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Gunda Weiten, Lehrerin und einundvierzig Jahre alt, findet nach einer schmerzhaften Scheidung langsam in ein Leben zurück, in dem es wieder Freude und Zukunftspläne gibt. Da tritt ein Ereignis ein, nicht erklärbar, unmöglich, unbegreiflich und katapultiert sie ein zweites Mal an die Grenze dessen, was sie ertragen kann. Was als banale Geschichte einer geschiedenen Frau beginnt, entwickelt sich zu einem dramatischen Geschehen um subtile Gewalt, um Leid und Qual eines Opfers und schließlich Rache und Sühne, gewoben um ein Motiv, das seit den Schöpfungsmythen und dem Neuen Testament, seit Montaigne und Kleist nichts von seiner verstörenden Faszination verloren hat.
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Seitenzahl: 315
Veröffentlichungsjahr: 2024
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2., leicht überarbeitete Ausgabe
FÜR MEINE KINDER
Inhalt
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
Sie wachte auf, und etwas war anders.
Sie hätte nicht sagen können, was dieses Andere war, aber sie spürte, dass es gut war.
So gut, wie sie seit Monaten nichts gespürt hatte. Um es nicht kaputt zu machen, schloss sie die Augen wieder. Sie wollte die Empfindung bewahren, so lange wie möglich.
Sie spürte das Licht durch die geschlossenen Lider, die Wärme auf ihrem Gesicht.
Und auf einmal wusste sie es: Zum ersten Mal war nicht Er ihr erster Gedanke gewesen.
Zum ersten Mal kein Schmerz, als das Bewusstsein einsetzte, sondern einfach – gar nichts. Sie hatte, auch das wurde ihr mit Erstaunen klar, nicht einmal von ihm geträumt, sie erinnerte sich jedenfalls nicht.
So begann nach über einem Jahr – was? Das konnte sie sich nicht vorstellen.
Die letzten vierzehn Monate hatte sie existiert, funktioniert, überlebt, mehr nicht.
Ausgerechnet an ihrem Geburtstag im letzten Jahr die Aussprache, lange aufgeschoben und dann sehr kurz. „Ich hab dich lieb.“ Aber nicht lieb genug. „Aber ich kann nicht mehr. Ich halt es nicht mehr aus. Es tut mir unendlich leid.“
Sie wusste, dass es vorbei war. Sie sagte nichts, tat nichts um ihn zu halten. Sie hatte keine Kraft mehr, wollte sich auch die allerletzte offene Demütigung ersparen.
Er konnte neu anfangen. Und sie? Wollte sie denn überhaupt? Sie wusste es nicht.
Sie hatte nichts gefühlt, nicht einmal Schmerz, den hielt ein Mechanismus in ihrer Seele noch gefangen.
Sie hatte nicht geweint, viele Tage lang nicht, auch nicht, als sie schon allein war.
Die Tränen kamen später irgendwann. Und dann immer wieder, die Anfälle waren kaum weniger geworden.
Und nun dieser Morgen. Ein Maimorgen. Wie glänzt die Sonne . . . Freud und Wonne, ohGlück, oh Lust . . . Goethe-Verse, Fetzen nur, Assoziationen, die sich einstellten, ohne dass sie es verhindern konnte. Sie mochte diesen Erotomanen nicht, der sich die Frauen nahm, wie es ihm gefiel und sie wieder fallen ließ, wenn er genug von ihnen hatte.
Und jetzt setzte der Schmerz ein. Aber – auch er war anders. Er war Schmerz, ein isoliertes, definierbares Gefühl und daher aushaltbar. Nicht nur das. Er war überlagert von dem anderen, was sie gespürt hatte: Licht, Wärme, und das spürte sie immer noch, zusammen mit einer Kraft, die sie vergessen hatte.
Sie stand auf. Es war Samstag. Das hieß: keine Ablenkung durch die Arbeit.
Ein Tag lag vor ihr, über den sie bestimmen konnte, dessen Ablauf sie gestalten konnte.
Nur eben das konnte sie nicht mehr. Sie hatte vergessen, wie man das machte, ja vergessen, dass man so etwas machte.
Also erst mal duschen, ausgiebig. Dann frühstücken, im Bademantel, wie immer samstags.
Und dann hatte sie auf einmal unbezwingbare Lust auf ein Marzipancroissant, und sie fand die Kraft, sich anzuziehen und zum Bäcker um die Ecke zu gehen und ein Marzipancroissant zu kaufen, weil etwas nicht mehr egal war, was ein Jahr lang so egal gewesen war, dass sie es oft einfach vergessen hatte.
Sie, Gunda – Gunda! Das Beste, was aus Kunigunde zu machen war, Kunigunde, eine namenstechnische Katastrophe, die ihr Geburtstag und eine sehr katholische Mutter ihr beschert hatten. Der dritte März war nun mal der Heiligen Kunigunde geweiht, und dieser Name, der vielmehr ein Schimpfname war, begleitete sie während ihrer Grundschulzeit wie ein Stigma.
„Kuh! Kuh! Kuh-nigunde!“
„Kunigunde, die Runde!“
Nicht einmal dagegen konnte sie sich wehren, denn sie war ein pummeliges Kind, klein und rundlich, auch dies eine mütterliche Mitgift und das zweite Stigma, das ihre Kindheit überschattete.
Erst in der Spätpubertät gelang es ihr, beide abzuwerfen. Zunächst Bitten, dann Forderungen, und schließlich die zunehmende Vernunft ihrer Mitschülerinnen ließen Kunigunde verschwinden und Gunda entstehen.
Zuhause funktionierte das nicht. In einem ersten bewussten Akt des Ungehorsams weigerte sie sich zwar, auf den verhassten Namen zu reagieren, aber nach ein paar Wochen gab sie auf.
Es blieb bei Kunigunde.
Dafür wurde sie das zweite Stigma endgültig los. Hier half die Eitelkeit. Mit sechzehn Jahren war sie zu einer jungen Frau herangereift und durfte kaum hoffen, noch viel zu wachsen. Da waren 65 Kilo bei einer Größe von 1,60 m entschieden zu viel.
Wieder wurde sie ungehorsam. Sie begann zu hungern. Und das durchzuhalten lag allein bei ihr. Sie ignorierte Ermahnungen, Vorhaltungen und Schimpftiraden, und nach einem Vierteljahr wog sie 48 Kilo und beschloss, dass dies ihr Idealgewicht sei und es mindestens ein halbes Jahrhundert bleiben sollte.
