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In der idyllischen Landschaft des Saar-Gaus, in den kleinen stillen Dörfern des Grenzlands, sollten die Menschen in Frieden leben können. Doch was tut ein junger Priester, dem ein Triebtäter den Mord an einem kleinen Jungen beichtet? Wenn dieser Täter sagt, dass er leidet, aber dennoch weiter töten wird, da er nicht anders kann? Alfred Wagner, der Priester, weiß, dass er reden müsste, aber das Kirchenrecht verbietet ihm das. Selbst als er den Täter erkennt, muss er schweigen und es geschehen lassen, dass weitere Jungen getötet werden. Er weiß, dass er für jeden dieser Morde mitverantwortlich, an jedem Mord mitschuldig ist. Gefangen in der unseligen Allianz, die der Mörder ihm aufzwingt und die er selbst nicht lösen kann, zerrissen zwischen dem Zwang, das Beichtgeheimnis zu wahren und dem Wissen, dass er weitere Morde verhindern könnte, hadert er mit seinem Gott, vor allem aber mit seiner Kirche und droht, an der Last zu zerbrechen. Neben den grausamen Morden und den Gewissensqualen des jungen Priesters entwickelt sich die zarte Liebesgeschichte zwischen zwei reifen Menschen, Marie-Sophie van Geldern und Gaston Schmidt. Marie-Sophie reagiert aufgrund ihres eigenen Schicksals besonders sensibel auf die Morde an den Kindern. Seit zwei Jahren lebt sie in B., einem Dreihundert-Seelen-Dorf auf der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich und ist immer noch nicht sicher, ob die Entscheidung richtig war, aus Saarbrücken hierher zu ziehen. Sie empfindet den Kontrast zwischen der Helle und Klarheit der Gaulandschaft und dem Bösen, das hier geschieht, als verstörend. Und sie weiß nicht, ob sie nach der Tragödie ihres Lebens ein neues, spätes Glück mit Gaston überhaupt zulassen darf.
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Seitenzahl: 336
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für meine Kinder
Inhalt
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
KAPITEL 53
KAPITEL 54
KAPITEL 55
KAPITEL 56
KAPITEL 57
KAPITEL 58
KAPITEL 59
KAPITEL 60
KAPITEL 61
KAPITEL 62
KAPITEL 63
KAPITEL 64
KAPITEL 65
KAPITEL 66
KAPITEL 67
KAPITEL 68
KAPITEL 69
KAPITEL 70
KAPITEL 71
KAPITEL 72
KAPITEL 73
KAPITEL 74
KAPITEL 75
KAPITEL 76
KAPITEL 77
KAPITEL 78
KAPITEL 79
KAPITEL 80
„Er ist tot. Ich habe ihn umgebracht. Ich konnte nicht anders.“
Die Stille danach war laut. Und wurde lauter, wurde brüllend.
Der enge Verschlag war auf einmal vom schweren Atem und vom Schweiß dessen erfüllt, der gesprochen hatte.
Wären der Schweiß und das Keuchen nicht gewesen, der junge Zuhörer hätte die Sätze für einen zwar monströsen, aber immerhin möglichen Scherz gehalten, auch für eine gezielte Provokation. Aber er wusste, kaum dass die Worte gesprochen waren, dass sie weder Scherz noch Provokation waren. Er hörte es. Und er roch es.
Nie zuvor war ihm die Nähe eines Menschen, den er nicht sehen konnte, so präsent, so körperlich fühlbar gewesen.
Er wusste, dass er etwas sagen müsste.
Er rang um das richtige Wort. Aber was . . . was konnte er . . . was um Gottes Willen konnte er jetzt . . .?
Bevor auch nur ein einziges Wort möglich war, hörte er, wie die Tür des Beichtstuhls sich leise schloss und schnelle Schritte sich auf dem Steinfußboden entfernten.
Wieder brüllte die Stille
Was . . . was jetzt? Was jetzt? Was, um Gottes Willen, was . . .?
Alfred Wagner, der junge Mann, wusste, dass er dem Davoneilenden folgen musste.
Alfred Wagner, der Priester aber, wusste, dass er das nicht durfte.
Wie schön ist die Landschaft. Sanfte Hügel wechseln mit weiten Muldentälern, in die sich die Dörfchen schmiegen. Von ihnen ist oft nur der Kirchturm zu sehen, ein Wächter, der sie beschützt. So glauben es die Menschen seit mehr als tausend Jahren.
Ein Flüsschen schlängelt sich dahin. Man erkennt es meistens nur an dem Streifen grünen Buschwerks, der es begleitet.
Hier gibt es fast nur Straßen der Kategorie D. Sie wirken eher wie Zierrat im Grün der Landschaft denn als Störung.
Hier ist nichts Schroffes, nichts Hartes.
Weiche Linien besänftigen das Auge, unzählige Grüntöne schmeicheln ihm.
Da ist das helle Grün der Saaten, das Graugrün der Weiden, das Schwarzgrün der Waldstücke.
Und wenn das warme Licht des Spätnachmittags über dem Land liegt und nichts zu hören ist als leises Vogelgezwitscher und vielleicht das ferne Brummen eines Traktors, dann fällt es schwer zu denken, dass hier je etwas anderes gewesen wäre als Frieden.
Nur die, die alt genug sind, um das letzte große Schlachten noch erlebt zu haben, erinnern sich zuweilen. Und dann staunen sie sehr über das Geschenk eines Friedens, der nun schon mehr als siebzig Jahre währt.
Die Menschen, die jetzt über die schmalen Straßen nach Hause fahren, denken solche Gedanken nicht.
Sie haben ihre kleinen und großen Sorgen, wobei auch die letzteren oft nicht wirklich groß sind. Die allermeisten freuen sich auf ihr Feierabendbier oder auf ihren Apéro und das Abendessen im Kreis derer, die sie lieben.
Aber dauernden Frieden gibt es nicht.
Und ein junger Priester weiß, dass er den seinen für immer verloren hat.
Linus Taubert war erregt. Da war er wieder, das Objekt seiner Begierde.
Zweimal schon hatte er ihn gesehen, war ihm gefolgt, war ihm einmal ganz nah gekommen und hatte ihn wieder verloren.
Aber heute würde er ihn nicht verlieren. Heute würde er ihn bekommen.
Er war so schön, so zart. . . Linus atmete tief ein.
Längst hatte er den befestigten Weg verlassen. Er bewegte sich jetzt durch ein Stück Brachland. Aus dem trockenen, rissigen Lehmboden wuchsen vereinzelte harte Grasbüschel. Er stolperte über einen der Kalkbrocken, die der Pflug aus dem Untergrund geholt hatte, als das Stück Land noch beackert wurde.
Er wusste, dass er leise sein musste, möglichst vollkommen geräuschlos.
Er hielt inne, sah sich um. Jetzt nahm er einen süßlichen Geruch wahr.
Natürlich. Er bevorzugt Aas. Und er wusste, dass er ihm nun ganz nah war.
Sein Herz klopfte. Er näherte sich einem Ginsterbusch. Der Verwesungsgeruch wurde stärker. Linus hielt die Luft an. Hinter dem Busch . . .
Er vermied das geringste Geräusch, glitt langsam, lautlos um den Busch – und sah ihn, nein, es waren drei, am Boden, dicht beieinander.
Das Klicken der Kamera scheuchte sie auf.
Und drei wunderschöne Schmetterlinge erhoben sich in den Sommerhimmel.
Noch ein Foto. Linus hatte die Beute.
Aber er sah jetzt auch, wobei er sie gestört hatte.
Sie waren dabei gewesen, das Gesicht eines kleinen Jungen zu fressen.
Die Ordnung war gestört. Die Ruhe, der Frieden dieser Landschaft waren zerstört, zum ersten Mal seit mehr als sieben Jahrzehnten.
Zwei Streifenwagen und der Van der Spurensicherung hielten auf dem unbefestigten Feldweg, so nah wie möglich am Fundort der Leiche. Dieser lag etwa zweihundert Meter querfeldein und war nur zu Fuß zu erreichen.
Soviel konnte der Gerichtsmediziner schon sagen: Der Fundort war nicht der Tatort.
Der Junge war acht bis neun Jahre alt und zwei bis drei Tage tot.
Die kleine Leiche war notdürftig in eine Decke eingewickelt worden. Der Rumpf war übersät von Stich- und Schnittverletzungen.
Linus war übel. Er hatte sich schon übergeben, aber die Übelkeit war nicht gewichen.
Er schluckte, versuchte, sich auf die Fragen des Polizisten zu konzentrieren.
„Noch einmal: Wie kommt es, dass Sie die Leiche gefunden haben, so weit vom Weg entfernt?“
„Er hat mich hingeführt. Ich bin ihm gefolgt.“
Der Polizist hob die Augenbrauen, wartete.
Apatura iris.“
„Bitte?“
„Apatura iris. Der große Schillerfalter.“
„Ein Falter? Sie wollen mir erzählen, dass ein Schmetterling Sie zu der Leiche geführt hat?“
„Ja.“ Die Übelkeit wurde stärker.
Der Polizist sah es. Alfons Schwarz hatte zweiunddreißig Dienstjahre hinter sich und glaubte nicht, dass hier ein Kindermörder vor ihm saß. Aber er wusste auch, dass der Schein manchmal trog.
„Dann erklären Sie mir das!“
„Der Schillerfalter. Er ist schön. Seine Flügel – die von den Männchen – schimmern blau in der Sonne. Ich bin ihm nachgegangen. Er ist ein wunderschönes Geschöpf, so zart und . . .“
„Und dieses wunderschöne Geschöpf jagen und fangen Sie, um es mit einer Nadel an die Wand zu tackern?“
„Nein.“
„Nein?“
„Ich fange sie nicht. Ich fotografiere sie, katalogisiere und kartiere sie. Nicht nur den Schillerfalter, sondern alle Edelfalter, die ich finde. Ich will nämlich eine Übersicht über den Bestand der Nymphalidae in unserer Region erstellen.“
Linus fühlte sich etwas besser. Er war jetzt auf sicherem Terrain.
„Und wieso haben Sie die Leiche gefunden?“
Linus atmete tief ein und wieder aus. Die Fakten.
„Der Schillerfalter ernährt sich hauptsächlich von . . . Aas. Der Geruch lockt sie an, der Geruch von toten Tieren, die zum Beispiel überfahren wurden, Igel, Kröten, aber auch von größeren Tieren. Sie fressen sogar Kot.“
Alfons Schwarz schaute skeptisch. Ein Schmetterling, der Kot frisst?
„Ich hab sie fotografiert. Es waren drei.“ Linus hob die hochwertige Kamera und zeigte die Fotos.
„Die brauchen wir. Es wäre hilfreich, wenn wir die Kamera bis morgen behalten könnten. Und Ihre Aussage brauchen wir schriftlich. Kommen Sie morgen aufs Polizeirevier in S.,
Herr . . .?“ – „Taubert, Linus Taubert.“
Nachdem er Adresse und Telefonnummer angegeben und eine Quittung für die Kamera erhalten hatte, war Linus entlassen.
„Komischer Kauz.“ Polizeihauptkommissar Alfons Schwarz runzelte die Stirn.
„Von was für einer Apparatur har der gefaselt?“, fragte sein junger Kollege Fips.
Philipp Seiwert hatte heute seine erste Leiche gesehen, wodurch sein Wahrnehmungsvermögen offenbar etwas getrübt war.
„Der meint einen Schmetterling.“
Alfons Schwarzens Stirnfalten wurden tiefer.
Marie-Sophie van Geldern schaute und sah . . . ja, was sah sie?
Tote Hose. Öde. Langeweile. Das würden die einen sagen.
Grüne Hügel, einen Bachlauf, eine friedliche Landschaft. Das würden die andern sagen.
Die wellige Hochfläche des Saar-Gaus, dessen Muschelkalk- und Keuperflächen agrarisch genutzt werden. Das würden der Geograf und der Agronom sagen.
Marie-Sophie sah von allem ein bisschen. Vor allem aber sah sie das eine Stück dieser Landschaft, das seit gut zwei Jahren ihr Eigentum war. Seit fünfundzwanzig Monaten und ein paar Tagen gehörte ihr ein Hektar dieser Öde, dieses Grüns, dieser welligen Landschaft.
Hundert mal hundert Meter, das klingt nicht nach viel.
Aber zehntausend Quadratmeter, das klingt fast beängstigend, wenn man sein Leben in einer Dreizimmerwohnung im zweiten Stock in Saarbrücken verbracht hat und ein kleiner Balkon der einzige Zugang zu Frischluft war.
Was sie zu dem Schritt veranlasst hatte, der ihr Leben so drastisch veränderte, konnte sie bis heute nicht genau sagen. Es hatte nicht den einen Grund gegeben, nein, aber es waren ein paar Dinge zusammengekommen, die in der Summe schwer genug wogen, um die Veränderung zu wagen.
Da war dieser Geburtstag gewesen, der per se schon ein Innehalten postulierte, eine Bilanz im Sinne von „Was habe ich schon?“ und „Was will ich noch?“, und der den Gedanken an eine Veränderung durchaus akzeptabel und bisweilen sogar verlockend erscheinen ließ.
Der Fünfzigste, den sie allein verbracht hatte, und, wie sie sich endlich eingestanden hatte, nicht nur allein, sondern einsam. Mitten in der großen Stadt war sie einsam gewesen.
Da war der Brief vom Amtsgericht gewesen, der ein paar Tage nach dem Geburtstag in ihrem Briefkasten gelegen hatte und der sie darüber informierte, dass ihr Onkel Gerhard sie als Erbin seines Vermögens eingesetzt hatte. Ein verspätetes Geschenk? Da war sie immer noch nicht sicher.
Das Vermögen bestand in einem Hektar Land am Rand eines Dörfchens auf der deutsch-französischen Grenze mit drei aufstehenden Gebäuden nebst der Summe von neunzigtausend Euro, die auf einem Sparkonto lag.
Da war Linus gewesen, ihr Neffe, der sie nach Bellingen begleitet hatte, um das Erbe zu besichtigen und sofort begeistert gewesen war. „Tante, das ist das Paradies – nein, das vergessen wir. Paradies impliziert Vertreibung. Kein Paradies, aber ein Geschenk, und ein wunderschöner Platz zum Leben. Hier musst du hingehn – und wenn du mich lässt, komm ich mit.“
Und da war schließlich die Tatsache, dass sie ihren Beruf als freischaffende Kolumnistin und als erfolglose Schriftstellerin an jedem Ort ausüben konnte.
Es war nicht so gewesen, dass es keine Gegenargumente gegeben hätte.
Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, Kino und Theater, der Bummel durch die Altstadt, das Eiscafé, all das genoss sie, auch allein.
Aber hier spürte sie seit einiger Zeit eine Veränderung. Sie begann, etwas zu vermissen.
Nein. Nicht etwas. Jemanden. Nach fünfzehn Jahren der Witwenschaft fühlte sie, dass ihr jemand fehlte. Dass es gut wäre, einen Freund zu haben.
Dass dieser in der Großstadt eher zu finden wäre als in einem Dreihundert-Seelen-Dorf auf dem Saar-Gau, schien ihr unstrittig.
Trotzdem stand Marie-Sophie jetzt auf der neuen Terrasse ihres alten Hauses. Ihr Blick folgte dem Lauf des kleinen Bachs, der ihren Besitz im Nordosten begrenzte.
Sie kniff die Augen zusammen. Was war das gewesen? Am Rand ihres Gesichtsfelds hatte sie etwas wahrgenommen. Nicht wirklich gesehen, aber doch wahrgenommen. Weit jenseits ihrer Grundstücksgrenze, da, wo der Wald anfing, war eine dunkle Bewegung gewesen.
Sie war sich ganz sicher. Sie fokussierte die Stelle. Nichts. Die späte Nachmittagssonne beschien eine friedliche Landschaft.
Sie wandte sich um. Die französischen Fenstertüren ihres Wohnzimmers standen offen.
Der Apéro stand kühl, und ein gemütlicher Abend wartete auf sie.
Aber ein Kind war verschwunden. Ein kleiner Junge war abends nicht da gewesen, wo er hätte sein müssen. Die Wunde riss auf. Eine dunkle Bewegung.
Marie-Sophie eilte die Stufen zum Hof hinunter. Ihr Fahrrad lehnte an der Hauswand.
Das Rad, das sie angeschafft hatte angesichts einer weiten Landschaft und schmaler Straßen, die asphaltiert, aber angenehm wenig befahren waren.
Und angesichts der Tatsache, dass das nächste Fitnessstudio weit entfernt war.
Sie stieg aber in den Peugeot, dessen Schlüssel steckte, und fuhr rückwärts durch das große Tor, das tagsüber offenstand, und meistens auch nachts. Man lebte auf dem Land, wo Böses nicht geschah. So hatte man hier gedacht.
Der asphaltierte Weg, der oberhalb ihres Anwesens endete, brachte sie ins Dorf. Dort bog sie auf die Hauptstraße ein.
Diese schmale Straße trennt nicht nur zwei Häuserzeilen, sie trennt Deutschland von Frankreich. Sie verläuft auf der Grenze beider Länder und hat folgerichtig zwei Namen:
Deutsch-Französische Straße heißt sie für die Deutschen, Rue Franco-Allemande für die Franzosen.
Auf dieser bemerkenswerten Straße fuhr Marie-Sophie nun in Richtung des Waldstücks, an dessen Rand sie die Bewegung bemerkt hatte. Aber diese Bewegung, das, was sie zu sehen geglaubt hatte, verlor schon an Bedeutung, wurde zunehmend unwirklich in der hellen, immer noch sonnenbeschienenen Landschaft, in der Geborgenheit ihres Autos.
Sie parkte in einer Ausweichbucht, hundert Meter vor dem Waldrand und stieg aus, sah sich um.
Da war nichts, nichts als das stille Land im Licht der Nachmittagssonne.
Langsam ging sie auf den Wald zu. Sie hielt Ausschau und wusste nicht, wonach.
Die Straße und ihre Randbereiche waren ungewöhnlich sauber. Nicht einmal die üblichen Papierfetzen waren da, keine einzige Plastikflasche. Womöglich hatte eine der gelegentlichen privaten Säuberungsaktionen stattgefunden.
Umso stärker fiel ein kleiner gelber Tetra-Pack ins Auge. Er lag am Straßenrand, der unbefestigt war und staubig, und er war vollkommen sauber. Lange konnte er noch nicht dort liegen.
Marie-Sophie ging näher, betrachtete den Gegenstand und schalt sich albern. Es ist nur einkleiner Saftbehälter. Fahr weiter und du findest noch ein Dutzend davon.
Wieder sah sie sich um. Immer noch war die Landschaft hell beschienen. Aber die Sonne stand inzwischen schräg, und die Straße, die vor ihr in den Wald eintauchte, kam ihr jetzt vor wie ein düsterer Tunnel. Sie bückte sich und zuckte zurück. Sie zog ein unbenutztes Tempo aus der Tasche ihrer Jeans und konnte ein schiefes Grinsen nicht unterdrücken. DNA. Fingerabdrücke. . . Sie nahm den kleinen Gegenstand mit Hilfe des Tuchs auf und kehrte zu ihrem Auto zurück. Mehr war hier nicht zu tun für sie.
Um ein Wendemanöver auf der schmalen Straße zu vermeiden, fuhr sie weiter und in den Wald hinein. Schlagartig verschwanden Helligkeit und Wärme. Es war auf einmal düster und kühl. Unwillkürlich schauderte sie. Aber nach wenigen Minuten endete der Wald, und die offene, sonnenbeschienene Landschaft lag vor ihr. Spontan entschied sie, der Straße zu folgen, die in sanften Windungen durch Wiesen und Felder führte. Kein Auto begegnete ihr. In einiger Entfernung fuhr ein Traktor mit einem Anhänger einen Feldweg entlang.
Sie fuhr durch mehrere Dörfer. Kaum ein Mensch war auf der Straße. Wo waren die Kinder? Wo die Alten? Die Bänke, die vor den Häusern standen, waren leer.
Als sie die Straße nach B. erreichte, bog sie ein und fuhr nach Hause. Der kleine Umweg –
nein, kein Umweg, sie hatte eine kleine Spazierfahrt gemacht, und das tat ihr gut.
Als sie in ihren Hof einfuhr, kam Linus die Stufen der Terrasse herunter. Er schien aufgeregt zu sein. Sie stieg aus und sah, dass er blass war.
„Marie, wo warst du denn? Ich hab mir Sorgen gemacht.“
Linus, der sich Sorgen machte? Das passte nicht. Sie überlegte, wie sie ihren kleinen Ausflug erklären sollte.
„Du hast das Haus offengelassen. Die Terrassentüren waren auf.“ Jetzt klang er vorwurfsvoll. Auch das passte nicht. Linus machte sich keine Sorgen und er machte andern keine Vorwürfe. Unbekümmert, sorglos und großzügig, so kannte sie ihn.
„Linus, was ist los?“, fragte sie ihren Neffen.
Der schaute sie an.
„Ich hab ihn gefunden. Er ist – tot.“ Linus schluckte schwer. „Der Junge, der vermisst war. Ich hab ihn gefunden.“
„Linus, was – was sagst du da?“ Er schien zu schwanken. Unwillkürlich griff sie nach seinem Arm. „Komm rein.“
Sie legte die Hand an seinen Rücken, als sie die Stufen zur Terrasse hinaufgingen. Ihr war, als müsse sie ihn stützen – und sich selbst. Im Wohnzimmer schloss er sofort die drei großen Türen. Er sperrte das Böse aus, schuf einen Schutzraum.
Stockend, in kurzen Sätzen berichtete Linus. Von seiner Eloquenz war nichts mehr da.
„Morgen muss ich zur Polizei. Für meine Aussage“, schloss er.
Ein totes Kind. Eine dunkle Bewegung.
Nach Minuten der Stille begann Marie zu sprechen. Von dem, was sie von ihrer Terrasse aus wahrgenommen hatte, von ihrer Fahrt, von dem gelben Tetra-Pack.
„Es hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten“, meinte sie schließlich mit einem Schulterzucken.
Linus sah sie an. „Aber wenn doch . . . wenn doch, dann . . . dann ist womöglich ein weiteres Kind in Gefahr.“ Er schluckte. „Melde es, Marie. Besser eine Meldung zu viel als die eine zu wenig, die vielleicht wichtig ist.“
Und so kam es, dass Marie-Sophie van Geldern an diesem Abend die Polizei anrief und von einer Beobachtung sprach, die sie nicht definieren konnte, und von einem sauberen Tetra-Pack am staubigen Straßenrand.
Am nächsten Morgen fuhren sie gemeinsam zum Polizeirevier in S. und machten ihre Aussagen. Die Beamten erfuhren, dass Frau van Geldern nach einer Erbschaft nach Bellingen gezogen war und dass ihr Neffe Linus Taubert mit ihr gekommen war und in einem Nebengebäude auf ihrem Grundstück wohnte. Dass er, nun ja, Langzeitstudent war, zur Zeit Biologie studierte und dass er keine Beziehung hatte.
Marie Sophie berichtete von ihrer Beobachtung und lieferte den Tetra-Pack ab, den sie in einer Plastiktüte mitgebracht hatte.
„Was hältst du von den zweien?“, fragte Alfons Schwarz seinen Kollegen.
„Ich weiß nicht recht“, antwortete Pierre Weiß. „Sie scheint mir eine vernünftige Person zu sein.“
„Aber eine ‚dunkle Bewegung‘?“
„Wahrscheinlich ein großer Vogel. Oder ein Moped. Ein Reh vielleicht. Ich glaub nicht, dass es was zu bedeuten hat. Sie hat es gemeldet unter dem Eindruck von dem, was ihr Neffe erzählt hat.“
„Linus Taubert. Komischer Kerl. Wenn der nicht die zwei Fotos hätte, wär er unser erster Verdächtiger.“
„Das ist er trotzdem, wenn du mich fragst“, sagte Weiß. „Ein junger Mann, der mit seiner Tante in einem Dorf auf dem Gau wohnt und in Saarbrücken studiert – im wievielten Semester eigentlich?“
„Bei, nicht mit.“
„Was?“
„Er wohnt bei seiner Tante, nicht mit ihr. Sogar in einem anderen Gebäude. Ich kenn das Anwesen.“
„Umso freier kann er sich bewegen. Er hat keine Frau oder Freundin, aber jede Menge Freizeit. Und er kennt die Gegend.“
„Die Fotos sind echt. Er hat sie gestern Nachmittag um 15 Uhr 13 gemacht. Sie sind weder gestellt noch bearbeitet, soweit wir sehen. Und sie zeigen drei Schmetterlinge auf der Leiche und im Wegfliegen.“
„Wir müssen trotzdem noch mal mit ihm reden. Sobald wir die genaue Todeszeit haben, muss er uns ein Alibi vorweisen.“
Etwa vierzehn Jahre vor diesen Ereignissen
Er stand abseits. Wieder einmal. Nein, eigentlich immer. Die andern mochten ihn nicht.
Aber er mochte sie auch nicht. Er fand ihre Spiele doof. Sie liefen einander nach, schlugen sich auf den Rücken und nannten es Fangen. Sie liefen einem Ball nach, nur um ihn wieder weg zu kicken, sobald sie ihn hatten. Was sollte das?
Mit dem Fuß trat er einen Käfer tot, der an einem Grashalm emporklettern wollte.
Zuhause mochte er auch niemanden mehr. Nach der Scheidung war seine Mutter nett zu ihm gewesen. Sie waren ein paarmal spazieren gegangen, und manchmal hatte sie ihm sogar ein Eis gekauft.
Aber seit sie den neuen Mann hatte, war alles anders. Da spielte ihr Kind kaum noch eine Rolle. Sie himmelte den Typen an.
Und der machte mit ihrem Sohn das, was der sich von seiner Mutter gewünscht hätte.
Er strich ihm übers Haar, streichelte seine Wange und umarmte ihn. Als er die Hand auf seinen Oberschenkel legte, stieß der Junge sie weg und sagte es seiner Mutter. „Stell dich nicht so an. Sei froh, dass er dich mag!“, war die Antwort.
Da wusste er, dass er ganz allein war.
Jeder Mensch braucht etwas, das ihm guttut. Etwas, auf das er sich freuen kann. Das ihn Frust und Stress des Alltags, wenn nicht vergessen, aber doch ertragen lässt.
So etwas hatte der Junge nicht mehr. Die Gleichaltrigen langweilten ihn. Sein Vater war weg, und seine Mutter hatte ihn bitter enttäuscht.
Und so war der Junge auf der Suche. Er wusste nur noch nicht, nach was.
Das Ergebnis der Obduktion lag vor. Der kleine Körper wies über dreißig Stich- und Schnittverletzungen auf. Der Pathologe konnte keine genauere Angabe machen, da viele Wunden dicht beieinander lagen und manchmal mehrfach in dieselbe Stelle geschnitten oder gestochen worden war. Die Art des Messers konnte nicht näher bestimmt werden.
Der Penis war mit einer Schere oder mit einem scherenähnlichen Werkzeug abgeschnitten worden. Er fehlte. Alle Verletzungen waren dem Jungen prämortal und innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne zugefügt worden. Der Täter hatte in einem wahren Blutrausch gehandelt.
Todesursache war Ersticken durch Erwürgen. Der Täter hatte das Kind mit bloßen Händen erwürgt. Einzig dieser Satz, seine Redundanz, ließ die Betroffenheit des Mediziners erkennen.
Wider Erwarten gab es keine Spermaspuren. Die Leiche wies postmortale Kratz- und Bissspuren von Tieren auf.
Todeszeitpunkt war der frühe Mittwochnachmittag, zwischen 13 und 16 Uhr, also zwei Tage vor dem Auffinden der Leiche.
Sie war nackt und nur notdürftig in eine Decke gewickelt abgelegt worden.
Nicht alle Einzelheiten wurden den Eltern mitgeteilt.
Er stand in seiner Garage.
Zu schnell. Viel zu schnell. Es war ein Blutrausch gewesen, der ihm fast das Bewusstsein geraubt hatte und in dem der Orgasmus beinah untergegangen war. Schon beim ersten Stich hatte er in die Hose ejakuliert. Wie fremdgesteuert hatte er weitergemacht, hatte dem Jungen die Kleider vom Leib gefetzt, immer wieder zugestochen, erst seine Schreie, dann sein Wimmern erstickt, bis er über dem toten Jungen zusammengebrochen war.
Was er danach getan hatte, geschah in seiner Wahrnehmung so, als würde ein anderer handeln. Dieser andere hatte Messer und Gartenschere gereinigt, die blutigen Kleider in eine Plastiktüte gestopft, den Jungen in eine Decke gewickelt und gewartet, bis es dunkel war.
Dann hatte er ihn ins Auto gelegt und entsorgt.
Viel zu schnell. Aber so einfach. „Ich such ein neues Computerspiel für meine Tochter. Kannst du mir da einen Tipp geben? Das würd mir echt helfen würd mir das.“
Arglos war der Junge zu ihm ins Auto gestiegen, wohl weil er ihn vom Sehen kannte.
„Aber ich muss heim. Wir essen gleich.“
„Es dauert nicht lang. Der Prospekt liegt in der Garage. Es geht ganz schnell.“
Viel zu schnell.
Böse. Entsetzlich. Grauenhaft. Nein. Es gibt kein Wort für das, was er getan hat.
Er hat eine Grenze überschritten, über die er nicht mehr zurückkann. Er hat ein Kind getötet.
Mit einem Mal schlug eine Verzweiflung über ihm zusammen, eine Verzweiflung, deren Wucht ihm den Atem nahm.
Er hatte ein Kind getötet, einen kleinen Jungen, der leben wollte, spielen, der eine Familie hatte, die jetzt auch zerstört war.
Er heulte auf, und schluchzend brach er zusammen. Für einen winzigen Bruchteil der Ewigkeit schien sich sein Leid mit dem Leid der Eltern zu mischen.
Obszön schon der Gedanke. Dort waren unschuldiges Leiden, Trauer und Schmerz, lebenslang. Hier aber waren Schuld, Verbrechen und dunkler Trieb, auch das ein Leben lang.
Sein Blick fiel auf die kleine Flasche mit der klaren Flüssigkeit. Das winzige Stück Fleisch darin war ihm alles: Es war Trophäe, Anklage, und es war entsetzliche Verheißung.
Wenn Alfred Wagner noch einen Zweifel gehegt hatte, einen Zweifel, der Hoffnung ermöglicht hatte, so war beides mit den Regionalnachrichten des Freitagabends zunichte geworden.
Er war Priester geworden, weil er sich berufen gefühlt hatte.
Schon früh hatte er gespürt, dass er anders war. Anders als die Gleichaltrigen, die Mitschüler, die er Freunde nicht nennen mochte, weil er ihre Interessen nicht teilte. Ihre Spiele fand er oberflächlich, in seinem Zimmer fühlte er sich wohler als im Freien.
Und Sport war seine Sache auch nicht.
Dagegen war er gerne Messdiener. Die dunkelbraunen Locken trug er länger als die anderen Jungen, auch das ein Alleinstellungsmerkmal.
Er war ein Einzelkind, und die Mutter hatte nach der Scheidung ihre Liebe und Fürsorge auf ihren Sohn fokussiert. Früh hatte sie ihn, der eigenen Neigung gemäß, in die Welt der Bücher eingeführt. Schon die ersten Geschichten, die er hörte, bevor er sie lesen konnte, machten ihm klar, dass es böse Menschen gab und dass gute und unschuldige Menschen unter diesen litten. Aber er lernte auch, dass es etwas gab, das für Ausgleich sorgte, das Wiedergutmachung bewirkte. Das gefiel ihm.
Früh entwickelte er ein Gefühl für Gerechtigkeit, dafür, dass Unrecht bestraft werden musste. Das galt insbesondere für Unrecht, das Kindern angetan wurde. Die Geschichten, die er hörte und später las, zeigten das ganz deutlich. Und sie zeigten, dass manche Untaten sogar mit dem Tod des Täters bestraft wurden.
Zur Lektüre des jungen Alfred Wagner gehörte nach und neben den Märchenbüchern und den Abenteuerromanen aus fernen Ländern bald auch das Buch der Bücher. Mit Staunen las er auch dort, dass bestimmte Taten mit dem Tod zu bestrafen seien. Gott bezeichnete sich ausdrücklich als einen rächenden.
Das wurde allerdings im Neuen Testament völlig gekippt. Jesus sprach von Liebe und Vergebung.
Jesus. Der imponierte ihm. Jesus, der auf der Seite der Schwachen war, der Ausgegrenzten, der Rechtlosen. Der die Kinder ernst nahm. Der sich klar gegen das Establishment stellte.
Jesus, der für seine Überzeugung in den Tod ging.
Der junge Alfred Wagner spürte, dass dieser Jesus auch heute noch, auch für ihn, zum Vorbild taugte.
Mit achtzehn Jahren hatte er das Abitur und war auf der Suche. Er begann das Studium der Theologie und der Philosophie und erhoffte Orientierung bei seiner Sinnsuche.
Die Philosophie schien ihm bald noch abstrakter und abgehobener als ein Jurastudium, das er auch in Erwägung gezogen hatte.
In der Theologie aber begann er sich einzurichten, ja, bald schon fühlte er sich darin fast heimisch.
Eine latente Religiosität mochte die Ursache sein, eine Mitgift der Mutter, die eine einfache Frömmigkeit lebte, ohne je ihren Sohn in der Richtung zu beeinflussen.
Er belegte einen Griechisch- und einen Hebräisch-Kurs und Vorlesungen zum Alten und Neuen Testament und glaubte zu spüren, dass er hier Antworten finden würde auf seine Fragen nach Unrecht und Gerechtigkeit, nach Bestrafung und Vergebung.
Etwa zwölf Jahre vor diesen Ereignissen
Mit drei Beinen kam sie noch voran. Mühsam, aber sie schaffte es, den plumpen kugeligen Leib ruckartig nach vorne zu bewegen. Er sah fasziniert zu. Sie konnte ihm nicht mehr entkommen. Alle anderen hatten es geschafft bisher. Sogar mit vier Beinen waren sie ihm davongelaufen.
Aber diese hier hatte er eingesperrt.
Wieder hob er das Glas hoch. Beinahe zärtlich legte er den Zeigefinger der linken Hand auf den kleinen runden Leib. Das fühlte sich gut an. Mit der Rechten zog er vorsichtig ein weiteres Bein aus. Dabei achtete er darauf, dass auf jeder Seite eins übrig blieb.
Die Spinne ließ kein Anzeichen von Schmerz erkennen. Eigentlich schade. Sie versuchte
weg zu krabbeln, aber sie schaffte es kaum, den Leib anzuheben.
Er schaute ihr eine Zeitlang zu.
Als es langweilig wurde, zog er ihr das zweitletzte Bein aus. Nun war er sicher. Sie konnte ihm nicht mehr entkommen. Hilflos tastete das letzte Glied umher. Als er auch dieses entfernt hatte, lag der runde Leib da, noch lebend, und vollkommen ausgeliefert.
Wieder legte er den linken Zeigefinger auf die schwarzbraune Kugel. Wieder fühlte es sich gut an. Langsam drückte er zu. Auch das tat gut. Gedankenverloren steckte er den linken Zeigefinger in den Mund, leckte.
Das gute Gefühl wurde intensiver. Aber es war noch nicht lokalisierbar.
Marie-Sophie van Geldern stand vor dem Spiegel und fragte sich einmal mehr, wie lange sie ihre langen blonden Haare noch offen würde tragen können. Noch konnte sie. Noch war sie schlank. Adipös mit langem Haar sieht nicht schön aus. Adipös mit kurzem Haar allerdingsauch nicht. Sie grinste. Für ihre Figur immerhin konnte sie etwas tun.
Schwieriger war es bei den kleinen Fältchen um die Augen, die schon lange nicht mehr zu übersehen waren. Sie trotzten allesamt den Erzeugnissen der Kosmetikindustrie, zeigten sich unbeeindruckt von den Produkten, die Straffung, gar Entknitterung versprachen. Letzteres empfand sie ohnehin als Beleidigung und nicht als Verheißung.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Gesamtbild. Knapp sechzig Kilo waren auf einen Meter siebenundsechzig Körpergröße verteilt, wohlproportioniert. Die Taille war vorhanden, der Bauch flach, die Brüste – nun, ein guter BH, und auch sie waren in Ordnung. Sie drehte sich zur Seite. Ja, auch der Po war fest, die Oberschenkel straff.
Dass hinter jedem der erfreulichen Befunde ein „noch“ lauerte, konnte sie nicht verdrängen und es führte zu dem Entschluss, so bald wie möglich das nächste Fitnessstudio zu finden.
Fürs erste zufrieden kleidete sie sich an.
Unwillkürlich schmunzelte sie. Die Vokabel passte nicht mehr. Man kleidet sich nicht an, wenn man in Jeans und T-Shirt schlüpft.
Der Dresscode auf dem Land lautet: bequeme Klamotten und flache Schuhe.
Sie trat auf die Terrasse.
Linus war im hinteren Teil des Grundstücks zugange.
Sie staunte über ihren Neffen. „Tante, das hier ist ein Geschenk“, hatte er schon beim ersten Anblick des Grundstücks gesagt. „Du hast ein Stück Erde geschenkt bekommen. Daraus müssen wir – musst du was machen.“
Sie hatte ihn angeschaut. Was sollte sie denn mit diesem Stück Erde machen, das verwildert, von Unkraut bewachsen und von Brombeerranken überwuchert war?
Er hatte den Blick erwidert. „Du müsstest – man müsste – also, ich würde hier einen Garten anlegen – wenn du mich lässt.“
Ungläubig hatte sie ihn angesehen. Linus, der Stadtmensch, der Langzeitstudent, wollte einen Garten anlegen? Zwischen Belustigung und Unglauben schwankend hatte sie ihn angeschaut.
Aber Linus hatte es ernst gemeint. Ein milder Winter hatte ihm geholfen, den hinteren Teil des Grundstücks von Wildwuchs und Steinen zu befreien und zur Einsaat vorzubereiten.
So ernst war es ihm gewesen, dass er sich im Nebengebäude gegenüber dem Haupthaus eine Wohnmöglichkeit eingerichtet hatte.
Strom- und Wasseranschluss und eine Toilette waren dagewesen, und einen gusseisernen Ofen hatte er mit Erlaubnis seiner Tante aus dem Wohnhaus geholt. Ein Loch in der Wand und ein Ofenrohr, und er konnte den Holzvorrat nutzen, der im Schuppen nebenan lagerte.
