Bei den Herrenmenschen - Hans-Jürgen Fischer - E-Book

Bei den Herrenmenschen E-Book

Hans-Jürgen Fischer

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Beschreibung

Der Tscheche Jan Fischer sieht für sich keine andere Möglichkeit. Nach der Besetzung seiner Heimat lässt sich der Arbeitslose als Fremdarbeiter für das Deutsche Reich anwerben. Bald hat er ungezählte Konflikte mit Ämtern, Gerichten und Funktionsträgern durchzustehen, und er sieht sich der Willkür von Vorgesetzten ausgeliefert. Er muss erleben, dass Menschen, die in der gleichen Lage sind wie er, nicht unbedingt solidarisch handeln, sondern sich unerwartet gegen ihn wenden. Zahlreiche Luftangriffe der Alliierten, wesentlicher Bestandteil ihrer Strategie zur Beendigung der Naziherrschaft, haben für ihn weitere Schicksalsschläge zur Folge. Die Rückkehr in die Heimat wird ihm verwehrt, und sein Fluchtversuch scheitert. Aus dem freiwillig ins Reichsgebiet Gekommenen wird ein Zwangsarbeiter, ohne Entlohnung, ohne Rechte, vollständig der Willkür seiner Bewacher ausgesetzt. Täglich aufs Neue muss er sich dem zermürbenden Überlebenskampf im Land der selbst ernannten Herrenmenschen stellen. Als dann endlich der ersehnte Tag der Befreiung durch amerikanische Truppen kommt, sieht er sich mit Folgen konfrontiert, die er so nicht erwarten konnte ...

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Für den Text ist der Autor verantwortlich. Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, sind ausdrücklich untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor.

Realisierung der Titelgrafik: Thomas Baldermann und Michael Seidel

Danksagung

Bedanken will ich mich bei allen, die mich zu diesem Buch ermutigt haben und die während der Arbeit an diesem Buch jene Geduld aufbringen mussten, ohne die es mir nicht möglich gewesen wäre, dieses Projekt abzuschließen.

Im Besonderen danke ich meiner lieben Ute, die das Projekt stets sehr kritisch-konstruktiv begleitet hat, sowie meinem Neffen Jan, der nicht ganz zufällig zu seinem Vornamen kam, für seine wertvollen Hinweise.

Hans-Jürgen Fischer

Gewidmet allen Menschen, denen ihre Heimat gestohlen wurde

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Im Wartesaal der Freiheit I

Kindheitserinnerungen

Jugendzeit

Wie man vom Schneider zum Fabrikarbeiter wird

Der große Nachbar macht sich breit

Ein Angebot, das man ja mal prüfen kann

Abschied

Im Wartesaal der Freiheit II

Zug in die Zukunft

Willkommen im Deutschen Reich

Deutscher Alltag mit Farbtupfern

Irritierende Begegnung

Pferdedecken

Was ist ein Blockwart?

Ärger mit dem Meister

Neue Freunde

Der Treppenterrier

Empörung und ihre Folgen

Wieder auf Arbeitssuche

Verständnisvolle Arbeitsvermittler

Ein Spaziergang kann Augen öffnen

Das Wohnlager

Im Wartesaal der Freiheit III

Knochenmühle

Hände weg von deutschen Frauen

Was ein Krieg zuerst verändert

Ein Gesuch und seine Folgen

Im Arbeitserziehungslager

Im Wartesaal der Freiheit IV

Zurück in der Munitionsfabrik

Zwischen den Fronten

Der Krieg kommt nach Deutschland

Aufräumen und weitermachen

Zwei Jahre überstanden – und nun?

Flucht

Wahrung deutscher Interessen

Ein bekannter Ort der Erniedrigung

Alles ist anders

Post aus der Vergangenheit

Liebesbeweise und Eifersucht

Erheblicher Schaden

Am Boden zerstört

Im Wartesaal der Freiheit V

Schlechte Luft

Irgendwie Durchschlagen

Sabotage

Schnapsidee

Eine schöne Weihnachtsfeier

Jagdszenen

Im Wartesaal der Freiheit VI

Kriegsalltag

Schadenfreude

Verschüttet

Im Wartesaal der Freiheit VII

Wenn einer alles durchschaut

Herbstfest

Endzeitstimmung

Im Wartesaal der Freiheit VIII

Epilog

Prolog

Kurz nach der Machtergreifung 1933 begannen die Nationalsozialisten, die Arbeit im Deutschen Reich nach ihrem Willen umzuorganisieren. Mit der Einführung des Reichsarbeitsdienstes pressten sie die Arbeit in eine militärische Form. Im Gleichschritt und mit geschulterten Schaufeln marschierten ehemalige Arbeitslose nun zum Bau jener Großprojekte, die einmal militärisch nutzbar sein sollten. Im Nazijargon sprach man nun von Arbeitsheeren, Arbeitsschlachten und Soldaten der Arbeit. Schon damals zeigte sich die Kehrseite dieser Organisationsform der Massenarbeit. Die im Reichsarbeitsdienst Eingesetzten klagten über schlechtes Essen und unzumutbare Unterkünfte sowie über das rüde Antreiberverhalten ihrer Vorgesetzten. Arbeitsschutzregeln wurden ignoriert, es kam zu häufigen Unfällen. Betroffene schilderten die Bedingungen als sozial und persönlich entwürdigend.

In dieser ersten Phase staatlich organisierter Arbeit sollte zunächst eine herrschende Massenarbeitslosigkeit unter den Deutschen abgebaut werden. Als die deutsche Industrie mit ihren Produkten auf Kriegsvorbereitungen umschaltete, wurden wegen des nun wachsenden Personalmangels die ersten Arbeiter aus dem Ausland geholt. Der Bedarf an Arbeitskräften nahm weiterhin zu, und deshalb wurden bis 1939 die Anstrengungen verstärkt, ausländische Kräfte anzuwerben. Bis dahin basierte das Anwerben – wenn man vom Druck durch die wachsende wirtschaftliche Not in den Herkunftsländern absieht – auf Freiwilligkeit. Mit Beginn der territorialen Expansion des Dritten Reiches wurden Arbeitskräfte vorzugsweise aus annektierten oder besetzten Ländern geholt – mit anderen Methoden, oft gegen ihren Willen.

Die mit dem Reichsarbeitsdienst eingeführten Bedingungen galten künftig fort. Bis zum Ende der Naziherrschaft wurden durch ein Rekrutierungssystem, das die Interessen der Betroffenen missachtete, an die zehn Millionen Menschen jenen Beschäftigungsverhältnissen unterworfen, die nur mit Zwang funktionieren konnten. Ganz gleich, ob man diese Menschen im Ausland angeworben, mit falschen Versprechungen übertölpelt oder in besetzten Ländern auf den Straßen eingefangen hatte, sie wurden als Zwangsarbeiter gehalten. Dies ist ein Begriff aus dem 20. Jahrhundert – früher hatte man unter solchen Bedingungen lebende Menschen als Sklaven bezeichnet.