In der Lesart ihrer Mutter war Kunigunde mager, nur noch Haut und Knochen.
Gunda aber war zu einem hübschen schlanken Teenager geworden, der endlich begann, sich in seiner Haut wohlzufühlen.
48 Kilo. Das bedeutete hautenge Jeans, Plateausohlen und Miniröcke – und neuen Ärger zuhause.
16 Jahre. Das bedeutete Partys, und Partys bedeuteten Jungs, die sie allerdings meist langweilig fand. Gut waren sie zum Tanzen, was sie inzwischen im obligatorischen Tanzkurs gelernt hatte und was ihr unglaublichen Spaß machte. Tatsächlich war es die einzige körperliche Betätigung, die ihr Spaß machte. Haus- und Gartenarbeit waren ihr zu schmutzig.
Sport hasste sie, weil er anstrengend war, weil sie Turnschuhe anziehen musste, und weil es im Umkleideraum immer stank.
Aber Tanzen war herrlich. Sie konnte sich schick machen, gut duften und sich im Rhythmus ihrer Lieblingsmusik bewegen. Und sie konnte den Jungs näherkommen. Näher, das war ihr wichtig: Komparativ, noch kein Superlativ. Wer ihr zu nahekommen wollte, den drückte sie von sich, das kostete manchmal ganz schön Kraft, aber es vergraulte zum Glück die meisten der allzu Anhänglichen.
Vor praktizierter Sexualität hatte sie Angst, und ein fester Freund mit allem Drum und Dran wäre das Letzte gewesen, was sie wollte.
Die Eltern aber sahen auch im Tanz eine Quelle vielfältiger Gefahren, vor denen sie ihre Tochter schützen zu müssen glaubten.
Da Kunigunde aber all ihren Verfehlungen, was Kleidung und Ausgehen betraf, gleichbleibend gute Noten entgegenhalten konnte (außer Sport: ausreichend), neigten die Eltern mit der Zeit zu einer gewissen Nachsicht und Milde, solange sie „die Kirche im Dorf ließ“, was offenbar der Mutter ein wichtiges Anliegen war.
Außerdem näherte sich ein magisches Datum: der dritte März, der diesmal die Volljährigkeit brachte und die elterlichen Machtbefugnisse drastisch einschränkte, was aber, um die Wahrheit zu sagen, zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr notwendig war, denn man hatte inzwischen zu einer friedlichen Koexistenz gefunden.
Ein 1,6 er Abitur festigte den Frieden, und als sich herausstellte, dass die mütterliche Wunschvorstellung und die Studienpläne der Tochter deckungsgleich waren, trat für lange Zeit vollkommene Harmonie ein.
Äußeres Zeichen dieser Harmonie war eine gemeinsame Reise nach Berlin, die Gunda zwar anstrengend fand, die sie aber dennoch wohlwollend annahm als ein großzügiges Geschenk für das bestandene Abitur. Sie bewunderte ihren Vater, der damals mit Mitte fünfzig noch fast ein Führerscheinneuling war und die Strecke ganz alleine bewältigte, da ihre Mutter nie Auto fahren gelernt hatte.
Zum Herbstsemester begann Kunigunde/Gunda Germanistik und Geographie auf Lehramt für Gymnasium zu studieren.
Und nun saß sie da, Gunda Weiten, 41, Studienrätin am hiesigen Gymnasium und frisch geschieden. Es klang für sie immer noch wie frisch gestrichen oder frisch operiert, auf jeden Fall wie etwas, das mit Vorsicht zu behandeln war.
Aber heute Morgen hatte sie ein Marzipancroissant vor sich, das sie schon fast aufgegessen hatte, bevor sie merkte, wie köstlich es war.
Gewohnheitsgemäß ging sie nach dem Frühstück ins Arbeitszimmer, wo ihr Blick auf zwei Stapel blauer Hefte fiel, die sonst eine willkommene Beschäftigungstherapie darstellten.
Heute Morgen aber konnte der Vulkanismus in Europa sie nicht an den Schreibtisch locken.
Und die literarische Erörterung ihrer 12er, die sich mit der Beziehung zwischen Faust und Mephisto herumzuschlagen hatten, erst recht nicht.
Eine Beziehung übrigens, in der von vorneherein Mephisto der Gearschte war, wie ein Schüler dieses Kurses so drastisch wie treffend bemerkt hatte. Faust brauche doch nur konsequent zu leugnen, den Augenblick der höchsten Erfüllung erreicht zu haben.
Außerdem hätte nicht mal Goethe es gewagt, den Teufel eine Wette mit Gott gewinnen zu lassen.
„Nein, ich brauch euch nicht.“ Sie sagte es laut zu den beiden Stapeln und erschrak über ihre eigene Stimme. Mehr noch erschrak sie über die plötzliche Erkenntnis, dass sie seit einem Jahr in einer Wohnung lebte, in der nicht gesprochen wurde. Verdrängungsmechanismen wie Arbeiten, Lesen und vor allem der stets dienstfertige Fernseher, der ja sprach, der berichtete, plauderte, der stritt, sang und Musik machte, hatten diese Tatsache sehr erfolgreich kaschiert, wie ihr jetzt bewusst wurde.
Aber nun gilt’s, der Anfang ist gemacht, dachte sie, sprich weiter, sprich!
Da war das Telefon, und da war die Kraft, heute etwas anderes zu tun als eins der blauen Hefte aufzuschlagen. Also vielleicht Lilo anrufen, oder Britta? Nein, nicht Britta, die hatte sich vorgestern krankgemeldet, und weder einen Krankenbesuch noch Klagen über irgendwelche Schmerzen konnte sie heute gebrauchen. Ein wenig Egoismus war ebenso notwendig wie legitim.
Also Lilo. Lilo Barbian unterrichtete dieselben Fächer wie sie und, was wichtiger war, lebte auch alleine und schien damit sehr gut klarzukommen.
Gunda musste die Nummer suchen – ein weiteres Zeichen, wie sehr sie Kontakte verloren hatte – und dann musste sie sich einen Ruck geben, um zu wählen. Tüüüt – tüüüt – tüüüt – tüüüt – tüüüt – „Hallo, hier ist der automat . . .“ Sie drückte sanft, aber lange den roten Knopf.
