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Die Blumen der Vergangenheit.
Nach einer unglücklichen Ehe wagt Katy einen Neuanfang in der Blumenstadt Aberdeen. Sie betreut den demenzkranken Jeff, den es immer wieder in den kleinen Blumenladen am Meer zieht. Zusammen mit seinem Neffen Aiden hilft ihm Katy hier, inmitten der Blüten, seinen Erinnerungen nachzuspüren. Dabei stoßen sie nicht nur auf eine tragische Liebesgeschichte, sondern entdecken auch ihre Gefühle füreinander. Gibt es eine Chance für diese unerwartete Liebe, und kann sich Jeff mit seiner Vergangenheit aussöhnen, bevor es zu spät ist?
Ein wunderbar atmosphärischer Roman über eine große Liebe, die die Zeiten überdauert.
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nach einer schmerzhaften Scheidung zieht Katy gemeinsam mit ihrer Tochter ins schottische Aberdeen. Sie soll den demenzkranken Jeff betreuen, der niemanden mehr an sich heranlässt. Immer wieder verschwindet er einfach. Schließlich erfährt Katy, dass er jedes Mal einen kleinen Blumenladen aufsucht, der eine besondere Wirkung auf ihn zu haben scheint. Die Suche nach Antworten führt Katy und Jeffs Neffen Aiden tief in die Vergangenheit des Ortes, und sie erfahren von einer tragischen Liebesbeziehung, die bis heute nachwirkt. Während sie sich langsam näherkommen, gelingt es ihnen Schritt für Schritt, Jeff wieder an seine Erinnerungen heranzuführen.
Claudia Romes wurde 1984 als Kind eines belgischen Malers in Bonn geboren. Mit neun Jahren begann sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, und fasste den Entschluss, eines Tages Schriftstellerin zu werden. Nach einigen beruflichen Umwegen widmete sie sich ganz dem Schreiben und lebt heute ihren Traum. Die Autorin wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Vulkaneifel. Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Romane »Das Geheimnis der Hyazinthen«, »Beethovens Geliebte«, »Die Fabrik der süßen Dinge – Helenes Hoffnung«, »Die Fabrik der süßen Dinge – Helenes Träume« und »Das Wunder der Tannenbäume« erschienen.
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Claudia Romes
Zeit der Pfingstrosen
Eine Liebe in Schottland
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
Motto
Kapitel eins — Winter, 2016 – Katy
Kapitel zwei — Aberdeen, 1939
Kapitel drei — Katy
Kapitel Vier — Aberdeen, 1939
Kapitel Fünf — Katy
Kapitel Sechs — Aberdeen, Oktober 1939
Kapitel Sieben — Katy
Kapitel Acht — Jeff, November 1942
Kapitel Neun — Katy
Kapitel Zehn — Aberdeen, 1942
Kapitel Elf — Katy
Kapitel Zwölf — Aberdeen, April 1943
Kapitel Dreizehn — Katy
Kapitel Vierzehn — Aberdeen, April 1943
Kapitel Fünfzehn — Katy
Kapitel Sechszehn — Normandie, Mai 1944
Kapitel Siebzehn — Katy
Kapitel Achtzehn — Normandie, 1944
Kapitel Neunzehn — Katy
Kapitel Zwanzig — Frühling 1945
Kapitel Einundzwanzig — Katy
Kapitel Zweiundzwanzig — Aberdeen, 1947
Kapitel Dreiundzwanzig — Katy
Kapitel Vierundzwanzig — Aberdeen, Sommer 1969
Kapitel Fünfundzwanzig — Katy
Epilog
Impressum
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Für all jene, die sich kümmern.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Jean Paul
Winter, 2016 – Katy
Nebel umhüllte die Straße entlang des Hafenbeckens, von wo aus das Meer leise plätschernd auf sich aufmerksam machte. Hektisch kurbelte Katy das Autofenster hoch, nachdem die Scheiben nicht mehr beschlagen waren. Das Gebläse ihres alten Ford Fiesta hatte nichts als Staub und kalte Luft zutage gefördert. Wieder drosselte sie ihre Geschwindigkeit, und der Keilriemen machte sich quietschend bemerkbar. Eigentlich gehörte er längst ausgetauscht, aber der Umzug war kostspieliger gewesen als geplant. Das Geld für den dringend benötigten Werkstattbesuch hatte sie ins Umzugsunternehmen und in Mabels Leuchtsterne investiert. Letztere hatte ihre Tochter zur Bedingung gemacht. Katy hatte ihr ein Kinderzimmer versprochen, das nach ihren Wünschen gestaltet war, woraufhin sich Mabel bereiterklärt hatte, mit nach Footdee im weit entfernten Aberdeen zu ziehen. Nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätte. Mabel war erst zehn. Ihr Vater hatte kein Interesse am Sorgerecht gezeigt. Im Gegenteil. Fred hatte stets seine Arbeit in den Mittelpunkt seines Lebens gestellt und nie besonders viel Interesse für seine Tochter aufgebracht. Er hatte also nichts dagegen, dass Katy mit Mabel das Land verließ – was die Sache einfacher machte.
Grummelnd schloss Katy die Hände fester ums Lenkrad und blickte konzentriert nach vorn. Von jetzt auf gleich hatte sich der Nebel so verdichtet, dass sie kaum etwas sehen konnte. Unruhig schaute sie auf die Uhr. Zehn vor acht. Sie würden es nicht mehr pünktlich zur Schule schaffen. Und das am ersten Tag!
»Ich will da nicht hin!« Zum wiederholten Mal erinnerte Mabel sie daran, und ihr lautes Stöhnen ließ erahnen, dass sie noch nicht fertig war.
