Auf den zweiten Blick - Hans-Jürgen Fischer - E-Book

Auf den zweiten Blick E-Book

Hans-Jürgen Fischer

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Beschreibung

"Auf den zweiten Blick" ist ein unbequemes Lesebuch, das zum Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten auffordert. Denn nichts ist so, wie es auf den ersten Blick aussieht. Hinter menschlichen Gemeinheiten steckt stets eine Absicht, die leider zu oft im Verborgenen bleibt. Nur wer solche Absichten erkennen kann, ist fähig, den Aggressoren dieser Welt etwas entgegenzusetzen. Sich zu trauen, einen zweiten Blick zu wagen, die erkannte Wahrheit hinter der Lüge zu benennen und sie anderen mitzuteilen, ist somit eine lohnende Lebensstrategie.

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Für den Text ist der Autor verantwortlich. Nachdruck oder Verviel-

fältigung, auch auszugsweise, sind ausdrücklich untersagt. Die Textrechte

verbleiben beim Autor.

Widmung

Dieses Lesebuch ist allen gewidmet, die an den gesellschaftlichen Bedingungen zu verzweifeln drohen. Die 51 Geschichten, Gedichte und Skizzen sollen Mut machen, und sie haben einen gemeinsamen Nenner. Ihre Botschaft lautet:

Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick aussieht. Hinter den meisten menschlichen Gemeinheiten steckt irgendeine Absicht, die leider zu oft im Verborgenen bleibt. Wer imstande ist, diese zu erkennen, nimmt den Aggressoren dieser Welt den Wind aus den Segeln. Sich zu trauen, einen zweiten Blick zu wagen, die erkannte Wahrheit hinter der Lüge zu benennen und sie anderen mitzuteilen – das ist eine lohnende Strategie für eine bessere Welt.

In besonderer Weise widme ich das Buch meiner Ute, die mich in all den Jahren, in denen diese Sammlung entstand, geduldig und erfolgreich unterstützte.

Inhalt

Schmidt

Die unendliche Geschichte der Weihnachtsgurke

Letzte Gedanken vor dem Zitronenkauf

Überraschung!

Vier unverschämte Limericks

Hintergründe einer weltweit berüchtigten Missetat

Der Bratfisch

Liebe und Güte

Wohin sich jemand seine rote Fahne stecken kann

Von der unsichtbaren Hand des Marktes

Vom Stolz, Deutscher zu sein

Ratschläge für einen irritierten Jugendlichen

Gegengift

Heimat

Voyeure

Albtraum

Im falschen Film

Die alltägliche Hölle

Wer bin ich?

Von zwei Typen, die manch einer zum Teufel wünscht …

Die Tagschläfer

Im Keller der Erlösung

Stallgeruch

Der große Vorsitzende

Mit sich ins Reine kommen …

Wie geht es weiter?

Onkel Willy

Anleitung zum Bau einer menschlichen Zeitbombe

Wenn die wüssten …

Der gestiefelte Köter

Schwarze Serie

Dämliche Fragen eines unemanzipierten Mannes

Scherbengericht

Verwirrendes, hilfreiches Hildesheim

Pflegeleicht

Das Märchen vom Warzenfrank

Neues vom Tierfreund: Der gemeine Arschkriecher

Fünf Jahre eines Lebens

Entsorgung

Eine Welt ohne Schrift

Ode an die Parfümerieabteilungen der Kaufhäuser

Der nackte Mann aus dem Meer

Warum man auch im Wald Rücksicht nehmen sollte

Ornithologie bei der Bundeswehr

Von großen und kleinen Tieren

Willems neue Welt

Die unsichtbare Linie

Wetterwendisch

Der Amtsstubenhengst

Ein knapper Meter Schande

Eine Pioniertat der Humanmedizin

www.frau-holle.de

Kontrollverlust

Drei satirische Elfchen

Wer fragt, der führt (Alte Psychologenweisheit)

Den Platzhirsch zum Platzen bringen

Schmidt

Ich stoße nichts ahnend die Tür des Zeitschriftenladens auf, begegne ihm im Durchgang unter einem verspielten Mobile, das für lungenkrebsfördernde Genussmittel wirbt, und schaue ihm unvermittelt ins Gesicht. Sein Blick springt über meine Erscheinung, aber möglicherweise kann er mich nicht mehr einsortieren. Vielleicht klemmen die Schubladen in seinem Hirn, vielleicht ist er hinreichend dement, vielleicht weigert sich aus einem Schuldgefühl heraus sein sonst noch intaktes Hirn auch nur, mich zur Kenntnis zu nehmen. Vielleicht ist er aber auch einfach nur abgebrüht. Ich weiß es nicht. Ich spüre, wie mir seine körperliche Nähe jähes Unbehagen bereitet. Längst verdrängte Erinnerungen schlagen direkt aus meinem Kopf und peitschen mein Herz, das unter diesen Hieben zu rasen beginnt. Flucht, nur Flucht, ist mein Gedanke.

