männer aus Kultur, Kunst und Politik und wohnen ihrem Lesezirkel bei. Als Tochter der Wirtin hilft sie nun nicht mehr nur beim Ausschank, sondern diskutiert und musiziert gemeinsam mit den hochrangigen Gästen, zu denen seit seiner Rückkehr aus Wien auch ihr Kindheitsfreund Ludwig van Beethoven zählt. Babettes Mutter verspricht sich aus dem Kreis der Bonner Elite eine gute Partie für ihre Tochter, aber Babette ist nichts ferner, als an eine Heirat zu denken. Sie möchte ihr Schicksal selbst bestimmen – und doch schlägt ihr Herz merklich schneller, wann immer sich ihr Blick mit dem des jungen und temperamentvollen Komponisten kreuzt.

Über Claudia Romes

Claudia Romes wurde 1984 als Kind eines belgischen Malers in Bonn geboren. Mit neun Jahren begann sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und fasste den Entschluss, eines Tages Schriftstellerin zu werden. Nach einigen beruflichen Umwegen widmete sie sich ganz dem Schreiben und lebt heute ihren Traum. Die Autorin wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Vulkaneifel.

Im Aufbau Taschenbuch ist bereits ihr Roman »Das Geheimnis der Hyazinthen« erschienen.

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Claudia Romes

Beethovens Geliebte

Sie lebt für die Künste, doch in der Liebe findet sie keine Freiheit

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Widmung

Prolog — Bonn, November 1780

Erster Teil

Kapitel 1: Bonn, Juli 1787 bis Ende 1789

Kapitel 2: Bonn, 1790

Kapitel 3

Kapitel 4: Bonn, Anfang 1791

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Zweiter Teil

Kapitel 10: Januar bis April 1792

Kapitel 11: Bonn, 1792

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Dritter Teil

Kapitel 21: Bonn, 1793

Kapitel 22: Ende 1794 bis Mitte 1795

Kapitel 23: Mergentheim, Oktober 1795 bis Januar 1796

Kapitel 24: Bonn, Frühjahr bis Sommer 1796

Kapitel 25

Epilog — Belderbuscher Hof, 1807

Nachwort der Autorin

Impressum

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Für meine Großmutter Maria Klemmer.

Du führtest mich zu dieser Geschichte.

Prolog

Bonn, November 1780

Der Abend war gerade erst angebrochen. Die Kerzen brannten in ihren Halterungen, im Kamin knisterte ein herrliches Feuer, und fratzenhafte Schatten tanzten auf den grob gemauerten Wänden des Zehrgartens. Babette hielt den Atem an. Aufgeregt verharrte sie unter einem der Tische im Hinterraum der Gaststube ihrer Eltern.

»Sei still, Jänchen!«, flüsterte sie, als ihre kleine Schwester Marianne kichernd zu ihr ins Versteck krabbelte. »Du verrätst uns noch.«

Sie legte ihr eine Hand über den Mund, als sich das Getrampel eiliger Füße näherte. Wenig später beugte sich Ludwig zu ihnen herunter, und die Mädchen schreckten kurz zusammen.

»Scht«, machte er mit dem Zeigefinger vor den gespitzten Lippen. Rasch stellte er sich vor sie, sobald Matthias den Raum betrat.

»Wo können sie nur sein?« Ungeduldig wippte Babettes Bruder mit der Fußspitze.

»Keine Ahnung.« Ludwig klang erstaunlich überzeugend.

Matthias atmete hörbar aus. »Na, dann werde ich in der Küche nachsehen. Behältst du solange den Gastraum im Auge?«

»Sicher«, antwortete Ludwig knapp.

Sobald Matthias gegangen war, kamen Babette und ihre Schwester unter dem Tisch hervor. Während die kleine Marianne sofort davonsauste, ging Babette auf Ludwig zu. Mit ihren neun Jahren überragte sie ihn um einen Kopf, und das, obwohl er fast ein Jahr älter war.

»Danke, dass du uns nicht verraten hast«, sagte sie und klopfte sich den Staub vom Rock ihres Kleides.

»Er gewinnt ja sonst immer.« Ludwig zuckte die Schultern. »Irgendwann wird das langweilig.«

Sie nickte lächelnd mit einem Anflug leiser Genugtuung, denn Matthias beanspruchte Ludwig oftmals für sich. Dabei war der älteste Spross der Beethovens auch Babettes Freund. Die Tatsache, dass er ihr geholfen hatte, das Spiel zu gewinnen, zeigte, dass er keinen Unterschied machte.

Stühle wurden gerückt. Die ersten Gäste kehrten im Hinterraum des Gasthauses ein. Beamte, Gelehrte, Künstler und Musiker verliehen dem Zehrgarten ihren Zauber. Einer von ihnen zückte seine Violine und spielte. Für einen Moment standen Babette und Ludwig da und lauschten still der Musik. Wann immer sie im Zehrgarten zu hören war, fühlte sich Babette in eine völlig andere Welt versetzt. Ihr war dann, als würde aus Phantasie Wirklichkeit, als würden Kreativität und schöpferische Kraft lebendig. Jedes Musikstück erzählte eine Geschichte. Sie musste nur aufmerksam zuhören.

»Hier steckst du also!« Johann van Beethovens Erscheinen durchschnitt die behagliche Stimmung mit der Wucht eines Fallbeils. Wütend riss er seinen Sohn am Arm herum. »Hätte ich mir denken können, dass du dich nur rumtreibst und faulenzt. Hatten wir nicht abgemacht, dass du endlich deine Noten beherrschst?« Seine undeutliche Aussprache verriet, dass er wieder getrunken hatte. Babette wich vor ihm zurück. Ihr fiel auf, dass Ludwigs Unterlippe zitterte.

»Aber Papa, ich habe doch nur …«, begann er.

»Deine Zeit vergeudet!«, unterbrach Johann ihn schroff. »Mach nur weiter so, Bursche. Sei ein Nichtsnutz. Dann wird aus dir nie ein anständiger Musikus.«

Der Geiger hatte den Bogen sinken lassen, die anderen Gäste hielten in ihren Gesprächen inne.

»Pänz.« Johann nickte betreten in die Runde. Er begriff, dass er für Aufsehen gesorgt hatte, und tat seine zweifelhafte Fürsorge mit einem halbherzigen Lächeln ab, bevor er seinen Sohn am Arm hinauszog.

»Wartet!« Beunruhigt lief Babette ihnen nach. Sie bahnte sich einen Weg durch das gefüllte Gasthaus, vorbei an ihren Eltern, die mitten im geschäftigen Treiben Bier und Wein ausschenkten. Zielstrebig ließ sie den köstlichen Duft von gebratenem Huhn, Speck und Zwiebeln hinter sich und wich den Einkehrenden aus. Auf dem von Fackeln erhellten Marktplatz vernahm sie Ludwigs Wimmern.