»Schätzchen, wir haben das doch besprochen.« In ihrem Versuch, den dichten Nebelschleier zu durchblicken, klebte Katy mit dem Gesicht förmlich an der Windschutzscheibe. »Es wird dir bestimmt gefallen.«
»Aber ich kenne da niemanden.«
»Das wird sich ändern. Du wirst neue Freunde finden.«
»Ich will keine neuen Freunde. Ich hab schon welche – in Sudbury.«
Katy stieß einen Seufzer aus. Die unbekannte Strecke, das Wetter, Mabels unermüdliches Geplärr. Ihre Nerven lagen jetzt schon blank, und das, obwohl sie ihre Arbeit noch nicht einmal angetreten hatte. Erst am Samstagabend waren sie in der schottischen Hafenstadt angekommen. Nach den Strapazen der vergangenen Monate, dem Kummer und den Existenzsorgen setzte Katy all ihre Hoffnungen in den Tapetenwechsel. Sie war überzeugt, eine andere Umgebung würde es ihnen erleichtern, mit den neuen Lebensumständen zurechtzukommen. In Sudbury erinnerte alles an ihre heile, kleine Familie – auch, wenn es sie nie gegeben hatte. Katy war das mittlerweile klar geworden. In ihrer Ehe hatte sie sich oft einsam und bevormundet gefühlt. Sie war nie wirklich glücklich gewesen und hatte nicht erst seit Freds Affäre das Gefühl gehabt, dass die Beziehung ihr nicht guttat. Für Mabel aber war es schwieriger, das loszulassen, was sie gewohnt war. Hinzu kam, dass der Umzug aus der englischen Heimat bisher nicht den erhofften Effekt vermuten ließ. Grund dafür waren hauptsächlich unvorhersehbare Rückschläge – Pannen, die Katys Nerven zusätzlich strapazierten und es ihr erschwerten, sich nie im Ton zu vergreifen. Immerzu rücksichtsvoll und ruhig zu bleiben. Der Transporter mit ihren Habseligkeiten steckte irgendwo zwischen Newcastle upon Tyne und Perth fest. Und obwohl Katy ihre Ankunftszeit per Mail angekündigt hatte und eine Wohnmöglichkeit im Haus ihres neuen Patienten im Arbeitsvertrag festgehalten war, hatte ihnen dort bisher niemand die Tür geöffnet. Gestern Vormittag hatten sie eine geschlagene Stunde vor dem alten Farmhaus gewartet. Auch unter der Nummer, die sie von der Arbeitsvermittlung bekommen hatte, hatte sich niemand gemeldet, so dass sie kurzfristig in einer Pension unterkommen mussten. Etwas, das in ihrem ohnehin schon ausgereizten Budget nicht eingeplant gewesen war. Inzwischen war Katy deswegen so angespannt, dass sie ständig mit den Zähnen knirschte. Von dem Abenteuer, als das sie Mabel den Neuanfang verkauft hatte, hatte sie insgeheim schon genug. Sie kam sich hilflos vor, fühlte sich in der Schwebe. Katy hatte ihrer Tochter Sicherheit und ein geregeltes Leben versprochen. Jetzt hatte sie erneut Angst, ihr nichts davon bieten zu können. Wieder einmal gab es Hürden zu überwinden. Mittlerweile war Katy daran gewöhnt, dass nicht alles glatt lief. Ein Umstand, dem sie einfach nicht entfliehen konnte.
Quietschend schlitterte der Scheibenwischer hin und her. Katy biss die Zähne aufeinander. Mabel sollte nicht merken, dass sie keine Ahnung hatte, ob sie auf dem richtigen Weg waren – in jedweder Hinsicht.
»Wieso kann ich nicht bei dir und dem alten Mann bleiben?« Mabel platzierte Mausespeck auf ihrem Schoß. Die graue Plüschmaus mit dem notdürftig angenähten Ohr war für sie als Seelentröster unentbehrlich. »Ich könnte dir doch bei der Arbeit helfen.«
»Das ist lieb, Schatz, aber das geht nicht.«
»Er macht sowieso nicht auf.« Mabel blies ihren Atem gegen die Scheibe, dann glitt ihr Finger geräuschvoll quietschend darüber.
»Natürlich macht er auf«, erwiderte Katy, auch wenn sie befürchtete, ihre Tochter könnte recht behalten. »Er oder ein Angehöriger.«
»Wenn er dich nicht reinlässt, fahren wir dann zurück nach Hause?« Mabel spähte hoffnungsvoll zwischen den Vordersitzen hindurch.
»Das geht nicht. Aberdeen ist jetzt unser Zuhause.« Katy schickte ihr einen bedauernden Blick über den Rückspiegel. »Du wirst sehen. Er wird mich reinlassen, und alles wird gut. Wahrscheinlich mussten sie gestern kurz weg.«
»Ich habe ihn gesehen. Er hat uns durchs Fenster beobachtet.«
Katy lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie schluckte.
»Der macht nicht auf. Nie im Leben.« Mabel war sich sicher. Ihre Mutter widersprach nicht, denn auch sie hatte den Mann am Fenster gesehen. Es war dumm von ihr zu glauben, Mabel wäre das entgangen. Sie war klüger als viele Erwachsene, denen sie begegnet war. Manchmal machte ihr die Tatsache Angst, dass sie ihrem Alter so weit voraus war, und sie fürchtete sich vor dem Moment, in dem Mabel klar werden würde, dass ihre Mutter auf ganzer Linie versagt hatte. Dass sie ihr Vertrauen in den Falschen gesetzt und deshalb Fehler begangen hatte, die sie mit ausbaden musste. Mit Mitte dreißig hatte Katy einsehen müssen, dass sie ihre Zukunftspläne, ihre Träume und Vorstellungen für einen Mann aufgegeben hatte, dem sie egal war. Genauso hatte es ihre Mutter vor Jahren vorhergesagt, nachdem sie ihr von ihrem Entschluss erzählt hatte, ihr Medizinstudium zugunsten der Familie abzubrechen. Damals hatte Katy nicht damit gerechnet, wie sehr sie ihre Entscheidung bereuen würde. Ihr war, als hätte sie alles an Fred abgetreten: ihr Haus, ihren Studienabschluss, ihren Selbstwert. Sie mochte ihren Job, den Kontakt zu den Patienten und das Gefühl, etwas bewirken zu können. Aber es war die Medizin, für die sie wirklich brannte, nicht die Pflege. Ohne abgeschlossenes Studium war sie nichts weiter als eine überqualifizierte Krankenschwester. Sie hing fest in einem Leben, das anders hätte verlaufen sollen – Gedanken, die sie in letzter Zeit immer wieder völlig unvorhergesehen überkamen.
»Ich will nicht auf dem hässlichen Hof wohnen.« Mabel schimpfte unermüdlich leise vor sich hin. »Und auch nicht bei diesem alten Mann. Der war gruselig.«
Katy seufzte. »Bitte mach es mir nicht so schwer. Wir sind gleich da.« Sie fühlte sich furchtbar, weil sie den Moment kaum abwarten konnte, an dem sie Mabel abgesetzt haben und endlich Stille einkehren würde. So vieles hatte sie in den vergangenen Tagen organisieren und koordinieren müssen. Eigentlich fehlte ihr die Energie, eine neue Arbeit anzugehen. Katy liebte ihre Tochter über alles, aber sie merkte, dass sie weniger Geduld mit ihr hatte als üblich. Sie bemühte sich, Rituale einzuhalten. So las sie Mabel weiterhin jeden Abend vor, sie gingen spazieren und erkundeten gemeinsam die Natur, die beide so liebten. Doch der gestrige Nachmittag, den sie am Strand verbracht hatten, hatte, trotz der einnehmenden Umgebung, nicht zur Harmonie beigetragen. Es stellte sich heraus, dass es schwerer als angenommen war, Mabel von Aberdeens Vorzügen zu überzeugen, weil sie alles mit dem kleinen Londoner Vorort verglich, in dem sie bisher aufgewachsen war. Trotzdem wollte Katy nicht aufgeben. Ihre Hoffnungen galten einem erfolgreichen ersten Tag. Der Stress würde sich legen, sobald sie endlich angekommen wären, davon war sie überzeugt. Sie an ihrem neuen Arbeitsplatz und Mabel in ihrer neuen Klasse.
Sie bogen in eine Seitenstraße ein. Auch dort hatte sich der Nebel ausgebreitet wie Wasserdampf in einer zu engen Küche. Ab und zu drang das Scheinwerferlicht entgegenkommender Fahrzeuge hindurch.
