Schreiben gegen das Abgeschriebensein - Hans-Jürgen Fischer - E-Book

Schreiben gegen das Abgeschriebensein E-Book

Hans-Jürgen Fischer

4,8

Beschreibung

Langzeitarbeitslosigkeit – Massenschicksal für ca. eine Million Deutsche. Die systembedingte Krisenlage soll von ihnen individuell gemeistert werden. Hilfe bleibt aus, gesellschaftliche Ursachen werden in persönliche umgedeutet. Maßnahmen beschränken sich darauf, die Systemverlierer in ihrer Fähigkeit zu trainieren, sich besser auf dem Arbeitsmarkt verkaufen zu können. Aber nur wenige können dadurch ihre Attraktivität für den Arbeitsmarkt steigern, der Großteil bleibt dauerhaft arbeitslos. Die Frage, welche Auswirkungen Langzeitarbeitslosigkeit auf das Selbstwertgefühl von Betroffenen hat, bleibt ausgeblendet. Psychosoziale Unterstützung wird bestenfalls in Selbsthilfegruppen oder Nischenangeboten Sozialer Träger angeboten – weit unter dem Bedarf. Dieses Buch richtet sich an alle, die mit Langzeitarbeitslosen das Biografische und Kreative Schreiben als Unterstützungsangebot nutzen wollen. Zunächst wird das Phänomen Arbeitslosigkeit in seinen Dimensionen und psychischen Wirkungen dargestellt. Ausgehend davon wird ein auf Bedürfnisse und Fähigkeiten der Zielgruppe zugeschnittenes Konzept entwickelt. Die Wiederentdeckung eigener Erfolgsstrategien und die Stärkung des verlorenen Selbstwertgefühls stehen dabei im Mittelpunkt; es soll ein emanzipatorischer Prozess bei den Teilnehmenden angestoßen werden. Der zweite Teil dokumentiert ein Pilotprojekt, das auf Grundlage des erarbeiteten Konzepts umgesetzt wurde. Konzeptannahmen und didaktische Einheiten werden auf Plausibilität und Wirksamkeit geprüft. Für die Schreibpädagogik wird hier ein neues Arbeitsfeld erschlossen, interessierten Schreibpädagogen, Quereinsteigern in die Schreibgruppenleitungstätigkeit, Sozialpädagogen und anderen in der Erwachsenenbildung Tätigen eine Orientierungsmöglichkeit für eigene Angebote gegeben. Dieses Buch kann als Leitfaden dienen. Geografische Besonderheiten, spezielle Lebenslagen potenzieller Teilnehmender und fachliche Voraussetzungen von Schreibgruppenleitungen sind jedoch als Variablen jeweils zu berücksichtigen.

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Über den Autor:

Hans-Jürgen Fischer (M.A.) wurde 1949 in Hannover geboren, das bis heute sein Lebensmittelpunkt blieb. 1966 wurde er Deutscher, vorher war er staatenlos. Seit 1970 ist er verheiratet.

Sein schulischer / beruflicher Werdegang gliedert sich in zwei Teile. Als hartnäckiger Schulverweigerer ging er 1965 ohne Abschluss aus der Volksschule ab. Nach zwei abgebrochenen Handwerkslehren war er nacheinander Seemann, Fabrikarbeiter, Soldat, Kraftfahrer. Dann erlebte er eine längere Arbeitslosigkeit.

Mit 24 Jahren begann er, in Abendkursen Schulabschlüsse nachzuholen. Nach Volksschule, Tischlerlehre, Realschule und Fachoberschule studierte er von 1979 bis 1982 Sozialarbeit/Sozialpädagogik in Hildesheim. Von 1983 bis 2011 war er als Sozialpädagoge bei der LH Hannover tätig – als Jugendpfleger, Jugendgerichtshelfer, Leiter eines Ferienlagers und als Koordinator für Kinder- und Jugendarbeit. Zwischenzeitlich absolvierte er eine Sozialmanagement-Ausbildung. Mit Eintritt in den Ruhestand studierte er „Biografisches und Kreatives Schreiben“ an der ASH Berlin und schloss 2014 mit dem Master of Arts ab. Seitdem bietet er Workshops zum Biografischen und Kreativen Schreiben für unterschiedliche Ziel- und Altersgruppen an.

Bisher erschienen:

Roman „Sandros Strafe“, Edition Thaleia 2011 (ISBN 978-3-924944-98-8). Verknüpft werden darin die Leidensgeschichten eines jugendlichen Amokläufers und seines professionellen Helfers.

Lesebuch „Auf den zweiten Blick – Ein unbequemes Lesebuch“, Books on Demand 2015 (ISBN 978-3-7386-5066-2). Autobiografisches und Fiktives ist hier in unterschiedlichen Textformen verbunden (Satire, Glosse, Kurzgeschichte, Essay, Lyrik).

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I:

Schreiben gegen das Abgeschriebensein

Entwicklung eines Konzeptes zur Schreibgruppenpädagogik mit Langzeitarbeitslosen

Abstract

1. Einleitung

1.1 Problemaufriss zur Langzeitarbeitslosigkeit

1.2 Zielsetzung dieser Arbeit im gesellschaftlichen Kontext

1.3 Ausrichtung eines Schreibgruppenkonzeptes für Langzeitarbeitslose

1.4 Zeitliche, räumliche und thematische Abgrenzungen

1.5 Persönliche Motivation

2. Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches und individuelles Problem

2.1 Arbeitslosigkeit im Kapitalismus in ihrer gesellschaftlichen Dimension

2.1.1 Die Entwicklung sozialstaatlicher Politik, insbesondere unter dem Aspekt unterstützender staatlicher Maßnahmen für Arbeitslose

2.1.2 Die soziologisch-philosophische Dimension

2.1.3 Die sozialpsychologische Dimension

2.1.4 Die individualpsychologische Dimension

2.2 Die Lage von Arbeitslosen im historisch-gesellschaftlichen Kontext und vor dem Hintergrund ihrer sozial- und individualpsychologischen Situation

3 Zum individuellen Erleben und Verarbeiten von Stress

3.1 Stress als Antrieb, als Risiko und als Hemmnis im Umgang mit Herausforderungen

3.2 Salutogenese, Kohärenzgefühl und Widerstandsressourcen nach Antonovsky

3.3 Selbstwertgefühl

3.4 Individuen im Spannungsfeld von Resilienz und Vulnerabilität

3.5 Möglichkeiten zur Stärkung der Widerstandskräfte und zur Förderung der seelischen Gesundheit von Langzeitarbeitslosen

4

Empirische Forschung

4.1 Design, Datenerhebung und Datenaufbereitung

4.2 Datendiskussion

4.2.1 Univariate Verteilungen

4.2.2 Bivariate Daten

4.3. Interpretation der Ergebnisse

5. Rahmenbedingungen für das Schreibgruppenkonzept mit Langzeitarbeitslosen

5.1 Pädagogische Zielsetzungen aufgrund erkannter Mängellagen

5.2 Förderung der Selbsterkenntnis und selbsttherapeutischer Mechanismen

5.2.1 Verwendbare Theorien, Methoden und Konzepte

5.2.2 Zur Auswahl der Textanregungen unter gruppenpäd. Aspekten

5.3 Schreibwerkstatt als Gruppenereignis

5.4 Organisatorisches

5.4.1 Setting

5.4.2 Finanzielle Bedingungen und potenzielle Kooperationspartner

5.4.3 Förderung der Teilnahmebereitschaft

6. Schreiben gegen das Abgeschriebensein

Ein Konzept für eine kreative Schreibwerkstatt

6.1 Ziele und Inhalte von Textanregungen

6.2 Planung für zwölf Gruppentermine (1. Tag – 12. Tag)

7. Abschlussbetrachtung zum theoretischen Teil

Teil II: Pilotprojekt:

Schreiben gegen das Abgeschriebensein

8. Kursvorbereitung

8.1 Definition der Zielgruppe

8.2 Organisatorische Vorbereitung

8.3 Akquise von Teilnehmenden

9 Kursverlauf

9.1 Übersicht zum Verlauf

9.2 Verlauf der Sitzungstermine

10 Kursbewertung aus schreibpädagogischer Sicht

10.1 Auswertung des Evaluationsbogens

10.2 Diskussion der univariaten Daten

10.3 Interpretation der univariaten Daten

10.4 Feedback

10.4.1 Feedback während der Sitzungstermine

10.4.2 Abschließendes Feedback

11 Reflexion aus Sicht der Kursleitung

11.1 Wurde der formulierte Anspruch eingelöst?

11.2 Schreibgruppenarbeit als Auslöser von Reflexion über das eigene Schicksal und als Chance zur Veränderung

11.3 Dimensionen persönlicher Weiterentwicklung von Teilnehmenden

11.3.1 Die Begegnung mit bisher verdrängten Ereignissen des eigenen Lebens

11.3.2 Das Erkennen und Ausbauen eigener Stärken

11.3.3 Das Erkennen von Gemeinsamkeiten mit den Schicksalen anderer Teilnehmender

11.4 Schreibgruppenarbeit mit gesellschaftlich Benachteiligten als Beitrag zur Politischen Bildung

12. Abschlussbetrachtung zur Durchführung des Pilotprojektes

13. Literaturverzeichnis

14. Anhänge

14.1 Schaubilder; Fragebogen zur Konzeptentwicklung mit Auswertungsschema

14.2 Exemplarische Texte von Teilnehmenden

14.3 Evaluationsbogen für die Teilnehmenden

14.4 Themenspeicher

Vorwort

Ungeachtet der staatlich verkündeten, stets euphemistisch gefärbten Statistiken gibt es in Deutschland etwa eine Million Langzeitarbeitslose. Von diesem Massenschicksal ist somit jeder achtzigste Deutsche betroffen – mitgerechnet all jene, deren Arbeitskraft dem Arbeitsmarkt aus unterschiedlichen Gründen offiziell nicht zur Verfügung steht. Staatliche Hilfemaßnahmen für diese Problemgruppe beschränken sich weitgehend darauf, solche Verlierer der neokapitalistisch geprägten Gesellschaft in ihrer Fähigkeit zu trainieren, sich besser auf dem Arbeitsmarkt verkaufen zu können. Wenn auch nur wenige Betroffene davon profitieren, weil sie darüber ihre Attraktivität für den Arbeitsmarkt steigern können, wird Langzeitarbeitslosigkeit für den Großteil zum Dauerschicksal. Doch die Frage, welche Auswirkungen dieses Schicksal der Langzeitarbeitslosigkeit auf das Selbstwertgefühl von Betroffenen hat, bleibt weitgehend ausgeblendet. Psychosoziale Unterstützung wird, wenn überhaupt, in Selbsthilfegruppen oder Nischenangeboten Sozialer Träger angeboten – allerdings weit unterhalb der Bedarfsschwelle. Über die Arbeitsagenturen wird eine systematisierte, flächendeckende Hilfe für diese Zielgruppe nicht organisiert.

Vor diesem Hintergrund ist es das Anliegen dieses Buches, für die Schreibpädagogik ein neues Arbeitsfeld zu erschließen und möglichst breit gefächert zur Anwendung zu bringen. Die Methoden des Biografischen und Kreativen Schreibens zu nutzen, um damit ein psychosoziales Unterstützungsangebot für die Zielgruppe zu organisieren und landesweit anzubieten, soll hierüber ermöglicht werden.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile:

Im ersten, theoretischen Teil wird ein Konzept für eine Schreibgruppenaktivität mit Langzeitarbeitslosen entwickelt – ausgehend von der Position, dass Langzeitarbeitslose sich in einer gesellschaftlich verursachten Krisenlage befinden, die sie individuell meistern sollen. Angemessene Hilfestellung wird ihnen versagt, das gesellschaftliche Problem wird in ein individuelles umgedeutet. Der theoretische Teil geht der Frage nach, wie ein Schreibgruppenangebot Betroffenen helfen kann, damit umzugehen. Zum Verständnis der individuellen Lage von Langzeitarbeitslosen wird zunächst das Phänomen Arbeitslosigkeit in seinen unterschiedlichen Dimensionen untersucht. Nachgezeichnet wird dabei die historische Entwicklung im deutschsprachigen Raum sowie die sozial- und individualpsychologische Situation. Dies führt zu einer Zustandsbeschreibung jener Krise, in der sich Langzeitarbeitslose in der derzeitigen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lage befinden. Über eine quantitative Erhebung unter Betroffenen wird dies empirisch geprüft. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wird ein Konzept entwickelt, das auf die Bedürfnisse und die Fähigkeiten der Zielgruppe zugeschnitten ist. Das Stärken und das Wiederentdecken wirksamer Copingstrategien und des Selbstwertgefühls stehen dabei im Mittelpunkt. Hauptintention des Konzeptes ist es, einen emanzipatorischen Prozess bei den Teilnehmenden zu fördern. Im zweiten Teil wird jener Schritt vollzogen, ohne den der erste Makulatur wäre. Er enthält die Evaluation und Dokumentation eines Pilotprojektes, das auf Grundlage des erarbeiteten Konzepts umgesetzt wurde. Zielsetzung dieses Pilotprojektes war es, die Annahmen und didaktischen Einheiten des Konzepts auf Plausibilität und Wirksamkeit zu überprüfen. Hier sei vorweggenommen, dass die Konzeptgrundlage durch den Verlauf und das Ergebnis des Pilotprojekt weitgehend bestätigt werden konnte.

Das vorliegende Buch führt somit beide Projekte zusammen – die Konzeptentwicklung und das Pilotprojekt. Hierdurch ergänzen und verstärken sich die gewonnenen Erkenntnisse aus beiden Entwicklungsprozessen, die so einer Fachöffentlichkeit verfügbar gemacht werden. Schreibpädagogen, Quereinsteigern in die Schreibgruppenleitungstätigkeit, Sozialpädagogen und anderen in der Erwachsenenbildung Tätigen, die eine Schreibgruppenaktivität mit Langzeitarbeitslosen durchführen wollen, soll hiermit eine Orientierungsmöglichkeit geboten werden.