Bilder stürzen auf mich ein. Schmidt mit seiner Kaiser-Wilhelm-Frisur, seinen ewig stinkenden Zigarillos, die ihm offenbar bis jetzt nichts anhaben konnten, seinem arroganten, verachtenden Blick, seiner so oft erhobenen rechten Hand, mit der er, gleich einem selbst ernannten Zuchtmeister, Backpfeifen verteilt. Schmidt mit seinen Schweinebacken, wie er mich auch mit Worten erniedrigt, beleidigt, in den Dreck zieht – die Backen passen zu seinem Charakter. Schmidt an meinem letzten Schultag, wie er alle Schüler mit Handschlag verabschiedet und mich demonstrativ übersieht. Schmidt, ein Erwachsener, der sich ein Kind zum Feind machen konnte. Dem es gelang, es in Selbstzweifel zu stürzen und ihm ein negatives Selbstbild einzupflanzen. Ein Zerrbild, das es später mühsam von seinem Ich kratzen musste, nachdem es Schmidts Einfluss entronnen war. Schmidt, der Menschenfeind, mein Feind.

Und dennoch bin ich in der Lage, äußerlich ruhig an ihm vorbeizugehen. Ich kaufe meine Illustrierte, gehe hinaus und überhole ihn, ohne ihn noch eines Blickes ist zu würdigen. Nicht meine Ehrfurcht vor dem Alter, sondern das Gefühl, ihm stets überlegen gewesen zu sein, ohne es früher nur begriffen zu haben, hält mich von einer verbalen Attacke ab. Wenn er mich erkannt haben sollte, ist Nichtachtung Strafe genug.

*

"Schmidt ist vor drei Monaten verstorben, aber der Buermann ist eingeladen. Der will so in einer Stunde kommen." Diejenigen, die das Klassentreffen organisierten, waren früher schon verlässlich. Organisatoren, Buchhaltertypen, kühle Rechner. Jeder erzählt seinen Lebenslauf, man staunt oder hat es ja schon immer gewusst, was aus dem Einzelnen wird. Man meint schließlich, ich habe den Vogel abgeschossen, ist doch die Diskrepanz zwischen damals und heute bei mir besonders groß und eine positive Überraschung. Ja, denke ich bitter, Schmidts Vernichtungsbemühungen sind letztendlich gescheitert.

Irgendwann sind auch die Pauker Gegenstand der Erörterung. Einer erinnert sich an Schmidt, der zwar oft Backpfeifen verteilt habe, aber doch stets „human“ mit uns umgegangen sei. Du mit deiner Kettenhundementalität hast dich nicht verändert, denke ich und kippe ihm beinahe mein Bier über die Hose – zufällig? Es hatte plötzlich schal geschmeckt.

Die unendliche Geschichte der Weihnachtsgurke

Erna Gruber war verzweifelt. Die Kinder erwarteten zuhause einen geschmückten Weihnachtsbaum und zumindest ein paar wenn schon nicht wertvolle, so doch wenigstens liebevoll eingepackte Geschenke. Die Befriedigung der zweiten Erwartung hatte sie sich unter Entbehrungen vom Hartz-IV-Geld abgespart. Doch wie sie der ersten Erwartung entsprechen sollte, konnte sie sich nur teilweise beantworten. Eine billige Krüppelfichte unter einem Meter Höhe würde sie am Heiligabend ab 15 Uhr sicherlich für einen Euro auftreiben können, wenn alle Bessergestellten ihren Baum längst zuhause hatten. Antizyklisch kaufen nannten so etwas die Ökonomen. Aber dennoch war nichts übrig, um den Baum zu behängen.

Die allmählich in ihr aufsteigende Verzweiflung trieb sie in die Küche, wo ihr Blick nun irrlichternd über den recht übersichtlichen Kühlschrankinhalt sprang. Schließlich nahm sie das halb leere Gurkenglas wahr, in dem so ca. vier Gurken, umspült von dillgewürztem Essig, ihrem Verzehr entgegendämmerten. Eine Idee blitzte in ihr auf. Entschlossen ergriff sie das Glas, fischte die Gurken heraus, trocknete diese mit Küchenkrepp und betrachtete das Resultat. Wie sollte es nun weitergehen? Na klar, die Dinger mussten aufgehängt werden. Dazu holte sie weißes Garn, das sie brutal mit einer Stopfnadel durch die Gurkenleiber trieb. Dann wickelte sie die Gurken in Alufolie, wobei sie die verknoteten Garnenden heraushängen ließ. Und fertig war der Baumschmuck. Erna Gruber war stolz auf das Resultat. Für die Kinder war das nichts Besonderes. Sie nahmen es widerspruchslos hin, dass ihr Weihnachtsbaum mit silbrigen Gurken behängt war.

Am ersten Weihnachtstag kam Ralf Samtpuschen zu Besuch. Er war ein alleinstehender Nachbar, mit dem Erna engeren Kontakt pflegte. Ralf war entzückt von der Idee und nahm sich vor, sie künftig beruflich zu verwerten. Er arbeitete nämlich als Schaufensterdekorateur bei einem großen Kaufhauskonzern.