»Du willst mich nur loswerden. Genauso wie du Dad loswerden wolltest.« Mabels Stimme hatte einen weinerlichen Klang angenommen. Sie wusste genau, wie sie ihre Mutter an einem wunden Punkt erwischte. Und jetzt, da sie kurz davor waren, das Schulgebäude zu erreichen, ließ sie nichts unversucht. Katy biss erneut die Zähne aufeinander, diesmal so fest, dass ihr Kiefer schmerzte. Wie lange würde sie die Wahrheit noch vor ihrer Tochter verbergen können? Mabels Sticheleien streuten Salz in eine offene Wunde. In Momenten wie diesem konnte sich Katy nur mit Mühe davon abhalten, ihr zu sagen, wie die Dinge wirklich standen. Nicht ihre Mum war das Problem gewesen, sondern ihr Dad – der sie durch eine Assistenzärztin ersetzt hatte.
»Ich werde nicht aussteigen«, fügte Mabel nach einer Pause trotzig hinzu. »Und mir ist egal, was du sagst.«
»O doch, das wirst du«, entgegnete Katy gereizt. Sie hatte die Geduld verloren.
»Werd ich nicht«, keifte Mabel zurück.
Für den Bruchteil einer Sekunde schickte Katy ihr einen ermahnenden Blick über den Rückspiegel, doch als sie sich wieder der Straße zuwandte, war es schon zu spät. Die Silhouette einer Person tauchte auf und verschwand im Nebel. Katy bremste so abrupt, dass die Reifen schlitterten. Mabels schriller Schrei wurde von lautem Gepolter durchbrochen, das von etwas ausgelöst wurde, das im Graben neben der Straße landete. Im ersten Augenblick war Katy wie versteinert.
»Mum?« Mabels Schluchzen holte sie aus ihrer Schockstarre. Hastig und mit zitternder Hand schnallte Katy sich ab.
»Geht es dir gut?« Sie sah sich nach ihrer Tochter um. Mabel nickte knapp.
»Bleib im Auto.« Katy stieg aus.
»Hast du … jemanden totgefahren?« Mabel drückte Mausespeck fester an sich.
»Ich hoffe nicht«, murmelte Katy. Mit wild klopfendem Herzen ging sie um den Wagen herum, dann warf sie einen ängstlichen Blick auf die Fahrbahn. Nichts! Aus dem Straßengraben kam jedoch ein Stöhnen. Wenig später entstieg ein Mann dem Nebel.
»Du meine Güte! Ist Ihnen was passiert?« Katy, erleichtert darüber, dass er offenbar unverletzt war, stützte ihn.
»Mir geht’s gut«, sagte er rasch und zog sein Fahrrad aus dem Graben. »Ich konnte mich noch rechtzeitig zur Seite retten.«
»Das tut mir so leid. Ich habe Sie einfach nicht gesehen.« Der Schock saß Katy noch in den Gliedern.
»Kein Wunder bei diesem Nebel.« Er klemmte sich den Vorderreifen zwischen die Beine und begradigte seinen Lenker.
»Oh, Mann. Ich war nur kurz abgelenkt. Entschuldigung! So was ist noch nie vorgekommen. Glauben Sie mir. Für gewöhnlich bin ich eine verantwortungsvolle Autofahrerin. Das hätte nicht …«
»Bitte!« Er hob beschwichtigend eine Hand. »Ist ja keinem was passiert.«
»Sind Sie sicher?« Katy betrachtete ihn besorgt von oben bis unten.
»Ja, ja. Alles bestens.« Prüfend schwang er sich wieder auf sein Rad.
»Ich habe noch nie jemanden angefahren.« Katy fasste sich ans Herz, das zurück in seinen normalen Rhythmus finden musste.
»Irgendwann ist immer das erste Mal.« Er lächelte sie beruhigend an. »Aber Sie konnten wirklich nichts dafür. Es war wohl eher meine Schuld. Ich hätte nicht auf der Straße fahren dürfen. Nicht bei diesem Wetter.«
Halt suchend stützte Katy einen Arm auf die Motorhaube und holte tief Luft.
»Sie sind nicht von hier, oder?« Er klaubte seine blaue Mütze vom Asphalt, die er bei dem Sturz verloren hatte.
»Ist das so offensichtlich?«
»Schon irgendwie.«
»Wir sind gerade hergezogen«, erklärte Katy keuchend.
Lächelnd nickte er. »Zu dieser Jahreszeit ist es so nah am Hafen für Leute von außerhalb nicht ungefährlich. Es sind schon welche im Wasser gelandet.«
»Dasselbe gilt wohl auch für Leute von innerhalb. Besonders, wenn Sie auf Autofahrer wie mich treffen.«
Er lachte laut. »Na ja, Sie sind wohl eher auf mich getroffen.«
»Touché.«
Für einen Moment standen sie sich still gegenüber, und Katy fielen seine stechend grünen Augen auf. Er musste ungefähr ihr Alter haben.
»Mum?« Mabel reckte ihren Kopf aus dem geöffneten Autofenster. Katy zuckte erschrocken zusammen.
»Ihre Tochter?«, fragte der Mann.
»Ähm, ja. Heute ist ihr erster Tag in der neuen Schule.«
»Oh.«
»Genau. Und ihre Mutter hat es nicht geschafft, sie pünktlich abzuliefern«, murmelte Katy, wütend auf sich selbst.
»Ach, machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Die werden das in der Schule verstehen.«
Katy nickte nachdenklich, dann deutete sie auf sein lädiertes Rad. »Kann ich Sie vielleicht irgendwohin mitnehmen?«
Er warf einen kritischen Blick auf ihren Fiesta. »Nein. Danke. Ich fahre gern mit dem Rad.« Er zwinkerte ihr mit einem Auge zu, dann trat er in die Pedale. »Einen schönen Tag noch. Vielleicht sieht man sich wieder.« Er winkte Mabel im Vorbeifahren, die seinen Gruß verunsichert erwiderte.
»Ja. Vielleicht«, rief Katy unbeholfen.
Er streckte seine Hand zur Seite, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Kurz darauf verschwand er im Nebel. Katy sprang zurück ins Auto.
»Der war aber nett.« Sie schmiss den Motor an.
»Zum Glück hast du ihn nicht totgefahren.«
Wie wahr, dachte Katy und nickte mit zusammengepressten Lippen. Eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung fehlte noch auf ihrer Wie-vermassle-ich-mein-Leben-richtig-Liste.
Mit einer halben Stunde Verspätung erreichten sie schließlich die Schule. Katy übergab Mabel ihrer neuen Lehrerin Mrs Stoga, die einen freundlichen Eindruck machte.
Als Katy anschließend zum Haus ihres Patienten fuhr, war der Nebel dabei, sich zu lichten. Die Sonne kam zum Vorschein. Sie brachte den feinen Schnee am Straßenrand zum Glitzern. Der Anblick hatte eine unerwartet beruhigende Wirkung auf sie, die ihr dabei half, die Geschehnisse der abenteuerlichen morgendlichen Autofahrt zu verarbeiten.
Ohne zu wissen warum, überkam sie neuer Mut, sobald sie ihren Arbeitsplatz erreicht hatte. Tatkräftig richtete sie ihre Kleidung und verstaute die goldene Uhr ihres Großvaters in ihrer Hosentasche. Sie war das Einzige, das von seinem Erbe übrig war. Seine Pflegekosten hatten am Ende alles andere aufgezehrt. Mit den Jahren war sie zu ihrem Glücksbringer geworden, und dank des prägnanten Sekundenzeigers auch zu einem verlässlichen Arbeitsgerät. Eine bessere Schwesternuhr zum Pulsmessen konnte es nicht geben. Sie begleitete sie überallhin.