Zur Klarstellung: Dieses Buch kann nicht als ein Handlungsleitfaden dienen, der ohne Einbeziehung weiterer Rahmenbedingungen eins zu eins zu übersetzen wäre. So sind etwa geografische Besonderheiten, spezielle Lebenslagen potenzieller Teilnehmender und fachliche Voraussetzungen von Schreibgruppenleitungen Variablen, die jeweils zu berücksichtigen sind. Bei der Planung und Durchführung eigener Angebote im Biografischen und Kreativen Schreiben für die definierte Zielgruppe sollte dies beachtet werden.

Ich will mich bei allen bedanken, die mich bei der Arbeit an diesem Buch unterstützt haben – zuallererst meiner Ute, die all meine Schreibprojekte stets kritischkonstruktiv begleitet. Dank auch an die Teilnehmenden des Pilotprojektes dafür, dass sie ihre Texte zur Verfügung stellten.

Hans-Jürgen Fischer

Teil 1: Schreiben gegen das Abgeschriebensein

Entwicklung eines Konzeptes zur Schreibgruppenpädagogik mit Langzeitarbeitslosen

Abstract

Ausgangspunkt ist meine Position, dass Langzeitarbeitslose sich in einer gesellschaftlich verursachten Krisenlage befinden, die sie individuell meistern sollen. Angemessene Hilfestellung wird ihnen demnach versagt, das gesellschaftliche Problem wird in ein individuelles umgedeutet. Diese Arbeit geht der Frage nach, wie ein Schreibgruppenangebot Betroffenen helfen kann, damit umzugehen.

Zum Verständnis der individuellen Lage von Langzeitarbeitslosen wird zunächst das Phänomen Arbeitslosigkeit in seinen unterschiedlichen Dimensionen untersucht. Nachgezeichnet werden dabei die historische Entwicklung und die sozial- und individualpsychologische Situation. Das führt zu einer Zustandsbeschreibung jener Krise, in der sich Langzeitarbeitslose befinden. Über eine quantitative Erhebung unter Betroffenen wird dies empirisch geprüft.

Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wird ein Konzept entwickelt, das auf die Bedürfnisse und die Fähigkeiten der Zielgruppe zugeschnitten ist. Das Stärken und das Wiederentdecken wirksamer Copingstrategien und des Selbstwertgefühls stehen dabei im Mittelpunkt. Letztlich geht es darum, einen emanzipatorischen Prozess zu fördern.

Für die Schreibpädagogik soll hiermit ein neues Arbeitsfeld erschlossen werden.

1. Einleitung

1.1. Problemaufriss zur Langzeitarbeitslosigkeit

Meine Sozialisation, eigene Segregationserfahrungen und eine daraus resultierende skeptische Grundhaltung gegenüber dem Mainstream gesellschaftlicher Botschaften und Lösungsvorstellungen, wie sie über den Hauptteil öffentlicher Medien verbreitet werden, lassen mich zu diesem Themenkomplex eine kritische Haltung einnehmen.

Aus soziologischer Sicht ist die Gruppe der Langzeitarbeitslosen besonders gefährdet, mit zunehmender Dauer ihrer Arbeitslosigkeit in einen Teufelskreis zu geraten (vgl. Negt (1), 2008, S. 241 ff.). Diejenigen, die eine für den Arbeitsmarkt verwertbare Ausbildung aufweisen können und vorher auch erfolgreich nutzen konnten, nun jedoch mit Arbeitslosigkeit konfrontiert werden, empfinden dies häufig zunächst als wenig besorgniserregend. Nicht wenige sehen dies sogar als temporäre Befreiung und Chance zum Durchatmen nach längerer körperlicher und geistiger Überanstrengung und nutzen es entsprechend.

Wenn sich dann aber individuell die Zeichen für eine Problemlage mehren; wenn zunehmend realisiert wird, dass aus einer kurzen, vermeintlich leicht zu überbrückenden Arbeitspause ein längerer oder gar endgültiger Ausschluss von der Arbeitswelt zu werden droht; wenn zunächst hoffnungsvoll an die einschlägigen Arbeitgeber gerichtete Bewerbungen immer wieder erfolglos verlaufen; wenn auch Zugeständnisse wie die Ausrichtung auf berufsfremde Tätigkeiten und/oder schlechtere Entlohnung nichts nützen; wenn nach dem Arbeitslosengeld I nur noch das Arbeitslosengeld II bleibt; wenn letztlich dadurch nicht einmal die Wahl zwischen prekärer Beschäftigung und weiterer Arbeitslosigkeit gelassen wird, weil die Arbeitsagentur mit ihren gesetzlichen Zwangsmitteln droht, durch die materielle Not verschärft wird; wenn die materielle Notlage das eigene Leben und das der Familienangehörigen beeinträchtigt; wenn neben die materielle Not die Erklärungsnot gegenüber der sozialen Umwelt tritt; wenn schließlich dieses ausweglose Bündel von Frustrationen in eine psychische Notlage mündet, dann ist der Erhalt des bisher erworbenen Selbstwertgefühls, das sich in dieser Arbeitsgesellschaft – bedingt durch eine entsprechende Sozialisation – bei den meisten Betroffenen immer noch über die Arbeit definiert, zunehmend gefährdet. Die Schuld daran suchen die Betroffenen dann oft bei sich selbst. Typische eigene Erklärungsmuster zu ihrem Versagen sind dann ungenügende Attraktivität für den Arbeitsmarkt aufgrund des Alters, der veralteten Berufskenntnisse und letztlich der langen Arbeitslosigkeit.

Ein Trauma wird langläufig definiert als ein plötzliches, nicht vorhergesehenes Unglück. Langzeitarbeitslose jedoch erleben dieses Unglück zeitlich verzögert. Sie realisieren es vermutlich oft erst dann, wenn ihre soziale Ausgrenzung mit allen negativen Auswirkungen vollständig ausgeformt ist – und Selbsttäuschungsmechanismen können diese Realisierung sogar noch hinauszögern. Wer in einer solchen Abwärtskarriere gefangen ist, weist potenzielle Arbeitgeber nicht nur über die Daten in seinem Lebenslauf darauf hin, sondern oft auch mit einem unsicheren, von Versagensängsten und einem gewachsenen Minderwertigkeitsempfinden bestimmten Auftreten in Bewerbungssituationen. In Verbindung mit dem Nachweis des Versagens über die Personaldaten ist ein solches Auftreten häufig Grund genug für Personalverantwortliche, von einer Einstellung abzusehen. So schließt sich der Teufelskreis. Langzeitarbeitslose befinden sich dann in einer Lebenskrise, die es zu bewältigen gilt und in der sie auf Hilfe von außen angewiesen sind – und dies von einer Gesellschaft, die sie solchen Mechanismen aussetzt und dadurch ihre Würde verletzt.