Diese Geschichte zeigt ein Einzelschicksal auf – eines von ungefähr zehn Millionen.

Im Wartesaal der Freiheit I

Sie sagen, wir sollen alles aufschreiben. Einen großen Stapel Papier legen sie uns hin, dazu für jeden einen Bleistift. Wenn wir noch mehr brauchen, werden sie uns das geben, heißt es. »Schreibt auf, was ihr zu sagen habt. Entlastet eure Seele. Wer das hier überlebt hat, wird auch die Kraft aufbringen, zu beschreiben, was ihn quält.« Sie scheinen unsere Gedanken lesen zu können, diese Amerikaner. Lässig schlendern sie mit ständig mahlenden Unterkiefern durch das Lager. Nichts entgeht ihnen, alles wollen sie wissen. Sie fragen uns aus, in ihrem komischen Deutsch mit dem bisher nie gehörten Tonfall, und wir antworten bereitwillig. Denn schließlich sind sie hilfsbereit, großzügig mit dem Verteilen von Zigaretten und Schokolade, und sie scheinen Verständnis für unsere Lage haben.

Abgerissen sitzen wir hier, jeder an seinem eigenen Tisch. Es gelingt mir nicht, das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Aber ich werde es versuchen. Entschlossen bin ich, all das aufzuschreiben, was sich in meinem Kopf eingebrannt hat. Jedes Wort will ich mir notfalls abringen, um das loszuwerden, was mir den Schlaf raubt. Ich werde festhalten, was ich ertragen musste, was mich fast um den Verstand gebracht hätte. Eigentlich erwarte ich nicht, dass andere Menschen jemals lesen werden, was mir widerfahren ist. Erst einmal schreibe ich es für mich. Wie weit ich damit kommen werde? Das weiß ich nicht. Ich fange einfach an. Vielleicht interessiert sich irgendwann mal jemand dafür, und die Welt wird eines Tages erfahren wollen, was hier geschehen ist. Es wird ja noch genügend Tschechen geben, die meine Geschichte übersetzen können.

Selbst wenn nun ein besseres Leben auf mich wartet – wäre damit zu heilen, was in mir eingerichtet wurde? Was weiß ich. Unzählige Gedanken sirren durch den Kopf, die geordnet werden wollen. Was ich jetzt brauche, ist dieser Platz zum Schreiben. Alles Weitere wird sich finden.

Ich habe Glück gehabt und überlebt. Noch kann ich das Ausmaß dessen, was in mir angerichtet wurde, nicht überblicken. Mir ist kein Einzelschicksal widerfahren. So wie bei mir, oder so ähnlich, hat es sich millionenfach abgespielt. Und deshalb will ich nicht nur für mich schreiben, sondern auch für all jene, die dieses Schicksal mit mir teilten, aber am Ende weniger Glück hatten als ich; für jene, die jetzt irgendwo verscharrt liegen.

Ich spüre die mitleidigen Blicke, sehe das Naserümpfen. Weißes Pulver haben sie mir mit großen Gartenspritzen über den Körper gepumpt. Damit soll das Ungeziefer ausgerottet werden. Wurde auch Zeit, die Biester haben mich lange genug gequält. Ich habe nur noch diese Fetzen, die ich am Leib trage. Alles andere liegt unter den Trümmern, aus denen ich mich wieder ans Licht buddeln konnte. Nun hocke ich mit anderen, die diesen Irrsinn mit mir überlebt haben, in dieser Baracke. Der Brandgeruch stört mich nicht mehr, ich ignoriere ihn einfach. Es macht mir auch nichts aus, auf dieser Metallkiste zu sitzen. Wäre sie aus Holz, hätten wir sie längst zerhackt und in den Ofen geworfen, so wie all das andere Mobiliar. Auch wenn die Aprilsonne wärmt, ist es nachts noch kalt, und es zieht in dieser Bude. Seit heute muss ich nicht mehr auf dem Boden schlafen. Da liegt jetzt eine Matratze, die mir die Amerikaner mit entschuldigendem Blick gaben, weil darin getrocknete Urinflecken sind. Wen stört das schon? Nachher werde ich darauf zu schlafen versuchen, zugedeckt mit irgendwelchen herumliegenden Lumpen. Man wird genügsam.

Die ganze Zeit hoffte ich, diesen Irrsinn zu überleben. Immer musste ich damit rechnen, dass eine dieser Fabriken und Baracken, in denen ich mich in diesen letzten verrückten Jahren aufhalten musste, über mir zusammenstürzt und mich begräbt, oder dass ein gehässiger Deutscher mir einen Platz in der Ewigkeit verschafft. All das habe ich überlebt, und nun fühle ich mich fast wie im Paradies.

Sechsunddreißig werde ich bald. Obwohl ich in den letzten Jahren selten einen Kalender sah, kenne ich mein Alter genau. Zumindest meine Geburtstage hatte ich immer gut im Blick. Mein Ehrentag liegt genau vier Tage nach Führers Geburtstag, und an dem waren die Deutschen immer ganz aus dem Häuschen. Bald ist es wieder soweit. Aber ihr Führer ist ja in Berlin und führt die Schlacht an, haben sie im Radio verkündet. Nicht nur deshalb wird in diesem Jahr – bis dahin sind es noch eineinhalb Wochen – der Jubel verhaltener ausfallen, da bin ich mir sicher. Kein Wunder. Vorgestern war der zehnte April, da hat die 9. US-Armee diese Stadt eingenommen und sich hier mit irgendwelchen Luftlandetruppen vereinigt. Und dann sind sie sofort hierher marschiert, um uns zu befreien.

Das alles nach dieser langen Zeit des Elends, und ohne auch nur noch einen Schuss abzufeuern, sagen die Amerikaner. Anstatt sich ihnen weiterhin zu widersetzen, haben die Deutschen endlich ihr Bettzeug als Zeichen der Kapitulation aus den Fenstern gehängt. Orden, Parteiabzeichen und Hakenkreuzfahnen ließen sie verschwinden, und sie setzten derart devote Mienen auf, wie wir es ihnen noch vor drei Tagen nicht zugetraut hätten. Sofort nach der Ankunft der Amerikaner sind einige von uns draußen durch die Straßen gelaufen und haben sich selbst davon überzeugt. In der Verwaltungsbaracke des Lagers hatten die Öfen mehr Papier zu schlucken, als sie verkraften konnten, und deshalb liegen überall auf dem Boden verstreut halbverbrannte Papiere, die eilig ausgetreten wurden. Wenn man keine Schuhe anhat – viele von uns laufen seit Monaten nur in Fußlappen – und nicht aufpasst, tritt man womöglich auf abgerissene Abzeichen und spürt so einmal mehr, wie planlos verletzend das Leben im Dritten Reich sein konnte. Es ist seltsam. Über Nacht sind all diese hochnäsigen Nazis plötzlich verschwunden, die sonst immer besonders laut gejubelt haben. Nicht im eigentlichen Sinne verschwunden, aber diese deutschen Großschnauzen sind plötzlich kleinlaut, lammfromm, haben nie etwas Böses getan und waren immer gegen alles, was hier laut bejubelt wurde. Heute will keiner mehr Nazi sein.