Die Idee hatte nun so rund 10 Monate Zeit, in ihm zu reifen. Dann schlug seine große Stunde. An seinem Chefdekorateur vorbei gestaltete er die Front mit den acht großen, zur Haupteinkaufsstraße gewandten Schaufenstern so, dass durch die bruchsicheren Scheiben nun überall Tannenbäume mit angehängten silbrigen Gurken zu sehen waren. All die hochwertigen Konsumgüter, die man über den alljährlichen Weihnachtsterror losschlagen wollte, waren darum gruppiert. Die Neuerung war schnell in aller Munde, und bevor der Chefdekorateur die ungeheuerliche Eigenmächtigkeit abstrafen konnte, berichtete begeistert die Zeitung mit den großen roten Überschriften darüber. Ein ergänzendes viertelseitiges Foto dokumentierte die Sensation. Die Leserschaft war allseits entzückt. Und man begann, Erna Grubers Idee nachzumachen.

Der Erfolg war schließlich so groß, dass ein weltweiter Limonadenkonzern darauf aufmerksam wurde. Und als kurzzeitig eine Herstellerfirma für Premium-Schokolade goldumhüllte Gurken mit Marzipanfüllung vermarktete, war in der Chefetage des Konzerns klar, wohin die Reise gehen musste. Den letzten Coup zur Weihnachtszeit hatte man vor fast 80 Jahren gelandet, als es gelungen war, aller Welt weiszumachen, der Nikolaus sei ein alter Mann mit weißem Bart, rotem Mantel und roter Zipfelmütze, der mit einem Rentierschlitten aus dem wolkenverhangenen Himmel stürzt und alle gutgläubigen Menschen mit brauner Limonade beglückt. Nun war endlich die Zeit reif, einen neuen und ähnlich erfolgreichen Coup zu landen, der das Geschäft wie damals nach vorn pushen sollte.

Die größte Werbeagentur des Landes wurde darauf angesetzt, und für die nächste Weihnachtskampagne stand bald ein Konzept wie aus einem Guss zur Verfügung. Künftige Weihnachtsfeiern ohne dieses Produkt würden undenkbar werden. Das neue Produkt hieß Gurka-Cola. Es handelte sich um dieselbe klebrige Brühe wie bisher, aber sie war zeitgemäß verpackt in eine silbrige Plastikflasche in Gurkenform. Die Werbung für dieses neue Produkt über alle möglichen Kommunikationskanäle verschlang ein Mehrfaches des sonst Üblichen, aber sie machte sich bezahlt. Bald waren alle entzückt, wenn St. Claus mit seinem rentierbespannten Gemüsekarren vorfuhr und silbrige Gurken verteilte, die dann auch alle Beschenkten auf der Stelle leer tranken. Das versonnene Lächeln, das die Trinkenden dabei zur Schau stellten, überzeugte vollends. Jung und Alt, hell- oder dunkelhäutig, auch die Kinder der Erna Gruber, alle waren sie nun verrückt nach Gurka-Cola, der Brause, die glücklich macht.

Und dann kam wieder einmal die Zeit, wo sich Erna Gruber fragen musste, mit welchem neuen Einfall sie den Wünschen ihrer Kinder diesmal entgegen kommen konnte.

Letzte Gedanken vor dem Zitronenkauf

Biologisch angebaut? Nein! Mit Diphenyl behandelt? Ja! Eigentlich sind das genügend Gründe, die Finger davon zu lassen. Aber billig sind sie, ein Sonderangebot. Müssen wohl raus, die Dinger. Prall und gelb sind sie bereits, vollreif, in spätestens zwei Tagen werden sie beginnen zu schrumpeln, und dann müssen sie verzehrt sein.

Kein Problem. Für die Paella heute Abend sind sie gut, solange werden sie wohl durchhalten, diese Dinger. Die Liste der Zutaten war wieder mal recht lang, und allein der Seeteufel hat fünfunddreißig Euro das Kilo gekostet – nicht zu vergessen die Gambas. Große Tierchen, elf Stück auf das Kilo, für fünfundzwanzig Euro, obwohl sie aus Malaysia kommen. Will ja gar nicht wissen, woher genau. Wahrscheinlich von irgend so einer obskuren Zuchtfarm mit einem trüben Tümpel, wo sie die Viecher mittels maschineller Hebeanlage bergen. Fünfundzwanzig Euro, ein Schweinegeld für solchen Kram. Inzwischen hat mich der Einkauf schon um einhundertzwanzig Euro ärmer gemacht, wenn auch schon mit den sechs Flaschen Rioja, Stückpreis acht Euro fünfundneunzig.