Noch einmal nahm sie einen tiefen Atemzug. Die eisige Luft erfrischte ihren Geist und vertrieb die letzten Gedanken an den turbulenten Morgen. Entschlossen klingelte sie. Während sie darauf wartete, dass ihr geöffnet wurde, ließ sie ihren Blick umherwandern. Im dichten Efeu, der zu einer Seite die Hauswand bedeckte, tummelten sich zwitschernd Spatzen. Ein Schaukelstuhl stand unter dem Vordach, daneben war ein Fahrrad gegen die Wand gelehnt. Stirnrunzelnd musterte sie den eingedellten Vorderreifen und die markanten roten Lederbänder, mit denen die Lenkradgriffe umwickelt waren. Ehe sie sich fragen konnte, wie das alles zusammenpasste, öffnete jemand die Tür.
»Guten Mor …« Katy geriet ins Stocken. Ihr Herzschlag setzte für eine Sekunde aus, denn vor ihr stand der Mann, den sie mit dem Auto erwischt hatte. Perplex schaute sie ihn an. Sie hatte nicht erwartet, ihn so schnell wiederzusehen, und erst recht nicht hier. Peinlich berührt senkte sie den Blick.
»Mrs … McConnell? Sie … sind also die … Krankenschwester.« Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
»Ja. Überraschung.« Katy versuchte sich an einem Lächeln, aber ihre Augen spielten dabei nicht mit. »Ich hatte keine Ahnung, dass Sie … na ja …« Sie schnalzte nervös mit der Zunge. »Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht enttäuscht.«
»Enttäuscht?« Er hob die Brauen. »Nein, wieso denn?« Wohlwollend hielt er ihr seine Hand hin. »Wir sind froh, dass Sie da sind. Ich bin Aiden. Mr Craigs Neffe. Eigentlich sein Großneffe. Meine Mutter ist die Tochter von Mr Craigs Bruder. Etwas kompliziert also. Außerdem, wissen Sie … auf solche Kleinigkeiten legt hier keiner Wert. Verwandt ist verwandt, wie mein Onkel immer so schön sagt.«
»Ich verstehe, Mr Craig.« Zögernd schüttelte Katy ihm die Hand.
»Oh, bitte … nennen Sie mich einfach Aiden.«
»In Ordnung. Aiden. Dann … ich bin einfach nur Katy.« Sie lächelte leicht, und er tat es ihr augenblicklich nach. Kurz standen sie still beieinander, ehe Aiden langsam seine Hand aus ihrer löste und sie hineinbat.
»Also gut. Einfach nur Katy. Wir … hatten dich, oder besser gesagt euch, schon gestern Abend erwartet.« Er schloss die Tür hinter ihr.
»Ja, nun … Ms Abisi von der Arbeitsvermittlung hatte mir den ersten Februar genannt. Und ich war hier, nur leider hat mir niemand geöffnet.«
»Tatsächlich?«
Sie nickte mürrisch.
»Oh! Dann muss ich mich wohl entschuldigen. Es gab da anscheinend ein kleines Kommunikationsproblem zwischen meinem Onkel und mir. Ich war nur kurz weg. Ich nehme an, es war genau dann …«
»Schon gut. Das macht nichts.« Katy bemühte sich um ein Lächeln. Aiden musterte sie skeptisch, als spürte er, dass es eine höfliche Lüge war.
»Wo seid ihr jetzt untergebracht?«
»Im Holy Stone.«
»Puh. Gut, dass ihr so kurzfristig ein Zimmer bekommen habt. Und … entschuldige bitte nochmals, dass ich nicht da war. Mein Onkel tut sich etwas schwer mit Menschen, die er nicht kennt.«
»Schon okay.« Sie winkte verständnisvoll ab.
»Ich fürchte, ich muss dich vorwarnen«, sagte er in gedämpfter Lautstärke. »Mein Onkel ist kein einfacher Mensch. Du bist schon die dritte Pflegerin.«
»So was sagte mir Ms Abisi bereits. Aber ich bin sicher, wir werden gut miteinander auskommen.«
»Äh, ja«, raunte er zaghaft.
Katy ließ aufmerksam ihren Blick schweifen. Ein rostroter Teppichboden lag über knarzenden Dielen. Dunkle Eichenmöbel ließen den Flur schmaler wirken, als er eigentlich war. Aiden sah die ungeöffneten Briefe durch, die auf der Kommode neben der Haustür lagen. Daneben führte eine Treppe ins Obergeschoß, dessen hellblaue Farbe abgeblättert war. Das alte Haus hatte einige Renovierungsarbeiten nötig, aber es versprühte einen gewissen Charme, dem sich Katy nicht entziehen konnte. Und sie kam nicht umhin, sich zu fragen, wie es früher einmal ausgesehen hatte.
»Hast du deine Tochter noch pünktlich in der Schule abgeliefert?« Aiden riss sie aus tiefen Gedanken.
»Ja … Das … das habe ich.«
»Sie hat nicht besonders fröhlich ausgesehen. Sicher hatte sie Angst«, sagte er und hob einen Mundwinkel leicht an.
Katy seufzte bitter. »Nun ja. Tatsächlich hat sie sich ziemlich gegen den Schulbesuch gewehrt.«
»Irgendwo neu anzufangen ist nie leicht und kostet immer Überwindung.« Kurz verlor sich sein Blick ins Leere, dann fixierte er sie und lächelte aufbauend. »Und das hat absolut nichts mit dem Alter zu tun.«
Katy schaute weg. Wirkte sie auf ihn etwa … nervös? Das war sie nicht. Höchstens ein bisschen.
»Soll ich euch mit euren Sachen helfen?«, fragte er.
»Wie?«
»Ihr habt doch sicher Gepäck. Du und …«
»Mabel«, half sie ihm. »Meine Tochter heißt Mabel.«
Wieder lächelte er. »Wenn du möchtest, helfe ich euch beim Tragen. Das wäre kein Problem.«
»Danke, aber das meiste befindet sich noch auf dem Weg von London hierher. Die Umzugsfirma ruft mich an, sobald sie wissen, wann sie hier sein werden.«
»London«, wiederholte er grübelnd. »Dann seid ihr ganz schön weit weg von zu Hause.«
Sie nickte stoisch. Aiden musterte sie für einen Moment, als wartete er darauf, dass sie ihm den Grund nannte, der sie aus der englischen Hauptstadt in den schottischen Norden gebracht hatte. Doch Katy blieb reserviert. Sie würde nicht über die Vergangenheit sprechen, aus Angst, es würde sie davon abhalten, nach vorne zu schauen.
Ein kehliges Husten durchschnitt ihre Gedankengänge. Auf einmal nahm sie penetranten Tabakgeruch wahr. Dort, wo der Flur endete, hing eine blaue Schwade in der Luft. Katy rümpfte unwillkürlich die Nase.
»Tja, ich bin auch kein Fan.« Aiden machte eine einladende Handbewegung Richtung Wohnzimmer. »Aber wie soll man einem sturen fast Hundertjährigen sagen, er soll mit dem Rauchen aufhören? Nur so viel: Er hält ziemlich gute Gegenargumente bereit.«
Er ging auf den alten Mann zu, der in einem Ohrensessel vor dem Kamin saß, eine dampfende Pfeife im Mundwinkel. Auf seinem Schoß lag, zusammengerollt, eine Katze, der er wie in Trance das strubbelige rote Fell kraulte.