Es sind ja nicht alle Deutschen Arschlöcher. Es gibt auch welche, die mit uns in diesem System überleben mussten, dass uns drangsaliert und unzählige Leichen hinterlassen hat. Die zeigten ihre Abscheu darüber, wenn sie sich unbeobachtet wähnten. Ich traf auch Deutsche, die keine solchen Jubelfritzen waren, wie sie hier sonst den Ton angaben. Nachdenklich waren die, bedauernd, mitleidend. Manche stellten sich sogar gegen das Regime und halfen uns.

Aber da gab es auch noch die andere Seite. Auch unter uns, den Rechtlosen, gab es genügend Arschkriecher, die mit dem Regime zusammengearbeitet haben. Und das nur, um geringe Vorteile für sich selbst zu erheischen. Die wollten eben um jeden Preis überleben. Nicht wenige von denen verleugneten sogar ihre Herkunft. Aber es gab auch solche, die sich niemals beugen ließen und sich stets gegenseitig halfen. Um das klar zu sagen: Wie überall auf der Welt gab es auch hier gute Menschen und Arschlöcher – auf beiden Seiten dieser unsichtbaren Grenze zwischen Deutschen und Menschen sonstiger Herkunft.

Die Speichellecker auf beiden Seiten haben inzwischen umgeschaltet und dienen sich nun eilfertig neuen Herren an: den Amerikanern, die überall mit misstrauischen Blicken und geschulterten Knarren herumstehen und aufpassen, dass alles wieder zivilisiert zu geht. Übrigens, die haben mich sehr freundlich zu einem Gespräch geladen. Bei einem Major Thompson, morgen um acht Uhr. Aber das ist kein Problem für mich. Frühes Aufstehen ohne Wecker haben mir die Deutschen eingebläut.

Ihr könnt mich Johann nennen, an diesen Namen habe ich mich schon bei meiner Ankunft im Großdeutschen Reich gewöhnen müssen. Ich hieß mal Jan, aber diesen Namen nahmen mir die Deutschen einfach weg. Doch das hat für mich kaum Bedeutung. Es ist nur ein Vorname. Was bedeutet er schon, wenn sie einem sonst das ganze Leben stehlen? Sie machten es auf die typisch deutsche Art: Schrieben einfach einen anderen Vornamen in meinen neuen Ausweis, knallten einen runden Stempel drauf und drückten ihn mir in die Hand. Widerrede gab es nicht. Aber davon später mehr.

Geboren bin ich in Prag, am 24. April 1909. Seit ich laufen konnte, war ich zu Fuß in Prag unterwegs. Zuerst an der Hand meiner Mutter, die mir alle wichtigen Ecken der Stadt zeigte. Sobald ich mich allein zurechtfinden konnte, eroberte ich meine Stadt selbstständig, und Mutter war das ganz recht. Fast jeden Winkel und jedes Stück Moldau-Ufer hatte ich kennengelernt, noch bevor ich in die Schule kam. Die Tram kostete Geld, und darum übernahm ich die Haltung meiner Eltern, dass man auch umsonst an jeden Ort der Stadt kommt, wenn man auf die Bahn verzichtet. Es hat mir nicht geschadet. Im Gegenteil. Später erwies es sich als Vorteil, dass ich gelernt hatte, auch längere Strecken mit meinen Beinen zu bewältigen. Prag ist wirklich schön. Und das sage ich nicht nur, weil es meine Heimatstadt ist. Wenn ich es mit tschechischen Industrieorten oder dieser deutschen Großstadt vergleiche – jedenfalls so, wie die aussah, bevor der deutsche Traum vom Endsieg zerplatzte – ist Prag ganz anders. Wenn ich sonst auch nicht all zu viel von der Welt gesehen habe, weiß ich, es ist die schönste Stadt der Welt. Zumindest an den sonnigen Tagen.

Schluss jetzt mit dem Gequatsche. Es hält mich davon ab, meine Geschichte aufzuschreiben. Also lasst mich nun allein. Wenn ihr später ein wenig Zeit für mein Schicksal erübrigen könnt, könnt ihr ja lesen, was ich jetzt unbedingt loswerden muss. Ich will die Zeit nutzen, die mir bleibt, bis ich endlich von hier wegkomme. Eine Weile werde ich mich noch gedulden müssen, sagen sie. Noch wird an Orten geschossen, an denen die Lage weiterhin unklar ist, und viele Schienenwege sind kaputt. Aber ich muss einfach endlich nach Hause kommen. Meine Geduld wurde schon von den Deutschen genügend strapaziert, und nun zwingen mich auch noch die Amerikaner, an diesem schlimmen Ort zu bleiben. Ich muss unbedingt nach Böhmen zurück und Hana suchen. Sie war meine einzig verbliebene Verbindung zur Heimat, und unser Kontakt brach vor sechs Jahren ab. Was wird mit ihr geschehen sein?

Mehr als vier Stunden kann ich nicht hier herumsitzen und mit Schreiben verbringen. Ich brauche dann Bewegung, schon um die innere Unruhe zu bekämpfen. Heute Nachmittag werde ich deshalb ebenfalls zur großen Grube gehen und mich nützlich machen. Ich kann helfen, das Massengrab zu leeren und den Männern doch noch eine würdige Grabstätte zu verschaffen. An diese Arbeit habe ich mich schon vor Jahren gewöhnen müssen.

Kindheitserinnerungen

Sie erzählte mir nur diese eine Geschichte – immer wieder. Meine frühen Erinnerungen beschränken sich darauf, dass ich auf Mutters Schoß saß und mir anhörte, wie das mit meiner Geburt vor sich gegangen war und wie ich mich zu einem solchen Sonnenschein entwickeln konnte, der ich nun mal bin. Sie gab sich dabei keine Mühe, zu verbergen, dass nicht alles so verlaufen war, wie sie es sich erträumt hatte. Ich hörte ihre gespielte, leicht zu durchschauende Entrüstung heraus, die sie meist abschwächte, indem sie mir mit zärtlicher Hand über den Scheitel strich. Alle Einzelheiten dieser Geschichten kannte ich auswendig, und ich ertappte mich dabei, dass ich der einen oder anderen Begebenheit entgegenfieberte, die diesmal noch nicht erzählt worden war, aber längst an der Reihe schien. Überhaupt bin ich ein ungeduldiger Mensch – auch heute noch – und so konnte ich es niemals erwarten, bis sie endlich die Zeit fand, erneut davon erzählen zu können. Seltsam war nur, dass sie niemals in Anwesenheit meines Vaters dazu bereit war. Weshalb, das habe ich erst viel später begriffen – als Vater nicht mehr da war.