Langzeitarbeitslose sind einem doppelten psychosozialen Druck ausgesetzt: Hegemoniale gesellschaftliche Deutungsmuster wirken von außen ein, daraus entwickelte internalisierte Denk- und Handlungsmuster im Zusammenwirken mit einer manifestierten materiellen Notlage erzeugen synergetisch eine Lähmung der Handlungsfähigkeit. Angebote der Schreibgruppenpädagogik könnten dagegen eine Orientierungshilfe sein und die Möglichkeit zur Besinnung auf eigene Stärken darstellen. Hier bietet sich prinzipiell ein Ansatz, Lebenskrisen zu bearbeiten und Selbstheilungskräfte bei den Betroffenen zu wecken, mit denen sie Copingstrategien entwickeln, zunehmend Resilienz erwerben und ihr lädiertes Selbstwertgefühl stärken können. In einer geschützten Gruppensituation eigenen psychosozialen Druck zu mindern, indem man sich z. B. über Biografiearbeit eigener, teilweise verschütteter Fähigkeiten und Stärken rückerinnert, bietet eine Chance, erste Schritte zu gehen, sich von den gesellschaftlich auferlegten Zwängen zu emanzipieren. Wer über das Schreiben die eigene Lage reflektiert, kann neue Perspektiven einnehmen. Die gesellschaftlich vermittelte Botschaft, dass Betroffene an ihrer Lage selbst schuld seien, wäre so individuell relativierbar.

Wenn das Erleben von Langzeitarbeitslosigkeit somit – individuell unterschiedlich ausgeprägt – psychosozialen Druck bei den Betroffenen bewirkt, provoziert dies die Frage, wie solcher Druck durch äußere Unterstützung gemindert werden kann. Der weit überwiegende Teil gesellschaftlich organisierter Hilfeangebote für Langzeitarbeitslose verfolgt bisher vornehmlich zwei Zielrichtungen: Geboten werden dieser Zielgruppe einerseits Unterstützungsmaßnahmen zur Wiedererlangung einer Erwerbstätigkeit mit dem Ziel der Erhöhung ihrer Attraktivität für potenzielle Arbeitgeber und andererseits Hilfen zur Milderung ihrer aus der Arbeitslosigkeit resultierenden materiellen Notlagen. Psychosoziale Hilfen zur Linderung der aus dem Erleben von Langzeitarbeitslosigkeit erwachsenen seelischen Not sind hingegen nur marginal im Angebot. Sie werden signifikant unterhalb des Bedarfs vorgehalten, bei den Förderungsmöglichkeiten der Arbeitsagentur spielen sie keine Rolle (vgl. Bundesagentur für Arbeit: Broschüre Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Veroeffentlichungen/Merkblatt-Sammlung/SGB-II-Merkblatt-Alg-II.pdf, 30.10.2013).

Langzeitarbeitslosigkeit wurde seit Beginn der Dauerkrise 1975 wieder zu einem Massenschicksal. Versuche, dies staatlicherseits mittels euphemistisch interpretierter Statistiken zu verschleiern und kleinzureden, werden zunehmend auch für Betroffene erkennbar. Doch statt gesellschaftlicher Solidarität und dem Organisieren einer notwendigen Gegenwehr macht sich Fatalismus breit, und das St.-Florians-Prinzip greift auch hier: Man will verschont bleiben, arbeitslos sollen andere sein. Dies mag ein uneingestandener Grund sein, weshalb psychosoziale Hilfen für Langzeitarbeitslose quantitativ weit unterhalb der Notwendigkeitsschwelle angeboten werden. Faktisch wird ein Problem, das alle abhängig Beschäftigten berührt, von den derzeit noch nicht Betroffenen weitgehend ignoriert und tabuisiert.

1.2 Zielsetzung der Arbeit im gesellschaftlichen Kontext

Langzeitarbeitslose befinden sich in einer Zwangslage. Sie sehen sich einer Ausgrenzung ausgesetzt, die sich auf alle ihre Lebensbereiche negativ auswirkt. Wer arbeitslos wird und es längere Zeit bleibt, wird tendenziell zum Paria. Statt staatlicher Vorsorge gegen Massenarbeitslosigkeit zu organisieren, wird das Problem eher als unabweisbar dargestellt und als persönliches Risiko, dass jeder für sich zu tragen hat, der die Vorzüge dieser Gesellschaft genießt. (Noch-)Arbeitsplatzbesitzer unternehmen einiges, um die trügerische Sicherheit, in der sie sich wiegen, nicht zu verlieren. Konkurrenzkampf an den Arbeitsstätten, um jeden Preis, nicht selten durch Mobbing und oft durch einen unangemessen hohen Grad der Selbstausbeutung, macht aus Kollegen Konkurrenten. Eine fortschreitende Entsolidarisierung der Gesellschaft, wo Solidarität zu fördern wäre, ist so eine Konsequenz aus dieser Gemengelage.

Arbeitslose fühlen sich mit ihren Problemen allein gelassen und auf sich selbst zurückgeworfen. Nicht nur, dass sie beginnen, bei sich selbst die Schuld zu suchen und sie so in einen wie oben beschriebenen Teufelskreis geraten. Dazu gesellt sich die Unfähigkeit der Gesellschaft, wirksame Hilfestellung in dieser persönlichen Krise zu geben. Staatliche Hilfen der Jobcenter beschränken sich im Wesentlichen auf die Vermittlungstätigkeit, ergänzt durch die Förderung der auf dem Arbeitsmarkt verwertbaren Fähigkeiten (z. B. mittels Vergabe von Bildungsgutscheinen) über externe Dienstleistungsunternehmen. Solche Aktivitäten wären aus gesamtgesellschaftlicher Sicht letztlich als Nullsummenspiel zu bewerten; denn für jeden neu vermittelten Arbeitslosen wird irgendwo auf dem Arbeitsmarkt ein anderer „freigesetzt". Dies beweisen die seit vielen Jahren auf hohem Niveau stagnierenden Arbeitslosenzahlen, die obendrein in euphemistischer Weise aufbereitet und interpretiert werden (worauf später einzugehen ist).

Eine grundsätzliche Änderung könnte eine Kombination staatlich organisierter, aktiver Arbeitsbeschaffungspolitik mit entsprechenden Programmen herbeiführen, wie sie in keynesianischen Modellen entworfen werden – flankiert von flächendeckender Arbeitszeitverkürzung, durch die vorhandene Arbeit gleicher, gerechter verteilt werden könnte. In einzelnen Bereichen, in denen Betreuung, Pflege und Förderung von Menschen unterschiedlicher Altersstufen stattfinden – von der Kita über die Schule bis zur Altenpflege – besteht ein erheblicher Arbeitskräftebedarf. Vollbeschäftigung wäre so realisierbar. Was fehlt, ist der politische Wille zur Umsetzung. Solange hierzu kein Paradigmenwechsel erfolgt, wird das gesellschaftliche Grundproblem Massenarbeitslosigkeit weiterhin existieren.

So bleibt auch die psychosoziale Notlage derjenigen bestehen, die sich in die Langzeitarbeitslosigkeit gedrängt sehen und die sich damit abfinden sollen. Maßnahmen zur Linderung oder Aufhebung dieser Notlagen sind nicht in Sicht – abgesehen von den Härtefällen, jener Spitze des Eisbergs, die sich durch einen nicht zu leugnenden hohen Krankenstand äußern und bei denen Ärzte und Psychotherapeuten an den Symptomen arbeiten sollen, ohne das Grundproblem verändern zu können. Selbstmedikation, d. h. die Flucht in unterschiedlich ausgeprägte Suchtformen, dient oft der Unterdrückung solcher Symptome, ist jedoch ein untaugliches individuelles Mittel, um die Krisensituation zu überwinden.

