Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht - Joseph Roth - E-Book + Hörbuch

Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht E-Book

Joseph Roth

4,6

Beschreibung

Eine lange, durchzechte Nacht hindurch lauschen die Gäste des russischen Emigrantenrestaurants Tari- Bari in Paris der Lebensgeschichte Semjon Golubtschiks, illegitimer Sohn des Fürsten Krapotkin, ehemaliger Spitzel der zaristischen Geheimpolizei Ochrana, Liebhaber des Mannequins Annette Leclaire, der sich selbst einen Mörder nennt.

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Cover
Über den Autor

Joseph Roth (1894-1939) begann 1913 ein Germanistikstudium an der Universität Lemberg und wechselte später an die Universität Wien. 1916 kam er zum Militär, sein Studium nahm er jedoch nach dem Ersten Weltkrieg nicht wieder auf, sondern wurde Journalist. 1922 heiratete er Friederike Reichler und ging 1925 als Feuilletonkorrespondent der „Frankfurter Zeitung“ nach Paris. Friederike erkrankte an Schizophrenie und wurde 1929 in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Der Schicksalsschlag warf Joseph Roth aus der Bahn und belastete ihn schwer. Am 27. Mai 1939 erlag er einer Lungenentzündung.

„Durch seine Romane schreiten Verzweifelte, besonders Jünglinge, in den Untergang. Er liebte die Leidenschaften. Wahrheit und Gerechtigkeit, Maß und Melodie, Vernunft und Reinheit sind die Merkmale seiner Schriften. Er war ein Romantiker, aber mit den Augen eines Realisten. Er kam aus dem Osten und ging in den Westen.“ Hermann Kesten

„Der Dichter Roth ist in drei Kulturen zu Hause: in erster Linie in der deutschen Sprache und Literatur. (…). Das zweite Element ist die jüdische Kultur mit ihren volkstümlichen und kulturellen Ausläufern ins Jiddische und Hebräische. (…) Die slawische Welt dient als Schauplatz für einen Großteil des Geschehens in Roths Werk.“ Gershon Shaked

„Ich bin ein Franzose aus dem Osten, ein Humanist, ein Rationalist mit Religion, ein Katholik mit jüdischem Gehirn, ein wirklicher Revolutionär.“ Joseph Roth

Zum Buch

Eine lange, durchzechte Nacht hindurch lauschen die Gäste des russischen Emigrantenrestaurants „Tari-Bari“ in Paris der spannenden Lebensgeschichte Semjon Golubtschiks, illegitimer Sohn des Fürsten Krapotkin, ehemaliger Spitzel der zaristischen Geheimpolizei Ochrana, Liebhaber des Modells Annette Leclaire, der sich selbst einen zweifachen Mörder nennt...

Haupttitel

JOSEPH ROTH

Beichte eines Mörders,

erzählt in einer Nacht

Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.  Alle Rechte vorbehalten  Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2011 Der Text wurde behutsam revidiert nach Ausgabe Allert de Lange, Amsterdam 1936 Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH Bildnachweis: iStockphoto, Calgary Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz eBook-Bearbeitung: Medienservice Feiß, Burgwitz Gesetzt in der Palatino Ind Uni – untersteht der GPL v2   ISBN: 978-3-8438-0001-3  www.marixverlag.de
Beichte eines Mörders