Als ein Bett, ein Bücherregal, Mikrowelle, Kaffeemaschine und ein kleiner Fernseher installiert waren, hatte Linus alles, was er brauchte. Er war eingezogen, ein halbes Jahr, bevor seine Tante aus Saarbrücken übersiedelte.
Jetzt kam er grinsend auf dem Weg nach vorn, den er aus flachen Kalksteinen angelegt hatte.
Er trug einen Korb in der Hand und stieg die Stufen zur Terrasse hoch.
Auch die Stufen hatte Linus angelegt. So konnte man vom Garten bequem zur Terrasse und ins Haus gelangen.
Er hat schon viel bewegt, dachte Marie-Sophie wieder einmal mit Staunen.
„Was darf es heute sein, gnädige Frau? Ein Kopfsalat, frisch geerntet? Würzige Kresse? Knackige Radieschen?“ Nicht ohne Stolz präsentierte er seine Ware.
„Linus, wieso kannst du das? Aus der Wildnis solche Sachen zaubern?“
Grinsen und Stolz erloschen. Er schluckte. „Meine Mama . . . sie hat einen Garten gehabt. Als Kind . . . hab ich ihr oft geholfen.“
Natürlich. Marie-Sophie sprach rasch weiter. „Aber das Land war doch öde. Wie kann es solch einen Ertrag bringen?“
„Gerade weil es brach gelegen hat. Es war lange nicht genutzt und deswegen ausgeruht.
Das Land hat nur darauf gewartet, bebaut zu werden. Bedien dich also!“
Gesunde Ernährung, dachte sie und konnte wieder ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
Immerhin ein Vorteil des Landlebens.
Die Polizei kam nicht voran. Drei Tage nach dem Fund des toten Jungen war die Spurenlage äußerst dürftig.
Sicher war: Patrick Müller, acht Jahre alt, war am Mittwoch nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Er war um zwanzig vor zwei aus dem Bus gestiegen, der die Kinder morgens früh in den Dörfern einsammelte und mittags wieder zurückbrachte.
Das hatten der Fahrer und zwei Mitschüler ausgesagt, die mit ihm ausgestiegen waren.
Die beiden, Brüder, waren sofort in ihr Elternhaus gegangen, das gegenüber der Haltestelle lag. Sie hatten noch gesehen, dass Patrick in seine Straße einbog. Es waren noch etwa dreihundert Meter bis zum Haus seiner Eltern, das etwas abseits vom Dorf lag. Die Häuser hörten auf, auf den letzten zweihundert Metern führte die Straße durch brach liegendes Gelände.
Patrick hatte diese Straße nur am Tag allein gehen dürfen. Morgens hatte seine Mutter ihn zur Bushaltestelle gebracht. Gegen das Abholen am Nachmittag aber hatte er sich aufs Heftigste gewehrt. „Ich bin doch kein Baby mehr! Die paar Meter! Die andern lachen mich aus!“
Da hatten die Eltern nachgegeben.
Und nun war ihr einziges Kind auf diesen paar Metern am hellen Tag seinem Mörder begegnet.
Es gab niemanden, der ihn nach seinen beiden Mitschülern noch gesehen hatte.
Es gab kein Anzeichen, das auf eine gewaltsame Entführung gedeutet hätte.
Die Kleidung und der Schulranzen des Jungen waren verschwunden, der Tatort unbekannt.
Patricks Handy konnte nicht geortet werden. Auf dem Schulweg musste er durch ein Funkloch. Danach hatte es sich nicht mehr eingeloggt. Und inzwischen war der Akku wohl leer.
Die Decke, in die der kleine Leichnam eingewickelt war, war Massenware, die jedes Einrichtungshaus für weniger als fünf Euro anbot. Sie sah neu aus, aber es war aussichtslos, einen Käufer zu ermitteln, zumal diese Decken meistens auf Wühltischen vor dem Eingang der Läden lagen und leicht auch ohne Bezahlung mitgenommen werden konnten.
Es kam keine Lösegeldforderung, und es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass ein Mitglied seiner Familie etwas mit der schrecklichen Tat zu tun hatte.
Linus Taubert wurde zur erneuten Befragung aufs Polizeirevier bestellt, mit der Bitte, einen Beweis für seine Dokumentation der Schmetterlinge vorzulegen.
Er hatte seinen Laptop mitgebracht und händigte ihn dem Beamten am Empfang aus.
Alfons Schwarz führte die Befragung durch. Sein Kollege Pierre Weiß saß etwas abseits.
„Wo waren Sie am Mittwochnachmittag?“
„Bin ich verdächtig?“
„Beantworten Sie doch einfach meine Frage.“
„Im Garten.“
„Weiter!“
„Ich war im Garten meiner Tante. Ich hab gejätet und die Tomatenpflanzen hochgebunden. Und ich hab die Beete gewässert und anschließend durchgeharkt.“
„Geht’s etwas genauer?“
„Noch genauer? Was wollen Sie denn noch wissen?“
„Wir möchten die Zeit wissen. Von wann bis wann haben Sie im Garten gearbeitet?“
Linus überlegte. „Ich bin gegen eins von der Uni gekommen, hab was gegessen, mich umgezogen und bin dann rausgegangen, so gegen zwei ungefähr. Kurz vor fünf hab ich aufgehört, weil ich die Nachrichten sehen wollte.“
„Und dann?“
„Dann nichts mehr. Ich bin zuhause geblieben und hab ferngesehen.“
„Kann jemand bestätigen, was Sie uns gesagt haben?“
„Ich glaube nicht.“
„Was heißt, Sie glauben nicht?“
„Der Garten ist vom Haus aus nicht zu sehen, jedenfalls der größte Teil. Da stehn Büsche und Sträucher dazwischen. Ich weiß auch nicht, ob meine Tante zu Hause war. Und hinter dem Garten liegt offenes Gelände. Da wohnt niemand mehr.“
Alfons Schwarz schaute Linus ins Gesicht. Er schien nachzudenken, strich mit der Linken durch sein Haar, das noch dicht, aber inzwischen von grauen Fäden durchzogen war.
„Nun gut. Dann zu was anderem. Herr Taubert, Sie sind Student im einundzwanzigsten Semester. Wovon leben Sie?“
Unwillkürlich schüttelte Linus den Kopf. „Was hat das mit dem toten Kind zu tun?“
„Sie sind Zeuge. Wir müssen uns ein Bild von Ihnen machen.“
„Du sollst dir kein Bildnis machen!“
Pierre Weiß fuhr vom Stuhl hoch. „Was erlauben Sie sich?!“
Linus hob beide Hände. „Das ist ein Zitat. Max Frisch. Er meint damit, dass man allen Menschen unvoreingenommen begegnen, sie nicht gleich in eine bestimmte Schublade tun soll. Es ist mir spontan eingefallen. Ich wollte keinen beleidigen.“
Auch Schwarz hob die Hand. „Wir sind unvoreingenommen. Deswegen befragen wir Sie.“
Er nickte Weiß zu. Der setzte sich wieder.