Notwendig sind daher Maßnahmen für Betroffene auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Einwirkungsmöglichkeiten, um seelische Entlastung, neue Perspektiven und eine Stärkung der eigenen Kräfte zu erreichen – und um bei einer Einordnung der Lage in den gesellschaftlichen Kontext behilflich zu sein. Solche speziellen Angebote werden jedoch nur unterhalb der Notwendigkeitsschwelle vorgehalten. Wo eine breit angelegte Palette von Angeboten nötig wäre, könnte sich Schreibpädagogik in diesem Kontext als ein geeignetes Medium erweisen. Der Gedanke, ein Konzept auf die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen auszurichten, bietet sich also an. Inzwischen gibt es zwar eine Vielzahl von Arbeiten über Bewältigungsstrategien durch Schreibpädagogik zu den wachsenden Problemen, die aus den Widersprüchen resultieren, welche die Arbeitswelt stetig produziert. Vornehmlich geht es dabei jedoch um psychische Belastungen durch Leistungsdruck und Mobbingsituationen. Eine spezielle Unterstützung der Menschen, die dauerhaft aus dem Arbeitsprozess herausgefallen sind und deren Hauptinteresse darauf gerichtet ist, dem materiellen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Druck zu entkommen, haben Schreibpädagogen bisher nicht in den Fokus genommen. Über die individuelle Hilfe hinaus gäbe es damit auch eine Chance, Langzeitarbeitslosen zu der Erkenntnis zu verhelfen, dass die Ursachen für ihr Schicksal zuerst in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und erst nachrangig im individuellen Versagen zu suchen sind. Betroffene könnten so in den Kreis derjenigen einbezogen werden, die über Notwendigkeiten zur gesellschaftlichen Fortentwicklung reflektieren. Letztlich wäre dies ein Beitrag zum Abbau gesellschaftlicher Widersprüche und damit gesellschaftlicher Spannungen. Betroffene, die sich einerseits eine solche Sichtweise zueigen machen und denen andererseits die Wiederaneignung verschütteter eigener Stärken gelingt, könnten mit einem höheren Selbstbewusstsein als bisher in künftigen Bewerbungsgesprächen besser bestehen.

1.3 Ausrichtung eines Schreibgruppenkonzeptes für Langzeitarbeitslose

Ziel dieser Arbeit ist es daher, mit einem Beitrag in die beschriebene Lücke zu stoßen. Produkt soll die Entwicklung eines Konzeptes für eine Schreibgruppenaktivität mit selbsttherapeutischer Ausrichtung sein. Dazu soll der folgenden zentralen Fragestellung nachgegangen werden:

Wie ist ein Schreibgruppenangebot mit Langzeitarbeitslosen zu gestalten, das an ihren Vorerfahrungen ansetzt und zum Ziel hat, die in dieser Zielgruppe gehäuft anzutreffenden psychosozialen Probleme mit selbsttherapeutisch ausgerichteten Methoden abzubauen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken, ihre Copingstrategien zu fördern und bei den Teilnehmenden einen emanzipatorischen Prozess zu initiieren?Durch die Begegnung mit sich selbst, mit der eigenen Geschichte, über das Erinnern früher erfolgreich angewandter Copingstrategien, soll zunächst die Erkenntnis gefördert werden, dass eigene, einstmals bewiesene Stärken vorhanden sind, die es zu reaktivieren gilt. Darauf aufbauend soll ein Prozess initiiert werden, durch den sukzessive am Selbstwertgefühl der Teilnehmenden gearbeitet wird, in dem das Kohärenzgefühl gestärkt wird und neue Möglichkeiten des Umgangs mit der Situation erprobt werden können. Letztlich soll dieser initiierte Prozess über die Dauer der Aktion hinaus zu einer individuellen Grundhaltung der Teilnehmenden führen, in der sich in verselbstständigender Weise neue Aktions- und Verhaltensmuster entwickeln können. Ein solcher Prozess ist sozusagen mit dem Anwerfen eines inneren Motors zu vergleichen, der sich in einem permanenten Lauf allmählich stabilisiert und den Teilnehmenden neue Handlungs- und Reaktionsmuster an die Hand gibt.

Sicherlich ist es in diesem Rahmen nicht leistbar, den Teilnehmenden neue Arbeitsmöglichkeiten anzubieten. Jedoch ist individuell für die Teilnehmenden eine Erhöhung der Selbstsicherheit anzustreben, mit der sie sich in einer neuen Qualität und Sicherheit im Auftreten in künftigen Bewerbungssituationen besser präsentieren können.

Letztlich geht es auch darum, politisch zu wirken – indem durch die Gruppenaktivität und den Austausch mit anderen Benachteiligten eine Einsicht in die gesellschaftlichen Mechanismen gefördert wird. So kann zunehmend ein Sinn darin erkannt werden, die eigenen Interessen wirksamer als bisher verfolgen zu sollen.

1.4 Zeitliche, räumliche und thematische Abgrenzungen

Arbeitslosigkeit ist in ihren heutigen unterschiedlichen Auswirkungen eine unausweichliche Begleiterscheinung des Industriekapitalismus. Dementsprechend hat eine Betrachtung der historischen Dimension bei der Industrialisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzusetzen. In dieser Zeit kam ein Großteil der Bevölkerung, die mit der damaligen Landflucht in industrielle Ballungsgebiete strömte, in jene Situation, in der sich grundlegend auch heute der Hauptteil der Bevölkerung befindet. Sie hatten – und haben immer noch – nichts zu verkaufen als ihre Arbeitskraft. Ihre Existenz war und (und ist weiterhin) davon abhängig.

Räumlich beschränkt sich diese Untersuchung auf Deutschland, durch Einbeziehung der Marienthal-Studie (vgl. Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel 1975) teilweise auf frühere österreichische, mit deutschen Bedingungen durchaus vergleichbaren Verhältnissen. Die deutschsprachige Schweiz sowie das deutschsprachige Südtirol sind angesichts der Relationen (Ländergröße, Bevölkerungszahl) vernachlässigbar. Die Marienthal-Studie stammt aus den 1930er Jahren. Hierin wurde erstmals der Versuch unternommen, die Auswirkungen massiver Langzeitarbeitslosigkeit in der gesellschaftlichen und individuellen Dimension zu erfassen und systematisch zu beschreiben. Auf diese Studie beziehen sich im deutschsprachigen Raum auch heute noch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Arbeitslosigkeit.

Thematisch grenzt sich diese Arbeit in folgender Weise ab:

Die Zielgruppe für das Konzept einer Schreibgruppenaktivität definiere ich wie folgt: Sie besteht aus Menschen beiderlei Geschlechts, unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Qualifikationen. Ihre Gemeinsamkeiten bestehen darin, länger arbeitssuchend und auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein sowie in der Tatsache, dass sie keine günstige Vermittlungsperspektive aufweisen. Maßgebend sollte hier nicht die offizielle Definition von Langzeitarbeitslosigkeit sein (zwölf oder mehr Monate arbeitssuchend), sondern eine Selbsteinschätzung der Betroffenen: Wer z. B. nach sechsmonatiger Arbeitslosigkeit in eine temporäre Beschäftigung gezwungen wird, die im Vergleich zu seiner früheren Tätigkeit wesentlich ungünstigere Rahmenbedingungen aufweist (und er dadurch zunächst aus der Statistik fällt), aber nach Ablauf eines kurzen Zeitvertrages wiederum als arbeitslos gilt, wird sich vermutlich in keiner besseren Lage sehen als jemand, der zwölf oder mehr Monate durchgängig arbeitssuchend ist.