Die Geschichte über mich begann – wie sollte eine Mutter das auch anders erzählen können – mit meiner Geburt. Es sei an der Zeit gewesen, sagte sie. Zum verspäteten Ende eines Winters, der sich lange gesträubt hatte, dem Frühling das Land an der Moldau zu überlassen, nach etlichen Rückzugsgefechten, die Hagel, Sturm und Regen mit sich führten, sei es doch endlich soweit gewesen. Von einem Tag auf den anderen sei es warm geworden. Noch habe ein letzter Platzregen das Kopfsteinpflaster dampfen lassen, doch dann habe endlich die Sonne auf die Dächer unserer Goldenen Stadt gestrahlt, unbehindert von den dunklen Wolken, die noch kurz zuvor den Himmel beherrscht hatten. An jenem 24. April im Jahr 1909 habe sie, Teresa Fischer, in einer unproblematischen Hausgeburt mich, ihren Sonnenschein, geboren. Ich war ihr zweites Kind nach ihrer Tochter Hana – und ich sollte den Namen Jan bekommen. Für meinen stolzen Vater Karel sei meine Ankunft Anlass genug gewesen, in seiner Stammkneipe eine Runde zu schmeißen, was er den Mitzechern als den Sohn pissen lassen angekündigt habe. Und er habe danach noch eine ganze Zeit benötigt, um diese Großzügigkeit finanziell begleichen zu können.

Ich will weiterhin daran glauben, dass es genauso war, wie Mutter es immer schilderte. Manchmal kommt dennoch ein leiser Zweifel auf. Wie, wenn bei meiner Geburt doch keine Sonne geschienen hatte; wenn sich die Stadt, deren Dächer bei Sonnenschein golden glänzen, gerade an diesem Tag bei Sauwetter dem Betrachter abweisend und düster präsentiert hatte? Kann jemand mit meinem Schicksal überhaupt an einem schönen Tag geboren worden sein? Oder ist Prag eine Lügnerin, eine Hochstaplerin, die sich mit dem Etikett Goldene Stadt schmückt, die sich in ihrer Selbstverliebtheit suhlt, aber nicht für ihre eigenen Söhne sorgen kann?

Für mich war es eine heile Welt, in die ich hineinwuchs. Die Erwachsenen um mich herum mochten es bei den damaligen Bedingungen in Böhmen, jenem Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, der später einmal in der Tschechoslowakei aufgehen sollte, anders empfunden haben. Doch ich nahm das Zusammenleben meiner Zeitgenossen und ihr Verhalten als stets berechenbar wahr. Leben und leben lassen, das war die Einstellung der Menschen. Man hatte wenig, beschränkte sich mit dem, was man kriegen konnte, und schien dennoch zufrieden zu sein. Der Blick eines Kindes erfasst eben andere Dinge als der eines Erwachsenen. Der hat entscheidende gesellschaftliche Veränderungen selbst erlebt und kann deshalb vergleichen. Dass ich irgendwann in einer Welt leben sollte, in der nichts mehr gewiss oder berechenbar war, lag damals für mich jenseits meiner Vorstellungskraft und meines Erfahrungshorizonts.

Als Kind, hineingeboren in diese Welt und ohne Vergleichsmöglichkeiten, begriff ich es noch nicht. Doch ganz sanft, für mich kaum wahrnehmbar, änderten sich die Lebensverhältnisse. Diese Veränderungen sollten zunehmend schneller werden und schließlich in jenen unübersehbaren Brüchen mit ihren dramatischen Folgen münden, die das Münchner Diktat und die Zerschlagung der Tschechoslowakei mit sich brachten. Im Zuge dieser späteren Ereignisse sollte ich in einen Strudel geraten, der meine Existenz gefährdete und in dem ich unterzugehen drohte. Instinktiv spürte ich damals, was ich noch nicht in Worte fassen konnte: Würde ich mich anpassen können? Überleben, ohne zu scheitern? Meinen Eigensinn behaupten? Zumutungen erdulden können, mit denen man mich auf die Probe stellte? Damals war mir noch nicht bewusst, dass es zwei Arten von Zeitgenossen gab: die freundlich und die feindlich gesinnten, und dass beide Arten sowohl im eigenen Lager als auch bei den Unterdrückern zu finden waren. Ich war noch lange nicht soweit, so etwas erfassen zu können. Und mein Horizont musste sich erst unter äußerem Zwang erweitern, um sie irgendwann beantworten zu können.

Ich wuchs in der Prager Neustadt auf. Getauft wurde ich in der direkt am Moldau-Ufer liegenden St. Bartholomäuskirche, in der ich später auch die Heilige Kommunion empfing. Mutter legte immer großen Wert darauf, dass ich zu allen wichtigen Anlässen in die Kirche ging. Und bis ich aus Prag wegging, war ich auch ein eifriger Kirchgänger, zumindest an Sonn- und Feiertagen. Das hat sich dann aber irgendwann gelegt, und heute kann mir der Laden gestohlen bleiben. Diese verlogenen Pfaffen habe ich durchschaut, als sie gerade mal gute zwanzig Jahre nach dem Weltkrieg schon wieder Waffen segneten, zum Gerechten Krieg aufriefen und Männer in die Schlachten hetzten. Und das haben die sicherlich überall gemacht, auf allen Seiten, an allen Fronten. Vor ein paar Jahren haben wir uns mal an einen Pfaffen aus der nahegelegenen Kirche gewandt, als die Erschwernisse im Lager immer bedrückender wurden. Der kam widerstrebend einmal zu uns, hörte sich unsere Klagen an, betete inbrünstig mit uns und jammerte was von »da kann die Kirche leider nichts tun«, bevor er sich einen schlanken Fuß machte. Es blieb ein einmaliges Gastspiel.

Unsere Familie lebte in zwei kleinen Zimmern eines einstöckigen Hauses, das sich in einer Seitengasse befand. Wir wohnten direkt über einer Gaststätte, aus der meist bis in die Nacht der Lärm der Zecher heraufschallte. Meine Eltern und die Schwester hatten sich daran gewöhnt, und ich kannte es nicht anders. Ich war mit einem Schlaf gesegnet, den offenbar nichts stören konnte. Alkohol, lallender Gesang und derbe Sprüche schienen zum normalen Leben zu gehören. Mein Vater konnte als Fleischergeselle nur deshalb die Familie hinreichend versorgen, weil er Reste aus der Schlachtkammer mit nach Hause nahm und in der Nachbarschaft verhökerte. Sein Meister duldete dies, wenn auch kontrolliert, weil er so seinen Gesellen mit dem Lohn kurzhalten konnte. Hauptabnehmer dieser Reste war der Wirt der Schenke, in der so stets deftige Fleischklopse für die Zecher bereitgehalten wurden. Auf diese Weise brachte mein Vater seine Familie durch: meine Mutter, Hana, mich und eben sich selbst. Dass er vom Gastwirt oft in Naturalien, süffigem Prager Bier, bezahlt wurde, war für Mutter nur ein kleines Ärgernis. Sie erduldete es, solange das Geld eben reichte. Sie hatte meinen gut aussehenden, wenn auch leichtsinnigen und stets durstigen Vater aus Liebe geheiratet und es vermutlich niemals bereut. Verglichen mit allen Männern, die sie sonst kannte, war er trotz seiner Allüren ein Goldstück. Wenn das Geld knapp war, wurde sie zwar manchmal lauter, ohne aber etwas ausrichten oder dauerhaft ändern zu können. Sie beließ es meist bei einem missbilligenden Blick – schließlich standen stets genügend Fleisch und Wurst auf dem Tisch. Trotz seiner kleinen Schwächen brachte mein Vater mit seiner Arbeit die Familie durch, und das war in diesen glorreichen Kaiserzeiten mehr, als man sonst erwarten konnte.