Und das alles für die Sauermanns – passender Name, brauchen die überhaupt noch Zitronen? – die meine Frau eingeladen hat, mein Einverständnis voraussetzend. Es gab kein Einverständnis meinerseits, aber ein Missverständnis ihrerseits. Aber da kann ich sie ja jetzt nicht hängen lassen, mit diesen Sauermanns. Und eigentlich ist es ja meine Spezialität, meine Frau so zu überrumpeln. Deshalb hat sie noch einige Überraschungen gut bei mir. Also, bloß noch die Zitronen, dann kann ich endlich diese vielen Plastiktüten heimtragen.

Ja, was ist das denn? Was steht denn da auf diesem Aufkleber? Herkunftsland Israel? Scheiße! Gerade letzte Woche hatten wir in der Kantine diese Diskussion, und da habe ich noch vehement dafür gestritten, Waren aus Israel zu boykottieren. Das hat nichts mit Vorbehalten gegen Juden zu tun, habe ich gesagt. Was die da mit den Palästinensern machen, wie die sich da aufführen als brutale Besatzungsmacht, das muss bekämpft werden, habe ich gesagt. Und deshalb der Boykott, habe ich gesagt. Diese Zitronen hier haben sie wahrscheinlich auf dem Land angebaut, von dem sie vorher die Palästinenser vertrieben haben. So was kann ich doch jetzt nicht unterstützen. Aber andere Zitronen haben die hier nicht, und die Zeit rennt. Ich muss noch nach Hause, alles klein schneiden, und die Pfanne braucht ja auch noch so ihre siebzig Minuten.

Scheißegal! Ich eile mit dem Netz Zitronen an die Kasse und drängele ein bisschen. Draußen, auf dem Weg zum Auto, fummele ich mit fahrigen Fingern die verräterischen Aufkleber von den gelben Dingern. Muss ja keiner wissen, wo herkommen. Und wie ich die Sauermanns einschätze, diese unpolitischen Ignoranten, wäre denen das sowieso wurscht.

Überraschung!

Der Moderator Herbert Wummhausen war mal wieder in seinem Element. Gerade war der Vorspann zu seiner allwöchentlichen Talkshow gelaufen, das stürmte er auch schon mit seinem eingebügelten Grinsen aus den Kulissen in Richtung der aufgebauten Sitzgruppe aus rosa Plüsch. Dieses Grinsen erinnerte Kritiker stets an das eines Idioten, von dem seine Fans gar nicht genug bekommen konnten. Wie stets streckte er dem Überraschungsgast des Abends seine gut manikürte Hand entgegen und fragte in seiner unnachahmlich seifigen Art: „Wie heißen Sie bitte? Und was machen Sie so?“

„Karl Wieland, …Verwaltungsinspektor, das ist ein erregender, abenteuerlicher Beruf…“, antwortete stammelnd der Begrüßte. Die Verunsicherung in ihm war nicht zu übersehen. Denn nicht alle Tage geschah ihm so etwas, und schließlich war es nicht jedem vergönnt, dem großen Herbert Wummhausen gegenüberzusitzen.

Wummhausen versuchte, professionell wie immer, das Eis zu brechen: „Na, Herr Wieland, was verwalten Sie denn so? Wo ist denn Ihre Dienststelle angesiedelt, dass Sie so überzeugt von einem erregenden, abenteuerlichen Beruf sprechen können?“

„Ich sitze in der Landeserfassungsstelle für die Plattheiten und Verdummungsorgien der Unterhaltungsindustrie. Sie machen sich ja keine Vorstellung davon, mit welch bescheuerten Einfällen wir uns täglich so herumschlagen müssen.“ Seine Unsicherheit schien verflogen, er begann nun offensichtlich, sich richtig wohl und in seinem Element zu fühlen.

Doch nicht nur bei ihm war eine Verhaltensänderung erkennbar. Millionen Zuschauer konnten miterleben, wie Wummhausen erblasste und schließlich nur unter peinlichem Stottern sein Interview weiterführen konnte. Irgendwie schien er nicht mehr so ganz bei der Sache zu sein. Hatte der Herr Wieland ihn soeben möglicherweise auf dem falschen Fuß erwischt?

Vier unverschämte Limericks

Ein älterer Herr aus Bad Soden

hat ein Schwerkraftproblem mit den Hoden

er lässt Piercings sich setzen

und mit Kettchen vernetzen

nun schleifen sie nicht mehr am Boden

Ein Umweltminister aus Bayern

nutzt jetzt Plastiktüten zum Feiern

denn beim letzten Fest

versagte sein Test

Jutetaschen sind wertlos beim Reihern

Ein geschniegelter Gutsherr aus Wadern

hätt´ so gern blaues Blut in den Adern

doch dass Knecht Waldemar

sein Erzeuger war

ließ ihn sehr mit dem Schicksal hadern

´Nem Generalleutnant aus Harmshagen

dem schlug ziemlich arg auf den Magen

dass beim Krieg im Irak

seine Mama erschrak

Pazifismus konnt´ er nicht ertragen

Hintergründe einer weltweit berüchtigten Missetat

Sein schändliches Handeln hatte er nicht geplant. Der spontane Entschluss, sich zu rächen, weil sie ihn um seinen Lohn geprellt hatten, war von ihm ohne weiteres Nachdenken in die Tat umgesetzt worden. Er wusste nicht, welches Ziel er damit eigentlich verfolgte und wohin er die Kinder führen wollte. Er war einfach mit ihnen losgezogen, und sie waren ihm gefolgt.