»Onkel Jeff? Ich möchte dir jemanden vorstellen.«
Der Mann hob den Kopf und betrachtete Katy mit schmalen Augen.
»Sie wird von jetzt an für dich da sein.«
»Hallo, Mr Craig.« Katy beugte sich zu ihm hinunter und stellte sich ihm vor. Demonstrativ blickte er an ihr vorbei zu seinem Neffen. »Wie viele willst du eigentlich noch anschleppen?«
»Onkel, bitte sei nett.« Aiden schickte Katy einen beschämten Blick.
»Ich bin sicher, wir werden gut zurechtkommen«, sagte sie.
»Ich nicht.« Mr Craig blies ihr seinen Tabakrauch entgegen. Hüstelnd wedelte Katy mit einer Hand vor ihrem Gesicht.
»Benimm dich, Onkel!«, ermahnte Aiden ihn nachdrücklicher.
»Sonst was?« Mr Craig sah sich nach seinem Neffen um. »Klaust du mir wieder meine Schokolade?«
Aiden fasste sich an die Stirn und schnaufte.
»Ich habe dir deine Schokolade nicht gestohlen«, entgegnete er ruhig.
»Sag Beth, sie soll mir welche bringen.«
Schlagartig wurde Aidens Miene ernst. Für kurze Zeit starrte er schweigend vor sich hin.
»Junge?« Mr Craig klang ungehalten.
Aiden reagierte verzögert auf ihn. »Ich bringe dir die Schokolade.«
»Was ist mit Beth? Wann kommt sie endlich?«
Aiden tätschelte seine Schulter, ohne auf seine Frage zu antworten, dann wandte er sich an Katy. »Am besten zeige ich dir jetzt, wo ihr schlaft.«
Katy nickte knapp und folgte Aiden über den Flur.
»Er hat gute und weniger gute Tage«, erklärte er ihr, während sie die Treppe hochgingen. »Heute ist … kein so guter Tag. Es ist ein Auf und Ab mit ihm.«
Katy nickte erneut. »So was kenne ich. Zuletzt habe ich in einem Heim für Demenzkranke gearbeitet.«
»Dann weißt du ja, was auf dich zukommen kann.« Im oberen Stockwerk angekommen, hielt er inne.
»Ich bin ziemlich sicher, dass mich so leicht nichts mehr überrascht«, antwortete Katy.
»Hm«, machte er, und kurz bildeten seine Lippen eine schmale Linie. Sorgte er sich etwa? Um sie? Katy dachte darüber nach, ihn darauf anzusprechen, ließ jedoch davon ab. Immerhin, so dachte sie, waren seine Zweifel durchaus begründet. Ms Abisi hatte ihr erzählt, dass sich sonst niemand auf die Stelle bei Mr Craig beworben hatte – trotz übertariflicher Bezahlung. Aber … sie war nicht wie die anderen. Sie würde nicht das Handtuch werfen, nur weil es mal schwierig werden konnte. Katy hatte den wahrscheinlich besten Grund, um zu arbeiten. Ihre Gedanken verselbstständigten sich, schweiften ab zu Mabel. Wie es ihr wohl jetzt in der Schule ging? Für einen Moment verlor sie sich derart in dieser Frage, dass sie es verpasste, zu Aiden aufzuschließen, der bereits am anderen Ende des Flurs war.
»Mir liegt viel an diesem alten Griesgram da unten«, sagte er, schaute sich nach ihr um und wirkte kurz irritiert, als sie auf ihn zugeeilt kam. Katy lächelte entschuldigend. Er räusperte sich. »Ich vermute, nach dieser sympathischen ersten Begegnung gerade wird das wahrscheinlich nicht ganz nachvollziehbar sein.«
»Nun ja, es ist völlig normal, dass Menschen mit diesem Krankheitsbild Fremden gegenüber misstrauisch sind.«
»Ja.« Er seufzte, fuhr sich durchs Haar. »Inzwischen scheint dieses Misstrauen jedoch ein Teil von ihm geworden zu sein. Die übrige Verwandtschaft versteht ihn nicht. Freunde, die er hatte, sind mittlerweile gestorben. Irgendwie ist nur noch er übrig. Ich hatte immer einen guten Draht zu ihm, deshalb war es für mich selbstverständlich, mich um ihn zu kümmern – jetzt, da er jemanden braucht. Ich fühle mich verantwortlich. Ich … würde ihn auch komplett allein versorgen, aber … ich muss arbeiten.« Bedauern lag in seinem Blick, als er über seinen Onkel sprach.
»Du wohnst also selbst nicht hier?«
»Nur zeitweise. Ich habe ein Apartment am Hafen. Das erleichtert mir die Arbeitszeiten. Manchmal fahre ich noch in der Nacht mit dem Boot aufs Meer«, erklärte er.
Katy folgte ihm in ein Schlafzimmer. Ein breites Futonbett stand zwischen zwei Sprossenfenstern, durch die das warme Licht der Morgensonne drang. Aufmerksam schaute sie sich um. Die Einrichtung war ein wenig altbacken. Aber die hohe Decke und die holzvertäfelten, weiß gestrichenen Wände strahlten Gemütlichkeit aus.
»Wir können gerne noch etwas ändern, wenn ihr das wollt.« Aiden öffnete die Tür zum angrenzenden Raum, und Katy warf einen Blick hinein. Sofort stach ihr die rosafarbene Tapete ins Auge. Verwundert hob sie die Brauen, denn das Zimmer wirkte frisch renoviert.
»Das war mal ein Abstellraum.« Aiden ging hinein und blieb vor dem weißen Himmelbett stehen. Katy besah sich die blass lilafarbene Bettwäsche und die dazu passenden Kissen in Herzform, die liebevoll darauf drapiert waren.
»Als ich gehört habe, dass die neue Pflegekraft mit ihrer kleinen Tochter einziehen würde, haben wir es ein wenig verschönert«, sagte er. »Ich hoffe, es gefällt euch.«
Gedankenverloren betrachtete Katy auch die sorgfältig ausgesuchten Spitzengardinen.
»Ich denke, Mabel wird es lieben.«
Aiden lächelte erleichtert.
»Und … das alles hast du ausgesucht?«, fragte sie nach einer Pause.
»Na ja, nicht ganz.« Er zeigte ihr auch das Bad im Obergeschoss, das sie zu ihrer alleinigen Verfügung hatten. »Ich hatte fachkundige Unterstützung.« Er grinste. »Von der wichtigsten Frau in meinem Leben.«
»Ach so.« Katy lächelte dünn. »Dann habt ihr, du und deine Frau, auch Kinder?«
»Oh, nein.« Er schüttelte vehement den Kopf. »Ich bin nicht verheiratet.«
Katy legte ihre Stirn in Falten. »Ich dachte nur, weil …«
»Da habe ich mich missverständlich ausgedrückt. Es war meine Mutter, die die Möbel und das alles ausgewählt hat.« Er kehrte auf den Flur zurück und versenkte seine Hände in den Hosentaschen.