»Du tust mir weh«, hörte sie ihn sagen und spürte sogleich Wut in sich aufwallen.

»Lasst ihn los!« Ihre Forderung war zu leise, zu kraftlos. Sie hatte eingeschüchtert geklungen. Johann reagierte nicht auf sie. Noch einmal schickte Ludwig ihr einen angstvollen Blick über seine Schulter zu, dann zerrte ihn sein Vater die Straße hinunter, nach Hause. Babettes Herz klopfte in düsterer Vorahnung. Wochen würden vergehen, ehe sie sich wiedersehen konnten. Harte, nicht enden wollende Tage, in denen ihr Freund erbarmungslos gescholten werden würde, um dem Wunsch seines Vaters nach Größe zu entsprechen.

Erster Teil

Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht!

Ludwig van Beethoven

Kapitel 1

Bonn, Juli 1787 bis Ende 1789

Es war ein verregneter Sommer. Über der Stadt hatte sich eine graue Wolkendecke aufgespannt, die seit Tagen nicht aufbrechen wollte – als spiegelte sie die Trauer um Maria Magdalena wider, die der Schwindsucht erlegen war.

»Stärke«, bläute Anna ihrer Tochter ein, nachdem sie in der Wenzelgasse 476 angekommen waren. Nervös knetete Babette ihre Finger. Für sie waren Beileidsbekundungen ein Graus. Dabei mangelte es ihr nicht an Mitgefühl, sondern an den richtigen Worten, um ihm Ausdruck zu verleihen. Vielleicht, so dachte sie, waren Worte in einer solchen Situation nicht genug. In dem Moment vernahm sie ein melancholisches Klavierspiel und richtete ihren Blick zum Fenster des oberen Stockwerks hinauf, von wo es herzukommen schien.

»Er wird doch nicht etwa …«, murrte ihre Mutter, deren Blick ebenfalls die Fassade des Hauses hinaufgeklettert war. Dreimal klopfte sie fest an die Tür der Beethovens.

»Bestimmt spielt Ludwig für seine Geschwister. Um sie aufzuheitern. Das könnte doch sein, Maman?«

Ihre Mutter hatte die Hände in ihre ausladenden Hüften gestemmt und sah sie ungläubig an. »Wenn Johann den armen Jungen jetzt zwingt zu üben, dann kann er was erleben.«

Babette fuhr ein Schauder über den Rücken. Noch immer hatte sie vor Augen, wie Johann Ludwig gescholten hatte, nur weil er eine Note nicht lang genug gespielt hatte. Da war sie elf und Ludwig zwölf Jahre alt gewesen. Die Gewalt, zu der sein Vater fähig war, machte ihr auch jetzt noch Angst. Körperliche Züchtigungen kannte sie von ihren Eltern nicht.

»Dieser Mann«, zischte ihre Mutter durch zusammengebissene Zähne und pochte erneut gegen die Tür. Babette senkte den Blick. Am liebsten wäre sie zu Hause geblieben, aber ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie mitkam. Es wäre an der Zeit, etwas zurückzugeben, hatte sie gemeint. Anna Maria Koch hatte eine ausgeprägte soziale Ader. Daneben war sie eine der wenigen, die sich trauten, Johann van Beethoven offen die Meinung zu sagen. Ihre Familien waren seit Jahren eng befreundet, was ihr das Recht gab, sich in Angelegenheiten der Beethovens einzumischen – jedenfalls wenn es nach ihr ging. Bedauerlicherweise prallten die gut gemeinten Ratschläge bei Johann ab wie ein Ball an einer Mauer, seit er zu trinken angefangen hatte. Anna befürchtete, dass sich seine Trunksucht nun, nach dem Tod seiner geschätzten Gattin, weiter verschlimmern würde.

»Schön, nicht?«, sagte Babette verträumt.

Als wäre es Teil der Melodie, fügte sich das Geräusch des zunehmenden Regens, der prasselnd auf den Pflastersteinen aufkam, in das Lied, und Babette führte ihre Gedanken über die unzureichende Wirkung von Worten fort. Musik, dachte sie, und ein wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus, während sie dem spontanen Zusammenspiel von Piano und Natur lauschte. Musik konnte tröstender sein als tausend Worte.

Vor einigen Jahren hatte Ludwig etwas ganz Ähnliches zu ihr gesagt. Nun, da seine liebe Mutter gestorben war, musste sie immerzu daran denken. Erst jetzt hatte sie verstanden, was er gemeint hatte.

Das Klavierspiel wurde jäh von lautem Kindergeschrei unterbrochen. In Anna rief es den Mutterinstinkt auf den Plan. Sie war eine Löwin, die ihre Familie erbittert verteidigte und bis aufs Blut kämpfte. Nachdem die Kinder ihrer Freundin zu Halbwaisen geworden waren, fühlte sie sich verantwortlich.

»Johann!« Sie hämmerte jetzt energischer als zuvor gegen die Tür, doch niemand machte auf. Es regnete heftiger, und die beiden Frauen drängten sich näher ans Haus heran.

»Wir sollten ein andermal wiederkommen«, schlug Babette leise vor. »Offenbar ist ihnen nicht nach Besuch.« Sie hielt den Korb, in dem sich ein Früchtekuchen, frisches Brot, Käse, Schinken und Milch befanden, fest in Händen. Auf Wein hatten sie absichtlich verzichtet. Den hatte Johann sicher zur Genüge. Das Geschrei von Ludwigs einjähriger Schwester durchdrang den tosenden Niederschlag und das Rattern vorbeifahrender Fuhrwerke. Es klang herzzerreißend.

»Armes Gretchen«, murmelte Babette und tauschte einen besorgten Blick mit ihrer Mutter. Die kleine Maria Margaretha war zierlich und verletzlich. Sie erinnerte Anna an deren früh verstorbene Schwester, die ihr Patenkind gewesen war. Beharrlich pochten ihre Fäuste gegen die Tür, als ginge es um Leben und Tod.

»Johann?«, rief sie so laut, dass die vorbeigehenden Passanten stehen blieben. »Hier ist Anna.«

Nach einer Weile hörten sie Schritte, dann öffnete jemand. Endlich!

»Louis!«, begrüßte Babette ihren Freund erleichtert.

Scheu blickte er erst sie, dann ihre Mutter an. »Verzeiht, dass wir euch warten ließen.« Sein für gewöhnlich dunkler Teint war einer unnatürlichen Blässe gewichen, was die Pockennarben in seinem Gesicht deutlicher hervorhob. Das gelockte dunkelblonde Haar wirkte ungekämmt. Die dunklen Ringe unter seinen Augen zeugten von schlaflosen Nächten.

»Wir machen uns Sorgen um euch.« Anna kam gleich auf den Punkt. Ludwig stand mit steifem Körper da, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Unentschlossen sah er zwischen den Frauen hin und her. Ob er wohl merkte, wie unangenehm Babette der Besuch war? Sie rang sich ein mattes Lächeln ab, doch seine Miene blieb starr.