Der Rattenfänger, dem seine schrägen Flötentöne bei dem Anblick der großen Kinderschar buchstäblich im Halse stecken blieben, als er mit diesem Tross verzogener Gören unweit Hamelns durch den mittelalterlichen Flecken Tündern zog, musste Rast einlegen, da ihm die Kinder ohne die gewohnte Musikberieselung die Gefolgschaft verweigerten. Also warf er einen Blick auf das Gelände vor ihm, das ihm für seine Zwecke vorzüglich geeignet schien.

Vor seinem geistigen Auge entstand die Vision eines großen Lagers, das von einer dreimal mannshohen Mauer umgeben war. Innerhalb des befestigten Geländes gab es, gruppiert um einen für Kampfspiele angelegten Platz, dreigeschossige Häuser, sämtlich mit vergitterten Fenstern. Hier und da klammerten sich jugendliche Hände um die ehernen Stäbe, um daran zuerst recht heftig, dann mit zunehmender Ermüdung schwächer zu rütteln, bis sie es schließlich ermattet und resigniert aufgaben. Er meinte, Fetzen fremdartiger Geräusche zu vernehmen, wie einpeitschend geschlagene Schlachttrommeln, unterlegt von mechanischem Heulen und Jaulen, sowie menschliches Schreien und Stöhnen. Nein! Musik konnte dies nicht sein, die kannte er, die machte er ja selbst. Waren dies die Arbeitsgeräusche, wie sie dann und wann aus Folterkammern dringen?

Ein diabolisches Grinsen machte sich auf seinem rattenfängertypischen Pfannkuchengesicht breit, ganz unvermittelt. Ausgelöst worden war es von der plötzlichen Erkenntnis, dass hier die Lösung all seiner Probleme lag. Ja, ja, ja! Er würde seine viertel- bis halbwüchsigen Geiseln zwingen, genau ein solches Lager zu errichten, in dem sie dann von ihm unter Verschluss gehalten werden konnten, bis die betrügerischen Hamelner ihre Schuld an ihm beglichen hätten. Und er würde die verdammte Hamelnbrut sofort damit anfangen lassen. Sprühend vor Tatendrang verscheuchte er seine Hirngespinste und sprang in die Wirklichkeit zurück.

Doch die Wirklichkeit war leider nicht mehr bereit, von ihm durch das geplante verbrecherische Tun verändert zu werden – sie hatte sich während seines Tagtraums einfach erledigt. Die Kinder waren nicht mehr da. Von jäh aufsteigenden Befürchtungen katapultiert, suchte er, zunehmend panisch werdend, das Gelände ab, bis er sich endlich eingestand, dass sie verschwunden waren. Während er zu seinem Gedankenflug abgehoben hatte, waren sie ihm entwischt.

Ihm dämmerte, dass er nicht nur von den betrügerischen Hamelner Eltern, sondern auch von deren ebenso missratenen Sprösslingen schamlos ausgenutzt worden war. Letzteren war es wohl nur darum gegangen, ihren verständnislosen Eltern zu entwischen, weil die ihnen nicht einmal ihre liebsten Spielkameraden, die Ratten, gönnen wollten. Warum hätten sie ihm denn sonst folgen sollen? Oha, was waren das doch für verschlagene Nachkommen ihrer ebenso gearteten Erzeuger. Schamlos hatten sie, um ihn für ihre Zwecke ausnutzen zu können, in ihm den Glauben erweckt und genährt, er habe die Macht, sie mit seinem miserablen Flötenspiel fortzulocken. Nun musste er es sich eingestehen. Niemanden hatte er bisher mit seinen dürftigen musikalischen Künsten beeindrucken können, nicht einmal die Ratten. Die hatte er mit seinem grässlichen und nicht enden wollenden Gepiepe einfach nur aus ihren Löchern getrieben und davongejagt.

Arg mit seinem Schicksal hadernd beschloss er, seine Rachegelüste nun auf andere Weise zu befriedigen. Aber so etwas wollte gut vorbereitet sein, mit vorschnellem Handeln aus dem Bauch heraus war er gerade eben gescheitert. Man musste sich Zeit lassen, viel Zeit. Und wenn ihm die Rache selbst nicht mehr gelingen sollte, so konnte er doch dafür sorgen, dass seine Nachkommen in seinem Sinne wirkten und sein Ziel für ihn erreichten. Und wenn es denn zehn oder zwanzig oder noch mehr Generationen dauern sollte, er würde letztlich triumphieren, sein Traum musste sich irgendwann erfüllen. Wichtig war nun, dass er seinem Sohn sein großes Ziel vermittelte, ihm die Richtung wies. Der wiederum würde seine Nachkommen mit dem Ziel erziehen, ihm, dem Urahn, späte Genugtuung zu verschaffen. Eines fernen Tages würde es sich dann fügen, dass seine Vision eines Kerkers für jugendliche Nichtsnutze sich erfüllte. Und genau an dieser Stelle sollte es sein. Mit einem schmierigen Lächeln, das sich in seinem rattenfängertypischen Pfannkuchengesicht breitmachte, schlief er zufrieden wieder ein.