Obwohl oder gerade weil es einen deutschsprachigen Kaiser in Wien gab, war in den letzten vierzig Jahren die Neigung vieler Tschechen bemerkenswert gesunken, die deutsche Sprache anzuwenden, sich überhaupt damit zu befassen. Erwachsene verdrehten die Augen und schwiegen lieber bei diesem Thema. Im eigenen Land kamen einfache Leute wie wir mit der eigenen Sprache sehr gut aus. Es war deshalb nicht ungewöhnlich, dass niemand in unserer Familie, trotz unseres deutschen Nachnamens, diese Sprache pflegte oder auch nur ansatzweise verstand. Wenige deutsche Ausdrücke, die geläufig waren und die wir in den eigenen Sprachschatz aufgenommen hatten, genügten vollauf. Hana ging zur Volksschule, die auch ich später besuchen sollte, und dort unternahm niemand besondere Anstrengung, den kaiserlichen Untertanen die Muttersprache Seiner Majestät beizubringen. Es ging auch so. Und deshalb blieb mir die Sprache der Österreicher, die Böhmen schon so lange beherrschten, und die ihrer Sprachverwandten aus dem benachbarten Kaiserreich, die sich einst zu Beherrschern aufschwingen sollten, lange Zeit fremd und unverständlich. Weder Mutter noch Vater hatten sich jemals mit der Frage beschäftigt, weshalb sie einen deutschen Familiennamen trugen, und auch Hana und mir war es niemals in den Sinn gekommen, unsere Eltern darauf anzusprechen. Vater konnte sich gut an seine Großeltern erinnern, und er erzählte einmal, dass sie nie über irgendwelche deutsche Vorfahren gesprochen hatten. Und so wie wir dachten viele Tschechen, die trotz eines deutschklingenden Namens kein Interesse aufbrachten, aus dem Dunkel der Zeit eine Herkunft aufzustöbern, die nicht tschechisch war.

Als ich zum ersten Mal in den Gassen dem Hurrageschrei jener Leute zuhörte, die darüber jubelten, dass nach dem feigen Attentat auf seinen Thronfolger der Kaiser nun endlich zum Krieg aufgerufen hatte, muss ich fünf Jahre alt gewesen sein. Die Doppelmonarchie würde sich nun mit einem Schlag ihrer Feinde entledigen, in Waffenbrüderschaft mit dem Deutschen Reich, hörte ich beim Mitlauschen in den Grüppchen, die sich spontan auf den Straßen zusammenfanden. Ich wusste nicht, ob ich mich dafür begeistern sollte, zumal die meisten Leute – mein Vater gehörte dazu – bei diesen Parolen missbilligend den Kopf schüttelten. Monate später, der Winter war gekommen und hatte vielen Tschechen mit dem ersten Schnee die ernüchternde Erkenntnis gebracht, dass sich der kurze, räumlich begrenzte Feldzug zum weltweiten Zermürbungskrieg ausgeweitet hatte, versickerte die Siegesstimmung auch bei denen, die jubiliert hatten – wie nach einem kurzen, heftigen Regenguss, der in heißen Sommern schon bald wieder trockene Straßen hinterlässt. Mein Vater trug angesichts der allmählich verstummenden Parolen einen triumphierenden Blick zur Schau. Und bald konnte er bei den Frontnachrichten in der Zeitung nur noch kopfschüttelnd reagieren, die eintreffenden Hurra-Meldungen nur spöttelnd aufnehmen.

Dann wurde mein Vater irgendwann ganz still. Kurz vor meinem siebten Geburtstag wurde dem Reservisten Karel Fischer die Einberufung zugestellt. Er sollte sich in drei Tagen in einer Prager Kaserne melden. Er war mittlerweile zweiunddreißig Jahre alt und hatte nicht mehr damit gerechnet, noch selbst in das anfangs von diesen Idioten, wie er sich ausdrückte, lauthals geforderte Kriegsspektakel hineingezogen zu werden.

Vater ordnete die Verhältnisse. Es gelang ihm, seinen Meister zu überreden, meiner Mutter eine Stelle als Hilfskraft in der Fleischerei zu geben. Mit dieser Arbeit und dem dadurch weiterhin möglichen Fleischrestehandel konnten wir trotz der kargen staatlichen Unterstützung zurechtkommen. Hana wies er an, die Mutter nach Kräften zu unterstützen, solange es nötig sei. Sie als älteres Kind solle auch für mich ein Vorbild sein und mir Hilfestellung geben, mich mit der neuen Situation zurechtzufinden. Auch sollte sie auf sich achten, ihren bisher guten Weg in der Schule weiter gehen, damit er stolz auf sie sein könne, wenn er aus dem Krieg zurückkehrte. Sie nickte auf alles, was er hören wollte.

Dann kam der Abschied. Ich kann mich nicht erinnern, meinen Vater je zuvor in einer solchen Verfassung erlebt zu haben. Der stets fröhliche Mann, der so oft mit mir gescherzt hatte, war nun unfähig, ein Lächeln zu zeigen. Nachdenklich, stumm, in sich gekehrt, traurig war er. Ich spürte seine Sorge, die Familie in diesen Zeiten schutzlos sich selbst überlassen zu müssen. Einen Tag, bevor er sich in der Kaserne zu melden hatte, an meinem Geburtstag, holte er ein Geschenk aus der Hosentasche und überreichte es mir feierlich. Es war ein kleiner Vogel, den er mit erwartungsvollem Blick in meine Hände legte. Ich war überwältigt von diesem Geschenk, weil ich wusste, dass er es als Junge selbst aus Lindenholz geschnitzt hatte. Nie hatte ich erwartet, ein solch kostbares Geschenk zu erhalten. Vater hatte die Skulptur als seinen Glücksbringer stets in der Hosentasche bei sich getragen. Erst viel später erkannte ich, dass geübte Holzschnitzer es wohl naserümpfend als ein von ungelenker Hand gefertigtes Vögelchen angesehen hätten. Es war von der Größe eines Zaunkönigs, die Federn mit grauem Stift hingemalt, mit einem viel zu spitzen Schnabel. Die ursprünglich eingesteckten, aus dünnen Hölzern gefertigten Füßchen waren längst abgebrochen vom vielen In-die-Tasche-schieben, und die splittrigen Reste steckten noch in den Bohrlöchern. Das Tragen in der Hose, das Herausholen, um es sich anzusehen oder um die Hose zu wechseln – all diese Tätigkeiten hatten trotz des stets behutsamen Anfassens unverkennbar ihre Spuren an dem Vogel hinterlassen. Und doch – für mich war dieses Abschiedsgeschenk kostbar. Mit aller Ernsthaftigkeit, zu der er ich fähig war, sah ich Vater in die Augen und versprach, stets auf diesen Vogel achtzugeben.