»Wir wollten wissen, ob wir euch in irgendeiner Weise unterstützen können?«, fuhr ihre Mutter fort. »Es tut uns so unendlich leid. Deine liebe Mama war eine gute Frau. Sie wird sehr fehlen.«

Fahrig strich er sich das Haar zurück, senkte seinen Blick und nickte beklommen. »Bitte«, sagte er höflich, aber widerstrebend und bedeutete ihnen einzutreten. Anna und Babette folgten ihm die schmale Treppe hinauf, von dessen Ende ihnen Gretchens lautes Weinen entgegendrang.

»Ich fürchte, es ist etwas unordentlich«, mahnte Ludwig, kaum gegen das Geschrei ankommend.

»Mach dir deswegen keine Gedanken.« Anna berührte ihn tröstend am Arm, sobald sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatten, und betrat noch vor ihm das Wohnzimmer. Die Luft war stickig. Es roch nach überreifem Obst, Schweiß und Exkrementen.

»Kann ich euch etwas anbieten?«, fragte Ludwig. Anna winkte ab, sie hielt sich ein Taschentuch vor die Nase und riss ein Fenster auf. Babette stand wie angewurzelt in der Tür und klammerte sich an ihren Korb. Neben ihr klaubte Ludwig Kleidungsstücke und Papier vom Boden. Es war das reinste Chaos.

»Johann?« Anna rüttelte unsanft an dessen Schulter, und er ließ ein Stöhnen hören. Den Kopf auf seine Hände gestützt, saß er mit geschlossenen Augen am Tisch. Vor ihm stapelte sich schmutziges Geschirr. Sicher war die Magd der Familie der schwierigen Situation nicht gewachsen.

»Seit wann ist er schon so?«, fragte Anna Ludwigs jüngeren Bruder Kaspar. Hilflos zuckte dieser die Schultern, während er seine Schwester, deren Wangen rot leuchteten, im Arm schaukelte.

»Schon den ganzen Tag«, antwortete Ludwig höhnisch.

»Holt Wasser!« Anna nahm Kaspar das immer noch schreiende Kind ab. »Wir müssen ihn nüchtern kriegen.«

Ludwig brachte Karaffe und Becher aus dem Nebenzimmer. Sein elfjähriger Bruder Nikolaus half ihm, dem betrunkenen Vater Wasser einzuflößen.

»Sie vermisst Mutter«, verriet Kaspar, der sich nicht von seiner Schwester lösen wollte und deshalb dicht bei ihr blieb. Die Verzweiflung war ihm anzusehen, sie ließ Babette schlucken. Angesichts dieser Tragik konnte sie sich kaum rühren. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie fürchtete, jemand könne es hören. Sie fühlte sich fehl am Platz. Warum hatte ihre Mutter sie mitgenommen? Sie war ihr keine Hilfe.

»Schhhh, ist ja gut«, machte Anna. Gretchens Weinen ging von einem Wimmern in ein Schluchzen über. Müde kuschelte sie das Gesicht gegen Annas üppige Brust. Ihre Brüder standen hilflos daneben. Jeder für sich hatte auf seine Weise mit dem Verlust der Mutter zu kämpfen, aber keiner von ihnen mehr als das kleine Mädchen, das Anna in ihren Armen wiegte. Bekümmert blickte sie auf das zarte Kindergesicht herab.

»Sie bekommt Zähne.« Nikolaus hatte den Versuch aufgegeben, seinem Vater Wasser zu reichen, dessen Kopf nun vollständig auf der Tischplatte auflag, und war neben sie getreten. »Die Zähne machen allen kleinen Kindern Probleme. Das hat Mutter jedenfalls gesagt.«

»Gib ihr doch noch mal die Veilchenwurzel«, wies Ludwig ihn an und ging zum Tisch. »Vater?« Energisch rüttelte er an dessen Schultern. »Wir haben Besuch!«

Ächzend hob Johann den Kopf. Seine Augen waren gerötet und dunkel gerändert. »Ist das so?«, lallte er und schaute benommen auf, dann grinste er anzüglich. »Die Koch-Frauen. Welch Freude, euch zu sehen.«

Er stemmte sich hoch, stieß gegen den Tisch und brachte einen Krug ins Rollen, der sogleich auf dem Boden zerschellte.

Johann torkelte zurück, sah auf die Scherben hinab und fasste sich an die Stirn. »Bitte verzeiht … Ich … schätze, ich bin heute in keiner besonders guten Verfassung. Feg das doch mal eben auf, Nikolaus, ja?«

»Vielleicht solltest du weniger trinken«, sagte Anna streng. »Deinen Kindern zuliebe.«

Mit trübem Blick taumelte er ihr entgegen. »Warum bist du noch mal herkommen?«, fragte er mit verwaschener Sprache. »Kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben, Anna.«

Vorsichtig übergab sie Gretchen an Kaspar. »Um euch unser Beileid auszusprechen und unsere Hilfe anzubieten.«

Er sank zurück auf seinen Stuhl. Seufzend rieb er sich über das unrasierte Kinn. »Ja. Es ist zweifellos die dunkelste Stunde unseres Daseins.« Von seinem Sohn, der zu seinen Füßen die Scherben in einen Eimer legte, nahm er keine Kenntnis.

»Zweifellos«, stimmte Anna ihm milde zu. »Wenn es irgendetwas gibt, was wir für euch tun können, dann …« Sie wandte sich an Ludwig und seine Brüder und wies Babette an, an ihre Seite zu kommen. Johann entging nicht, an wen sich ihr Angebot in erster Linie richtete. Sein missfälliger Blick fiel auf den Korb, den Babette Ludwig hinhielt.

»Nein.« Mit einem verächtlichen Kopfschütteln winkte er ab. »Wir wollen eure Almosen nicht. Darauf sind wir nicht angewiesen.«

»Das ist kein Almosen«, versicherte Anna. »Nur eine kleine Aufmerksamkeit, ein Geschenk an euch.«

»Nehmt’s wieder mit.«

»Aber Johann, die Kinder müssen essen. Margaretha braucht gute Milch, damit sie für den kommenden Winter gewappnet ist.«

»Sie ist meine Tochter! Ich weiß genau, was sie braucht. Sie braucht ihre Mutter.«

»Ich bitte dich inständig, sei vernünftig! Lass uns helfen. Hätte Maria das nicht auch gewollt?«

»Maria hätte gewollt, weiterleben zu dürfen«, zischte er. »Und jetzt entschuldigt mich. Mir ist nicht wohl. Ich werde mich zurückziehen. Louis wird euch hinausbegleiten.« Er wankte zur Schlafzimmertür und ließ sie hinter sich zufallen. Für einen Moment standen alle ratlos da. Babette und Anna tauschten einen sorgenvollen Blick.