Katy konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Wie charmant, dass er seine Mutter die wichtigste Frau in seinem Leben nannte.
»Das Obergeschoss ist dann jetzt euer Reich«, sagte er und kehrte mit ihr nach unten zurück. »Treppen machen meinem Onkel zu schaffen, deshalb haben wir sein Schlafzimmer schon vor Jahren nach unten verlegt.«
Nachdem er Katy den Rest des Hauses gezeigt hatte, machte er sie mit dem Tagesablauf vertraut. Meist begann Mr Craigs Tag um sieben Uhr am Morgen. Für sie hieß es dann Tabletten richten, gegebenenfalls mörsern, Blutzuckerkontrolle … Je nach Wert kam das Frühstück noch vor der Morgentoilette. Katy hörte ihm aufmerksam zu. Nichts von alledem konnte sie beeindrucken, erst recht nicht verschrecken. Doch sie merkte Aiden an, dass es für ihn durchaus manchmal stressig war.
»Seit die letzte Pflegekraft aufgehört hat, habe ich meinen Onkel allein versorgt. Ich würde gern mehr für ihn tun, aber …«
»Das verstehe ich. Er ist bei mir in guten Händen«, sagte Katy.
Er nickte dankbar. »Am Kühlschrank hängt die Nummer seines Hausarztes. Eigentlich hat er einmal im Monat einen festen Termin, sie ist also … nur für den Notfall.« Seine Erleichterung darüber, dass sie nun da war und ihm die Pflege abnehmen würde, schwang deutlich in seiner Stimme mit. Trotzdem spürte Katy auch ein wenig Angst bei ihm.
»Wie gesagt, ich bin sicher, wir kommen gut zurecht«, wiederholte sie deshalb. Sie glaubte, er brauchte diese erneute Zusicherung. Aiden nickte mit einem leichten Lächeln, dann ging er zu dem Teil über, der sie, neben der Pflege, betraf. Ein Haustürschlüssel lag für sie neben dem Telefon bereit. Sonntags war ihr freier Tag. Außerdem hatte sie an zwei Wochentagen die Nachmittage für sich und ihre Tochter, an denen Mr Craig beim Seniorentreffen oder mit Aiden unterwegs war. Alles schien durchorganisiert zu sein. Katy war sicher: Das würde ihr den Einstieg erleichtern.
»Ich muss jetzt zur Arbeit.« Im Flur schlüpfte Aiden in seine Jacke und stülpte sich die Mütze über den Kopf.
Katy bemerkte das blaue Logo der örtlichen Fischerei darauf. »Dann geht es für dich heute noch aufs Meer?«
Zögerlich sah er an sich hinunter. »Für mich nicht, nein. Aber die Barsche sind zurück. Da gibt es meist viel zu tun. Mit etwas Glück sind sie meinen Kollegen heute Morgen schon zahlreich ins Netz gegangen.«
»Dann drücke ich die Daumen.«
Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Vielen Dank! Alles Wesentliche habe ich aufgeschrieben. Der Zettel hängt ebenfalls am Kühlschrank. Aber … für den Fall, dass etwas sein sollte …« Er kritzelte auf einen Notizblock. »Das hier ist meine Handynummer. Ich gehe allerdings davon aus, dass du mich nicht brauchen wirst. Vormittags ist er immer eher träge.«
»Kein Problem.« Katy fühlte sich gut. Sie würde alles im Griff haben. Aiden kehrte noch einmal ins Wohnzimmer zurück. Er trat an seinen Onkel heran, ging vor ihm in die Hocke und schaute ihm direkt ins Gesicht. »Ich muss jetzt los.«
Der alte Mann streckte seine Hand nach ihm aus. Aiden umfasste sie. »Heute Mittag komme ich und esse mit dir. Solange wird sich Katy um dich kümmern, wenn du was brauchst.«
Mr Craigs Augen verengten sich. »Ich brauche nichts«, knurrte er, die Pfeife noch im Mund.
»Natürlich nicht.« Aiden richtete sich auf. »Er nimmt nicht gerne Hilfe an«, erklärte er Katy mit gesenkter Stimme auf dem Weg hinaus.
Sie begleitete ihn zur Tür. Bevor er ging, drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Und sag mir ruhig, wenn er dir Ärger macht.«
»Mach dir keine Gedanken. Ich kriege das hin.« Katy setzte ein beruhigendes Lächeln auf.
Aiden presste nickend die Lippen aufeinander. Es war ihm anzusehen, dass er sich sorgte. Aber um wen? Um seinen Onkel oder um sie? Noch konnte sie nicht ganz fassen, dass ihr Arbeitgeber derselbe Mann war, den sie zuvor mit dem Auto angefahren hatte. Katy hatte jemand vollkommen anderes erwartete: älter und unattraktiver. Aiden hingegen wirkte schon fast zu perfekt, um wahr zu sein.
Aberdeen, 1939
Der Himmel war fast durchgängig blau, und die Sonne brachte das Wasser im Hafen zum Funkeln. Jeff stand am Upper Dock. Wie gebannt beobachtete er ein Fischerboot, das hinter dem Wellengang seine Netze einholte. Umschwirrt von laut kreischenden Möwen trieb es mit einer einnehmenden Friedlichkeit auf dem Meer. Jeff war so sehr davon fasziniert, dass er zunächst nicht merkte, dass sein Freund Hamish neben ihn getreten war.
»Woran denkst du schon wieder?« Hamish stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.
»An gar nichts«, beteuerte Jeff. »Das Meer ist heute nur ziemlich ruhig.«
Hamish stützte sich gegen das Geländer an der Hafenmauer und zog ausgiebig an seiner Zigarette, dabei folgte er dem Blick seines Freundes auf die offene See. »Verdammt ruhig. Ohne Strömung keine Fische.« Missmutig strich er sich seine grüne Gummischürze glatt, die ihm bis zu den Knien reichte.
»Sie werden kommen«, sagte Jeff. »Sobald sich das Wetter ändert.«
»Na, das hoffe ich. Momentan ist es echt mau.« Hamish schnippte seine Zigarette weg. Wie jeden Morgen war er bereits vor Sonnenaufgang mit seinem Vater aufs Meer hinausgefahren, um Heringe und Makrelen zu fischen. Manchmal begleitete Jeff die beiden – wenn es die Aufgaben auf dem Hof seiner Familie zuließen.
»Fahrt ihr in der Dämmerung wieder raus?«, fragte Jeff.
Hamish nickte knapp. »Wir müssen. Das, was wir bisher rausgeholt haben, lohnt sich kaum auf dem Markt anzubieten.«
Seit über drei Wochen war es ungewöhnlich warm und trocken, außerdem ging kaum Wind. Für Fischer und Landwirte ein Umstand, der nicht zu lange andauern durfte. Für den Jahrmarkt hingegen, der anlässlich des Early May Days am Aberdeen Beach Station machte, schaffte das Wetter beste Bedingungen. In den vergangenen Tagen hatte sich Jeff etwas Geld dazuverdient, indem er den Schaustellern beim Aufbau der Fahrgeschäfte und Buden geholfen hatte. Genau wie Hamish hatte er schon mit zwölf angefangen, sein Taschengeld mit Gelegenheitsjobs aufzubessern. In diesem Jahr war Hamish mit der Fischerei jedoch zu sehr beschäftigt gewesen. Seit sein älterer Bruder Colin der Royal Airforce angehörte, war er für seinen Vater unentbehrlich. Deshalb hatte er eigene Pläne zurückgestellt. Seit einigen Jahren sprach er davon, für eine Weile auf die Orkney-Inseln zu gehen, wo sein Cousin eine Fischerei mit mehreren Schiffen besaß.