Nach zwei Heftstapeln als Ansprechpartner brauchte sie nicht auch noch einen automatischen Anrufbeantworter.
Lilo kam tatsächlich gut zurecht. Gut möglich, dass sie noch schlief nach einem fröhlichen Ausgang am Freitagabend. Lilo tanzte mit wahrer Leidenschaft. Genauso gut konnte sie schon seit zwei Stunden unterwegs sein, allein oder mit jemandem aus ihrem großen Bekanntenkreis, um ein Schloss im Umkreis von gern mal 200 km aufzutun, das dann bewundert, umrundet und wenn möglich auch von innen besichtigt wurde.
Tja, schade. Dieser Rückschlag – nein, es war kein Rückschlag. Sie hatte Lilo einfach nicht erreicht. Das war nur normal, schließlich hatte sie, Gunda, seit mehr als einem Jahr jeden Kontakt gemieden, wenn er nicht dienstlich notwendig war.
Blieb die Frage, was sie mit dem Wochenende anfangen sollte, dem sie sich immer noch gewachsen fühlte, auch ohne den Schutzschild der blauen Hefte.
Fang klein an, sagte sie sich. Geh einfach mal raus, geh unter Menschen, riskiere es, Bekannte zu treffen, die vielleicht fragen würden: „Na, wie geht’s?“, und die nicht ahnten, was sie ihr damit antaten.
„Danke, gut!“, würde sie heute antworten, und es wäre nicht einmal gelogen, merkte sie mit Erstaunen, oder höchstens ein bisschen.
Sie beschloss, zu Fuß zu gehen.
Immer noch schien die Sonne, als sie draußen war, wärmte sie, tat ihr wohl, während sie sich treiben ließ im Strom all derer, die samstags unbedingt in die Kaufhäuser, Supermärkte, Boutiquen, Cafés oder Friseursalons mussten.
Sorgfältig mied sie Blickkontakte, vertiefte sich plötzlich und sehr interessiert in eine Schaufensterauslage, wenn sie glaubte, jemand Bekannten auf der anderen Seite der Straße zu sehen.
Als sie sicher war, dass die Gefahr vorüber war, nahm sie erst wahr, was die Auslage zu bieten hatte: Dessous, Spitzen und Rüschen in Schwarz und Rot, die kaum imstande schienen, das Nötigste zu bedecken, die dies vielleicht gar nicht sollten, Strings, die in der Tat nur aus Riemchen bestanden und – ihrer Überzeugung nach – nur wehtun konnten, Strapse gar, die nur Männer aus Uromas Kleiderkiste hervorgeholt hatten, um Frauen zu Objekten ihrer absonderlichen Begierden zu machen, Frauen, die sich so etwas gefallen ließen trotz Emanzipation. Sie, Gunda, brauchte jedenfalls nichts von all dem hier und ging weiter.
Aber was brauchte sie denn? Wenn man das Liebste verloren hat, ist auf einmal nichts mehr wichtig, wünscht man nichts mehr – außer dem einen, das man nicht mehr haben kann.
Ihre Stimmung kippte. Sie spürte, sie würde wieder in das Loch fallen, in dem sie steckte, seitdem sie allein war. Aber das ging jetzt nicht, nicht auf der Straße, sie konnte jetzt nicht in Tränen ausbrechen. Sie krallte die Fingernägel in die Handflächen, um einen körperlichen Schmerz zu schaffen, ein Gegengewicht zu dem inneren Weh, einen Schmerz, den sie kontrollieren und aushalten konnte.
Und sie behielt die Kontrolle. Sie weinte nicht. Sie konnte weitergehen.
Jetzt fiel ihr ein, dass sie heute Morgen ihre Medizin vergessen hatte, die Droge, die ihr Arzt ihr verschrieben hatte, damit sie die Scheidung durchstehen konnte und die sie immer noch nahm, schon viel zu lange, die natürlich kein Problem löste, die aber half es auszuhalten.
Und immer noch war es einfach gut, den Schmerz für einige Zeit auszuschalten.
Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht schon abhängig sein könnte. Die Warnung im Beipackzettel war eindringlich und nicht zu übersehen. „Primäres Suchtpotential“ stand dort und „Nicht weitergeben!“ und „Schleichend absetzen!“
Aber das war im Augenblick gar nicht ihr Problem. Was zählte: Sie hatte durchgehalten ohne die chemische Stütze, aufrecht und beherrscht. Sie hatte einen weiteren Schritt auf dem Weg der Heilung gemacht, der heute beim Aufwachen begonnen hatte.
Nun brauchte sie ein Ziel. Sich treiben zu lassen war noch nicht gut, ließ Erinnerungen hochkommen, öffnete die Tür für Gedanken und Assoziationen, die sie noch nicht gebrauchen konnte.
„Tun Sie sich selbst viel Gutes“, hörte sie ihren Arzt sagen. „Lenken Sie sich ab. Alles ist in Ordnung, egal, wie absurd es Ihnen vorkommt.“
Absurd. Was wäre das Absurdeste, was sie tun könnte? – Sport treiben! Fast hätte sie aufgelacht, zum ersten Mal spontan gelacht, erheitert von einer Vorstellung, und nicht gezwungenermaßen das Gesicht verzogen, weil ein Kollege einen Witz erzählt hatte.
Sport. Das Wort setzte sich fest. Unwillkürlich kam der Gedanke an Kunigunde, die Pummelige, verband sich von selber mit der Erinnerung an das Marzipancroissant dieses Morgens, addierte die mütterlichen Gene hinzu, und da brauchte es die Vorstellung von der Zahl schon nicht mehr, die ihr vorletzter Geburtstag ihr beschert hatte, und Sport war gar kein so absurdes Wort mehr.
Auf jeden Fall wäre es etwas völlig Neues, und sie könnte ja jederzeit wieder aufhören.
Wäre. Könnte. Zweimal Konjunktiv. Irrealis.
Realiter aber war sie schon auf dem Weg in die Bahnhofstraße, wo das bekannteste Fitness-Studio der Stadt lag.
Als sie davorstand, hielt sie inne, um die dezent-matte Messingtafel zu studieren, die über das Angebot des Etablissements informierte.