»Es geht ihm sicher bald besser«, versuchte Kaspar, das Verhalten seines Vaters zu rechtfertigen. Er hatte seine Schwester in ihr Bettchen gebracht und zugedeckt. Anna ging noch einmal zu ihr. Die Kleine hatte sich derart verausgabt, dass sie tief und fest eingeschlafen war.

»Bitte wendet euch an uns, wenn etwas ist«, sagte sie an Ludwig gerichtet, der breitbeinig dastand. Babette stellte den Korb auf eine Anrichte und half Nikolaus dabei, die restlichen Scherben des zerbrochenen Krugs aufzusammeln, damit sich niemand verletzte. Auch jetzt noch fühlte sie sich unwohl. Die vorherrschende traurige Stimmung war kaum zu ertragen.

»Danke«, durchbrach Ludwig das angespannte Schweigen, das im Raum hing. »Ich muss mich für Vater entschuldigen. Er ist … nicht er selbst.«

Kurz schien sich die Stille fortzusetzen. Erneut tauschte Babette einen vielsagenden Blick mit ihrer Mutter, die sichtlich um Fassung rang. Maria war kaum gestorben, da hatten Ludwig und Kaspar den Vater sturzbetrunken in einer Wirtsstube am Rheinufer aufgelesen, nachdem Anna ihn aus dem Zehrgarten verwiesen hatte. Die Art und Weise, wie er mit dem Tod seiner Frau umging, war bereits in aller Munde. Wahrscheinlich war sein Hang zum Alkohol auch der Grund, weshalb der Kurfürst ihm keine Vorschüsse mehr gewährte. Als Tenor der Hofkapelle hatte er sich zuletzt unzuverlässig gezeigt. Er hatte das Vertrauen seines Arbeitgebers verspielt, und seine Kinder waren die Leidtragenden. Anna betrachtete Ludwig schweigend. Er war selbst noch ein Junge. Plötzlich hatte er mit den Sorgen und Problemen eines Familienoberhauptes zu kämpfen. Er musste sich um seine Geschwister kümmern, den Lebensunterhalt verdienen. Dabei sollte er sich auf seine Musik konzentrieren. War das nicht auch einmal Johanns Wunsch gewesen? Er hatte ein Wunderkind, einen zweiten Mozart aus ihm machen wollen. Stattdessen hatte er einen überforderten Jugendlichen geschaffen, der unter spontanen Gefühlsausbrüchen litt.

»Ich verlasse mich darauf, dass du dich meldest, wenn ihr etwas braucht«, sagte Anna nachdrücklich und schloss sorgfältig das Fenster.

Ludwig nickte, schob leise den Stuhl seines Vaters an den Tisch und stützte seine Hände auf die Lehne.

Als die Magd der Beethovens von ihrem Einkauf zurückkehrte, ging Anna sofort mit ihr in die Küche, um mit ihr zu sprechen. Babette trat neben Ludwig und berührte ihn tröstend am Arm. Er schaute scheu zuerst auf ihre Hand, dann in ihr Gesicht. Einen Augenblick lang verharrten sie still beieinander. Er nickte leicht, deutete ein Lächeln an, das von Dankbarkeit zeugte.

Zögerlich nahm Babette ihre Hand zurück. Sie waren im gleichen Alter und einander vertraut. Als Kinder hatten sie regelmäßig zusammen gespielt und musiziert. Häufig hatte er ihren Gesang am Klavier oder mit der Bratsche begleitet. Daran dachte sie noch immer gerne zurück. Unter anderem hatte ihr das geholfen, über den Tod ihres Vaters hinwegzukommen. Kurz überlegte sie, ihn nach einem baldigen Duett zu fragen, das auch ihm vielleicht eine Ablenkung verschaffen würde, stellte dann jedoch ein anderes Thema vornan.

»Matthias lässt sich entschuldigen. Er sah sich gezwungen, der Einladung eines Professors für Philosophie zu folgen.«

»Soll er. Unbedingt.« Ludwig rang sich ein mattes Lächeln ab. »Ich weiß, wie wichtig das für ihn ist. Ich habe selten einen aufgeweckteren Geist als seinen erlebt.«

Sie nickte schmunzelnd. Dass er trotz seines Kummers seiner hohen Meinung über ihren Bruder Ausdruck verlieh, rührte sie. Die Wertschätzung beruhte auf Gegenseitigkeit. Beide jungen Männer waren auf ihre Weise von der Kunst besessen und freuten sich füreinander, auch wenn die bisherigen Erfolge eher klein ausfielen.

»Er kommt vorbei, sobald er kann.« Babette machte sich daran, so leise wie möglich das Geschirr vom Tisch aufzusammeln, um Gretchen nicht zu wecken.

Ludwig packte mit an. »Ihr müsst ja denken, wir vernachlässigen alles.«

»Aber nicht doch.« Babette lud Tassen und Besteck auf die gestapelten Teller und trug die Sachen in die Küche, wo die Magd sie entgegennahm. Anna war unterdessen zurück in den Salon gekommen, verschwand jedoch sofort wieder im Kinderzimmer, wo sie mit Nikolaus vor Gretchens Bett über deren Schlaf wachte.

»Sehr aufmerksam von euch.« Ludwig nahm den Korb, den Babette ihnen mitgebracht hatte, und trug ihn in die Küche. Wenig später kehrte er mit einem Lappen in der Hand zurück.

»Das mit Wien …«, sagte Babette hastig und unterbrach sich, als er grob mit dem Lumpen über den Tisch wischte. »Tut mir leid, dass du dein Studium abbrechen musstest.«

Er hielt in der Bewegung inne, schaute kurz zu ihr auf. Eine Mischung aus Verwunderung und Trauer spiegelte sich in seinen bernsteinfarbenen Augen. Schnaufend wandte er den Blick von ihr ab und schlug den Lappen aus. Unauffällig ballte Babette eine Hand zur Faust. Sie hätte ihn nicht daran erinnern sollen, dass er nicht nur den Tod seiner Mutter zu verarbeiten hatte, sondern auch die eingebüßte Gelegenheit, von Mozart persönlich unterrichtet zu werden. Bis vor wenigen Monaten galt er als aufgehender Stern. Als musikalischer Genius, dem eine glorreiche Zukunft prophezeit war. Babette wusste, dass er an seiner Geburtsstadt hing, er hatte jedoch stets betont, dass sie ihm zu wenig Möglichkeiten bot. Wien war die Hochburg der schönen Künste. Alles, was Rang und Namen hatte, versammelte sich dort. In der kaiserlichen Hauptstadt konnte aus einem armen Musiker wie ihm ein Maestro werden. Obwohl auch Bonn eine namhafte Stadt war, die sich damit rühmte, eine populäre Hofkapelle zu besitzen, konnte er hier sein volles Potenzial kaum entfalten. Schon jetzt war Ludwig das, was ihm Neefe bot, nicht genug. Immer öfter geriet er deswegen mit seinem Lehrer in Streit, der ihm Ungeduld vorwarf.