Nachtrag: Tündern ist heute ein Stadtteil Hamelns. Dort betreibt das Land Niedersachsen eine „moderne“ Jugendstrafanstalt für jugendliche und heranwachsende männliche Straftäter.

Der Bratfisch

Mich gibt´s frisch gebraten, braun

fettig und gut anzuschaun.

Stimmt genau, ich bin ein Brat-

fisch mit Kartoff´lsalat.

Mutter, die aus Danzig kam,

machte mich mit Zwiebelrahm.

Paps, aus Prag und nicht aus Peine,

knüpft´mich missachtend auf die Leine.

Ja, jeder Esser wählt sich prompt,

was man dort isst, woher er kommt.

Liebe und Güte

Meiner Mutter prophezeite man oft, sie werde irgendwann noch einmal ihr letztes Hemd hergeben. Vielleicht ist das etwas übertrieben, aber einen Ärmel und einige Knöpfe ihres letzten Hemdes hätte sie wohl abgetrennt, wenn ein Notleidender ihn gebraucht hätte.

Es ging recht eng zu bei uns zu Hause. Vier Mietparteien mit insgesamt acht Leuten in einer Dreizimmerwohnung, die eine gemeinsame Küche nutzten, in der auch noch meine Oma auf dem Sofa schlief. Meine Mutter sorgte stets dafür, dass bei uns „der Laden lief“. Neben den kleinen Aufmerksamkeiten, die sie bei Krankheit oder finanziellen Engpässen einzelnen Bewohnern zukommen ließ, gab es für sie immer einen Anlass, über diesen Kreis hinaus Gutes zu tun, ohne darüber zu reden.

Sie brachte abgerissen aussehende Leute mit nach Hause, die sie unterwegs aufgelesen hatte und die nun in unserer Küche schamhaft schweigend ihren Eintopf löffelten, während sie ihnen die zerschlissene Hose nähte. Sie machte einer von Weinkrämpfen geschüttelten Frau Mut und zog anschließend deren besoffenen Ehemann aus der Kneipe. Sie lud trotz unserer häuslichen Enge den dänischen Fahrer eines Gemüselasters, den mein Vater vom Großmarkt mitgebracht hatte, zum Übernachten ein. Am Heiligabend zerrte sie mit sanfter Gewalt einen arbeitslosen und magenkrebskranken Varietékünstler in unsere Wohnung und wies ihm seinen Platz unter unserem Tannenbaum zu. Früher war der mit seinem Spitz als „Herr Hardy“ aufgetreten, und nun duldete sie es, dass er sich mit einer Privatvorführung bedankte. Gegen den zaghaften Protest meines Patenonkels machte sie dessen Behausung in halbjährig wiederkehrendem Abstand wieder bewohnbar, weil der stets aufs Neue in seinem Dreck zu ersticken drohte. Einen gerade aus dem Knast entlassenen Berliner fütterte sie tagelang durch, was der ihr mit dem Diebstahl eines halben Pfundes „guter Butter“ dankte. Doch auch nach solchen Niederlagen war meine Mutter niemals bereit, das Gute in ihren Mitmenschen infrage zu stellen.

Wenn sie mit anderen Erwachsenen über Kindererziehung redete, war sie jedes Mal irgendwann an dem Punkt, wo sie erklärte, dass ich, ihr Sohn, von ihr „mit Liebe und Güte“ erzogen werde. Nach all den Jahren, die nun dazwischenliegen, dämmert es mir, was sie damit gemeint haben könnte.

Wohin sich jemand seine rote Fahne stecken kann

Ich blicke zurück: Es ist irgendwann um 1968/69 in Hannover. Eine kalte, graue Jahreszeit – ob Februar oder November, weiß ich nicht mehr.

Die ÜSTRA, eine mit öffentlicher Personenbeförderung beauftragte Firma, hat ihre Fahrpreise drastisch von heute auf morgen erhöht. Die Herren Aufsichtsräte werden sich nun eine blutige Nase holen, wovon sie allerdings noch nichts ahnen.