»Was ist mit morgen Abend?« Jeff betrachtete ihn von der Seite. »Musst du da nicht auch …?«
»Morgen Abend arbeite ich nicht«, antwortete Hamish entschieden. »Da habe ich offiziell Ausgang.« Er wandte sich der Promenade zu, an der gerade zwei junge Frauen entlangspazierten. »Und ich denke, ich weiß schon, wie ich den nutzen werde.« Erneut stieß Hamish Jeff an, der sich daraufhin langsam umdrehte.
»Guten Morgen, Ladys«, begrüßte Hamish die Frauen.
»Guten Morgen, Hamish«, antworteten sie wie aus einem Mund, bevor sie kichernd weiterzogen.
»Ich sag’s dir, mein Freund«, Hamish starrte den Damen verzückt nach, »morgen Nacht ist die Nacht, in der Martha Broderick in meinen Armen liegen wird.«
Jeff lachte spöttisch. »Na, wenn du das sagst.«
»Wir können ja wetten.«
»Nein. Lieber nicht.« Zu oft hatte er gegen Hamish bereits verloren. Dieser machte kein Geheimnis daraus, dass er für die Tochter des Studienrates schwärmte. Obwohl er in der Stadt ein begehrter Junggeselle war, schien die Tatsache an ihm zu nagen, dass er Martha bisher nicht hatte erobern können. Doch Hamish wäre nicht Hamish, wenn er nicht hartnäckig weiter versuchen würde, bei ihr zu landen. Martha bog mit ihrer Freundin Connie Sampson um die Ecke, und Hamish grinste überheblich. »Zur Hälfte ist sie schon in mich verliebt.«
Jeff klopfte ihm auf die Schulter. »Dann kann ja nicht mehr viel schiefgehen.« Er versenkte die Hände in seine Hosentaschen und schlenderte den South Square hinauf.
Hamish holte ihn ein. »Diese Connie, die wäre doch was für dich.«
»Eher nicht. Nein.«
»Ach, komm schon. Du musst sie beschäftigen, damit ich mit Martha … na, du weißt schon.«
»Du meinst, falls du es schaffen solltest, dass sie …«
»Hallo?« Hamish tat bestürzt. »Du hast das doch gerade miterlebt. Sie hat mich förmlich mit ihren Blicken ausgezogen.«
Jeff unterdrückte einen Lachanfall. »Das hat sie nicht. Tut mir leid, dir das sagen zu müssen.« Wie immer war es seine Aufgabe, ihn auf den Boden zurückzuholen. Die beiden waren seit frühen Kindertagen eng befreundet. Während Jeff eher introvertiert war, mangelte es Hamish nicht an Selbstbewusstsein. Er war ein Hitzkopf, impulsiv und überaus von sich überzeugt – was ein Grund dafür war, dass sich Jeff schon mehr als einmal in eine Schlägerei hatte einmischen müssen, um ihm die Haut zu retten. Eine Tatsache, die Jeffs Vater Angus überhaupt nicht gefiel, weil er befürchtete, Hamishs Unbeherrschtheit könnte auf seinen Sohn abfärben. Für Jeff aber gab es keinen besseren Mann an seiner Seite. Er war froh, einen Freund wie Hamish zu haben, und er würde ihn notfalls gegen die ganze Welt verteidigen. Er wusste, Hamish würde genau dasselbe auch für ihn tun.
»Warte kurz.« Hamish huschte in die Bäckerei, die sich zu Beginn einer engen Kopfsteinpflastergasse befand. Als er wenig später wiederkam, hielt er zwei Bannocks in der Hand.
»Sind noch warm.« Begeistert reichte er Jeff eines der kleinen Fladenbrote. »Oh, ich hab die Marmelade vergessen. Das Wichtigste!« Er sauste zurück in den Laden. Kopfschüttelnd ging Jeff bis zur Mitte der Straße, wo er abrupt stehen blieb. Ein Kleinbus parkte vor einem leer stehenden Geschäft. Dutzende Kisten standen neben dem Eingang. Ein lautes Poltern drang aus dem Innern des Lasters, auf dessen Ladefläche eine junge Frau erschien. Ihre schulterlangen blonden Locken waren mit einem weißen Haarband gebändigt, das in der Sonne leuchtete. Sie trug eine Kiste, aus der aufgestapelte Blumentöpfe herausragten.
»Ich nehme die für Sie«, schoss es aus Jeff heraus.
Die Frau blickte ihn überrascht über den Rand der Töpfe hinweg an und lächelte. »Oh, das wäre sehr nett.«
Jeff nahm ihr die Kiste ab, unter deren Gewicht er leicht einknickte. Die Frau hielt ihm die Ladentür auf.
»Ziemlich schwer, nicht?« Sie schnaufte durch.
»Überhaupt nicht.« Sein angehaltener Atem überdeckte seine Lüge nur zum Teil. Tatsächlich wog die Kiste um einiges mehr, als er vermutet hatte. Noch dazu war sie schrecklich unhandlich. Ihr gesamtes Gewicht lag einzig auf seinen Unterarmen.
»Bitte, stellen Sie sie hier hin.« Sie deutete auf einen schmalen Tisch. Vorsichtig setzte Jeff die Kiste ab, dann hielt er inne und sah die junge Frau durchdringend an. Mit einem Mal wurde ihm ganz warm. Jemanden wie sie hatte er noch nie gesehen. Ihre Augen hatten die Farbe von Bernstein und waren von dichten dunklen Wimpern umrahmt, ihre Haut war makellos wie die einer Porzellanpuppe. Sie besaß eine so einnehmende Ausstrahlung, dass er nicht anders konnte, als sie unverhohlen anzustarren. Er war wie verzaubert.
»Danke.« Sie lächelte ihn an, und er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.
»Sie … ziehen … hier ein?« Jeff war von einer merkwürdigen Vorfreude getrieben.
»Ja, meine Eltern haben das Haus vor Kurzem gekauft. Wir eröffnen hier einen Blumenladen.«
Erstaunt hob er die Brauen. »Großartig, das ist … großartig.« Er fuhr sich nervös durchs Haar. »Ich meine, es ist schön, dass hier wieder ein Geschäft eröffnet wird. Das freut mich.«
»Ach ja?«
»Absolut. Oft bin ich an dem Haus vorbeigekommen und war traurig, dass sich niemand darum kümmert. Es ist ein so … schönes altes Haus.«
Einen Augenblick lang standen sie sich lächelnd gegenüber.
»Roslyn, kommst du mal?« Ein älterer Mann stieg die schmiedeeiserne Wendeltreppe hinunter, die in den Geschäftsraum führte, und die junge Frau riss sich von ihrem Bewunderer los.
»Sofort, Dad!«
»Kann ich euch noch irgendwie helfen?«, fragte Jeff, in der Hoffnung, seine Begegnung mit ihr in die Länge ziehen zu können.