Vor einigen Jahren wohnte ich in der Rue des Quatres Vents. Meinen Fenstern gegenüber lag das russische Restaurant »Tari-Bari«. Oft pflegte ich dort zu essen. Dort konnte man zu jeder Stunde des Tages eine rote Rübensuppe bekommen, gebackenen Fisch und gekochtes Rindfleisch. Ich stand manchmal spät am Tage auf. Die französischen Gasthäuser, in denen die altüberlieferten Stunden des Mittagessens strenge eingehalten wurden, bereiteten sich schon für die Nachtmähler vor. Im russischen Restaurant aber spielte die Zeit keine Rolle. Eine blecherne Uhr hing an der Wand. Manchmal stand sie, manchmal ging sie falsch; sie schien die Zeit nicht anzeigen, sondern verhöhnen zu wollen. Niemand sah nach ihr. Die meisten Gäste dieses Restaurants waren russische Emigranten. Und selbst jene unter ihnen, die in ihrer Heimat einen Sinn für Pünktlichkeit und Genauigkeit besessen haben mochten, hatten ihn in der Fremde entweder verloren oder sie schämten sich, ihn zu zeigen. Ja, es war, als demonstrierten die Emigranten bewusst gegen die berechnende, alles berechnende und so sehr berechnete Gesinnung des europäischen Westens, und als wären sie bemüht, nicht nur echte Russen zu bleiben, sondern auch »echte Russen« zu spielen, den Vorstellungen zu entsprechen, die sich der europäische Westen von den Russen gemacht hat. Also war die schlecht gehende oder stehen gebliebene Uhr im Restaurant »Tari-Bari« mehr als ein zufälliges Requisit: nämlich ein symbolisches. Die Gesetze der Zeit schienen aufgehoben zu sein. Und manchmal beobachtete ich, dass selbst die russischen Taxi-Chauffeure, die doch gewiss bestimmte Dienststunden einhalten mussten, ebenso wenig um den Gang der Zeit bekümmert waren wie die anderen Emigranten, die gar keinen Beruf hatten und die von den Almosen ihrer bemittelten Landsleute lebten. Derlei berufslose Russen gab es viele im Restaurant »Tari-Bari«. Sie saßen dort zu jeder Tageszeit und spät am Abend und noch in der Nacht, wenn der Wirt mit den Kellnern abzurechnen begann, die Eingangstür schon geschlossen war und nur noch eine einzige Lampe über der automatischen Stahlkasse brannte. Gemeinsam mit den Kellnern und dem Wirt verließen diese Gäste die Speisestube. Manche unter ihnen, die obdachlos oder angetrunken waren, ließ der Wirt über Nacht im Restaurant schlafen. Es war zu anstrengend, sie zu wecken und sogar, wenn man sie geweckt hätte, wären sie doch gezwungen gewesen, nach einem andern Obdach bei einem andern Landsmann zu suchen. Obwohl ich an den meisten Tagen, wie gesagt, selbst sehr spät aufstand, konnte ich doch manchmal am Morgen, wenn ich zufällig an mein Fenster trat, sehen, dass das »Tari-Bari« schon geöffnet war und »in vollem Betrieb«, wie der Ausdruck für Gasthäuser lautet. Die Leute gingen ein und aus. Sie nahmen dort offenbar das erste Frühstück und manchmal sogar ein alkoholisches erstes Frühstück. Denn ich sah manche taumelnd herauskommen, die noch mit ganz sichern Füßen eingetreten waren. Einzelne Gesichter und Gestalten konnte ich mir merken. Und unter diesen, die auffällig genug waren, um sich mir einzuprägen, befand sich ein Mann, von dem ich annehmen durfte, dass er zu jeder Stunde des Tages im Restaurant »Tari-Bari« anzutreffen sei. Denn so oft ich auch des Morgens ans Fenster kam, sah ich ihn drüben, vor der Tür des Gasthauses, Gäste begleitend oder Gäste begrüßend. Und so oft ich am späten Nachmittag zum Essen kam, saß er an irgendeinem der Tische, mit den Gästen plaudernd. Und trat ich spät am Abend, vor »Geschäftsschluss« wie die Fachleute sagen im »Tari-Bari« ein, um noch einen Schnaps zu trinken, so saß jener Fremde an der Kasse und half dem Wirt und den Kellnern bei den Abrechnungen. Im Laufe der Zeit schien er sich auch an meinen Anblick gewöhnt zu haben und mich für eine Art Kollegen zu halten. Er würdigte mich der Auszeichnung, ein Stammgast zu sein wie er und er begrüßte mich nach einigen Wochen mit dem erkennenden und wortreichen Lächeln, das alte Bekannte füreinander haben. Ich will zugeben, dass mich dieses Lächeln am Anfang störte denn das sonst ehrliche und sympathische Angesicht des Mannes bekam, wenn es lächelte, nicht geradezu einen widerwärtigen, wohl aber einen gleichsam verdächtigen Zug. Sein Lächeln war nicht etwas Helles, es erhellte also nicht das Gesicht, sondern es war trotz aller Freundlichkeit düster, ja, wie ein Schatten huschte es über das Angesicht, ein freundlicher Schatten. Und also wäre es mir lieber gewesen, wenn der Mann nicht gelächelt hätte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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