Am nächsten Tag brachten wir Vater zum Kasernentor. Wir waren unfähig, den bereits zu Hause vollzogenen Abschiedsritualen ein weiteres hinzuzufügen, und froh, ständig von hereinströmenden und sich ebenfalls verabschiedenden Menschen angestupst zu werden. Mutter sagte endlich: »Geh, und komm gesund wieder.«

Vater mochte nicht antworten und wollte sich zum Gehen wenden, doch das ließ ich nicht zu. Als könne ich nicht genug vom Vater bekommen und als wolle ich ihn niemals wieder loslassen, klammerte ich mich mit der linken Hand an Vaters Hosenbein, während ich mit der rechten den Vogel festhielt. Mutter musste ihn sanft aus meiner Umklammerung befreien, und dann ging mein Vater auf die Wache zu, den wehenden Zettel mit der Einberufung in der Hand. Schließlich verschwand er aus unserem Blickfeld.

Vater schickte wöchentlich Briefe aus unterschiedlichen Standorten. Dann am 6. Dezember 1916 – so stand es in einem Brief, den Mutter von einem Kompaniehauptmann zwei Wochen danach empfangen hatte – sei die aus Einheiten mehrerer Nationalitäten gebildete Heeresgruppe des Generalfeldmarschalls August von Mackensen in Bukarest eingedrungen. Mein Vater, Karel Fischer, sei dabei gewesen. Bereits zwei Tage nach Vaters Tod hatte man Mutter per Telegramm knapp und mit der üblichen Floskel benachrichtigt, er sei ehrenvoll für das Kaiserreich gefallen.

Als uns Mutter rief und uns mit aller Behutsamkeit, zu der sie in ihrer Lage fähig war, eröffnete, dass der Vater niemals zurückkommen würde, drückte ich meinen kleinen Holzvogel ganz fest in meiner Hand. Ich glaubte, diesen Albtraum verscheuchen zu können, wenn ich nur genug Kraft zum Drücken hätte. Wenn es nicht geht, wenn er weiterhin tot ist, dann muss es an mir liegen, dann drücke ich nur nicht fest genug, dachte ich.

Vielleicht war dies der Auslöser dafür, dass ich mich später mitverantwortlich für so manches Unglück fühlte, das anderen widerfuhr. Das wurde, trotz der sonstigen Oberflächlichkeit, die man mir ebenso nachsagte, zu einer meiner wesentlichen Charaktereigenschaften. Mein Leben ging weiter, wenn auch vaterlos. Zwar fand ich Rückhalt in der Liebe meiner Mutter und meiner Schwester, aber den Verlust des Vaters sollte ich niemals überwinden können. Die Erinnerung an den Vater kommt auch heute noch zurück, wenn mich etwas peinigt.

Im Frühsommer 1917 starb die Ehefrau des Fleischermeisters im Kindbett, und Mutter trat an ihre Stelle als Verkaufskraft im Fleischerladen. Dies stellte für uns eine geringfügige finanzielle Verbesserung dar, gerade weil uns nur eine unzureichende Rente für den Vater gezahlt wurde. Dennoch – mit Mutters kleinem Lohn und der Unterstützung durch uns Kinder, die in der Nachbarschaft aus jeder noch so kleinen Geldquelle schöpften, genügte es zunächst zum Überleben. Dann brachen Notzeiten an, und in der Fleischerei gab es nur wenig zu tun. Die Bauern horteten ihr Fleisch, ließen es lieber lebendig herumlaufen, als es für entwertetes Geld an die Schlachter zu verkaufen. Die Leute begannen zu hungern. Das war eine Zeit, in der lediglich die Pferdeschlachter noch etwas zu verkaufen hatten. Mutter hatte Mühe, uns in dieser Zeit durchzubringen.

Dass ich ein verschlossener, zurückhaltender Mensch wurde, mag an den Umständen liegen, in denen ich aufwuchs. Es gab niemanden, den ich in meinen besonderen Nöten hätte um Rat fragen können. Wenn ich nicht irgendwo Geld verdiente – durch kleine Botengänge oder den Weiterverkauf kleinerer Dinge – zog ich mich meist auf den Hinterhof zurück, wo ich allein spielte. Allmählich wurde ich so zum Einzelgänger, der Kontakte zu Gleichaltrigen mied. Dann entdeckte ich meinen Spaß daran, allein durch die Straßen Prags zu streifen. Es wurde zu meiner Leidenschaft. Bald kannte ich mich besser dort aus als so mancher erwachsene Prager. Mein Lieblingsplatz war die Eiserne Brücke, von der aus ich einen Blick auf alle nördlich davon gelegenen Brücken hatte, bis hin zum Horizont, wo die Moldau rechts abbiegt und sich links davon der Hradschin erhebt.

Mutter bekam meine eigenmächtigen Ausflüge nicht mit. Vielleicht ahnte sie etwas davon, wenn von der Schule Beschwerden über mein unentschuldigtes Fehlen eintrafen. Doch meist fand sie nicht die Kraft nach den langen Tagen im Fleischerladen, sich deswegen ernsthaft mit mir auseinanderzusetzen. So konnte ich ohne wirksame Kontrolle tun, was mir in den Sinn kam. Eingeschränkt wurde ich lediglich von der Notwendigkeit, Geld hinzu zu verdienen, und so entwickelte ich eine sehr eigensinnige Art, meine Aufenthaltsorte selbst zu bestimmen. Der Frauenhaushalt, in dem ich aufwuchs, war ungeeignet, mir einen anderen Weg zu weisen. Ein Mann, an dem ich mich hätte orientieren können, fehlte eben. So etwas wird einem erst klar, wenn man reif genug für eine solche Erkenntnis ist. Weil ich aber ein aufgewecktes Bürschchen war, konnte ich dennoch so weit in der Schule mitkommen, dass ich dort nicht scheiterte.