„Fitness-Center“ stand dort, und „Kraft- und Ausdauertraining“, „Aerobic“, „Spinning“, „Rückenschule“, „Krankengymnastik“, „Reha“, „Massage“, „Sauna“, „Solarium“.
Das Wort „Sport“ kam nicht vor, ein Umstand, der in ihren Augen durchaus für die Einrichtung sprach.
Ein Zurück gab es nicht mehr und Gunda trat ein.
Ihre erste Empfindung war Verwirrung. Es war nicht so, wie sie es erwartet hatte.
Etwas fehlte. Sie roch nicht alte Turnschuhe und keinen säuerlichen Schweiß. Sie roch überhaupt nichts, und was sie sah, passte auch nicht.
Da war eine Rezeption, die in eine Theke integriert war, vor der Barhocker standen, alles in hellem Holz, seitlich davon eine Sitzgruppe aus hellgrünem Leder, Zeitschriften auf einem niedrigen Tisch, ein Kühlautomat für Getränke, und große Pflanzgefäße mit raumhohen exotischen Gewächsen darin. Sah Sport heute so aus?
„Hi, was kann ich für dich tun?“
Ein junger Mann stand plötzlich hinter der Theke. Sie sah sich um. Außer ihr und dem jungen Mann war niemand da. Offensichtlich war sie gemeint.
„Ich – eh – guten Tag!“, brachte sie heraus.
„Oh, sorry, wenn das Duzen ein Problem ist, sag ich ‚Sie‘, aber bei den Jüngeren ist es üblich.“ Bei den Jüngeren. Vielleicht war Sport gar nicht so verkehrt.
„Nein, nein, schon in Ordnung“, versicherte sie. „Ich bin Gunda, Gunda Weiten.“
„Und ich bin der Marc. Also, was soll’s denn sein?“
„Ja, das weiß ich selber nicht so genau. Ich kenn das meiste ja gar nicht, was Sie hier – was ihr anbietet. Ich wollte eigentlich nur ein bisschen Fitness-Training machen, um in Form zu bleiben.“
„Kein Problem. Haste schon mal trainiert?“
„Nein“, bekannte sie und verschwieg ihre tiefe Abneigung gegen jede sportliche Betätigung.
„Kein Problem, da machen wa am besten erst mal ’n kleines Probetraining.“
Ein kundiger Blick zeigte ihm aber, dass sie darauf nicht vorbereitet war. Gunda sagte es ihm auch und fragte, was sie denn brauche.
„Also, ein Muss sind eigentlich nur Turnschuhe.“
Turnschuhe! Sie schwieg.
„Sonst geht Sporthose, Leggings, T-Shirt.“ Gehen müsste es heißen, korrigierte Gunda in Gedanken.
Na gut, das würde sie hinbekommen.
„Wir haben von 8 bis 22 Uhr geöffnet, jeden Tag“, informierte Marc sie.
Mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen, verabschiedete sie sich.
Sie trat auf die Straße. Nun hatte sie ein weiteres Ziel. Sie wusste, dass der nächstgelegene Supermarkt eine Sportabteilung hatte.
Dort erstand sie ein paar Turnschuhe, zwei T-Shirts, eine Trainingshose und eine Sporttasche sowie ein Stirnband, das ihr die Verkäuferin als unentbehrlich für jede Art von sportlicher Betätigung aufnötigte.
Nachdem sie noch etwas Obst und frisches Gemüse gekauft hatte, fand sie, dass sie unbedingt eine Belohnung verdient hatte für alles, was sie heute vollbracht hatte.
Sie beschloss, den asiatischen Imbiss in der Fußgängerzone aufzusuchen, in dem sie manchmal nach der Schule etwas aß.
Es wartete ja niemand auf sie.
Da war der Stich, aber nicht so tief wie sonst. Sie zwang sich es auszudenken: Niemand wartet zu Hause auf dich, niemand erwartet ein Essen zu einer bestimmten Zeit oder sonst irgendetwas von dir. Sie lauschte in sich hinein und spürte – nein, nicht Erleichterung, oder gar so etwas wie frei zu sein, aber zum ersten Mal auch nicht das Gefühl eines unendlichen Verlustes.
Durch diese Erkenntnis und ein würziges Hähnchen-Curry gestärkt, und um diesen Tag passend abzurunden, befand sie, es sei an der Zeit, nach Hause zu gehen, und zwar zu Fuß.
Die Umsetzung dieser Idee verschaffte ihr neben schmerzenden Füßen das intensive Gefühl, bereits heute ein komplettes Fitnessprogramm absolviert zu haben.
Ein Geräusch – Stille – dann erkannte sie das Läuten ihres Telefons, auch dieses selten geworden in ihrem Leben. Sie hatte geschlafen, und auch diesmal traumlos.
Noch auf der Couch liegend, angelte sie nach dem Hörer.
„Hallo, Schätzchen! Mein AB tat mir kund, dass du intendiertest, mit mir einen phonetischen Kommunikationsakt zu vollziehen?“
Das war Lilo, und Lilo war gut drauf. Sie spielte mal wieder. Es war, als ob sie innerhalb des Deutschen mehrere Sprachen beherrschte: die Poesie eines Eichendorff, die Fachterminologie nicht nur ihrer beiden Unterrichtsfächer, und in gleicher Perfektion die Fäkalsprache der Schüler.
„Schätzchen, bist du da?“
„Ja, ja, klar, entschuldige . . .“
„Welch Vergehens klagst du dich an, Schwester? Du weißt doch: Qui s’excuse. s’accuse!“
„Ich wollt eigentlich nur mal hören, was du so machst, ob du was vorhast . . .“
„Was? Nur mal hören? Ob ich was vorhab? Schätzchen, das ist die erste vernünftige Morphemkonstruktion, die du seit einem Jahr äußerst. Jetzt könnt ich mir in den Arsch beißen, dass ich deinen Anruf verpasst hab. Mensch, komm, lass uns morgen was unternehmen!“
„Morgen geh ich ins Fitness-Studio.“
Da stand der Satz. Laut ausgesprochen und damit bereits zur Tatsache erhoben.
„Lilo?“ Hatte es Lilo die Sprache verschlagen?
Nein. „’Mir schien, ich hörte dies von dir’“, zitierte sie aus ‚König Ödipus‘, „. . . Fitness- Studio?“
„Ja, es war ein spontaner Entschluss. Ich hab mir sogar schon Sportsachen gekauft.“
Gunda hatte das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen.
„Mensch, Schätzchen, wie find ich das denn? Das find ich ja sowas von klasse, ich meine, nicht, dass du’s nötig hättest, versteh mich nicht falsch, aber dass du überhaupt mal was machst . . . ach, soll nicht heißen, dass du nichts . . . aber . . . Herr Gott, du weißt schon . . .!“
Lilos Eloquenz schien jetzt erheblich beeinträchtigt.
Gunda sagte: „Ja, ich weiß. Ich wunder mich ja über mich selber. Aber ich will es wenigstens mal versuchen. Und, wir könnten ja vielleicht nächstes Wochenende, wenn schönes Wetter ist, wenn du willst . . .“
„Klar doch! Und wie gern! Ich fang schon mal an zu planen. Und du auch, mach dir Gedanken, worauf du Lust hast, Schätzchen. Die Welt steht uns offen!“
Klick. Die Leitung war tot.
Auch das war Lilo. Keine überflüssigen Worte, mit denen nur noch geredet und nichts mehr gesagt wurde. Dafür wusste Gunda, dass Lilos Freude echt war.
Sie hatte sich Lilo zwar nie richtig anvertraut, ihr das Ausmaß an Schmerz und Verzweiflung nie offenbart, aber Lilo war die einzige, vor der sie sich nicht dauernd verstellt, der sie nicht immer etwas vorgespielt hatte wie all den anderen. Und so war Lilo der einzige Mensch, abgesehen von ihrem Arzt und – vielleicht – Peter, der zumindest ahnen konnte, wie es in ihr aussah und der daher auch erkannte, was das Fitness-Studio und ihr Anruf heute Morgen wirklich bedeuteten.
Ein besonderer Tag. Sie beschloss, diesem Tag seine Besonderheit zu lassen, indem sie die beiden Stapel blauer Hefte auf ihrem Schreibtisch weiterhin ignorierte und es sich mit einem roten Burgunder Grand Cru und einem lange verschmähten Kriminalroman auf der Couch gemütlich machte.
So kam es, dass Gunda heute zum ersten Mal seit ihrer Trennung etwas anderes trank als Kaffee oder Mineralwasser und etwas anderes las als Klassenarbeiten.
Wieder holte ein Geräusch sie aus dem Schlaf, diesmal der Radiowecker.
Sie hatte geträumt, hätte aber nicht sagen können, was, verzichtete auch darauf, es herauszufinden. Es genügte völlig, dass sie anscheinend wieder nicht von ihm geträumt hatte.
Aber da war doch irgendwas? – Oh, du lieber Gott, das Fitness-Studio! Die Erinnerung wollte sich wie eine schwere Decke auf sie herabsenken, bis ihr klar wurde, dass eine Stunde Sport nichts Schlimmes war und wirklich nichts im Vergleich zu dem, was sie hinter sich hatte. Außerdem lag es ganz in ihrer Macht, das, was ihr jetzt bevorstand, einfach nicht mitzumachen, was ein fundamentaler Unterschied war zu dem, was hinter ihr lag.
Sie merkte, dass sie zweimal in der Vergangenheit gedacht hatte, als ob es wirklich vorbei wäre. Sie wusste, dass es das nicht war, aber sie spürte auch, dass es das vielleicht einmal würde sein können.
Auf also! Das übliche Frühstück musste heute genügen. Kaffee, Toast, Marmelade.
Oder brauchte sie vielleicht etwas Gehaltvolleres, eine solide Unterlage, wie ihre Mutter es ausgedrückt hätte? Rührei mit Speck vielleicht? Nein, keine unnötige Belastung, ihr Körper würde heute genug zu tun haben. Ganz stimmig erschien ihr diese Rechnung nicht, sie beließ es aber bei zwei Scheiben Toast.
Und sie nahm das Auto. Man durfte nichts übertreiben. Außerdem wusste sie nicht, in welchem Zustand sie nach dem Training sein würde.
„Hi, schön, dass du da bist!“ Marc war da, fast schon vertraut. Wenigstens nicht alles war neu.
„Cool, du hast alles dabei, dann zeig ich dir erst mal die Umkleide.“
Er führte sie an der großen Glaswand vorbei, die den Geräteraum abgrenzte, in den hinteren Teil des Gebäudes, wo von einem breiten Flur mehrere Türen abgingen, eine davon mit dem Schild „Umkleideraum – Damen“ versehen. „Fürs Spind brauchste ’nen Euro, dahinter sind die Duschen. Wenn du fertig bist, komm zurück, dann zeig ich dir die Geräte.“
Damit ließ er sie allein. Sie war tatsächlich allein. Am Sonntagmorgen schien niemand turnen zu wollen. Was schließlich nicht mehr als vernünftig war.
Nachdem sie die Technik des Spindschlosses gemeistert hatte und vorsichtshalber auf die Toilette gegangen war, begab sie sich in ihrer neuen Sportkleidung, das Handgelenk geziert mit einem Plastikband mit dem Spindschlüssel, auf die Suche nach Marc.
Sie sah ihn nicht, so nutzte sie die Gelegenheit, die Geräte in Augenschein zu nehmen, mit denen sie es nun zu tun bekommen würde. Einige kannte sie aus Filmen. Den Butterfly konnte sie sogar benennen. Andere muteten sie wie mittelalterliche Streckbänke an, und es gab welche, denen sie überhaupt keine Funktion zuordnen konnte.
Aber da war doch ein Geräusch? Sie schaute sich um und bemerkte erst jetzt, abgetrennt durch eine Reihe von großen Kübelpflanzen, etwa ein Dutzend Fahrräder, Laufbänder und ein paar undefinierbare Geräte, auf denen man offensichtlich nur stehen und sich an zwei senkrechten Stäben festhalten konnte.
Das Geräusch kam von einem Fahrrad, und nun wusste sie, warum sie zu den Jüngeren gezählt wurde. Ein Herr im grauen Jogginganzug, schlank, mit vollem weißem Haar und sichtlich jenseits der Sechzig, trat anscheinend mühelos in die Pedale und nickte ihr dabei freundlich zu.
Zurückhaltend erwiderte sie den Gruß. Da sah sie Marc auf sich zukommen. Der sah sich um.
„Ich weiß nicht, was heut los ist“, sagte er, „normalerweise ist am Sonntagmorgen viel Betrieb. Naja, so hast du die Geräte für dich allein.“
„Ich betrete völliges Neuland“, gestand Gunda. „Ich will’s einfach mal probieren, aber Sie müss – du musst mir helfen.“
„Klaro. Zuerst musst du Fahrrad fahren. Damit du warm wirst.“
Aha.
Sie bestieg das erste Rad in der Reihe, möglichst weit weg von dem weißhaarigen Herrn.
Ein paar Handgriffe von Marc schnallten ihre Füße an die Pedale, stellten ihr Sattel, Widerstand und Zeit ein.
„Schaffst du zwanzig Minuten?“ Ergeben nickte sie und strampelte los.
Sie ignorierte ihren „Mitfahrer“, vermied den Blick auf die große Uhr, die schräg vor ihr an der Wand hing und merkte bald, dass bei diesem geistigen Leerlauf lauter ungute Gedanken hochkamen.
Das Klingelzeichen war eine Erlösung, nicht nur für ihre Beine. Es rief Marc herbei.
„So, jetzt kann’s losgehn“, sagte er fröhlich.
„Losgehn, du hast gut reden.“ Diesmal kam das Du spontan.
„Dann machen wa jetzt was für den großen Brustmuskel. Nicht, dass du dadurch einen größeren Busen bekommst“, erklärte Marc freundlich, während er sie zum Butterfly führte. „Aber du kannst die Muskeln kräftigen, die das Ganze halten. Und das sieht dann besser aus.“
Besser als jetzt?
Sie wunderte sich, als er auf jeder Seite nur fünf Kilo auflegte, und dann wunderte sie sich, wie schwer diese fünf Kilo waren. „Versuch fünfzehn Züge, dann machst du eine Minute Pause und wiederholst das Ganze, insgesamt vier Durchgänge. Los geht’s!“
Sie strengte sich an. Die Pausen wurden länger, aber Marc war zufrieden.
„Jetzt machen wa was Leichteres. Hier, die Beinpresse.“
Er führte sie zu einem Gerät, das tatsächlich einigermaßen bequem aussah. „Setz dich mal!“
Unbeholfen ließ sie sich auf der niedrigen Sitzfläche nieder.
„Hinten anlehnen, die Füße auf die schräge Platte vorn, hüftbreit auseinander!“, kommandierte Marc.
Hüftbreit? Sie sah ihn fragend an. Hilfreich packte er ihre Füße und platzierte sie vorschriftsmäßig auf der Platte. Der nächste Griff brachte den Sitz in den richtigen Abstand zur Fußplatte, ein weiterer stellte das Gewicht, das sie drücken sollte, auf dreißig Kilo ein.
Sie probierte es. So leicht? Und die Platte kam von selbst zurück!
„Dann machen wa fünfunddreißig, aber du musst es fünfzehnmal packen, und dann musst du das Gefühl haben, du könntest es noch zwei-, dreimal drücken. Ansonsten wie gehabt, Pause und vier Durchgänge!“
Sie drückte und zählte, machte Pause, drückte, zählte, bis sie fertig war. Marc kam.
„Jetzt kommen die Adduktoren und die Abduktoren an die Reihe“, versprach er aufmunternd.
Heranführer und Wegführer? übersetzte Gunda – und erstarrte mitten in der Bewegung.
„Nein!“ Sie merkte nicht, dass sie es fast schrie. „Das geht nicht!“
Was sie vor sich sah, war ein gynäkologischer Stuhl. Sie sah sich um, wollte weg. Marc war ratlos.
„Wenn du den Stuhl nicht willst, kein Problem. Du kannst auch jedes Bein einzeln trainieren, das ist sogar noch effektiver. Komm mit!“
Aber sie konnte nicht. „Ich hör auf!“, rief sie Marc zu, schon auf dem Weg in die Umkleide.
Und dann flüchtete sie wirklich, warf sich in ihr Auto und fuhr los.
Erst als der Innenstadtverkehr ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, wurde sie etwas ruhiger.
Sie wusste, dass sie überreagiert hatte, aber der Anblick war zu unerwartet gekommen, hatte ihr nicht die Möglichkeit gelassen, den notwendigen Schutzschild zu aktivieren.
Eine Zeitlang fuhr sie ziellos durch die Stadt und empfand dabei ihr Alleinsein wieder so bedrückend wie das ganze letzte Jahr. Sie dachte an das Fläschchen in ihrer Handtasche – und dann dachte sie, dass sie nun schon fast zwei Tage ohne ausgekommen war und dass sie vielleicht einfach noch etwas warten sollte.
Es war warm geworden. Erst jetzt merkte sie, welch ein schöner sonniger Tag es war, einer von der Sorte, die sie immer am liebsten irgendwo an einem Wasser sitzend verbracht hatte, besonders gern bei einem guten Essen oder mit einem kühlen Rosé, auch mit einem Cappuccino – aber halt auch mit Peter.
Da war der Stich. Wann hatte sie seinen Namen zum letzten Mal so bewusst gedacht?
Und unvermeidbar die Frage: Wann hatte sie ihn zum letzten Mal ausgesprochen? Das konnte sie doch nicht vergessen haben? Und wenn doch, dann war das nur gut so.
Trotz regte sich, und aus diesem Trotz heraus beschloss sie, das schöne Lokal am Fluss aufzusuchen, auf dessen Terrasse sie so oft mit Peter gesessen hatte.
Aber nun war sie allein, und diese Tatsache erforderte besondere Maßnahmen.
Sie brauchte etwas, womit sie beschäftigt war. Da sie nicht rauchte, musste ein Buch her.
Da blieb sonntags nur der Bahnhofskiosk. Also zurück in die Bahnhofstraße.
Der Drehständer war wohl bestückt. Ein Krimi sollte es sein, ein Thriller, hier: „Subtile Rache“, das schien ihr passend.
Sie erreichte den Parkplatz des Lokals, stieg aus und steuerte auf einen freien Tisch auf der Terrasse zu.
Die „Subtile Rache“ trug sie demonstrativ vor sich her: Ja, ich bin allein, aber ich hab was zu tun, signalisierte es jedem, der eventuell Notiz von ihr nahm.
Gunda war fest entschlossen, sich heute so viel Gutes wie möglich anzutun und fragte nach dem Aperitif des Hauses: Ein Glas Crémant mit Zuckerrand und Erdbeere. Den Zucker und die Erdbeere bestellte sie ab. Die Erdbeere galt als Aphrodisiakum, als Symbol der Verlockung und Sinnenlust, und die Germanengöttin Frigga hatte tote Kinder in Erdbeeren versteckt, um sie mit nach Walhalla zu nehmen. Das konnte sie in ihrer jetzigen psychischen Verfassung nicht gebrauchen.
Was ihre physische Verfassung anging, so machten sich zwanzig Minuten Radfahren, sechzig Butterfly-Züge und sechzig Beinpressen nach einem mageren Frühstück bemerkbar. Sie fand, sie hatte etwas Besonderes verdient, lauschte in sich hinein und hörte ganz deutlich: als Vorspeise ein kleiner Salat mit Ei und Räucherlachs, dann Kalbsmedaillons mit einer Pilz-Sahne-Soße und Pommes frites. Und ein kühler Rosé. Die Forderungen waren präzise und drängend. Sie bestellte.
Und ihr widerfuhr die Freude – Kann einem Freude widerfahren? fragte die Deutschlehrerin automatisch. Auf jeden Fall erfuhr oder erlebte sie die Freude, dass etwas, was dem Körper guttut, auch der Seele guttut und dabei beließ sie es und widmete sich ganz bewusst und mit allen Sinnen dem köstlichen Mahl.
Bei einem Cappuccino – mit richtiger Sahne, nicht mit diesem schaumigen Zeug, das weder Milch noch Sahne war – schlug sie ihr Buch auf und begann zu lesen.
Aber ihr Sinn stand nicht mehr nach subtiler Rache. Sie klappte das Buch zu und beschloss, einfach noch eine Weile sitzen zu bleiben.
Jetzt nahm sie den Duft der Fliederbüsche an der Terrasse wahr, hörte die Geräusche ihrer Umgebung: Gesprächsfetzen, Kinderlachen, Klappern von Geschirr, und über und zwischen allem das Gezwitscher der Vögel.
Sie sah dem Wasser nach, das langsam dahinströmte, dabei kleine Strudel bildete und immer wieder Bläschen aufsteigen ließ. Ein Zweig trieb vorbei. Er war noch ganz frisch. Ob ein Kind ihn abgerissen und ins Wasser geworfen hatte?
Gunda schüttelte ungläubig den Kopf über das, was sie hier erlebte.
Hatte sie tatsächlich – ein Blick auf die Uhr – über eine Stunde lang hier gesessen und vergessen?
Hatte über eine Stunde lang nur die Außenwelt existiert mit ihren visuellen, akustischen und olfaktorischen Reizen? Und das hier, an diesem Ort?
Ja, so war es tatsächlich.
Sie rief den Kellner und zahlte, eine hohe Rechnung, aber ein lächerlich kleiner Preis für das, was ihr hier zuteilgeworden war: viel mehr als ein gutes Essen mit den passenden Getränken, weit mehr als eine Zeit des Wohlbefindens, zunächst höchstens halbbewusst wahrgenommen.
Es war fast so etwas wie eine Katharsis – Reinigung von Furcht und Mitleid – definierte die Germanistin und wusste sogleich, dass auch dieses nicht ganz traf.
Es war eine Befreiung aus den eigenen inneren Zwängen, dem schwarzen Netz, das sie so lange gefangen gehalten hatte, und es war die Erkenntnis, dass sie dabei war, sich wieder der äußeren Welt zu öffnen, dem Leben, das um sie herum stattfand und an dem sie vielleicht auch einmal wieder würde teilhaben können.
Der Nachmittag war fortgeschritten. Die Terrasse füllte sich mit den Sonntagnachmittags-Kaffee-und-Kuchen-Gästen. Gunda brach auf.
Erst beim Betreten ihrer Wohnung fiel ihr ein, dass da noch Arbeit auf sie wartete.
Zwei Stapel blauer Hefte, die seit ewigen Zeiten – Das ist eine Hyperbel! – nicht mehr willkommene, weil therapeutisch notwendige Beschäftigung bedeuteten, sondern lästige Pflicht.
Sie beschloss, sich noch daran zu machen und wenigstens die Musterlösung mit der Punkteverteilung zu entwerfen und vielleicht schon ein paar Arbeiten zu korrigieren, damit der Stapel nicht mehr ganz so hoch war und sie den Sonntagabend-Krimi mit einigermaßen gutem Gewissen anschauen konnte.
Also: Die Beziehung Faust – Mephisto. Einleitung: 2 Punkte. Hauptteil: Wie beginnt die Beziehung? (Pluspunkt für Bezug zum Prolog), wie entwickelt sie sich? Was will Faust von Mephisto, was Mephisto von Faust? Wie gehen beide miteinander um?
Mephistos Dienstfertigkeit, die Faust in Verbrechen und Schuld führt (Pluspunkt für seine Spioniererei), Fausts Erkenntnis des Bösen in Mephisto und seiner Abhängigkeit von ihm, seine zunehmend fordernde, bestimmte Haltung gegenüber Mephisto, beide als intellektuell ebenbürtige Partner und gleichberechtigte (?) Wettpartner, das Ganze garniert mit zwei bis drei passenden Zitaten, mehr durfte sie von ihren Schülern nicht erwarten. 20 Punkte. Ach, ja, Schlussabschnitt, eigene Meinung: 2 Punkte.
6 Punkte für die sprachliche Gestaltung, Rechtschreibung, Aufbau und Form. Fehlende oder überflüssige Kommas fügte sie ein oder strich sie weg, ließ sie aber aus der Bewertung heraus.
Sie schlug das erste Heft auf.
„Das Drama ‚Faust‘ wurde von Johann Wolfgang Goethe im Jahr 1808 geschrieben – Rotstift – und handelt von dem Gelehrten Faust, der mit seinem Leben nicht zufrieden ist, sodas – Rotstift – er einen Pakt mit dem Teufel Mephisto eingeht. Diesen Pakt will ich in meiner nun folgenden Erörterung untersuchen.“
Oh du lieber Himmel! Das jetzt dreiundzwanzig Mal? Nein, das ging nicht. Das ging nicht ein einziges Mal. Sie schlug das Heft zu. Ihre Schüler würden warten müssen.
„Na, Schätzchen, wie war’s?“
Lilo hatte sie kommen sehen und wartete auf dem Parkplatz vor der Schule auf sie. Erst Verwirrung, dann die Erinnerung, dass Lilo wohl das Fitness-Studio meinte.
Gundas Gesichtsausdruck schien genug zu sagen.
„Ach, Herrje, vergiss es schnell! Und lass uns am nächsten Wochenende was Gescheites machen. Der Möglichkeiten sind viele.“
Ehe Lilo sich über die Möglichkeiten auslassen konnte, wie das nächste Wochenende zu gestalten sei, hatten sie den Eingang erreicht und waren in eine Gruppe von Schülern geraten, die hineindrängten, als ob es an einem Montagmorgen nichts Besseres geben könnte als Schulunterricht. Und war es schließlich nicht so?
War das nun eine rhetorische Frage oder nicht?
Gunda verfolgte den Gedanken nicht weiter, denn der Gong ertönte und rief sie zu ihren Zwölfern. Keine Enttäuschung, dass sie die Kursarbeiten nicht dabeihatte, bei den meisten sogar Erleichterung. „Können Sie sie nicht einfach behalten?“ Eindeutig eine rhetorische Frage.
Da niemand über die Arbeit sprechen wollte, entschloss Gunda sich spontan zu einem lockeren Unterrichtsgespräch über Verhalten und Persönlichkeit Fausts.
Sie begann mit der provokanten Frage: „Warum heiratet er Gretchen eigentlich nicht?“
„Weil er ’n Arschloch ist.“ – „Der wollte doch nur seinen Spaß!“ Die Mädchenfraktion.
Eine engagierte Diskussion soll man nicht abbrechen.
„Gretchen aber auch!“ Das war Marco. „Mein Busen drängt sich nach ihm hin“, zitierte er mit übertriebener Gestik.
„Ach, wenn ich nur alleine schlief! Ich ließ dir gern heut Nacht den Riegel offen“, sekundierte ihm Stefan, dessen Textkenntnis sie immer wieder verblüffte.
„Die würden doch überhaupt nicht zusammenpassen.“ Die stille Lena. „Worüber könnten die denn miteinander reden?“
„Wenn er nur was fürs Bett braucht, könnt’s klappen. Die Frauen mussten doch damals alle kuschen.“
„Aber sie bekämen doch jeden Sonntag Streit, wenn er nicht mit in die Kirche wollte.“
„Und wie würde Mephisto dazwischen passen? ‚Hab vor dem Menschen ein heimlich Graun.’“ Das war wieder Stefan, bühnenreif.
Gunda griff ein. Sprach von dem Universalgelehrten und unersättlichen Forscher, dessen Lebensziel nicht das des Ehemanns und Familienvaters sein konnte, der viele andere Lebensentwürfe ausprobieren, weitere Existenzformen durchlaufen musste, bis er schließlich wegen seines beständigen Strebens und Mühens und trotz aller Irrtümer erlöst werden konnte.
Deswegen also heiratet Faust Gretchen nicht. Und weil er tickt wie sein Schöpfer, fügte sie im Stillen hinzu.
Es folgten zwei Erdkundestunden in Unter- und Mittelstufe. Auch hier kein Verlangen nach der Klassenarbeit.
Dann eine Stunde Rechtschreibung bei den „Kleinen“. Der s-Laut. Egal wie häufig seine Schreibung erklärt, geübt, wiederholt wurde, der s-Laut blieb eine zuverlässige Fehlerquelle bis ins schriftliche Abitur.
Sie verdrängte das Wissen, dass der Erfolg ihrer Bemühungen gegen Null tendieren würde, immerhin dankbar dafür, dass wenigstens hier die Rechtschreibreform etwas Vernünftiges zustande gebracht hatte.
Aus Mitgefühl entließ sie ihre Schüler ohne Hausaufgaben, was vielleicht nicht didaktisch korrekt, aber, wie sie fand, aus humanitären Gründen durchaus gerechtfertigt war.
„Na, weißt du schon, wozu du Lust hast?“
Lilo hatte sie in den „Magister“ geschleppt, eine Kneipe, fußläufig zwei Minuten von der Schule entfernt.
Der Name schien die Schüler abzuschrecken, was den Vorteil hatte, dass man und frau hier immer ein ruhiges Plätzchen fand.
„Ja, ich nehm eine Apfelschorle“, antwortete Gunda, an das Naheliegende denkend.
Und das war ihr Durst. „Zwei“, bedeutete Lilo dem Kellner, der an ihren Tisch getreten war.
„Ich meinte aber eigentlich das Wochenende, Schätzchen. Es wird Zeit, dass du unter die Leute kommst. Was hieltest du davon, wenn wir zwei mal zum Tanzen gehen würden?“
„Tanzen?“ Entgeistert sah Gunda sie an.
„Tanzen, ja. Rhythmische Körperbewegung, von Musik begleitet, in unserem Fall Gesellschaftstanz, meistens als Paartanz ausgeführt und im Gegensatz zum Sakral- und Volkstanz der Geselligkeit und Unterhaltung dienend.“ Lilo war in ihrem Element.
„Lilo, wir sind keine achtzehn mehr!“, war alles, was Gunda herausbrachte.
„Aber sehen besser aus als die meisten Achtzehnjährigen und können’s besser als die alle zusammen!“
„Du hast gut reden mit deinen achtunddreißig Jahren. Und außerdem bist du in Übung geblieben.“
„Und du kannst es genauso gut. Das ist wie Schwimmen und Radfahren. Man verlernt es nicht. Außerdem gibt’s freitagabends im Calypso den Rosenball.“
„Rosenball!“, schnappte Gunda.
„Ja, Rosenball. Sed noli timere!“ Lilo hatte ihr Latein nicht vergessen. „Da kommen Leute unseres Alters hin, na ja, zugegeben, auch Ältere, ehm, viel Ältere, aber die können tanzen, die kommen, weil es ihnen Spaß macht, und das merkst du auch. Und die Musik ist in Ordnung, weißt du, aus unserer Zeit, nicht das Gehacke von heute, und du wirst aufgefordert, die Herren kommen an deinen Tisch und verbeugen sich und sagen: ‚Darf ich bitten?‘ und . . . ach, es ist einfach klasse!“