Krawallsüchtige Studenten der TU Hannover, wegen der ihnen von der BLÖD-Zeitung nachgesagten Unfähigkeit zur effektiven Wissensanhäufung offenbar zu jeder Schandtat bereit, greifen die Sache auf und rufen zum Boykott der ÜSTRA auf. Sie erfinden den "Roten Punkt", der nun in einem Durchmesser von ca. 10 Zentimetern, auf weißem Papier gedruckt, an den Windschutzscheiben der Studentenautos prangt und signalisiert, dass man bereit ist, andere kostenlos mitzunehmen. Was in anderen Protestbereichen nur ein Wunschtraum von Möchtegernrevoluzzern bleibt, wird in Hannover plötzlich und über Nacht Realität. Die Bevölkerung macht mit, die sonst so sturen Hannoveraner beginnen sich einzureihen. Ich bin dabei!

Die BLÖD-Zeitung wettert von der Titelseite in bekannter Manier und prophezeit ein baldiges Ende dieses Unsinns. Doch bald sind sämtliche Straßenbahnschienen von Leuten belagert, die nicht nach Studenten aussehen, und die Polizei verzichtet auf das Räumen. Vor den Straßenbahndepots dröhnen die Presslufthämmer, mit denen der in die Weichen gegossene Beton entfernt wird und den man am nächsten Morgen erneut vergossen vorfindet. Man nimmt Schnellbinder, auch wenn der etwas teurer ist. Nach einer Woche kippt die Sache vollständig, als selbst die BLÖD-Zeitung den „Roten Punkt“ auf der Titelseite zum Ausschneiden abdruckt. Hannover steht Kopf, wir stehen im Mittelpunkt, alles ist möglich.

Täglich Kundgebungen auf dem Opernplatz, der zum zentralen Treffpunkt wird. Studenten und „normale“ Leute reden miteinander, man verkündet ständig neue Entwicklungen. Schließlich wird ein Verhandlungsergebnis verkündet: Es gibt künftig einen Einheitspreis von fünfzig Pfennig pro Fahrt. Die ÜSTRA gibt klein bei, es ist der totale Erfolg.

In den Siegestaumel mischen sich erste schräge Töne. Aus der Palette der ca. zwanzig verschiedenen sozialistischen und marxistischen Gruppierungen nutzen alle die Möglichkeit, ihre jeweilige Ideologie wie Kamelle unters Volk zu werfen, was den sozialdemokratisch beeinflussten Durchschnittsbürger einerseits schockiert und andererseits völlig verwirrt. Das seien doch alles Kommunisten, wird geargwöhnt! Erste Forderungen werden laut, die roten Fahnen einzurollen, mit denen man nun doch nichts zu schaffen haben will. „Haut doch damit ab in die Ostzone“ ist ein gängiger Tipp für die wackeren Fahnenträger. Die Stimmung schlägt nun um in Ärger, Wut und Enttäuschung. Erste Handgreiflichkeiten unter den Demonstranten werden registriert.

Ein Möchtegernvolkstribun, der sich als Kabarettist mit Namen D. K. vorstellt, will die Frontbildung rückgängig machen und die nutzbringende Einigkeit erhalten. Er ruft den Fahnenträgern zu, sie sollten ihre Fahnen einrollen, es ginge hier auch ohne. Er trage seine rote Fahne im Herzen, wie er mit einem Faustschlag an seine Brust geklärt. Doch es wirkt aufgesetzt und lächerlich. Die Leute spüren es, und einer kommentiert es entsprechend: „Hol sie da raus und steck sie dir in den Arsch!“

Es sind mehr als fünfundvierzig Jahre vergangen. Ich lebe immer noch in Hannover. Lange Zeit betrieb D. K. hier ein Kleinkunsttheater und machte Kabarett – immer mit dem Holzhammer, wie es so seine Art war. Mit seinen lächerlichen, unauthentischen Methoden des Umgangs mit dem Publikum mochte ich mich nie anfreunden, und schon deshalb habe ich mir seine Programme niemals angetan.

Nun liegt er schon seit Jahren unterm Rasen, aber seine rote Fahne wurde ihm bestimmt als sein liebstes Utensil mit ins Grab gegeben.

Von der unsichtbaren Hand des Marktes

Die Zeiten haben sich gewandelt. Der Sozialstaat ist passé, neoliberale Konzepte sind angesagt. Der ungezügelte Markt ordne wie eine unsichtbare Hand alles zum Besten, wird gesagt. Die schlichte Botschaft lautet: „Wenn jeder nur an sich denkt, ist an alle gedacht!“ Und diese Mär tönt aus allen Medien.

Aber gilt das für alle Märkte? Da drängt sich in der Weihnachtszeit die Frage auf, ob die unsichtbare Hand auch auf dem Weihnachtsmarkt zu finden ist. Versuchen wir, dies herauszufinden. Spüren wir ihr nach, dieser unsichtbaren Hand. Gehen wir auf einen Weihnachtsmarkt.

Schon bevor wir die Glitzerwelt betreten, sehen, riechen und hören wir die Verheißung: Weihnachten ist für alle da! Friede auf Erden! Genuss! Schöne Dinge! Kandierte Äpfel! Kirchliche Blasmusik ertönt, als Kontrapunkt zur hektischen Musik unserer Zeit. Von militärischer Blasmusik haben die meisten von uns man mittlerweile eine erhebliche Distanz entwickelt, aber die früher über diese Musikform transportierten Botschaften lassen sich heutzutage auch anders unter die Leute bringen. So empfängt uns eine trügerische Friedfertigkeit auf dem Weihnachtsmarkt.