Unentschlossen zwirbelte sie eine Haarsträhne um ihre Finger, als ihr Vater zu ihnen stieß.
»Wer ist das?« Er musterte Jeff mit skeptischer Miene.
»Nur jemand, der mir netterweise mit einer Kiste geholfen hat.« Ihr Blick ging zurück zu Jeff, der ihr erneut ein Lächeln entlockte.
»Verzeihen Sie, Sir.« Er reichte ihrem Vater die Hand. »Mein Name ist Jeff. Jefferson eigentlich. Jefferson Craig. Ich bin zufällig hier vorbeigekommen.«
»Tom Hazard.« Zögerlich und immer noch skeptisch schüttelte er Jeffs Hand. »Meryl, kommst du mal bitte?«
»Herrje, ich hoffe, das Porzellan hat die Fahrt hierher überstanden.« Eine Frau stieg die Stufen hinunter. Ihre Frisur wurde, wie die von Roslyn, von einem Band gehalten. Auch ihr Haar glich ihrem, jedoch war es von silbrig-weißen Strähnen durchzogen.
»Oh, wir haben Besuch?« Sie stellte sich neben Tom und schaute abwechselnd zu Roslyn und zu Jeff. Dieser zögerte nicht, sich auch ihr vorzustellen. »Hallo, ich bin Jeff.«
»Sehr erfreut, Jeff!« Anders als ihr Mann zeigte sich Meryl Hazard aufgeschlossen ihm gegenüber. Was ihn ermunterte, seine Hilfe erneut anzubieten.
»Es liegt wohl noch eine Menge Arbeit vor Ihnen. Wenn Sie möchten, packe ich mit an.«
»Nicht notwen …«
Meryl unterbrach ihren Mann sogleich mit einer flinken Handbewegung und bedachte ihn mit einem ermahnenden Blick. »Das wäre wirklich ausgesprochen hilfreich. Wir können tatsächlich etwas Unterstützung gebrauchen. Ist doch so, Tom?« Sie wandte sich erneut an ihren Mann, der hinnehmend grummelte.
»Wunderbar!« Sofort flitzte Jeff hinaus und machte sich daran, die restlichen Kisten von der Ladefläche zu heben.
»Verrätst du mir, was du da machst?«, hörte er Hamish plötzlich hinter sich. Fast hatte er ihn vergessen.
Seelenruhig schleppte Jeff einen Karton an ihm vorbei. »Wonach sieht’s denn aus? Ich bin Umzugshelfer.«
»Das sehe ich.« Hamish stopfte sich den Rest seines Bannocks in den Mund. »Aber warum zum Geier machst du das?« Er leckte sich die Marmelade von den Fingern.
Jeff blieb bei ihm stehen. »Darum.« Er wies auf Roslyn, die drinnen auf einer Trittleiter stand und das Schaufenster von dem restlichen Zeitungspapier befreite, mit dem es verklebt worden war.
»Aye. Ein Volltreffer!« Hamish nickte anerkennend. »Was weißt du über sie?«
»Noch nicht viel. Aber das muss ich ändern.«
Hamish ließ einen langen falschen Seufzer hören. »Na, wenn das so ist …« Er krempelte sich die Hemdsärmel hoch und packte mit an.
Als die Sonne am nächsten Abend über dem Meer unterging und sich der Platz am Hafen füllte, hatte Jeff nur ein Ziel: Er musste Roslyn wiedersehen. Während Hamish für Martha mit dem Luftgewehr Rosen schoss, schaute er sich suchend nach ihr um. Zum wiederholten Mal manövrierte er sich durch die Menge, die sich vor ihm zu teilen schien. Jeff klopfte das Herz bis zum Hals, denn dort, vor dem Zuckerwattestand, war sie. In einem leuchtend gelben Kleid strahlte sie mit den Sternen um die Wette, die sich gerade erst am klaren Himmel zeigten. Unter all den vielen Menschen, die zur Eröffnung des Jahrmarktes gekommen waren, sah er nur Roslyn. Von dem Wunsch erfüllt, wieder in ihrer Nähe zu sein, setzten sich seine Beine von allein in Bewegung, so dass er viel zu spät bemerkte, dass sie in Begleitung war. Abrupt blieb er stehen und wollte sich bereits wieder umdrehen. Doch dafür war es zu spät.
»Jeff!« Sein älterer Bruder winkte hektisch. Jeff schnaufte verdrossen aus, bevor er weiter auf die beiden zuging.
»Peter«, sagte er sichtlich überrascht und durch zusammengebissene Zähne. »Du hast mir gar nicht gesagt, dass du den Jahrmarkt besuchst.«
»Ach, na ja, weißt du …« Peter deutete mit stolz geschwellter Brust in Roslyns Richtung.
»Hallo, Jeff«, sagte sie freundlich. »Schön, dich zu sehen.«
»Ihr beide kennt euch?« Verunsichert schaute Peter zwischen seinem Bruder und Roslyn hin und her.
»Ja«, antwortete sie. »Ich wusste nicht, dass ihr Brüder seid. Peter und ich, wir …«
» … haben uns schon vor einiger Zeit in der Bank kennengelernt«, beendete Peter ihren Satz. »Ich habe Roslyns Eltern wegen einer Kapitalanlage beraten.«
War ja klar, kommentierte die Stimme in Jeffs Kopf. In dem Versuch, Anerkennung vorzutäuschen, nickte er interessiert. Es sah Peter wieder einmal ähnlich, dass er das Beste an sich reißen wollte, und es stand außer Frage, dass Roslyn das Beste war. In seinen achtzehn Jahren hatte Jeff nie etwas Schöneres gesehen. Etwas, das er mehr begehrt hatte. Die Tatsache, dass sein Bruder sie zuerst entdeckt und für sich eingenommen hatte, war für ihn wie ein Schlag ins Gesicht.
»Entschuldigt.« Mehr brachte er nicht heraus. Jeff ertrug es nicht, die beiden zusammen zu sehen. »Ich habe noch was zu erledigen.« Er wollte nicht, dass einer von ihnen merkte, wie verletzt er war. Wenn es um Peter ging, neigte Jeff dazu, sich unterlegen zu fühlen und ihm das Feld zu überlassen. Das hatte er immer schon getan – aber würde ihm das in diesem Fall möglich sein? Er haderte mit sich. In regelmäßigen Abständen sah er sich nach Roslyn um. In der Vergangenheit hatte Peter immer nur getan, wonach ihm der Kopf stand. Er hatte sich gegen den Wunsch des Vaters gestellt, eines Tages die Farm zu übernehmen, und war stattdessen Banker geworden. Außerdem kandidierte er, als erster Einundzwanzigjähriger, für einen Sitz im Stadtrat, denn sein Ziel war es, eines Tages in der Politik Fuß zu fassen. Sollte er tatsächlich immer das bekommen, was er wollte? Jeff war es leid zu gönnen. Stur fixierte er Roslyn.
Hamish gesellte sich mit Martha und Connie zu ihm.
»Wir wollten zum Strand runter.« Hamish stellte sich direkt vor Jeff und suchte seinen Blick.
»Dann viel Spaß.« Jeff sah an ihm vorbei.
Connie hakte sich bei ihm unter, doch er ließ nicht von Roslyn und Peter ab.
»Alles okay mit dir?« Hamish wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht.