Der blinde Spiegel - Joseph Roth - E-Book

Der blinde Spiegel E-Book

Joseph Roth

0,0

Beschreibung

Eine junge Frau sucht nach ihrem Platz im Leben: im Beruf und in der Liebe ... Joseph Roth erzählt die Geschichte in hochpoetischer Sprache.

Das E-Book Der blinde Spiegel wird angeboten von Ideenbrücke Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Liebesroman, Joseph Roth, Der blinde Spiegel

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 65

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der blinde Spiegel

Schicksal einer jungen Frau

idb, 2016

IIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIIIXIVXV

             Die kleine Fini saß auf einer Bank im Prater und hüllte sich in die gute, bergende Wärme des Apriltages. Einer süßen, niegekannten, fremden Ohnmacht gab sie sich willig hin wie einer Melodie. Das Blut hämmerte schwer und schnell gegen die dünne Haut der Pulse und Schläfen. Das blasse Grün der Bäume und Wiesen breitete sich aus über Kinderwagen, Steinen und Bänken. Alles Sichtbare floß ineinander, als blickte man aus einem sehr schnellen Zug in eine sehr grünende Welt. Es dauerte einen ewigen Augenblick. Dann gewannen Menschen und Gegenstände der Umgebung ihre Konturen wieder, eigene Gestalt und eigenes Leben, Gang und Haltung, besonderes Merkmal und vertrautes Gesicht. Aber die Ohnmacht schwang noch nach, singend im Blut, mit ihm kreisend, füllte sie die Adern, den ganzen Körper wie ein Choral eine Kirche. Die Leere sang, schwer waren die Glieder, aber leicht und schwebend das Leben, Flügel bekam das Herz wie in der Stunde besiegten Sterbens. Fernab flatterten schwarze Ängste nieder, kein Dunkel drohte mehr, es wartete keine Gewalt, keine Furcht zuckte auf am weiten, glücklichen Horizont eines wunderbaren Tags. Fini konnte das langsame Pochen ihres Herzens hören, tröstend war diese unmittelbare Nähe des eigenen warmen Lebens, zum erstenmal und überraschend waren sie und ihr Herz merkbar allein, und sein Pochen wie eine langsam tropfende, tröstliche Antwort auf angstvoll verschwiegene Fragen. Die Brust war leicht wie kurz nach einer ausgeschütteten Qual, und sorglich gebettet in eine beglückende Wehmut – als würde man weinen, als löste sich eine schmerzlich gekrampfte Fessel nach langen Jahren – endlich, endlich.

           Fini, die Kleine, erhob sich und streckte die Arme, jung, wie ein junger Vogel zu fliegen versucht, und als sie den ersten Schritt machte, kamen die Gedanken wieder. In rätselhafter Nähe hatten sie gelauert, wie Fliegenschwärme kamen sie; die kleinen Ängste, die flinken, schwarzen Sorgen, die häßlich huschenden Nöte, die Drohungen des Morgen und Übermorgen, die grausamen Bilder grausamer Tage, und die Furcht wölbte sich wie ein niederes Joch über zitterndem Nacken.

           Verrauscht war die süße Musik der Ohnmacht, der gute, schläfrige Sang des Vergessens, verblaßt alle leuchtende Weite des sorglosen Nichts und ausgekühlt die bergende Wärme des lauen Tags. Fini fror im Aprilabend, als sie aufstand, um die Briefe auszutragen an die Firma Mendel & Co., an das Landesgericht I und II, an den Nebenkläger Wolff & Söhne, die fremden Briefe in dem grüngefaßten Buch, die fremden Briefe in die fremden Vorzimmer, die leichte, die schmerzende Last, die man austrug, um das Porto zu verdienen, von vier Uhr nachmittags bis sieben Uhr abends.