»Sicher wird sich dir eine neue Gelegenheit bieten«, setzte Babette in der Hoffnung hinzu, er würde es ihr nachsehen, so geradeheraus gewesen zu sein.

»Nein. Eher nicht.« Zähneknirschend knetete er den Lappen in seinen Händen. In seinen Augen erkannte Babette die Enttäuschung. Als wäre sein Traum für immer verloren. Ihn so zu sehen, schnürte ihr das Herz zu. Wie furchtbar musste er sich fühlen. Eingesperrt wie ein Vogel im Käfig, ohne einen Wald, in dem seine Stimme von allen gehört werden konnte.

»Vielen Dank für eure Freundlichkeit und den Besuch«, sagte er ein wenig ungehalten, nachdem Anna aus dem Kinderzimmer zu ihnen gekommen war. Babette starrte ihn reumütig an. Strafend biss sie sich auf die Unterlippe. Wie töricht von ihr zu glauben, ihr plumpes Gerede könne seinen Schmerz lindern. Wahrscheinlich hatte sie ihn nur schlimmer gemacht.

»Wenn ihr uns jetzt entschuldigen würdet.« Ludwig vermied es, sie beide anzusehen.

»Selbstverständlich.« Anna strich Nikolaus Trost spendend über den Schopf, dann Kaspar.

Ludwig begleitete die beiden Frauen bis zur Haustür.

»Bis bald«, sagte Babette, doch Ludwigs Miene zeigte keinerlei Regung. Höflich nickend verabschiedete er sich, dann schloss er die Tür hinter ihnen.

»Denkst du, er schafft es?« Babette wollte sich nicht anmerken lassen, wie besorgt sie um ihren alten Freund war.

Ihre Mutter wirkte nicht weniger beunruhigt. »Mitnichten«, raunte sie, die Augen auf die verschlossene Haustür geheftet. »Der Zustand seines Vaters ist alarmierend. Wir werden regelmäßig nach dem Rechten sehen müssen.«

Babette nickte. Langsam machten sie sich auf den Heimweg.

»Der Verlust ist ein harter Schlag für Louis«, sagte Anna, während sie sich bei ihrer Tochter unterhakte, die bereits einen Kopf größer war als sie. »Der arme Junge, noch keine siebzehn, muss nun die ganze Verantwortung für seine Familie tragen, seinen Vater eingeschlossen.«

Babette kniff die Lippen zusammen. Allein bei der Vorstellung, sie wäre an seiner Stelle, verkrampfte sich ihr Magen. Von jetzt auf gleich erwachsen werden, dachte sie und schmiegte sich enger an ihre Mutter, als sie die Straße entlanggingen. Vor ihnen glänzte das regennasse Kopfsteinpflaster. Ludwig hatte keine Wahl. Trotzdem fragte sie sich, ob eine solche Last nicht etwas in einem zerstörte.

»Er darf die Musik nicht aufgeben«, sagte sie melancholisch.

»Nein«, stimmte ihre Mutter ihr zu und legte ihre Hand bestärkend über Babettes. Gemeinsam spazierten sie die schlecht gepflasterten Gassen zwischen Markt und Rhein hinunter, die bei den Bombardements von 1689 stark beschädigt worden waren und noch immer auf ihre vollständige Wiederherstellung warteten. Die Häuser hingegen, so unregelmäßig in Größe und Breite, waren erneut aufgebaut worden. In diesem alten Teil der Stadt mit seinem Festungscharakter war die Armut allgegenwärtig. Babettes Mutter kam häufig mit ihr und den Geschwistern hierher. Dann verteilten sie Lebensmittel und Kleidung an die Bedürftigen. Anna hatte ihren Kindern früh beigebracht, dass es ihre Pflicht sei, für andere da zu sein. Der Blick für die Menschen, denen es weniger gut ging, bewahrte davor zu vergessen, wofür man dankbar sein sollte.

Im Vorbeigehen reichte sie einer bettelnden Frau zwei Gulden. Der Anblick des rußverschmierten Jungen an ihrer Hand ließ sie aufseufzen. Anna lächelte, als er sie ansah, und erhielt ein Lächeln von ihm zurück. Seine Mutter bedankte sich überschwänglich bei ihnen, bevor sie ihren Weg fortsetzten.

»Wie ungerecht das Leben doch ist.« Babette blickte den beiden nach. »Was könnte aus diesem Kind werden, wäre es reich geboren worden. Wenn jeder dieselben Möglichkeiten hätte …«

»Ich weiß, Bärbchen. Ich weiß.« Ihre Mutter tätschelte ihre Hand und ermutigte sie zum Weitergehen. Im Laufe der Jahre hatte sie ihrer ältesten Tochter so manche Kosenamen gegeben. Im Gegensatz zu Freunden, die Betty sagten, nannte sie sie meist liebevoll Bärbchen. Vor allem aber war sie Babette.

Sie gingen spontan weiter in Richtung Rheinviertel, wo sich ihnen ein starker Kontrast zum Norden der Stadt zeigte. Nicht nur, was die Gebäude und Straßen betraf, sondern auch die Bewohner. Anna schlug diesen Weg absichtlich ein. Nichts führte ihnen mehr vor Augen, wie groß der Graben war, der die Gesellschaft spaltete.

Die Regenwolken waren endlich weitergezogen, und eine laue, salzige Brise kam vom Rhein herauf und durchspülte die Gassen.

Unwillkürlich dachte Babette wieder an die Beethovens. Sie wusste nicht, warum sie derart mit Ludwig fühlte. War es, weil sie ihn für seinen Ehrgeiz und seine Zielstrebigkeit bewunderte? Die Inbrunst, mit der er seine Träume verfolgte? »Ich wünschte, er würde einfach weitermachen«, sagte sie, halb zu sich selbst.

Anna nickte. Sie schien zu wissen, von wem ihre Tochter sprach. »Dass Ludwig wegen der Krankheit seiner Mutter zurückgekehrt ist, zeigt, welch gutes Herz er besitzt. Kaum jemand hätte die anstrengende, zehntägige Fahrt auf sich genommen. Und Wien aufgegeben.«

Babette seufzte. Ihre Mutter hatte sich stets für Ludwig stark gemacht und seine ablehnende Haltung der Gesellschaft gegenüber verteidigt. Er war ein Freigeist und konnte nicht anders, als an jeglichem Zwang und aller Autorität Anstoß zu nehmen. Anna war einer der wenigen Menschen, die den Blick in sein Innerstes gewagt hatten. Die den Knaben sahen, der es seinem Vater immer hatte recht machen müssen.

»Wir werden Gertrud bitten, ein paar Lebensmittel zusätzlich auf dem Markt einzukaufen«, fuhr ihre Mutter fort. Es war unschwer zu merken, dass sie gedanklich bereits tief in den Plänen steckte, wie sie die Familie ihrer toten Freundin unterstützen könne.

»Ich hörte, Louis musste sich für die Reisekosten Geld leihen«, sagte sie kopfschüttelnd. »Geld, das er vielleicht nie zurückzahlen kann. Sein Vater trinkt die Familie noch in die Mittellosigkeit. Gott allein weiß, was in Johann vorgeht. Er wird seinem Sohn keine Hilfe sein. Mir ist bewusst, dass es sich nicht ziemt, so etwas zu sagen, aber …« Sie machte eine Pause, schaute sich um, ehe sie fortfuhr: »Oft ist es besser, wenn der Vater zuerst geht, nicht die Mutter.«

Babette überraschte ihre gnadenlose Ehrlichkeit nicht. Sie sprach aus, was sie dachte. Zu jeder Zeit.

»Weißt du, Maria war mir eine wertvolle Freundin«, erzählte Anna, als sie das Ufer erreichten. »Sie hatte eine klare Meinung zur Ehe. Eine Meinung, die sich in ihrem Leben in vielerlei Hinsicht widerspiegelte.«

»Was sagte sie darüber?«

Anna holte tief Luft, bevor sie Marias Worte wiederholte: »Was ist heiraten? Ein wenig Freud. Aber nachher, eine Kette von Leiden.«

»Wie trübsinnig«, flüsterte Babette.

»So ist es mit zerschmetterten Hoffnungen. Ich darf gar nicht daran denken, dass ihr Mann gerade ihre Kleider verkaufen lässt, um an Geld zu kommen. Es bricht mir das Herz, dass den Kindern nichts von ihr bleiben wird außer die Erinnerung.«

Babette schluckte schwer, sinnierend über Marias entmutigendes Eheresümee. Sie konnte nicht bestreiten, dass auch sie sich nach der Liebe sehnte. Mit ihrer Freundin Eleonore von Breuning sprach sie oft darüber, wie es wohl wäre, zu einem Mann zu gehören. Gemeinsam tauschten sie sich aus, besprachen, was sie nur aus Büchern kannten. Dabei war Eleonore eindeutig die Romantischere. Während sie es kaum erwarten konnte, eine Familie zu gründen und einen eigenen Haushalt zu führen, hatte es Babette damit überhaupt nicht eilig. Sie wusste von den tragischen Entwicklungen ehemals aussichtsreicher Verbindungen. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen ihres Alters beschäftigten sie eher Dinge wie Politik, Literatur und Wissenschaft. Anstatt zu sticken, las sie viel. So hatte Die Leiden des jungen Werther eine nachhaltige Wirkung auf ihre Sicht auf die Liebe. Von den Gästen des Zehrgartens wusste sie außerdem, dass Enttäuschungen und Eifersucht manch einen in tiefste Verzweiflung stürzen konnten. Die Gaststätte ihrer Mutter war wie ein Sieb, in dem alles hängenblieb, was in der Stadt passierte. Manchmal war ihr, als würde das Leben selbst in der Wirtsstube zugegen sein – genau wie seine Vergänglichkeit. Es wurde auf Geburten und Verlöbnisse angestoßen, gleichzeitig wurden an denselben Tischen Verluste und Trauer ertränkt. Weil Babette ihre Mutter bereits früh im Gasthaus unterstützt hatte, hatte sie es nicht vermeiden können, von Angelegenheiten zu erfahren, die über das Vorstellungsvermögen eines jungen Mädchens hinausgingen. Dazu zählten Dutzende zerschmetterte Hoffnungen und Träume. Obwohl sie sich dessen bewusst war, konnte ein Teil von ihr es dennoch nicht erwarten, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Herauszufinden, ob ihr die Liebe, auf die ihre Freundin nichts kommen ließ, zum Verhängnis werden konnte.

Der Wind jagte die Wolken vor sich her, und die Sonne kam zwischen ihnen hervor. Sie erreichten die Rheinpromenade, und Babette ließ ihren Blick über das Wasser gleiten, das in feinen Wellen ans Ufer floss. Es roch nach Algen, Salz und Erde. Der Regen der vergangenen Tage hatte den Pegel ansteigen lassen. Doch es bestand kein Grund zur Sorge. Auf Hochwasser war man am Rhein bestens vorbereitet. Man kannte die Eigenheiten des Flusses und begegnete ihm mit Respekt, Ehrfurcht und Dankbarkeit.

Ein kleines Boot tuckerte langsam hinüber zur anderen Seite, wo das Leinen der Wäscherinnen auf der großen Uferwiese im Sonnenlicht leuchtete.

»Der Sommer kommt nun endlich«, sagte Anna, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. »Du wirst sehen, es bleibt trocken, und die Sonne lässt sich nicht mehr vom Himmel verdrängen.«

Babette war es ein Rätsel, worauf die Wetterprognosen ihrer Mutter beruhten, die sie mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit unter die Leute brachte. Vielleicht bezweckte sie damit, die Menschen zu beruhigen, die dazu neigten, an dem, was sie nicht beeinflussen konnten, zu verzweifeln. Immerhin behielt sie in den meisten Fällen recht.

Zwischen zwei Bootsanlegestellen unweit des Stadtpalais kamen sie zum Stehen. Eine Schar Lachmöwen zog schreiend über den Belderbuscher Hof hinweg und ließ sich im seichten Wasser nieder.

»Nichts geht wirklich verloren. Ein Ende bedeutet auch immer einen Anfang.« Annas Blick war nun auf die bewaldete Uferregion gerichtet, wo die mit frischem Grün bewachsenen Äste uralter Bäume sich im Wind bewegten.

Sofort wusste Babette, an wen sie dachte. Die Weisheit ihres Vaters wirkte nach und begleitete auch sie in den unterschiedlichsten Momenten.

»Dein Papa kam oft hierher, um Kraft aufzutanken«, sagte Anna. »Er war überzeugt, der Rheinstrom könne uns neue Energie übertragen, wenn unsere aufgebraucht ist.«

Babette drückte bestärkend ihre Hand.

»Du und Vater … ihr wart doch glücklich, oder nicht?«, fragte sie. Sie war erst elf, als er starb. Manchmal kam ihr die Zeit, in der er noch lebte, furchtbar lange her vor.

»Das waren wir.« Annas Blick schweifte zum barocken Palais, über dem der Himmel in einem einnehmenden Blau erstrahlte. »Wir begegneten einander auf Augenhöhe, teilten Interessen und Ziele und die Liebe zu euch Kindern.«

Babette betrachtete ihre Mutter von der Seite. Sie war eine lebhafte Frau, die sich ihren Platz in einer von Männern dominierten Gesellschaft erarbeitet hatte. Augenblicke wie diese, in denen sie ihre Gefühle offen zeigte, waren selten. Obwohl ihr Vater die Familie zu früh verlassen hatte, war Babette dankbar für den Weg, den er ihnen ermöglicht hatte. Er hatte es vom einfachen Hofbottelier zu seiner eigenen Gaststätte gebracht und damit etwas hinterlassen, das stets an ihn erinnerte.

»Wenn er dich nur sehen könnte. Er wäre so stolz auf dich.«

»Na ja.« Babette senkte das Gesicht. »Ich war dir eben keine so große Hilfe.«

Anna legte den Kopf schief. »O doch. Ich habe dich mitgenommen, weil ich wusste, wie stark du bist. Und es hat Louis viel bedeutet, dass du dabei warst – auch wenn er es nicht so zeigen konnte.« Sie lächelte ihr liebes, mütterliches Lächeln. »Ich bin wahrlich mit Glück gesegnet, denn ich habe die besten Kinder, die sich eine Frau nur vorstellen kann.«

Anna legte den Arm um sie. Gemeinsam widmeten sie sich der gewellten Oberfläche des Rheins, die von einer auftauchenden Schellente durchstoßen wurde. Anschließend spazierten sie weiter am Ufer entlang durch das Michaelstor, an der Franziskaner Kirche vorbei und über die Stockenstraße zum Markt, der in die Sternstraße auslief.

Die Sonne schien auf sie herab, und Babette weigerte sich, nach Hause zu gehen. An der frischen Luft fühlte sie sich frei, die Bewegung bekam ihrem Körper gut. Sie schlug sich in ihrer schlanken Statur nieder.

»Möchtest du dir den restlichen Tag freinehmen?«, fragte Anna. Zögerlich schaute Babette ihre Mutter an. Es war abgemacht, dass sie Matthias’ Abendschicht im Zehrgarten übernahm, damit sich dieser auf sein geplantes Studium konzentrieren konnte.

»Nein.« Babette schüttelte den Kopf. »Ich denke, ein wenig Ablenkung wird mir guttun.«

Anna nickte. Sie gingen schweigend nebeneinanderher, bis zu der mit Wasserspeiern versehenen Steinpyramide, die in der Mitte des Marktplatzes stand – ein verschnörkelter Springbrunnen, den die Bürger zu Ehren des Kurfürsten Max Friedrich errichtet hatten.

»Guten Morgen, meine Liebe«, tönte es auf einmal von der Seite, und Babette erkannte Berta Ließem, eine Bekannte ihrer Mutter. Während sich die beiden unterhielten, schlenderte Babette allein umher. In Gedanken war sie bei ihrem Vater, mit dem sie die Errichtung der Marktfontaine angesehen hatte. Obwohl sie damals erst sechs Jahre alt gewesen war, erinnerte sie sich noch genau an das Spektakel. Das Aufsehen, das der Bau unter den Bonnern erregt hatte, die für die Finanzierung des Denkmals herhalten mussten, war ihr ebenso im Gedächtnis. Früher hatte sie die Worte, die auf der Seite in Deutsch und lateinischer Sprache geschrieben standen, nicht verstanden. Heute konnte sie ein leichtes Grinsen nicht zurückhalten, weil sie die Ironie darin herauslas.

»Wie ich sehe, bewunderst du Bonns akkuratestes Kunstwerk«, hörte sie eine vertraute Stimme sagen. Babette drehte sich um.

»Lieber Doktor«, begrüßte sie Crevelt entzückt.

»Du grubst Dein Denkmal selbst in unsre Herzen ein …«, las er die Lobeshymne auf dem Obelisken, und sein Blick glitt amüsiert daran hinauf. »Es hat meinen Vater ein kleines Vermögen gekostet. Er tobte vor Wut.«

»Hat der damalige Kurfürst eigentlich gewusst, was die Worte bedeuten?«

Grienend zuckte er die Schultern. »Wahrscheinlich nicht. Dafür war er viel zu selbstverliebt.«

Babette lachte, und sofort fühlte sie sich leichter. Johann Heinrich Crevelt war ein angesehener Doktor und enger Freund der Familie. Im Laufe der Jahre war er zu dem Mann geworden, der ihr und ihren Geschwistern einem Vater am nächsten kam. In Babettes Augen gab es keinen gutherzigeren und weiseren Menschen als ihn.

»Ihr wart bei den Beethovens?« Sein Blick war plötzlich ganz ernst.

Sie nickte. »Es war grausam, sie so zu sehen. Ludwig und die Kleinen.«

Er stützte sich auf seinen Spazierstock, den er mit beiden Händen hielt, und ließ ein zustimmendes Brummen hören. »Maria hielt die Familie zusammen – auf ihre Weise. Ich werde morgen wieder nach ihnen sehen.«

»Maman sorgt sich besonders um Margaretha. Sie ist so winzig.«

Er sah zu Anna, die noch immer vor dem Rathaus in ein Gespräch vertieft war, und Babette glaubte, dass sich sein Blick ein wenig auf ihr verlor. Wie so oft. Manchmal fragte sie sich, warum er sich derart um sie alle bemühte. Mitleid mit der armen Witwe war wohl kaum der Grund dafür. Ihre Mutter war nicht arm, in keiner Hinsicht. Aber sie war eine Frau, deren Selbstständigkeit auf manche anziehend wirkte. Die Menschen fühlten sich wohl in ihrer Gesellschaft und hofften, in ihrem Schatten ein wenig von der Stärke zu finden, die sie ausstrahlte.

»Wir haben uns vorgenommen, so oft es geht bei den Beethovens nach dem Rechten zu schauen«, sagte Babette. »Du weißt ja, wie Johann ist …«

Wieder stimmte er mit einem Brummen zu. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Danke!«

Er lächelte und nickte ihr zum Abschied zu. Babette sah ihm nach, wie er über den Platz ging, dann reckte sie das Gesicht der Sonne entgegen. Inzwischen war der Himmel beinahe durchgehend blau. Der Spaziergang und das Gespräch mit ihrer Mutter hatten ihr neuen Mut verliehen. Sie hoffte, dass sie mit den Jahren besser verstehen würde, was sich hinter dem Tod verbarg. Welche Pläne das Schicksal verfolgte, wenn es Kindern einen Elternteil entriss. Ihnen einen Vater hinterließ, der nicht für sie sorgen konnte. Babette beschäftigte auch das strenge Urteil ihrer Mutter, das diese über Johann verhängt hatte. Ging sie zu hart mit ihm ins Gericht? Sie kannten auch eine andere Seite von ihm. Bei gemeinsamen Ausflügen der Familien war er zumeist fröhlich und gesellig gewesen. Hatte sie das vergessen? Nachdenklich beobachtete sie ihre Mutter aus der Ferne. Es war nur verständlich, dass Anna das Erbe ihrer Freundin verteidigte und den Mann, der ihr Kummer im Leben bereitet hatte, verurteilte. Vielleicht hätte sie es an ihrer Stelle genauso getan. Mehlschwalben stießen im Sturzflug über die Dächer hinweg, um dann in einer galanten Kurve nach oben zu steigen. Ganze Kolonien von ihnen bewohnten die Stadt. Sie waren eine große Familie und blieben perfekt aufeinander abgestimmt, selbst wenn ein Vogel verstarb.