„Also, Herr Taubert, womit bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt?“
„Ich bin – also meine Familie ist nicht unvermögend. Und meine Tante ist sehr großzügig. Sie lässt mich mietfrei wohnen. Dafür helfe ich ihr. Service rund ums Haus. Im Tierreich wäre es eine Symbiose.“
Linus grinste schief. „Außerdem bin ich anspruchslos, was Kleidung und Essen angeht.“
„Sie leben allein?“
„Ja. Ich bin Single, hetero und nicht pädophil, um die nächsten Fragen gleich mit zu beantworten.“
Schwarz fixierte ihn. „Warum betonen Sie, dass Sie nicht pädophil sind?“
„Ich betone es nicht. Ich sage es nur.“
„Hm. Nun gut. Kommen wir zu Ihrem Hobby, den Schmetterlingen . . .“
„Das ist kein Hobby. Ich studiere Biologie mit dem Schwerpunkt Entomologie, Spezialgebiet Lepidopterologie. Ich möchte eine Dokumentation der heimischen Edelfalter erstellen. Einige von ihnen sind extrem gefährdet.“
„Nun gut“, sagte Alfons Schwarz noch einmal. „Es wäre hilfreich, wenn wir Ihren Laptop – mit Ihrem Einverständnis – ein paar Tage behalten könnten.“
„Behalten Sie ihn, solange Sie ihn brauchen. Ich geh jetzt nicht auf die Pirsch. Ich will Schmetterlinge finden, keine toten Kinder.“
„Danke, Herr Taubert. Das war’s für heute. Ach ja, wenn Sie beabsichtigen zu verreisen, lassen Sie uns das wissen.“
Nachdem er seine Aussage unterschrieben und eine Quittung für den Laptop erhalten hatte, war Linus entlassen.
„Was denkst du, Weiß?“ Alfons Schwarz wandte sich zu seinem Kollegen, als Linus gegangen war.
Pierre Weiß schwieg.
Etwa elf Jahre vor diesen Ereignissen
Sie war so weich und glitschig. Eine Zeitlang machte ihm das Spiel Spaß. Wie der kleine Zipfel hervorkam, sich reckte, größer wurde. Wie dann der zweite dazu kam, sich auch reckte und größer wurde. Wie dann beide herumtasteten, suchten. Und wie sie blitzschnell verschwanden, wenn er sie berührte. Nur um nach kurzer Zeit sich wieder zu recken, emporzuwachsen . . .
Wie oft schon hatte er versucht, sich wenigstens eines dieser Zipfelchen zu bemächtigen, wenigstens eins davon in seinen Besitz zu bringen. Immer war es vergebens gewesen.
Aber heute war er vorbereitet. Er hielt die Schere geöffnet, bereit, sie sofort zu schließen, sobald die große Weinbergschnecke einen ihrer Fühler ausstreckte.
Da. Die winzige Knospe veränderte sich. Sie öffnete sich, und der kleine Stängel begann zu wachsen. Dass auf einmal wieder das gute Gefühl da war, nahm er wahr, brachte es aber noch nicht in einen Zusammenhang mit dem, was er tat. Ganz still hielt er, wartete.
Er lag bäuchlings vor dem Tier, die Hand mit der Schere auf den Boden gestützt.
Ganz vorsichtig balancierte er die Schere aus, damit der Fühler nicht vorzeitig daran stieß.
Da plötzlich reckte sich der Fühler zu seiner maximalen Größe. Die Schere schnappte zu.
Zschschschsch. Der Schrei des stummen Tiers, weißlicher Schaum, fast wie Blut.
Er hörte es und sah es und wusste: Er hatte dem Tier wehgetan. Und es hatte Angst. Es hatte sich vollständig in sein Haus zurückgezogen.
Zufrieden ließ er den Atem entweichen, den er mit dem Schnitt angehalten hatte, und wandte sich seiner Beute zu. Es war kaum mehr als ein Schleimklümpchen, was da an der Schere klebte. Er schloss die Augen, als er es ableckte. Dann stand er auf, zermalmte die Schnecke mit einem kräftigen Tritt und ging davon.
Er fühlte sich gut.
Es schien, als sei der Sommer kälter geworden, die Sonne dunkler, das Land leerer.
Ein Kind war tot. Es war tot, weil ein perverses Individuum eine abartige Lust empfunden hatte, als er es tötete. Es war gequält worden, weil dieses Individuum dadurch sein Lustempfinden noch steigerte und diesen fehlgeleiteten Trieb nicht kontrollieren wollte.
Es gibt keinen sinnloseren Tod.
Eine Mutter hatte aufgeheult, war zusammengebrochen, hatte geschrien, bis ihre Stimme versagte und ihr Schluchzen tonlos war.
Ein Vater hatte in ohnmächtiger Wut die Fäuste geballt und geweint, zum ersten Mal seit acht Jahren, als die Geburt eines gesunden kleinen Jungen ihm Tränen der Dankbarkeit und des Glücks in die Augen getrieben hatte.
Die Eltern, die ihre Kinder noch hatten, empfanden dieses genau so: noch.
Und sie verdoppelten Sorge und Wachsamkeit.
Er hatte Fehler gemacht. Und unglaubliches Glück gehabt.
Dass niemand gesehen hatte, wie der Junge in sein Auto stieg.
Dass kein Förster, kein Liebespaar, kein später Heimkehrer unterwegs war, als er das Bündel aus dem Kofferraum gehievt und ins Gelände geschleppt hatte.
In den ersten Tagen war da nur Angst gewesen, Panik. Er hatte sich zwingen müssen, seine Arbeit zu tun. Er wusste, dass jede Abweichung von den normalen Abläufen des Tages ihn verraten konnte. Also versuchte er zu funktionieren.
Er stand zur gewohnten Zeit auf, fuhr zu seinen Arbeitsstätten und verrichtete seinen Dienst. Dass er Familie hatte, war ein Vorteil, dessen Bedeutung er schon früh geahnt hatte. Jetzt wusste er, warum.
Er stand nicht im Fokus der Ermittlungen. Und er dachte: Nie wieder.
Auf die Angst war die Erleichterung gefolgt. Er war davongekommen. Er hatte es geschafft.