Ich besuchte gerade die dritte Klasse der Volksschule, als das Massenmorden des Weltkriegs endlich aufhörte. Folgende national korrekte Sichtweise, deren Daten wir auswendig zu lernen hatten, brachten sie uns später auf der Schule bei:

Die lange Zeit im Verhältnis zu Österreich schwelende Krise war gereift und hatte endlich eine Lösung geboren, auf die alle Böhmen stolz zu sein schienen: Am 28. Oktober 1918 – dieses Datum wurde uns in der Schule eingebläut – rief der Tschechoslowakische Nationalausschuss in Prag die Gründung eines unabhängigen tschechoslowakischen Staates aus.

Wenn von nun ab nach all den üblen Erfahrungen mit dem Kaiser in Wien etwas endgültig verachtet wurde, dann war es die deutsche Sprache.

Jugendzeit

Im Sommer 1923 verließ ich als Vierzehnjähriger nach einem lückenhaften Schulbesuch mit mittelmäßigen Noten die Volksschule. Bis dahin hatte ich seit Vaters Tod meinen Beitrag zum Unterhalt der Familie geleistet. So war ich zu einem sehr ernsthaften Jungen herangereift, der sich nun damit herumzuschlagen hatte, erwachsen zu werden. Über einen Kunden der Fleischerei konnte Mutter eine Stelle für mich finden. Ich kam zu einem Schneider in die Lehre, dessen Geschäft in der Prager Neustadt lag.

Irgendwann begriff ich, wie gut ich bei Mädchen ankam, und begann dass auszukosten. Den Umgang mit gleichaltrigen Jungs mied ich, so gut ich konnte. Mädchen waren eben anders als Jungs, die wollten sich nicht ständig miteinander messen, die mochten mich. Obwohl ich für die Schneiderarbeit mit Pausen und Arbeitsweg an die zwölf Stunden benötigte, blieb mir genügend Freizeit, um weiterhin durch die Prager Straßen zu streifen und mich mit Freundinnen zu treffen. Es waren stets lockere Verhältnisse, mehr als Knutschen und ein wenig Befummeln waren nicht drin. Nie kam es mir in den Sinn, mit einem dieser Mädchen etwas Ernstes anzufangen – da machte ich aus Furcht, mich binden zu sollen, lieber vorher Schluss. Mehr und mehr wurde ich zum Einzelgänger; ein gemeinsamer Zeitvertreib in der Jungenclique blieb mir stets suspekt. Lediglich zu einem Freund aus früheren Schultagen hielt ich losen Kontakt, wenn es mit dem eine Gelegenheit zum Tauschhandel gab.

Die Lehrzeit brachte kaum Probleme mit sich. Das Schneiderhandwerk hatte bald begonnen, mir zu gefallen, und dementsprechend waren meine Leistungen. Der Meister jedenfalls war zufrieden. Zum Ende meiner Lehrzeit durfte ich mir einen eigenen Anzug schneidern. Den Stoff und alle weiteren Materialien steuerte der Meister bei. Ich nähte einen Zweireiher aus dunkelbraunem Kammgarn mit breiten Nadelstreifen, mit dem nicht nur der Meister sehr zufrieden war, sondern auch die Prüfungskommission. Da ich im achtzehnten Lebensjahr stand und inzwischen ein körperlich ausgewachsener junger Mann war, konnte ich diesen Anzug jahrelang mit Stolz tragen.

Nach Beendigung der Lehrzeit war es meinem Meister, zu dem ich ein gutes Verhältnis entwickelt hatte, nicht mehr möglich, mich weiterhin zu beschäftigen. Dank des guten Referenzschreibens, das mir zum Abschied mitgegeben wurde, kam ich aber in einer anderen Schneiderei unter. Während der nächsten drei Jahre arbeitete ich dort. Für mein Handwerk erwarb ich weitere zahlreiche Kenntnisse, und auch in dieser Schneiderei galt ich bald als gute Kraft. Sicherlich hätte ich die Pläne, die ich schmiedete, umsetzen können – noch ein paar Jahre zu arbeiten und weitere berufliche Erfahrungen zu sammeln, um dann irgendwann die Meisterausbildung zu durchlaufen – wenn nicht der Schwarze Freitag im fernen New York diese Pläne durchkreuzt hätte. Die Weltwirtschaftskrise machte auch vor Prag nicht halt, und sie wirkte genauso verheerend wie in allen anderen Großstädten Europas und in Übersee. Wer, außer ein paar Krisengewinnlern, hatte nun schon noch Geld, sich Maßkleidung anfertigen zu lassen? Ich wurde arbeitslos. Und das gerade, als ich mit bald einundzwanzig ernsthaft mit dem Gedanken befasste, meine Pläne zu realisieren und Verantwortung zu übernehmen.

Auch mein Wunsch, den mütterlichen Haushalt zu verlassen und ein eigenes Zimmer zu beziehen, zerschlug sich damit. Womit hätte ich das bezahlen sollen? Eine staatliche Unterstützung bekam ich nicht, die stand nur gewerkschaftlich organisierten Arbeitslosen zu. Ich musste froh sein, weiterhin bei der Mutter wohnen zu können. Inzwischen hatte ich ein Zimmer für mich allein zur Verfügung. Hana hatte ein Jahr zuvor geheiratet und war zu ihrem Mann in den Norden gezogen, nach Liberec. Sie pflegte einen regen Briefkontakt mit uns, und jedes Mal schrieb sie, dass sie uns sehr vermisse.

Meine erworbenen Fertigkeiten als Herrenschneider halfen mir in dieser Zwangslage dabei, dennoch über die Runden zu kommen und meinen Teil zum Lebensunterhalt beizutragen. Bald sprach sich herum, wie geschickt ich darin war, alte Kleidung um- und aufzuarbeiten. Neue Kleider konnte sich in diesen Zeiten kaum jemand leisten, und so hatte ich genug zu tun. Über mein Metier hinaus befasste ich mich auch mit den Besonderheiten, die bei weiblicher Kleidung zu beachten waren, und bald bediente ich eine Kundschaft beiderlei Geschlechts. Zwar war ich nicht alle Tage mit dieser Arbeit beschäftigt und ich verdiente auch nicht soviel wie seinerzeit als angestellter Schneidergeselle, aber es reichte zum Überleben.

Dafür hatte ich mehr Zeit für meine Vergnügungen mit den Mädchen. Ich widmete mich nun mehr als bisher den Schönheiten, die Prag zu bieten hatte. Und die fand ich in zahlreichen Tanzlokalen, in denen ich mich stundenlang an einem Bier festhalten konnte, ohne dass sich der Kellner daran störte. Es gab genügend Gelegenheiten zum Anbandeln. Die Mädchen mochten mich und schwärmten unverblümt über mein Aussehen. Ich war einsachtzig groß, schlank, hatte ein ganz nettes Gesicht, grüne Augen und glatt zurückgekämmte dunkelbraune Haare, die ich mit viel Brillantine bändigte, sodass sie seitlich nicht über die Ohren fallen konnten. Damit brachte ich die Damenwelt offenbar durcheinander. Die Sitten waren nach dem großen Krieg lockerer geworden, die Frauen zierten sich nun weniger als früher. Sie wurden bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse mutiger, was wohl an dem erheblichen Frauenüberschuss lag. Die Roaring Twenties hielten auch in Prag Einzug. Ich genoss diese unbeschwerte Zeit, trotz der materiellen Einschränkungen, die sie mit sich brachte. Das aufkommende lockere Lebensgefühl war etwas für mich, und andere meinten deshalb, mir fehle der nötige Tiefgang. Weil ich dies gern überhörte, konnte ich auch vor mir selbst mein damals noch unterentwickeltes Selbstwertgefühl überspielen – was mir erst viel später klar wurde.