* * *

»Maman sagt, wenn du nur dasitzt, ohne zu spielen, kannst du ebenso gut mit uns Tee trinken.« Marianne machte es sich auf der Récamiere bequem. Babette drehte sich auf dem Hocker sitzend zu ihr um. Ihre Schwester betrachtete sie prüfend, dann legte sie den Kopf schief und seufzte. »Immer noch traurig wegen der Beethovens?«

Seit sie vor zwei Wochen die Familie besucht hatte, musste Babette immerzu daran denken, was sie verloren hatten. Was Ludwig verloren hatte. Ihre melancholische Stimmung zeigte sich, indem sie stundenlang am Klavier saß und auf die schwarzen und weißen Tasten starrte. Als könnten sie ihr eine Antwort darauf geben, wieso die Welt so ungerecht war.

»Du wirst sehen, es wird alles gut werden.« Marianne kam zu ihr und lächelte bestärkend.

Babettes Lippen bildeten eine Linie, sie nickte aber.

»Ich sag Maman Bescheid.« Mit ihren zwölf Jahren besaß Marianne schon eine gewisse Reife, die an eine junge Dame erinnerte. Sie hatte große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und schlug auch vom Wesen her stark nach ihr.

»Eine schöne Tasse Tee wird uns guttun.« Wie aufs Stichwort betrat Anna den Raum. Guste, die Hausdienerin und Teil der Familie Koch, trug ein Tablett herein, darauf befanden sich eine dampfende Teekanne und Tassen des feinsten Porzellans, das Babette je gesehen hatte. Unten fiel die Haustür ins Schloss. Wenig später betrat Matthias eiligen Schrittes den Salon. »Hallo«, sagte er ganz außer Atem, übergab Mantel und Hut an Guste und trat an die Sitzgruppe heran.

»Wie schön, dass du da bist, Junge!« Anna drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ach, hol uns doch bitte noch eine Tasse und das Gebäck aus der Küche«, bat sie Guste, als diese den Raum verlassen wollte.

»Ich mach schon.« Marianne sauste los.

»Ist das etwa das Meissener Porzellan?« Matthias stand über den Tisch gebeugt und stützte schockiert die Hände in die Hüften.

»Ist es«, antwortete seine Mutter stolz.

»Das kostet uns die Einkünfte eines ganzen Monats«, belehrte er sie.

»Beruhig dich, Junge.« Sie rollte die Augen. »Ich habe nicht vor, es zu behalten.«

Matthias atmete laut aus. Kopfschüttelnd sank er anschließend auf einen Stuhl.

»Ich wusste, es würde dir gefallen.« Anna war Babettes staunender Blick auf das blaue Blumenmotiv der Tassen aufgefallen.

»Das Porzellan ist traumhaft«, sagte sie.

Ihre Mutter nickte selbstgefällig, schenkte ihnen ein und reichte Babette die erste Tasse. »Heute werden wir wie bei Hofe Tee trinken. Allerdings sollten wir versuchen, nichts zu zerbrechen.«

Babette sah zu ihrem Bruder, der immer noch verständnislos dreinblickte. Sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Der Porzellanhandel, den sie neben dem Zehrgarten betrieben, hatte ihnen schon so manchen Blick auf wahre Kostbarkeiten gewährt. Babette erfreute sich an schönen und wertvollen Dingen, auch wenn ihre Mutter eine noch größere Vorliebe dafür besaß.

»Was führt dich so früh nach Hause?«, fragte Anna ihren Sohn.

»Mein blauer Mantel«, antwortete er, während er mit großer Achtsamkeit an seinem Tee nippte. »Ich esse heute Abend mit Reicha bei den Breunings.«

Anna verzog bedauernd das Gesicht. »Der ist beim Schneider.«

Matthias ließ ein Stöhnen hören.

»Wir werden schon einen Ersatz finden«, sagte sie.

»Wird Ludwig auch da sein?« Die Frage war einfach so aus Babette herausgeplatzt.

»Nun, ich denke schon.« Matthias schob seine Tasse vorsichtig in die Tischmitte. »In letzter Zeit ist er ziemlich oft da.«

»Wie geht es ihm?«, erkundigte sich Anna. Matthias war der Einzige von ihnen, der Ludwig momentan regelmäßig sah.

»Er ist verschlossen. Gibt nicht viel von sich preis. Ein Eigenbrötler wie eh und je. So kennen wir ihn ja alle.«

Babette nickte leicht. Noch immer konnte sie ihn vor sich sehen. Den Jungen, der er einst gewesen war. Wie er vor Jahren unter einem silbrig leuchtenden Mond neben seinem Fenster auf dem Dach gesessen hatte. Aus einem inneren Impuls heraus hatte sie damals, als sie mit ihrer Mutter am späten Abend aus dem Theater gekommen war, nach oben geblickt und ihn gesehen. Er hatte einfach nur dagesessen und in die Sterne geschaut – als suchte er die Nähe des Himmels.

Vieles aus Ludwigs Kindheit blieb, trotz der guten Beziehung ihrer Familien, verhüllt wie hinter einem Theatervorhang. Blaue Flecken oder eine geschwollene Lippe hatten manchmal erahnen lassen, was bei ihm zu Hause geschehen war. Besonders schlimm hatte er ausgesehen, wenn Johann nachts aus der Wirtsstube gekommen war, ihn aus dem Bett gezerrt und zum Üben gezwungen hatte. Der Alkohol hatte ihn von sämtlicher Zurückhaltung befreit. Er hatte bedenkenloser und härter zugeschlagen. Ob Ludwig sich ihm mittlerweile widersetzte?

Babette war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie nicht merkte, wie ihre Mutter einen Ersatz für den fehlenden blauen Mantel aufgetrieben hatte. Vorsichtig ließ Matthias sich von ihr in den bodenlangen grauen Gehrock helfen, ging zu dem schmalen Spiegel zwischen den Bücherregalen und glättete achtsam den Kragen.

»Er steht dir!« Babette hatte das Kleidungsstück sofort wiedererkannt.

»Dein Vater hätte gewollt, dass du ihn bekommst.« Akribisch krempelte Anna die etwas zu langen Ärmel nach innen.

»Es fühlt sich gut an, ihn zu tragen.« Matthias betrachtete sich von allen Seiten. Für einen Moment starrte sich Babette an ihrem Bruder fest, in dessen breitschultriger Statur und markanten Gesichtszügen sie ihren lieben Papa wiederfand. Matthias ähnelte ihm auf vielfältige Weise. Er war ebenso tüchtig wie freundlich und besaß wie er ein außerordentliches künstlerisches Geschick.