Ausgeklammert aus dieser Zielgruppe sind junge Langzeitarbeitslose, die direkt von der Schule in die Arbeitslosigkeit kamen und die deshalb den Verlust eines Arbeitsplatzes nicht erlebten oder solche, die unmittelbar nach erfolgter Ausbildung arbeitslos wurden. Für sie könnte aufgrund der abweichenden Bedingungen ein gesondertes Konzept für eine Schreibgruppe entwickelt werden, was im Rahmen dieser Arbeit nicht leistbar ist.

Die Aufarbeitung des gesellschaftlichen und individuellen Problems der Langzeitarbeitslosigkeit kann in diesem Rahmen nicht so differenziert erfolgen, wie es bei einer genuinen soziologischen oder sozialpsychologischen Betrachtung erwartet werden könnte. Sie dient hier vornehmlich dem Ziel, jenes Bild zu skizzieren, das von der Gesellschaft als

Mainstream

vermittelt und von Betroffenen, idealtypisch gesehen, internalisiert wurde. Das Ergebnis dieser Aufarbeitung wird benötigt, um mit ihm das Hauptziel dieser Arbeit verfolgen zu können: ein Konzept zu entwickeln, für welches das innere Erleben und die Einstellungen der Teilnehmenden die Grundlage und den Ausgangspunkt bildet. Auch hier gilt, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen.

Für das Konzept der Schreibgruppenpädagogik ist es nicht mein Ziel, eine möglichst breite Palette geeigneter Schreibaktivitäten zur Auswahl zu stellen. Vielmehr soll ein komplettes, in sich schlüssiges Konzept geboten werden, dessen einzelne Teile in einem sinnvollen Kontext zueinander stehen und aufeinander aufbauen. Prüfinstrument zur Auswahl einzelner Angebote sind dabei die Erkenntnisse und Erfordernisse, wie sie sich aus dem vorgeschalteten Forschungsprozess ergeben.

1.5 Persönliche Motivation

Neben der Notwendigkeit, eine fachliche Lücke zu füllen, gibt es für mich auch einen persönlichen Grund, dieses Thema zu bearbeiten. Durch eigene Erfahrungen mit längerer Arbeitslosigkeit – dies vor dem Hintergrund fehlender verwertbarer Bildungsabschlüsse und Berufskompetenzen – musste ich im Alter von 24 Jahren eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten neuer schulischer und beruflicher Anstrengungen treffen. Dies hatte dann, dank wirksamer Hilfe von außen und wegen günstiger Rahmenbedingungen, wie sie heute kaum noch anzutreffen sind, eine recht positive berufliche Entwicklung zur Folge. Ich habe somit selbst erfahren, dass mit externer Hilfestellung die Aktivierung persönlicher Ressourcen möglich ist und dass über diesen Weg Copingstrategien entwickelt und erfolgreich verfolgt werden können.

Als politisch denkender Mensch halte ich es darüber hinaus für möglich und auch für notwendig, den gesellschaftlich benachteiligten Langzeitarbeitslosen Wege zu einer anderen Haltung bezüglich ihrer Benachteiligung aufzuzeigen. Dies wäre letztlich ein Beitrag, einen emanzipatorischen Prozess in ihnen auszulösen.

2. Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches und individuelles Problem

Im Folgenden geht es weniger um eine bis ins Kleinste ausdifferenzierte Analyse der Ursachen von Langzeitarbeitslosigkeit, sondern eher um eine Bestandsaufnahme, um eine Zustandsbeschreibung der Lebenssituation der davon Betroffenen. Auf dieser Basis kann das bewährte sozialpädagogische Konzept, wonach Menschen dort abgeholt werden sollen, wo sie stehen, bei der Entwicklung einer Schreibgruppenaktivität Anwendung finden (ein Konzept, das in heutigen Zeiten mit verstärkter Eingriffsverwaltung aus der Mode zu kommen scheint). Ziel ist nicht die Indoktrinierung von Langzeitarbeitslosen, sondern ihre Aktivierung zur Gegenwehr über ein wachsendes Verständnis zur eigenen Lage. Dies hätte ein höheres gesellschaftsveränderndes Potenzial als sämtliche Analysen, die unüberprüfbar von der Zielgruppe akzeptiert oder verworfen werden sollen. Es ist eine Tatsache: Die Arroganz von Macht beginnt und äußert sich durch Anwendung von Herrschaftssprache, die Tatbestände euphemistisch verbrämt und gar nicht verstanden werden will.

Beim Nachzeichnen der Bedingungen von Langzeitarbeitslosigkeit steht daher das Erleben der Betroffenen im Fokus, die solche Bedingungen eben – fern aller theoretischen Überlegungen – durch ihre subjektive Brille betrachten. Unter Einbeziehung dieser subjektiven Deutungen soll das zu entwickelnde Schreibgruppenkonzept erfolgen.

2.1. Arbeitslosigkeit im Kapitalismus in ihrer gesellschaftlichen Dimension

Die Situation Arbeitsloser in der kapitalistischen Gesellschaft war nie ein statischer Zustand, sondern unter wechselnden gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen stets von einer dynamischen Entwicklung gekennzeichnet. Dies macht es erforderlich, zunächst diese Bedingungen in ihren jeweiligen Veränderungen nachzuzeichnen; denn neben den aktuellen Erfahrungen von Arbeitslosen spielt für alle abhängig Beschäftigten der historische Kontext, d. h. die gemeinsamen Erfahrungen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es ist eine seit Generationen kollektive und über Oral History weitervermittelte Erfahrung: Nach erkämpften sozialstaatlichen Verbesserungen wurden damit verbundene Leistungen letztlich wieder abgebaut. Sie wurden als Steinbruch genutzt, um gefährdete Profitinteressen durch eine entsprechend ausgerichtete Politik abzusichern. In Bezug auf staatlich organisierte Unterstützungsleistungen in Krisenzeiten verdichtete sich so überliefertes Wissen seit Beginn der Industrialisierung zu einem kollektiven Gedächtnis, das den jeweils nachwachsenden Generationen vermittelt wurde und das die Grundlage bildet für Einstellungen, Sichtweisen und Blockaden. Es sind tiefsitzende, nur schwer zu revidierende vermeintliche Gewissheiten, die Beschäftigte und Arbeitslose gleichermaßen verinnerlicht haben und die ihr Handeln entscheidend zu behindern vermögen. Die Hilflosigkeit signalisierende Einstellung, die da oben mach(t)en ja doch, was sie wollen, deutet auf eine der Hauptquellen, aus der sich die Ohnmacht Langzeitarbeitsloser speist. Wenn auch nur ein Teil der Betroffenen die sich darin manifestierenden Mechanismen durchschaut, wäre das für sie ein unterstützenswerter Ansatzpunkt, diesem Teufelskreis zu entrinnen. Abhängig Beschäftigte sind auch heute nicht geschichtslos. In ihrem kollektiven Gedächtnis sind Ereignisse und historische Brüche gespeichert, die sie mit aktuellen Erfahrungen in Beziehung setzen. So wird Realität stetig mit dem bisherigen Weltbild abgeglichen und auf Veränderung geprüft. Die historisch erlebte und überlieferte Entwicklung erhält so Referenzcharakter.