           Durch die großen Straßen ging sie, verloren und gering, und merkte erst in einem Hausflur, daß der Brief an das Landesgericht I nicht mehr da war, der wichtige Brief, in der lockeren Reihe flüchtiger Unterschriften fehlte eine, war eine Zeile leer und rundete sich, sah man lange darauf, zu einem furchtbar glotzenden Loch, einem hohlen, weißen Auge. Ein großes Zittern befiel das kleine, frierende Mädchen, und die Kälte wuchs, die man kaum mehr ertrug, mitten im lauen Aprilabend – man fühlte ihn, und er wärmte nicht. Fini wollte die Wärme herabziehn und sie um die dünnen Schultern legen. Wie der Abend die Stadt einhüllte, so sollte er sie auch schützen, die verloren war in der unermeßlichen Straße.

           Ach! wenn man so dünn und gering ist, tut es gut, sich irgendwo bergen zu können, in der lärmenden Wüste der Stadt. Drohend wölbt sich das eiserne Leben über unsern kleinen Köpfen, und wir sind machtlos und verloren, preisgegeben dem bellenden Hund und dem blinkenden Polizisten, dem gierigen Auge des Mannes und dem keifenden Ruf des kriegsbereiten Weibes, dem wir besinnungslos in den Weg treten, jeder Macht, die auf den Plätzen lebt und an den Ecken lauert. Jetzt müßte man ein Haus wissen, in das man gehn dürfte, ein schützendes Haus mit reichem Portal, das uns mütterlich empfängt und speist und tröstet und die große Furcht aus unsern Herzen treibt wie der mächtige Portier die unbefugten Eindringlinge; jetzt, da man die Unbarmherzigkeit des Draußen gefühlt hatte, täte ein großes, bergendes Haus so wohl. Keine Sorge wäre drin um den verlorenen Brief und das bange erwartete Morgen.

           Als der weißgekittelte Mann kam und eine Laterne mit langer Stange entzündete, huschte eine kleine Wärme durch das frierende Mädchen und ein armer, aber guter Trost, daß zwischen dem Heute und dem Morgen noch eine lange Nacht lag. Zwischen dem Unglück und seinen schrecklichen Folgen waren zwölf oder zehn Stunden und ein Schlaf und ein rettender Traum vielleicht und Zeit genug für ein Wunder, das einmal ja kommen muß in unserem Leben. Vielleicht, wenn kein Traum kam und das Wunder enttäuschte, ließ sich in der Früh noch mit Doktor Blum, dem Sozius, reden, der besser war, weil er jünger war, und eine Stirnlocke trug wie ein Student.

             Noch war die Mutter nicht zu Hause. – Es ist gut, wenn unsere Mütter nicht da sind, die Mütter mit den ungläubig forschenden Augen, die traurig sind und weinen müssen, strenge und fürchterlich und dennoch traurig, unsere armen Mütter, die nichts verstehen und schelten und vor denen wir lügen müssen. Wir brauchen niemandem Bericht zu erstatten, und keine Furcht ist in uns vor der Wirkung des Berichts, keine Furcht vor dem Zwang zur Lüge und keine um ihre Entdeckung. Fini entkleidete sich langsam; sie fühlte es warm und feucht an ihren Schenkeln rinnen, Blut mußte es sein, groß war ihre Sorge. Irgend etwas war mit ihr geschehen, und sie forschte in ihrem vergeßlichen Gehirn nach einer Sünde, einer vor grauen Tagen begangenen.

           Es ist schön, sich allein im Zimmer vor dem Spiegel entkleiden zu können – allein, die Tür ist versperrt, als hätte man sein eigenes Zimmer wie Tilly, die Große – und festzustellen, wie die Brüste wachsen, weiß und fest und von rosigen Kuppen gekrönt, obwohl sie noch nicht so groß und durch die Kleider deutlich sichtbar sind wie bei Tilly, die einen Freund hat und küssen darf.

           Gerührt, als streichelte sie ein kleines, fremdes Tier, so tastete Fini an ihrem Körper, erfühlte den beginnenden Schwung der Hüfte und das kühl gerundete Knie und sah, wie das Blut eine schmale, rote Furche zog, das nackte Bein entlang.