Wie man vom Schneider zum Fabrikarbeiter wird

Bei all den Vergnügungen, bei all der Leichtlebigkeit der Menschen zu der Zeit darf nicht übersehen werden, dass alles auch Ausdruck von Verzweiflung war angesichts der Not und der Hoffnungslosigkeit, die die Tschechoslowakei überzogen hatten. Ein Land mit knapp sieben Millionen Menschen musste in diesen Zeiten eine Million Arbeitslose verkraften. Erst im Jahre 1934 begann sich die Situation allmählich zu normalisieren, die Massenarbeitslosigkeit schwächte sich ab. Die Wirtschaft erholte sich. Und dann fand auch ich wieder eine richtige Arbeit – allerdings nicht als Schneider.

Lange hatte ich mich mit der Frage rumgeschlagen, ob ich mir statt meines Handwerks eine angelernte Fabrikarbeit zumuten sollte. Mutter war hin- und hergerissen: Einerseits befürchtete sie bei meinem Beruf, der könne entwertet werden, und riet mir deshalb ab. Andererseits war sie auf mein regelmäßiges Kostgeld angewiesen. Ich nahm ihre Bedenken nicht sehr ernst und ließ mich schließlich in eine Fabrik in Brünn vermitteln, die Handfeuerwaffen hergestellte. Um es vorwegzunehmen: Alles, wonach ich mich in Brünn sehnte, war Mutters Schweinebraten mit Kümmelkraut und Knödeln. Alle anderen Bedürfnisse, die dort zu kurz kamen, verleugnete ich lange Zeit. Auch wenn ich eine geraume Zeit benötigte, um die Bedingungen dort ertragen zu können.

Ich stand in nun einer Fabrikhalle vor einer riesigen Exzenterpresse, die mit den anderen Pressen in dieser Halle ein Konzert bot, das sich aus lautem Krachen, Quietschen und Brummen zusammensetzte. Auch die Hitze war unerträglich. Mit einer Riesenzange hatte ich glühende Stahlteile in die Presse zu legen und nach dem Schmiedevorgang wieder herauszuholen. Zweimal in der Minute wiederholte sich dieser Vorgang, sodass ich 1200 Teile pro Schicht zu pressen hatte. Der Schneidergeselle, der sein Handwerk einst mit Freude verrichtet hatte, war nun zu einem Teil einer Maschine degradiert. Es war die Hölle, denn im Höllentakt und in einer Höllenhitze musste ich Pistolengehäuse schmieden – Gebrauchsgeräte jenes Typs, der erst kürzlich seinen Beitrag dazu geleistet hatte, die Welt zum Inferno werden zu lassen, und der nun in Massen für die sich anbahnende zweite Runde dieses Irrsinns fabriziert wurde. Es dauerte eine längere Zeit, bis ich mir eingestehen konnte, in welch bedauerliche Lage ich mich gebracht hatte. Aber ich hielt durch.

Die Zeit zwischen den Schichten sowie die Wochenenden mochte ich kaum mit meinen früheren Lieblingsbeschäftigungen verbringen. Die Arbeit zermürbte mich. Weder zum Umherstreifen noch zum Tanzen konnte ich mich aufraffen. Ich brauchte die Zeit für mich allein, lag auf meiner Pritsche in diesem Raum des Wohnheims, in dem ich mit noch sieben anderen Männern untergebracht war, und versuchte vergeblich, mich von dieser Schufterei zu erholen. Geld brauchte ich nur wenig angesichts meiner reduzierten Bedürfnisse, und so schickte ich regelmäßig größere Beträge an Mutter. Mein Traum war, später einmal eine eigene Schneiderei gründen zu können. Und so wuchs der Betrag auf dem Sparkonto, das Mutter für mich angelegt hatte. Die wenigen Urlaubstage verbrachte ich in Prag. Aber an solchen Tagen hatte ich gar keine Lust mehr, eines der Tanzlokale zu betreten, die ich früher so oft besucht hatte. Und die Arbeitsbedingungen nannte ich bei den kurzen Besuchsaufenthalten in Prag Sechstagerennen, zu dem ich bald wieder antreten müsse. Solche Rennen waren zu der Zeit in Deutschland beliebt, und der Begriff war zu uns herübergeweht. Mutter hörte wohl den deprimierenden Beiklang und schien sich zu sorgen.

Der große Nachbar macht sich breit

1937 kam die Befürchtung auf, eine erneute wirtschaftliche Krise könne die tschechoslowakische Industrie und somit auch die Arbeitsplätze in der Waffenfabrik gefährden. Dies nahm ich nicht sehr ernst, es lief doch alles gut. Zu dieser Zeit schrieben die Zeitungen über die Sudetendeutsche Partei und ihren Anführer Konrad Henlein, die begannen, sich gegenüber den Tschechen zunehmend dickezutun. Im März 1938 kam es dann zur Sudetenkrise, die durch das Karlsbader Programm noch verschärft wurde. Die meist von Deutschen bewohnten Gebiete des Sudetenlandes strebten ins Deutsche Reich. Da werde das Geschäft Hitlerdeutschlands betrieben, argwöhnten viele Tschechen. Dass sie damit recht hatten, erwies sich im September 1938, als Chamberlain, der britische Premierminister, mit einem triumphierenden Lächeln und einem im Wind flatternden Zettel in der Hand seinem Flugzeug in London entstieg. In jedem Kino zeigten sie uns diese Szene. In der Nacht zuvor hatte in München seine englische Verhandlungsdelegation, gemeinsam mit Franzosen, Italienern und Deutschen, das Sudetenland den Deutschen zugeschlagen. Das war mit der trügerischen Hoffnung verbunden worden, dieser Hitler würde nun endlich Ruhe geben. Unsere Delegation dazuzubitten und über das Schicksal unseres Landes mitbestimmen zu lassen, hatte man nicht für nötig befunden. Alles, was wir Tschechoslowaken in unserer Ohnmacht noch tun konnten, war, für das Münchner Abkommen den Begriff Münchner Diktat zu prägen. Wir mussten hilflos zusehen, wie mit sofortiger Wirkung sämtliche mehrheitlich von Deutschen bewohnten Gebiete dem Hoheitsbereich des Deutschen Reichs zufielen.