Bei der folgenden Betrachtung soll zunächst die Entwicklung sozialstaatlicher Leistungen für Arbeitslose skizziert werden. Zum besseren Verständnis wird die Gesamtentwicklung aller sozialstaatlichen Leistungen umrissen, in denen die Arbeitslosenversicherung heute als Vierte Säule gilt. Arbeitslosenversicherung als integraler Bestandteil solcher Leistungen wurde wesentlich später als Krankenversicherung und Rentenversicherung eingeführt. Eine genuine staatliche Arbeitslosenversicherung wurde erst 1927 eingerichtet (vgl. Metzler 2003, S. 71), während bis dahin bezogene Leistungen Fürsorgecharakter hatten. Seitdem hat sie einen stetigen Wandel erfahren, der vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen Machtverhältnisse zu sehen ist.

2.1.1 Die Entwicklung sozialstaatlicher Politik, insbesondere unter dem Aspekt unterstützender staatlicher Maßnahmen für Arbeitslose

„Deutschland gilt als Mutterland des Sozialstaates. Da dieser nicht am Reißbrett konstruiert, sondern im Laufe eines Jahrhunderts gewachsen und das Ergebnis gesellschaftlicher Konflikte wie politischer und geistig-ideologischer Auseinandersetzungen ist, erschließen sich seine Institutionen nur aus ihrem je konkreten Entstehungszusammenhang heraus“ (Butterwegge 2005, S. 37). Für die Entwicklung mit strukturellen Veränderungen, die sich in Perioden vollzog, waren jeweils die politischen Verhältnisse bestimmend, die je nach dem herrschenden System unterschiedlichen Bedingungen unterlagen. Diese Entwicklung kann in vier Phasen eingeteilt werden: in eine Konstruktionsphase von 1871-1914, in eine Konsolidierungsphase, die von wesentlichen Rückschritten während der NS-Zeit (1933 - 1945) geprägt war, in eine Rekonstruktions- und Aufbauphase von 19491975 und schließlich in eine Umbau- bzw. Abbauphase von 1975 bis heute (vgl. ebd., S. 37).

Die Linderung von Armut in ihren individuellen Auswirkungen geschah bis zum 16. Jahrhundert vornehmlich aus christlichen Beweggründen. Ab dann begannen einzelne Städte mit ersten sozialpolitischen Maßnahmen. Dies hauptsächlich mit der Intention, das Bettlerproblem steuern zu können, indem Spitäler und Armenhäuser errichtet wurden. Diese ersten Ansätze von Sozialpolitik waren letztlich der Schlüssel, mit dem allmählich jener wachsende Anteil von Lohnarbeitern verfügbar wurde, der eine umfassende Industrialisierung erst ermöglichte. In diesen Institutionen wurde eine Arbeitseinstellung gefördert und erzwungen, wie sie von einer arbeitsteiligen Gesellschaft unter bürgerlichen Bedingungen fortan benötigt wurde. Repression, z. B. über ein strenges Reglement in Armenhäusern, Zucht- und Arbeitshäusern, war hierzu das wirksame Mittel. Ökonomisch bewirkte dies einerseits eine Entlastung der Armenkassen, andererseits bot sich ordnungspolitisch so ein Instrument, die notwendige soziale Disziplin zu erreichen bei jenen, die als Lohnarbeiter benötigt wurden. Über die auf solche Weise verinnerlichten Werte und Normen wurden sie erst für die neuen Arbeitsbedingungen funktionstüchtig und verwertbar (vgl. ebd., S. 37).

Vor Einrichtung staatlicher Sozialversicherungen und bis in die Zeiten des Kaiserreichs hinein betrieben Arbeiter eigene Kassen als kollektive Selbsthilfeeinrichtungen nach dem Vorbild der Handwerkszünfte. Durch die bürgerlichen Revolutionen wurde der modernen Industrieproduktion der Boden bereitet und ihr zum Durchbruch verholfen. Der wirtschaftliche Liberalismus gelangte so mit staatlicher Unterstützung zur Blüte. Das entstehende Industriesystem schuf einerseits das Fundament für ein sozialstaatliches Engagement, durch seinen Rigorismus im Umgang mit den arbeitenden Menschen aber auch die Notwendigkeit, staatlich zu intervenieren und entstandene Not zu lindern.

Die Sozialgesetzgebung Bismarcks ist vor diesem Hintergrund als sozialpolitisch logisch anzusehen. Allerdings ging es ihm bei der Einführung auch darum, den Einfluss vorhandener Selbsthilfeorganisationen (vornehmlich politische Parteien und Gewerkschaften) zu verringern. Bismarck als Gründer des Sozialstaates bezeichnen zu wollen hieße jedoch, einen wesentlichen Aspekt zu ignorieren: Tatsächlich wurde durch die von ihm initiierten Maßnahmen die Armenpolitik von der Arbeiterpolitik getrennt. Arbeiter waren nun potenziell leistungsberechtigt, während Arbeitslose der Armenpflege anheimfielen. Dies bewirkte faktisch eine Spaltung zwischen Arbeitsbesitzern und Arbeitslosen und war politisch gewollt.

Durch die Auswirkungen des 1. Weltkriegs erhielt der Sozialstaatsgedanke einen neuen Stellenwert. Das Hauptproblem stellten die zurückkehrenden Soldaten dar, die sich in der Arbeitslosigkeit wiederfanden. Als Konsequenz daraus wurde im November 1918 eine Verordnung über Erwerbslosenfürsorge erlassen. Dies stellte für Betroffene eine Verbesserung dar. Eine Anspruchsberechtigung auf Grundlage einer Arbeitslosenversicherung wurde jedoch erst neun Jahre später geschaffen. Die im Vergleich zum Kaiserreich fortschrittliche Weimarer Republik erhielt in ihrer neuen Verfassung noch kein Sozialstaatsbekenntnis, aber immerhin Schutzrechte für Arbeitende und sozial Benachteiligte. Erst ab 1927 wurde eine Arbeitslosenunterstützung für zunächst 26 Wochen, später für 52 Wochen gezahlt – auf Grundlage einer scharfen Bedürfnisprüfung, die nicht nur direkt Betroffene, sondern auch die mit zu unterhaltenden Personen betraf. Nach Auslaufen der Anspruchsfrist wurden die Betroffenen aus der Erwerbslosenfürsorge ausgesteuert. Sie konnten stattdessen Wohlfahrtsfürsorge beantragen, wegen der scharfen Prüfungskriterien erhielten jedoch nur 50% bis maximal 80% von ihnen weitere Leistungen (vgl. ebd., S. 49). Dies erklärt sich dadurch, dass die für die Leistungen zuständigen Kommunen ihre Etats schützen wollten und rigoros alle Möglichkeiten nutzten, Leistungen nicht zahlen zu müssen. Für viele Betroffene war daher die Armenpflege jenseits der staatlich vorgehaltenen Leistungen der letzte Ausweg. Dazu gab es für die Betroffenen im Rahmen der produktiven Erwerbslosenfürsorge eine Zwangsverpflichtung zu öffentlichen Notstandsarbeiten. Im Oktober 1923 wurde die Pflichtarbeit eingeführt und die weitere Unterstützungsleistung von dieser Arbeitsleistung abhängig gemacht, die bis zu 24 Stunden pro Woche dauern konnte. Die Kommunen setzten nun vorzugsweise Zwangsverpflichtete ein, um weitere Lohnkosten sparen zu können. Erst mit dem 1927 verabschiedeten Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) wurde die Arbeitslosenversicherung zur Vierten Säule des Sozialversicherungssystems (vgl. Metzler 2003, S. 71). Die Repression gegenüber Leistungsempfängern wurde damit jedoch nicht beseitigt. Die Arbeitgeberseite forderte vor dem Hintergrund ihrer paritätischen finanziellen Beteiligung stetig Kürzungen der Lohnersatzleistungen. Für Betroffene spielte die Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung nach Ablauf der Anwartschaft eine wesentliche Rolle – sie bedeutete weniger Geld und einen höheren Statusverlust.