Dem angebotenen Tand in all den bunten Buden wollen wir mit offenen Augen begegnen. Früchte und Nüsse, überall das ganze Jahr zu bekommen, sind kunstvoll aufgestapelt, um dennoch den Eindruck des Besonderen zu erwecken. Gepflückt wurden sie in Südafrika, Mittelamerika und Südostasien, von geschickten Kinderhänden, die uns unsichtbar bleiben. Ja, die Kinder und ihre Familien leben von dieser Arbeit. Neoliberale würden sogar behaupten, sie profitieren davon.

Den Glühwein schenken uns Menschen aus, denen man die Freude darüber ansieht, dass sie zwischen ihren Hartz-IV-Phasen kurzzeitig einmal arbeiten dürfen. An der Wurstbraterei werden wir von eifrigen Helfern mit dem gleichen devoten Habitus bedient. Auch beim Kauf von Puffern und Fischbrötchen treffen wir diesen eilfertigen Typus des Weihnachtsmarktstandhelfers an. Bei Gabe eines Trinkgeldes schaut er überrascht, er scheint es nicht gewohnt zu sein. Mindestlohn? Gottlob ist es noch nicht in allen Branchen soweit. Drei Kartoffelpuffer mit dem obligatorischen Klecks Apfelmus können deshalb weiterhin für soziale fünf Euro losgeschlagen werden. Die unsichtbare Hand zeigt ihre wundersame Wirkung.

Wir begutachten am Dritte-Welt-Stand den Modeschmuck Made in Singapur, hergestellt in Heimarbeit von ganzen Familien und vielen Händen, die hier ebenfalls unsichtbar bleiben. Wir kaufen, weniger aus Überzeugung denn aus Mitleid, aber wir wissen, dass wir Gutes tun. Die unsichtbare Hand fasst uns in die Geldbörse – in bester Absicht.

In dem Teil des Marktes, der als Mittelalterliches Dorf ausgestaltet ist und wo das Nostalgiebedürfnis mit dem Vorführen längst vergessener Handwerkskünste und ihrer Produkte zufriedengestellt wird, bestimmt jener Typus das Geschehen, der sich augenscheinlich in diese Nische begeben hat, um nur irgendwie diese mageren Zeiten überstehen zu können. Kann man davon etwa leben, das ganze Jahr? Fertigt der Kerzenzieher das ganze Jahr über in freudiger Erwartung seines Auftritts auf dem Weihnachtsmarkt seine Wachsprodukte? Lebt er nur von und für die Adventzeit? Aber wie sollte er sonst existieren können? Ja, es muss sie also geben, jene unsichtbare Hand, die ihn die restlichen elf Monate des Jahres auffängt.

Wohin wir auch kommen, wohin wir auch blicken – die unsichtbare Hand war schon da, hat Gutes bewirkt. Ja, es muss sie einfach geben, diese unsichtbare Hand. Wir müssen nur fest daran glauben, dann sind alle zufrieden. Auch wir, wenn auch ein letzter Zweifel nicht weichen will.

Wir sind schon dabei, uns gedanklich auf den Heimweg vorzubereiten, da kommt uns der Zufall zu Hilfe. Unvermittelt können wir eine Szene beobachten, die letzte Zweifel an der Existenz einer ordnenden, unsichtbaren Hand nachdrücklich ausräumt und unsere Frage endgültig beantwortet. Und zu unserer Überraschung wird diese Hand sogar sichtbar, sozusagen eine materialisierte unsichtbare Hand. Gerade wird sie von jenem Stadtbediensteten aufgehalten, der einigen Budenbesitzern die besten Standplätze verschafft hat und sich nun von Ihnen sein Schmiergeld auszahlen lässt.

Vom Stolz, Deutscher zu sein

Als ich das erste Mal begriff, dass wir anders waren, stand ich mit meiner Mutter und meiner Oma, die mich beide an der Hand hielten, vor einem großen Bauzaun, der mit bunten Plakaten beklebt war. Lesen konnte ich mit vier Jahren noch nicht, aber ich hörte zu, wie meine Oma mit einem ebenfalls davor stehenden Mann seltsame Dinge besprach, und wie sie auf ihn und er auf sie einredete. CDU und SPD, zwei Begriffe, mit denen ich noch nichts anfangen konnte, fielen ungezählte Male. Als das Gespräch immer lauter wurde, gingen wir weiter, und Oma schien sehr ärgerlich zu sein. Im Weggehen besprachen meine Mutter und Oma etwas, das ich auch nicht verstand. Ich behielt nur, dass Oma wählen durfte und meine Mutter nicht. War das Wählen nur den Alten vorbehalten? Auf meine Frage bekam ich von Oma zur Antwort: „Ihr seid doch keine Deutschen!“