Als nach einer Periode relativer Stabilisierung auf dem Arbeitsmarkt die Krisen und damit die Klassenauseinandersetzungen wieder zunahmen, begann eine heftige Diskussion über wachsende Soziallasten. Die Arbeitgeberseite, vornehmlich die Industrie, wollte das neue Gesetz abschaffen und das Versicherungsprinzip wieder durch das Fürsorgeprinzip ersetzen. Man strebte damit an, sich der paritätischen Finanzierung zu entziehen und so die Gewinne zu steigern. In der Weltwirtschaftskrise 1929-1933 zerbrach dann endgültig der Konsens zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Als die SPD aus der Regierungsbeteiligung gedrängt worden war und das Deutsche Reich bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten mit Präsidialkabinetten und Notverordnungen regiert wurde, beschnitt man die sozialen Teilhaberechte zunehmend. Die Austeritätspolitik und das Beschwören der Selbstheilungskräfte des Marktes bewirkten, dass sich der Sozialstaat als gesellschaftliche Errungenschaft zurückzog. Die jeweilige Politik der Reichskanzler Brüning und v. Papen führte dazu, dass faktisch der Staat für die folgende NS-Diktatur sturmreif geschossen wurde. Kanzler v. Papen wollte den Wohlfahrtsstaat erklärtermaßen abschaffen, weil er die künftige Prosperität gefährdet sah. 1932 waren schließlich 50% aller erwerbstätigen Arbeiter und Angestellten unter der Rubrik Wohlfahrtsarbeitslose einzuordnen.

Die Zeit zwischen 1933 und 1945 muss auch hinsichtlich sozialstaatlicher Aspekte als geschichtlicher Sonderfall eingeordnet werden. Die bereits im Namen der Partei NSDAP enthaltene Botschaft, es handelte sich bei der politischen Zielrichtung um einen speziellen deutschen Sozialismus, entpuppte sich spätestens mit der Machtergreifung als Lüge. Es ging tatsächlich darum, die Machtverhältnisse auf Dauer zugunsten der Kapitalseite zu entscheiden und die Arbeiterbewegung zu entmachten. Soziale Errungenschaften wurden nun den Weltmachtbestrebungen untergeordnet. Dies war mit einem Paradigmenwechsel verbunden: Angestrebt wurde nicht eine soziale Sicherung des Einzelnen, sondern seine funktionierende Leistungsfähigkeit für die Zwecke des Regimes (vgl. ebd., S. 59 ff.). Der unsoziale Charakter wurde auch dadurch deutlich, dass die nicht für den Produktionsprozess einsetzbaren Personen entweder von Transferleistungen ausgeschlossen oder gar ausgemerzt wurden. Die Deutung vom autoritären Wohlfahrtsstaat während der NS-Zeit ist somit als falsch, verharmlosend und zynisch zurückzuweisen. Im Blick standen nicht die Bedürfnisse der Individuen, sondern die Funktionsfähigkeit des bürgerlichen Staates und die Garantie der Gewinnaussichten für das Kapital. Obwohl bestehende Ansätze der sozialen Errungenschaften formal fortgeführt wurden, wie z. B. die beitragsfinanzierte Altersversorgung, wurde die Beschränkung und Beseitigung sozialstaatlicher Grundsätze vehement betrieben. Aus dem Sozialstaat wurde ein in alle Belange sich einmischender Staat – im NS-Staat hatte man für originäre sozialstaatliche Ideen nur Verachtung übrig.

Mit dem Ende des 2. Weltkriegs setzte sich allgemein die Erkenntnis durch, dass es einen nicht zu übersehenden Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit gab und die soziale Not die faschistische Machtübernahme erst ermöglicht hatte. Diese Erkenntnis, die durch den Krieg ausgelösten technischwissenschaftlichen Fortschritte sowie die ideologische Konkurrenz durch den neu entstandenen Sozialismus sowjetischer Prägung in den osteuropäischen Satellitenstaaten lösten in den westlichen Industrieländern eine Neuausrichtung aus. Der Kapitalismus sah sich dahin gedrängt, einer künftigen freien Marktwirtschaft Planung und Regulierung zu verordnen. Westdeutschland profitierte so von der auf dieser Grundlage entstehenden Kapitalismusvariante und erfand dafür die Bezeichnung Soziale Marktwirtschaft.

Die fünf Phasen der Wirtschaftsentwicklung von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 bis heute lassen sich wie folgt einordnen: Nach einer Restaurationsphase 1949-1953 kam es zu einer längeren Ausbauphase von 1953 bis 1975. Die Zeit von 1975 bis 1990 kann als Konsolidierungsphase bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung kam es zu einer späten Expansionsphase von 1990 bis 1995. Seit 1995 bis heute verharrt Deutschland in einer andauernden Krisensituation (vgl. ebd., S. 63).

Parallel dazu gestaltete sich die Entwicklung des Sozialstaats in vier Phasen: An den Aufbau und die Normalisierung in der Zeit von 1949 bis 1966 schloss sich eine Zeit der Weiterentwicklung und Modernisierung an, die von 1966 bis 1975 dauerte. Mit Beginn der Krise 1975 kam der Sozialstaat in eine Bedrängnis, der er sich bis 1995 noch erwehren und zumindest teilweise seine Substanz sichern konnte. In dieser Zeit wurde zwischen Kapital, Gewerkschaften und Sozialverbänden um Besitzstände gerungen. Ab 1995 setzte sich bis heute der Rückbau sozialstaatlicher Leistungen permanent fort, nicht zuletzt, weil die Interessenvertretungen der Arbeitenden in ihren Einflussmöglichkeiten zunehmend schwächer wurden.

Die entscheidenden Weichenstellungen in der Zeit von 1945-1949 wurden von den westlichen Siegermächten vorgenommen (zu den Unterschieden in der Entwicklung von BRD und DDR in der Zeit bis 1990 wird weiter unten einzugehen sein). Die Bruchstelle in beiden Entwicklungssträngen von einem prosperierenden zu einem krisenhaften Verlauf findet sich Mitte der 1970er Jahre – ausgelöst durch die weltweite Ölkrise, die weitere Krisen nach sich zog. Ab nun geriet der Sozialstaat in die Defensive und wurde sukzessive demontiert. Eindeutige Parallelen in